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3

Presleys Zimmer im Ranchhause von Los Muertos lag im ersten Stock. Es war ein Eckzimmer mit zwei Fenstern, von denen das eine nach Süden, das andre nach Osten ging. Die Einrichtung war äußerst einfach. In einer Ecke stand das schmale, weißlackierte eiserne Bett, über das eine weiße Decke gebreitet war. Besonders hell und freundlich wurde das Zimmer durch die weiße, mit einem Netzwerk lichtgrüner Blätter gemusterte Tapete. Der Fußboden war mit einer feingeflochtenen Strohmatte bedeckt. Halbgardinen von weißem Musselin hingen vor den Fenstern; auf den Fensterbrettern standen längliche, grüngestrichene Blumenkästen, in denen Pflanzen, deren Namen Presley nicht kannte, mit roten, wachsartigen Blüten wuchsen. Die Wände zeigten keinerlei Schmuck, mit Ausnahme von zwei Bildern; das eine war eine Wiedergabe der »Vorlesung aus Homer«, das andre eine von Presley entworfene Kohlezeichnung der Mission San Juan de Guadalajara. An dem Ostfenster stand ein schlichter Tisch aus Kiefernholz ohne jeden Bezug oder Decke, wie er in jeder Küche am Platz gewesen wäre. Er diente Presley als Schreibtisch; allerlei Papiere, angefangene Manuskripte, Entwürfe von Gedichten, Notizbücher, Schreibfedern, halbgerauchte Zigaretten und manches andre lag darauf umher. Auf einem nahen Wandbrett standen Presleys Bücher. Stühle waren nur zwei vorhanden; ein geradlehniger, eckiger und unbequemer Holzstuhl, auf dem man schlechterdings nicht hätte ausruhen können, stand vor dem Tisch, während der langausgezogene bequeme Schiffsstuhl aus Korbgeflecht dicht an das Südfenster gerückt war. Presley liebte sein Zimmer ungemein. Es beschäftigte ihn und machte ihm Freude, auf die Schlichtheit und Nettigkeit dieses Raumes zu halten. Umhergestreuter Kleinkram und bedeutungsloser kunstgewerblicher Zimmerschmuck waren ihm ein Greuel. Von Zeit zu Zeit unterzog er sein Zimmer einer scharfen Musterung; er räumte dann auf, beseitigte alles Ueberflüssige und behielt nur wenige, ihm liebgewordene Gegenstände, die gleichsam einen Teil seines Daseins bildeten.

Mit seiner Schreiberei hatte er in der letzten Zeit eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Die Notizen für den Sang vom Westen, jenes große Epos, das er einst zu dichten gehofft, hatte er beiseite geworfen. Eine Menge flüchtig niedergeschriebener Verse hatte er zerrissen, und nur ein halbvollendetes Gedicht, das er »Die Mühseligen« nannte, verschont. Dieses Gedicht hatte die soziale Frage zum Vorwurf: es war von einem Gemälde in Cedarquists Sammlung angeregt worden. Zu seiner Vollendung fehlte nur noch die letzte Strophe.

Als er unlängst das Gespräch zwischen Dyke und Caraher in dessen Kneipe angehört und so Kenntnis von der ungeheuerlichen Willkür in der Aufstellung des neuen Frachtsatzes genommen hatte, war Presley bleich und zitternd und in einer Aufregung, wie sie sich seiner noch nie bemächtigt hatte, nach Los Muertos zurückgekehrt. Seine Wut gab der Carahers kaum etwas nach. Auch er »sah rot«; wilde Empörung tobte in ihm. Es erschien ihm unmöglich, daß dieser Frevel weitergehen konnte. Die Bedrückung war unglaublich; der einfache, wahrheitsgemäße Bericht über diese Gewaltmaßregel würde tatsächlich bei der Außenwelt keinen Glauben gefunden haben.

Er ging hinauf in sein Zimmer und schritt mit geballten Fäusten und glühendem Gesicht ruhelos in dem kleinen Raume auf und ab. Der Widerstreit in ihm kämpfender Gedanken erstickte ihn fast; er warf sich auf den Stuhl vor seinem Arbeitstisch und begann zu schreiben. Seine Feder schien von selbst über das Papier zu eilen; ungesucht flogen ihm die Worte zu, die sich zu Satzteilen fügten, aus denen sich wiederum wuchtige Sätze von überzeugender Beredsamkeit und feuriger Leidenschaft aufbauten. Presleys immer erhabener werdende Prosa wandelte sich unvermerkt zu gebundener Sprache. Der Tonfall seiner Sätze ging über in die festgefügte Ordnung rhythmischer Maße; hastig schob Presley sein Tagebuch zur Seite und schrieb wieder einmal Verse.

Er griff nach seinem unvollendeten Gedicht »Die Mühseligen« und las es einige Male hastig durch, um sich ganz in seine Stimmung zu versetzen; plötzlich blitzte der Gedanke für die letzte Strophe – der Gedanke, den er solange vergeblich gesucht hatte – in seinem Hirn auf. Ohne die Feder noch einmal einzutauchen, schrieb er diese Strophe nieder und fügte ihr noch eine weitere hinzu, in der er die ganze, seiner Schöpfung zugrunde liegende Idee noch einmal aufnahm, um dann mit einem erhabenen Gedanken zu enden, der in seiner edeln Schlichtheit und Würde unbedingt überzeugte.

Presley legte die Feder aus der Hand und lehnte sich in seinem Stuhle zurück, durchdrungen von der Gewißheit, einen Augenblick auf unbetretenen Höhen geweilt zu haben. Seine Hände waren kalt, sein Kopf brannte und stürmisch pochte ihm das Herz in der Brust.

Jetzt endlich hatte er Großes vollbracht. Er sah, warum ihm die Eingebung für seinen großartig gedachten, unklaren, unpersönlichen Sang vom Westen versagt geblieben war. Damals, als er tastend umhersuchte, waren Ueberzeugungen in ihm noch nicht lebendig geworden; er hatte noch kein Herz für das Volk gehabt. Sein Mitgefühl war noch nicht erwacht. Kein Wunder, daß die Eingebung nicht kam. Jetzt aber fühlte er sich als ein Mann aus dem Volke; seine Seele war in ihren Tiefen aufgerüttelt worden, und die sie erfüllende glühende Leidenschaft grenzte fast an Raserei. Presley glaubte, und so vermochte er sofort alles.

Aber schon machte der Künstler in ihm sich wieder geltend. Sein Gedicht als solches zog ihn mehr an als die Sache, die ihn dazu begeistert hatte. Er las es von neuem durch und feilte sorgfältig daran, änderte hier und da ein Wort und beseitigte rhythmische Härten. Darüber vergaß er das Volk, er vergaß seine Wut und die Aufregung der letzten Stunde; er war sich nur noch bewußt, ein großes Gedicht gemacht zu haben.

Dann befielen ihn Zweifel. War es wirklich etwas Großes? Streifte es in seiner Erhabenheit vielleicht nicht ans Lächerliche? Hatte er auch richtig gesehen? Sollte ihm der große Wurf wieder nicht gelungen sein? Von neuem prüfte er Zeile für Zeile; das Gedicht schien ihm plötzlich an Kraft verloren zu haben.

Presley hätte jetzt nicht mehr sagen können, ob er ein dichterisches Kunstwerk geschaffen oder Knüttelverse geschrieben hatte. Gegen sein eignes Urteil war er höchst mißtrauisch. Er mußte jemand hören, der fähig war, ein Urteil abzugeben. Darauf zu warten, bis morgen womöglich, vermochte er nicht. Gewißheit mußte er haben, sonst war es um seine Nachtruhe geschehen. Er schrieb das Gedicht sorgfältig ab, zog seine Schnürstiefel an, nahm seinen Hut und ging hinunter. Ueber den Rasenplatz hinweg schritt er geradenwegs dem Stalle zu. Dort traf er Phelps, der gerade den Buckboard wusch.

»Wissen Sie, wo Vanamee heute ist?« fragte er.

Phelps blickte von seiner Arbeit auf. »Fragen Sie mich was Leichteres,« antwortete er. »Vanamee ist vielleicht in Guadalajara, vielleicht auch auf Ostermans Ranch – er kann aber auch schon hundert Meilen weit weg sein. Ich weiß, wo er sein sollte, Herr Presley, aber damit ist nicht gesagt, daß der verdrehte Kerl auch wirklich dort ist. Er müßte im Osten auf Nummer vier sich ums Vieh kümmern, da wo die Quelle vom Missionsbach ist.«

»Ich will versuchen, ob ich ihn finde,« entgegnete Presley. »Sollten Sie Harran sehen, wenn er nach Hause kommt, so sagen Sie ihm, daß ich möglicherweise zum Abendbrot noch nicht zurück bin.«

Er holte sich den Pony allgemein gebrauchte Bezeichnung für Reitpferde leichten Schlages. aus dem Corral, corral = Einzäunung. legte ihm den Sattel auf und jagte auf dem Unteren Wege in östlicher Richtung davon. Als er an Hoovens Pachtfarm vorbeikam, sah er Minna mit ihrem bandagierten Fuß in einer Hängematte unter der mächtigen Lebenseiche liegen. Im Weiterreiten, während er über die Brücke des Bewässerungsgrabens galoppierte, kam ihm der Gedanke, was wohl aus der hübschen Minna werden und ob sie schließlich den portugiesischen Vormann heiraten würde, der die Erdarbeiter unter sich hatte. Er wünschte ihr, daß sie sich dazu entschließen möchte, und zwar bald. Auf den Ranchos wurde viel über Minna Hooven geredet. Sie war gewiß ein braves Mädchen, aber man konnte sie zu allen Zeiten hier und dort, in Bonneville und Guadalajara, mit den portugiesischen Arbeitern von Quien Sabe und Los Muertos ihren Spaß treiben sehen. Sehr hübsch war sie. Die Männer wurden ihrethalben zu Narren. Presley hoffte, daß sie nicht mal von ihnen zum Narren gehalten würde. Gleich jenseits des Bewässerungsgrabens verließ Presley den Unteren Weg und ritt, den Missionsbach zu seiner Linken lassend, auf einem nach Südwesten abzweigenden Pfade über die Abteilung vier von Los Muertos. Einige Meilen weiter passierte er ein Tor in dem Stacheldrahtzaune; jetzt begann ein fortwährender Wechsel von kleinen Talmulden und niedrigen leichtgewellten Hügeln, die allmählich höher und steiler wurden. Dieses stetig ansteigende Gelände, die Viehtrift von Los Muertos, bildete den Uebergang zu den Vorbergen der Sierra. Auf den breiten Hügelrücken standen in weiten Zwischenräumen vereinzelte Lebenseichen; Bärentrauben- und Stecheichensträucher bildeten in den Talmulden und Schluchten Dickichte von dunkelm Olivengrün. Wie eine Honigwabe war der Boden von den Röhren der Erdeichhörnchen durchlöchert; die kleinen Tierchen waren überall zu sehen, und hin und wieder rannte ein Präriehase in langen Sätzen und mit steifaufgerichteten Ohren über den freien Raum von einem Dickicht zu dem andern. Hoch in den Lüften schwebte, wie ein an der Ankerkette sich wiegendes Schiff, ein Falke, und aus dem Gebüsch zur Seite des Pfades flog mit schwirrendem Flügelschlag ein Volk Wachteln auf.

An den Hügelhängen graste das Vieh in kleinen weit auseinandergezogenen Gruppen und strebte dabei langsam und bedächtig den Wasserlöchern für den Abendtrunk zu. Die Pferde blieben unter sich; kleine Füllen saugten schweifwedelnd und mit den unbeschlagenen Hufen auf den Boden stampfend an den Eutern ihrer Mütter. Eine Strecke Weges weiter stieß Presley auf den ungeheuern, prachtvollen Durham-Bullen mit dem kurzen, gekräuselten Stirnhaar, den kleinen blutunterlaufenen Augen und dem muskelgeschwellten Nacken; in einsamer Größe, finsterblickend und unnahbar hielt sich der königliche Beherrscher der Weide streng abgesondert von seinen Untertanen.

Presley fand den ehemaligen Schafhirten bei einer Wasserstelle in der entlegensten Ecke der Viehtrift. Vanamee hatte sein einfaches Biwak für die Nacht schon aufgeschlagen. Die blaugraue Armeedecke war unter einer Lebenseiche ausgebreitet; sein Pferd graste nahebei. Er selbst hockte auf den Fersen vor einem Feuer von dürren Bärentraubenwurzeln und kochte seinen Kaffee und Speck. Noch nie hatte Presley eine so lebhafte Empfindung von Einsamkeit gehabt wie beim Anblick dieser am Boden hockenden Gestalt. Das kahle, öde Land breitete sich ringsum in grenzenlose Weiten. Vanamee war nur ein Fleck, ein winziger Punkt, ein einzelnes Atom der Menschheit, das auf dem Ozean einer keine Grenzen kennenden Natur ziellos umhertrieb.

Die Freunde aßen zusammen. Vanamee, der ein paar Wachteln in Schlingen gefangen hatte, rupfte die Vögel und briet sie an zugespitzten Stöcken. Nach dem Mahle tranken die beiden in tiefen Zügen das erfrischende Naß aus der nahen Wasserstelle. Dann, nachdem Presley seine Zigarette und Vanamee seine Pfeife angezündet hatte, begann der erstere:

»Vanamee, ich habe wieder zu schreiben angefangen.«

Der wandte sein hageres Asketenantlitz nach dem Sprecher und entgegnete, ihn aufmerksam anblickend:

»Ich weiß, an deinem Tagebuch.«

»Nein, diesmal ist's ein Gedicht. Du wirst dich erinnern, daß ich zu dir davon gesprochen habe. ›Die Mühseligen‹ habe ich's genannt.«

»O, Verse! Es freut mich, daß du darauf zurückgekommen bist. Für dich ist's das natürliche Ausdrucksmittel.«

»Du erinnerst dich des Gedichts?« fragte Presley. »Es war unvollendet.«

»Ja, ich erinnere mich. Es versprach besser zu werden als alles, was du bisher geschrieben hast. Es ist wohl jetzt fertig?«

Ohne zu antworten, zog Presley das Gedicht aus der Brusttasche seiner Jagdjoppe. Der Augenblick schien ihm günstig. Tiefe Stille lag über dem weiten, kahlen Hügelland. Die Sonne sank in wolkenlose rote Glut; feiner Goldstaub schien über der ganzen Landschaft zu liegen. Laut las Presley sein Gedicht. Als er geendet hatte, sah der Freund ihn forschend an.

»Was hast du in der letzten Zeit getrieben?« fragte er.

Verwundert gab Presley ihm über die Art, wie er den Tag hinbrachte, über sein Kommen und Gehen Auskunft.

»Das meine ich nicht,« entgegnete Vanamee. »Du hast etwas erlebt, aufgerüttelt hat dich etwas. Hab' ich nicht recht? Ja, ich dachte mir's wohl. Du hast nicht versucht, ein Stückchen schöngeistiger Literatur zu machen. Unter einem ungeheuern Druck hast du das gedichtet. Schon die Unvollkommenheiten deines Werkes zeigen das. Es ist etwas mehr wie bloßes Reimgeklingel. Es ist ein Ausspruch – eine Botschaft. Und es ist wahr. Du bist auf den tiefliegenden Kern der Dinge zurückgekommen, und du hast richtig gesehen. Ja, es ist ein großes Gedicht. «

»Ich danke dir!« rief Presley warm. »Ich fing schon an, mir zu mißtrauen.«

»Ich vermute, daß du dich beeilen wirst, es drucken zu lassen,« bemerkte Vanamee. »Einen großen Gedanken ausgesprochen, etwas Großes vollbracht zu haben, genügt dir nicht.«

»Ich glaube, daß ich aufrichtig bin,« wandte Presley ein. »Ist das Gedicht gut, so mag es auch Gutes tun. Du selbst hast es eine Botschaft genannt. Hat es einigen Wert, so würde ich nicht recht zu handeln glauben, wenn ich es einem noch so kleinen und noch so gleichgültigen Publikum vorenthielte.«

»Du darfst es aber auf keinen Fall in den ›Magazinen‹ veröffentlichen. Vom Volke ist dir die Eingebung gekommen. An das Volk mußt du dich mit deinem Gedicht wenden – nicht an die literarisch gebildeten Leser der Zeitschriften, die Reichen, die nicht unmittelbar davon berührt werden. Mußt du's veröffentlichen, so tu' das in der Tagespresse. Unterbrich mich nicht. Ich weiß, was du sagen willst. Du wirst einwenden, daß die Tagespresse gewöhnlich, auf den großen Haufen berechnet, würdelos ist – und ich sage dir: dein Gedicht, das du ›Die Mühseligen‹ nennst, muß eben von den Mühseligen gelesen werden. Es muß gewöhnlich sein, es muß auf den großen Haufen wirken. Du darfst dich nicht auf deine Würde versteifen, wenn du dich an das Volk wenden willst.«

»Das mag wahr sein,« gab Presley zu, »aber ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß ich auf diese Weise mein Gedicht wegwerfe. Die große Zeitschrift gibt mir solch – solch einen Hintergrund, sie gibt meinen Worten Gewicht.«

»Gibt deinen Worten Gewicht, gibt dir solch einen Hintergrund! Ja, denkst du denn an dich selbst? Du Helfer der Hilflosen! Ist das deine Ueberzeugungstreue? Du mußt untertauchen, du mußt dich selbst vergessen und dein Verlangen nach Ruhm und Anerkennung. Deine Dichtung, deine Botschaft ist's, die durchdringen muß, nicht du, von dem sie herrührt. Du predigst. die Lehre der Entsagung, der Selbstverleugnung, und auf den Tafeln, denen du deine Worte eingegraben hast, schreibst du, so hoch du nur reichen kannst, deinen Namen, damit alle Welt nicht das Gedicht, sondern den Dichter sehen kann. Presley, viele sind so wie du. Der Sozialreformer schreibt ein Buch über die Widerrechtlichkeit des Landbesitzes und kauft sich einen Eckbauplatz aus den Erträgen eben jenes Buches. Der Volkswirtschaftslehrer, der das harte Los der Armen bejammert, wird durch den Verkauf seines Buches ein reicher Mann.«

Presley mochte nichts weiter hören. »Nein,« rief er, »ich weiß, daß ich aufrichtig bin, und um es dir zu beweisen, will ich mein Gedicht, wie du mir rätst, in der Tagespresse veröffentlichen; ich werde auch kein Geld dafür nehmen.«

Noch eine Stunde etwa redeten sie in der Abenddämmerung miteinander. Presley merkte bald, daß Vanamees Gedanken anderswo weilten. Noch nie war er so still, so tief in dumpfes Brüten versunken gewesen wie in der letzten Zeit. Und jetzt erhob er sich plötzlich und wandte sein Gesicht nach Norden in der Richtung der Missionskirche von San Juan.

»Ich glaube,« sagte er, »daß ich gehen muß.«

»Gehen? Wohin denn jetzt zur Nachtzeit?«

»Dorthin,« antwortete Vanamee und deutete mit einer unbestimmten Handbewegung nach Norden. »Leb wohl.«

Ohne noch ein Wort zu sagen, verschwand er im Grau des Zwielichts. Der verwunderte Presley war allein. Er ging zu seinem Pferde, zog den Sattelgurt fester und ritt gedankenvoll und gesenkten Hauptes im Sternenlicht heim. Ehe Presley zur Ruhe ging, sandte er noch »Die Mühseligen« an den Redakteur der Sonntagsbeilage einer San Franciscoer Zeitung.

Die Daumen in seinen leeren Patronengürtel eingehakt, schritt Vanamee, nachdem er Presley verlassen hatte, eilig die Hügel der Weide von Los Muertos hinab und durch das schweigende Guadalajara. Sein hageres dunkelgebräuntes Gesicht mit den hohlen Wangen, dem schwarzen Spitzbart und den traurigen Augen war nach Norden gewandt. Er trug, wie immer, keinen Hut; sein langes schwarzes Haar wehte in der Nachtbrise bei der eiligen Wanderung. Er wußte, wohin es ihn trieb und was er heute nacht durchzumachen haben würde.

Wieder sprang der stets lebendige, nie schlummernde Gram hervor aus dem Dunkel der Nacht und hängte sich an seine Schultern. Er peitschte ihn hin nach dem Schauplatz entschwundenen Glückes, seiner toten Liebe, des vernichteten Idylls – nach dem Missionsgarten, in den Schatten der ehrwürdigen Birnbäume.

Aber noch andre Mächte rissen an seinem Herzen. Der Missionsgarten barg ein Geheimnis. Nicht immer war dort die Nacht leer, nicht immer die Finsternis stumm. Ein Etwas regte sich in der Ferne und hörte auf seinen Ruf; zuweilen näherte es sich ihm. Anfangs hatte ihn diese Erscheinung mit Schrecken erfüllt, später aber, als sie ihm allmählich immer näherkam, hatte ein Glücksgefühl von unsäglicher Süße diesen Schrecken verdrängt. Aber noch immer mißtraute Vanamee seinen Sinnen; er wollte den Qualen, die das erträumte Glück nach sich zog, der furchtbaren seelischen Erschütterung, die jeder in dem Garten verbrachten Nacht folgte, entgehen und nahm sich vor, wegzubleiben. Wenn aber der an seinem Leben zehrende Gram ihn immer wieder überfiel und die Erinnerung an Angèle sein Herz mit Qual und seine Augen mit Tränen füllte, da wurde die Versuchung übermächtig in ihm; er vermochte ihr dann nicht mehr zu widerstehen. Von selbst, ohne daß er es wollte, trugen ihn die Füße nach dem Ziele seines Sehnens. Fast war es ihm, als ob er dorthin gerufen würde.

Guadalajara war still und finster. Nicht einmal bei Solotari war Licht. Das Städtchen lag in tiefem Schlaf. Nur das leise Summen der unvermeidlichen Gitarre drang irgendwoher aus einem der in undurchdringliches Dunkel gehüllten Adobehäuser. Vanamee eilte weiter. Der Geruch der Felder und ferner, ihm wohlvertrauter Blumenduft wehte ihn an, als er das Städtchen auf der Straße verließ, die über Quien Sabe nach der Mission führte. Zu beiden Seiten breitete sich das braune Ackerland, das still in seinem Schoße das Samenkorn nährte. Vor zwei Tagen war reichlicher Regen gefallen, und der noch feuchte Boden hauchte den würzigen Duft der Fruchtbarkeit aus. Vanamee blieb auf der Straße, die ihn an den Gebäuden von Annixters Heimfarm vorbeiführte. Alles schlief. Das Windrad des Pumpwerks über dem artesischen Brunnen knarrte hin und wieder, während es sich in der leichten Nordostbrise drehte. Eine auf Feldmäuse Jagd machende Katze schlich aus dem Schatten des riesigen Barns hervor und blieb im freien Felde unentschlossen und mit zuckender Schwanzspitze stehen. Aus dem Innern des Barns kam das Geräusch eines sich an den Brettern reibenden schweren Körpers und sich rührender Hufe; eine der schlummernden Kühe hatte sich mit einem tiefen Atemzuge niedergelegt.

Vanamee ließ die Ranchgebäude hinter sich und eilte weiter. Vor ihm, rechts von der Wegrichtung, konnte er den Missionshügel mit dem ihn krönenden Glockenturm erkennen. Die Zeit ging dahin. Ohne sich aufzuhalten, setzte er seinen Weg fort. Mit einem Male blieb er, den Kopf hoch emporrichtend und Auge und Ohr anspannend, stehen. Mit seinem seltsamen sechsten Sinn, der so feinfühlig wie die Blätter der Mimosa pudica war, hatte er plötzlich die Nähe eines Menschen wahrgenommen. Er hatte nichts gesehen, nichts gehört; trotzdem aber blieb er einen Augenblick wie festgebannt stehen, um dann, seiner Sache sicher, langsam und vorsichtig weiterzuschreiten. Endlich entdeckten seine scharf ausspähenden Augen in einiger Entfernung vom Wege einen Gegenstand, der nur wenig dunkler als das Graubraun der nächtlichen Felder war. Vanamee verließ die Landstraße und schlich, behutsam auf die feuchten Erdklumpen tretend, näher. Auf zwanzig Schritt Entfernung machte er Halt.

Annixter saß in gebeugter Haltung und seinen Rücken dem Späher zuwendend auf einem runden weißen Steine; er hatte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in seine Hände gestützt. Schweigend und unbeweglich blickte er hinaus auf die flachen, düsteren Felder.

Es war die Nacht, in welcher der Herr von Quien Sabe vom Abenddunkel bis zum Morgengrauen mit dem eigenen Selbst kämpfend sich das Heil errang. Als Vanamee auf ihn stieß, hatte der Aufruhr seiner Seele eben begonnen. Sein Herz war noch nicht erwacht. Noch war die Nacht jung und die Morgendämmerung fern; kahl und braun, allen Lebens bar breiteten sich die Felder in ihrer auch nicht durch einen einzigen grünen Schößling unterbrochenen Oede um den Einsamen.

Einen Augenblick berührten sich in der stillen Sternennacht die Lebenskreise dieser beiden, ihrer Sinnesart nach so verschiedenen Männer. Schweigend zog Vanamee sich zurück und wanderte weiter; verwundert dachte er darüber nach, welcher Kummer wohl den mit scharfem Verstande begabten und von keinerlei Träumereien gestörten Geschäftsmann gleich ihm in die Nacht hinausgetrieben haben konnte, um, auf öde Felder starrend, vor sich hinzubrüten.

Dann aber vergaß er alles. Die Wirklichkeit versank vor ihm. Die greifbare Welt schrumpfte zu einem Punkt zusammen und verschwand wie ein Stern vor dem aufgehenden Monde. Alles Irdische löste sich auf und verging, und ein Duft von unbekannter Eigenart wehte ihm entgegen. Ein andrer Luftkreis hüllte seine Umgebung ein. Er betrat die Märchenwelt der Gesichte und Wunder, in der alles möglich war. Vanamee stand an der Pforte des Missionsgartens.

Vor ihm ragte der altersgraue Turm der Missionskirche in den Nachthimmel. Durch die offenen Rundbogen an seiner Spitze, in denen die Glocken der spanischen Königin hingen, blickten die Sterne. In lautlosem Zickzackflug umherflatternde Fledermäuse warfen tanzende Schatten auf die fahlen, grauen Mauern des ehrwürdigen Baues. Nicht einmal das Zirpen eines Heimchens unterbrach die lautlose Stille. Die Bienen schliefen. Im Grase, im Laub der Bäume, tief in den Kelchen der Fächerblumen und Magnoliablüten ruhten schlummernd Käfer, Raupen. Mücken und die Menge der verschiedenartigen, tagsüber ihr Wesen treibenden winzigen Geschöpfe. Nicht einmal ein so leichtes Geräusch wie das Rascheln einer Eidechse auf den warmen, ausgetretenen Fliesen des Säulenganges störte die unendliche Ruhe, die tiefe Stille. Im Garten war nur das leise Plätschern des Springbrunnens zu hören, dessen Strahl in seinem unaufhörlichen Fall das Dahingleiten der Sekunden, den Gang der Stunden, den Kreislauf der Jahre, den unaufhaltsamen Marsch der Jahrhunderte abmaß.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der Vanamee die Pforte, vor der er jetzt stand, als ihm verschlossen betrachtete. Aber längst schon dachte er anders. Einen Augenblick noch zögerte er, versunken in das Geheimnisvolle, Märchenhafte seiner Umgebung; dann drückte er die Klinke auf, trat ein und schloß die Pforte leise hinter sich. Er stand im Klostergarten. Der dunkelblaue Nachthimmel war dicht mit Sternen besät; wie ein Silberschleier schimmerte die Milchstraße. Im Norden stand das riesige Sternbild des Großen Bären. Der Orionnebel war ein Gewirr flimmernden Sternenstaubes. Venus, eine funkelnde Scheibe von bleichem Saffrangelb, flammte tief über dem Horizont. Wie eine Prozession von Kaisern zogen die Sternbilder von einem Rande des Weltalls bis zum andern. Ein geheimnisvolles, alles durchdringendes Licht ging aus von der Herrlichkeit ihrer Bahnen und verbreitete sich, in hellem majestätischen Glänze strahlend, über die ganze Erde.

Der kleine Garten lag im Schatten von Bäumen und Mauern; nur über einen Teil ergoß sich das von den Sternen niederfließende Licht. Auf den glatten Blättern der Birnbäume flimmerte ein schwacher Schein des von ihnen zurückgeworfenen Lichtes, wenn immer der leise Luftzug sie bewegte. Wie ein Schild von mattem Silber schimmerten die ineinander fließenden Ringe, die der Strahl des Springbrunnens im Niederfallen auf der Wasserfläche bildete. Von der Flut tiefblauen Glanzes durchströmt glichen die den Rasen durchziehenden Kiespfade Geweben weißer Seide auf dem Grunde eines Sees. Wie ein im Dunkel verschwimmender Zug grauer Mönchskutten reihten sich die Grabsteine an der Ostmauer.

Vanamee durchquerte den Garten und verweilte einen Augenblick, um den Rasen auf dem Grabe Angeles zu küssen. Dann schritt er nach den Birnbäumen hin; in ihren tiefen Schatten gelagert und das Kinn auf die Hände gestützt, ließ er seine Augen über das kleine Tal am Fuße des Missionshügels wandern.

Wieder rief er nach der Vision. Wieder beschwor er das Trugbild herauf. Von Zweifeln gequält, von stets lebendigem Gram gemartert, flehte er von neuem um eine Antwort aus dem Dunkel der Nacht. Wieder sandte Vanamee, der Mystiker, seine Seele hinaus über die bezauberte See des Uebernatürlichen. In ihm regte sich eine Hoffnung auf etwas Unbekanntes, Unnennbares. Sicherlich, in einer Nacht wie dieser mußte das Trugbild sich zur Wirklichkeit wandeln. Sicher mußte ihm die Offenbarung kommen.

Vanamees Augen schlossen sich; die ganze Kraft seines Willens aufbietend und die Sinne aufs äußerste anspannend, bis eine wohlige Betäubung sie umfing, rief er Angèle. Der stumme Schrei seiner Seele drang weit hinaus in das Meer schwachen, vergänglichen Lichtes, das in dem kleinen Tale zu seinen Füßen wogte. Bewegungslos auf dem Rasen hingestreckt, wartete er.

Monate waren vergangen seit jener ersten Nacht, in der endlich eine Antwort gekommen war. Damals war er durch diese Antwort, um die er so heiß gerungen hatte, aller Fassung beraubt und in den Tiefen seiner Seele erschüttert worden; er nahm sich fest vor, die ihm innewohnende seltsame Kraft nie wieder auf die Probe zu stellen. Aber trotzdem hatte er in einer zweiten Nacht, in einer dritten und einer vierten den Garten wieder aufgesucht. Diese nächtlichen Besuche wurden ihm zur Gewohnheit. Jede Nacht kam er; willig überließ er sich den Einflüssen, die der Klostergarten auf ihn ausübte, und gelangte allmählich zu der Ueberzeugung, daß tatsächlich etwas antwortete, wenn er rief. Sein Glaube nahm zu, als der Winter dem Frühling wich. Im Verlaufe des Frühlings mit seinen abnehmenden Nächten wurde dieser Glaube zur Gewißheit. Würde die längst verstorbene Geliebte ihm wieder angehören? Würde sie zu ihm kommen aus dem Grabe, aus dem Dunkel der Nacht? Er wußte es nicht, er konnte nur hoffen. Er wußte nur, daß seinem Schrei eine Antwort ward, er wußte, daß seine im Dunkel tastenden Hände andern Fingern begegneten. Geduldig wartete er. Die Nächte wurden wärmer, je weiter der Frühling vorrückte. Er wartete. Wärmer und lichter wurden die Nächte; heller schienen die Sterne. Nach der ersten Antwort ging fast ein ganzer Monat dahin, während dessen sich nichts Neues ereignete. Einige Nächte blieb die Antwort ganz aus; zuweilen war sie so unmerklich, daß Vanamee sich getäuscht zu haben glaubte.

Endlich aber trat eine ganz geringe, kaum wahrnehmbare Veränderung ein. Vanamees in weiter Ferne tastende, wie ein verflogener Vogel über dem Tal hinirrende Seele traf wieder auf etwas, um es festzuhalten und einen Schritt näher an sich heranzuziehen. Sein Herz klopfte, das Blut brauste ihm in den Schläfen, während er mit den Augen seiner Einbildungskraft dieses schrittweise Nahen beobachtete. Was kam zu ihm? Wer kam? Wem gehörte jenes ins Dunkel der Nacht gehüllte Antlitz, das sich ihm jetzt zuwandte? Wessen Fußtritte waren es, die sich dem Orte, wo er wartete, so unendlich langsam näherten? Er wagte nicht, sich die Antwort darauf zu geben.

Seine Erinnerung eilte lange Jahre zurück; er dachte der Zeit, die dem Auftreten des andern in dem mit Angèles Tod endenden Tauerspiel vorausging. Damals hatte er gewartet, wie er jetzt wartete. Aber sein Warten war nicht vergeblich gewesen. Damals hatte er, wie jetzt, zu fühlen geglaubt, wie sie dem Stelldichein immer näher kam. Was würde jetzt geschehen? Er wußte es nicht. Er wartete. Er wartete, alles erhoffend. Alles glaubend wartete er. Er wartete, alles erduldend. Gläubig vertraute er auf die Erscheinung.

Im Verlaufe des Frühlings waren die Blumen der Farm, der sie den Namen gaben, zu neuem Leben erwacht, lieber die fünfhundert mit Blumen bepflanzten Acker Landes breitete sich wie die Wogen einer grünen See der stetig zunehmende Wuchs von Ranken und Trieben. Dann begann der mannigfach abgetönte Schimmer schwellender Knospen sich schüchtern zu zeigen. Im Lichte des Mondes sah Vanamee sie aufblühen; mit Zartrosa und Mattblau, mit den feinsten Abstufungen von Lila und Gelb mischte sich in goldigem Widerschein schimmerndes Weiß, und alle diese Farben erschienen im bleichen Lichte des Nachtgestirns gemildert und gedämpft.

Allmählich wurde die Nachtluft gesättigt mit süßem Blumendufte, der, anfangs so vergänglich und sein wie die Spinnenfäden des Mariensommers, stetig zunahm und immer stärker und würziger wurde. Ein wundervolles Gemisch der verschiedensten Wohlgerüche wehte beständig von der Blumenfarm über den Missionsgarten und vereinigte sich mit dem Duft seiner Magnoliablüten und Fächerblumen.

Als die Farben der Blumen leuchtender und ihr Duft voller und durchdringender wurde, da machte auch die Erscheinung sich Vanamee fühlbarer. Die Antwort kam dem im Schatten der Birnbäume Harrenden unmerklich näher und näher. Er sah nichts als den fernen Schimmer der Blumen. Er hörte nichts als das Plätschern des Springbrunnens. Nichts rührte sich um ihn als das leise, unsichtbare Wehen süßer Blumendüfte, und doch fühlte er das Nahen der Erscheinung.

Sie kam zuerst auf etwa eine halbe Meile heran, bis zur Mitte der Blumenfarm, dort wo die Veilchen wuchsen, schüchterne, bescheidene, dicht an den Boden geschmiegte Blümchen. Dann schritt sie, näher kommend, durch die Veilchen und weilte inmitten der mutigeren Resedenblüten, die zwischen den Blättern hindurch himmelwärts zu blicken wagten. Einige Nächte darauf ließ sie die Reseden hinter sich und stand in den Beeten weißer, kühn emporstrebender Schwertlilien, deren wie aus Wachs geformte Blumenblätter Bewunderung heischten. Dann trat sie weit vor in die stolze, herausfordernde Schönheit der Nelken und Rosen; endlich aber, nach vielen Nächten fühlte Vanamee, daß sie, wie vor ihrer eignen Kühnheit zitternd, in der Pracht der königlichen Lilien Halt machte, die am äußersten, ihm nächsten Rande der Blumenfarm wuchsen. Danach trat eine längere Pause ein. In finsterer Mitternachtsstunde rückte die Erscheinung endlich weiter vor. Kaum konnte Vanamee einen Aufschrei unterdrücken. Die Erscheinung kam jetzt aus den Blumen heraus. Nicht mehr weit von ihm, doch unsichtbar, weilte sie am Fuße des Missionshügels in einer Bodenvertiefung, über der die dunkelsten Schatten lagen. Sie war fast in Hörweite.

Die Nächte gingen dahin. Immer wärmer wurde der Frühling. Regenschauer erfrischten tagsüber die Erde. Schnell wuchsen die Blumen empor. Knospe auf Knospe öffnete sich; die Blüten aber gelangten zu ihrer vollen Pracht. Immer satter wurden die Farben der Blumenfarm.

In einer dieser Nächte fühlte Vanamee mit einem Male den Hauch eines warmen Windes auf seiner Wange, der, von Osten her über das kleine Tal streichend, die Zweige der Birnbäume im Missionsgarten bewegte. Er schien geschwängert mit der Quintessenz aller Blumengerüche. Noch nie war der Duft so süß, so durchdringend gewesen. Der Lufthauch wehte vorüber, um wieder einzuschlummern und tiefe Stille auf seiner Bahn zurückzulassen. Und dann endlich wurde die Stille der Nacht, die Vanamee so oft schon angerufen hatte, durch einen schwachen Laut unterbrochen. Sich halb aufrichtend, lauschte er mit gespanntester Aufmerksamkeit, denn jetzt endlich hörte er etwas. Er hätte nicht sagen können, was es war; es hatte keinerlei Aehnlichkeit mit den verschiedenen leisen Geräuschen der Nacht, die ihm so vertraut waren. Es war weder das Rascheln eines Blattes, noch das leise Knacken eines zerbrechenden Zweiges, noch das Summen eines Insektes oder das Zubodenfallen einer Magnolienblüte. Ein bloßes kaum bemerkbares Schwingen war es, das sich nicht beschreiben ließ, eine winzige Scharte in der fein geschliffenen Schneide der Stille.

Die Nächte kamen und gingen. Heller wurde das Sternenlicht, wärmer die Luft. Ueppiger blühten die Blumen. Ueber die fünfhundert Acker der Blumenfarm war ein duftender vielfarbiger Teppich gebreitet.

Mitternacht war's, als ein neues Licht sich am Himmel zeigte. Die seine Sichel des Mondes schimmerte hinter dem Schleier der von der Erde aufsteigenden Nebel. Das Licht nahm zu. Die bisher in Dunkel gehüllte Ferne erschloß sich dem Blick. Vanamee, der bei der zunehmenden Helle das kleine Tal übersehen konnte, genoß einen Anblick von unvergleichlicher Schönheit. Alle Knospen auf der Blumenfarm waren erblüht. Die anfangs so zarten Farben hatten sich vertieft und kamen jetzt zur vollen Geltung. Rosa hatte sich zu königlichem Rot, Blau sich zu Purpur gewandelt. Gelb war zu flammendem Orange geworden, und was ehedem Orange war, glühte jetzt wie feuriges Gold. Aus dem Nebel aufsteigend, strebte der Mond durch spinnwebendünne Wolkenschleier dem Zenit zu. In dem Augenblick, als die strahlende Sichel ihr hellstes Licht herabsandte, fühlte Vanamee, dessen Augen das Dunkel am Fuße des Hügels zu durchdringen suchten, wie sein Herz plötzlich einen Sprung machte, stillstand und weiterzuschlagen sich weigerte. Während der nur Sekunden dauernden Helle hatte sein Auge etwas festgehalten. Dort unten am Fuße des Hügels, halb im Schatten, halb im Licht, hatte sich etwas bewegt. Im Augenblick war es erschienen und verschwunden. Von neuem engten Schatten den Gesichtskreis ein. Was hatte er denn gesehen? Er wußte es nicht. Die Bewegung war so flüchtig gewesen, daß sein träges Hirn die vom Auge mit Blitzesschnelle übermittelte Botschaft nicht zu deuten vermochte. Jetzt war es vorüber. Aber bewegt hatte sich etwas. War es der Saum eines Gewandes, war es eine im leisen Luftzug wehende Locke oder hatte eine weiße Hand gewinkt? Er hätte nicht darauf zu antworten vermocht; aber es war nichts von dem, was er hier zu sehen gewöhnt war. Es war weder der fahle Glanz eines Mottenflügels, noch das Nicken einer Blüte im Luftzug, noch der geräuschlose Flug einer Fledermaus. Ein schwacher, flüchtiger Schimmer nur war es, eine nicht zu schildernde Bewegung in dem weiten dunkeln Meere der Nacht.

Das war alles. Bis jetzt hatte sich nichts Bestimmtes ereignet, nichts, das Vanamee auf Tatsachen zurückführen und in Worten hätte schildern können. Wenn der Vorgang auch nicht ausschließlich von seinem seltsamen sechsten Sinn zu erkennen war, so wandte er sich doch an das feinste, bis aufs höchste gesteigerte Wahrnehmungsvermögen von Auge und Ohr. Flüchtig, verschleiert und traumhaft war alles das, diese geheimnisvolle Offenbarung, diese Entwicklung des Unsichtbaren zu einem festen Kern, die Verdichtung des Sternenlichts und der Blumenpracht, die Wandlung des köstlichen Duftes, der süßesten Wohlgerüche zu etwas Gestaltetem.

Aber bald schlich sich die Schlange in den Garten ein.

In wache Träume gewiegt, eingelullt von der ruhevollen Schönheit der sommerwarmen, mit dem durchdringenden Duft und dem funkelnden Glanz unzähliger Blumen erfüllten Nacht, deren Stille nur das leise Plätschern des Springbrunnens unterbrach, konnte Vanamee doch den unheilvollen andern nicht vergessen, den Schrecklichen, das von der Nacht ausgespiene Scheusal, den Unhold mit vom Dunkel verhüllten Zügen, der, im Augenblick erschienen und verschwunden, Tod und Befleckung auf seiner Bahn zurückließ. Nie war die Erinnerung an das Entsetzliche in Vanamee lebendiger geworden als an jenem Abend, an dem er Presley auf der Viehtrift von Los Muertos verlassen hatte und über Quien Sabe nach dem Missionsgarten gewandert war. Diese selbe Nacht hatte Annixter, bis die Sterne verblichen, durchwacht und dabei sein besseres Selbst gefunden. In nächtlicher Stunde harrten die beiden Männer, jeder für sich und ohne etwas voneinander zu wissen, der Offenbarung – Annixter auf seiner Ranch, Vanamee im Garten der Mission. Lang ausgestreckt und bewegungslos, die Stirn zwischen den gekreuzten Armen, lag Vanamee unter den Birnbäumen. Noch einmal sandte er, den Kopf hebend, den stummen Schrei seiner Seele über die bunten Felder des kleinen Tales hinaus in die Nacht und forderte das Wunder; gewillt, sich jeder Sinnestäuschung zu überlassen, beschwor er die Finsternis, ihm Angèle wiederzugeben. Den Kopf wieder auf seine Arme sinken lassend, wartete er. Die Minuten verrannen. Ununterbrochen plätscherte der Springbrunnen. Ein Schimmer rötlichgelben Lichtes über den Hügeln kündigte den Aufgang des Vollmondes an. Nichts rührte sich. Tiefe Stille herrschte.

Plötzlich umspannte Vanamees Rechte mit krampfhaftem Griff das linke Handgelenk. Wieder rührte sich etwas als Antwort auf seinen Ruf. Dort, dort in der Ferne regte sich's wie leichtes Wellengekräusel auf dem stillen schwarzen Weiher der Nacht. Weder dem Gesicht noch dem Gehör wahrnehmbar, war es vorerst nichts als ein unendlich seines Schwingen, das nur von einer aufs höchste gesteigerten, noch unbenannten Fähigkeit der Seele empfunden werden konnte. Mit straff angespannten Nerven lag Vanamee starr und bewegungslos auf dem Boden und wartete.

Unendlich langsam kam es näher. Jetzt schritt es durch die Veilchen-, jetzt durch die Resedabeete. Dann stand es zwischen den weißen Schwertlilien. Diese hinter sich lassend, weilte es inmitten der Pracht der roten Rosen und Nelken. Darauf zog es wie ein seine Bahn verfolgender Stern in die schimmernde Fülle, die herrliche Ueppigkeit der königlichen Lilien. Langsam nur, aber ohne stillzustehen, schritt es weiter. Vanamee hielt den Atem an und wagte nicht, den Kopf zu heben. Es überschritt die Grenze der Blumenfarm und tauchte in den Schatten am Fuße des Hügels. Würde es wohl näher kommen? Hier hatte es immer Halt gemacht, einen Augenblick nur, um dann aber, so sehr Vanamee auch seinen Willen anstrengen mochte, zu entweichen und sich im Dunkel der Nacht zu verlieren. Jetzt aber erschien es ihm zweifelhaft, ob er wirklich seine ganze Willenskraft aufgeboten hatte. War seinem Gedanken, dem Geheimnis dicht gegenüberzustehen, nicht immer etwas wie Furcht beigemischt gewesen? Hatte er es vielleicht dadurch nicht verschuldet, daß die Erscheinung sich auflöste und die Antwort in das Dunkel zurückkehrte, aus dem sie gekommen war?

Doch noch keine Nacht war so wundervoll gewesen wie diese. In vollster Schönheit prangte der Frühling. Wie eine Liebkosung wirkte die Luft. Unsagbar köstlich war die tiefe Ruhe dieses verschwiegenen, weltfernen, mit Romantik getränkten Winkels, dieses Zaubergartens der Träume und Märchen. Unten in dem kleinen Tale glühte eine Million von Blumen, Rosen, Lilien, Hyazinthen, Nelken und Veilchen, in dem goldenen Licht des aufsteigenden Vollmonds. Schwer und dick, gesättigt mit Wohlgeruch war die Luft. Das Uebermaß süßen Duftes benahm fast den Atem. Am Firmament zogen die Sternbilder in unendlicher Reihenfolge ihre Bahnen. Die Erde schlief, und die Blumen träumten. Die Stille eines Domes lag über Feld und Flur; eine segnende Hand schien in göttlicher Milde Schönheit, Frieden und tiefe Ruhe zu spenden.

Es war die Zeit für Gesichte. Es war die Zeit, in der Träume wahr werden. Im hohen Grase unter den Birnbäumen lag Vanamee. Während er halb betäubt von geheimnisvollen Einflüssen krampfhaft nach dem Uebernatürlichen tastete, wurde ihm, als ob seine Seele mählich sich vom Körper löste und zu den Sternen emporschwebte. Er geriet in einen Zustand, den er noch nie an sich erfahren hatte. Er fühlte, wie seine Einbildungskraft sich umformte und sich dadurch vorbereitete, einen ihr gänzlich neuen Eindruck aus sich wirken zu lassen. Ihm war, als ob sein immer leichter werdender Körper dahinschwände und sich auflöste. Vanamee sah mit neuen Augen, hörte mit neuen Ohren, fühlte mit einem neuen Herzen.

»Komm zu mir,« murmelte er. Jetzt fühlte Vanamee das Herannahen der Erscheinung. Sie rückte langsam vor. Jeden Augenblick kam sie ihm näher. Endlich sollte er sehen. Sie war aus dem Schatten am Fuße des Hügels herausgetreten und kam langsam den Hang hinan. Gerade unter sich hörte Vanamee ein leises Geräusch. Das Gras raschelte unter leichten Tritten, die Blätter der Büsche rührten sich leise wie von einer Hand gestreift, und ein dünner Zweig knisterte. Die Geräusche wurden vernehmbarer, kamen näher und schließlich so nahe, daß der Lauscher ein geflüstertes Wort hätte verstehen können. Der zitternde Vanamee hielt sein Gesicht in den gekreuzten Armen verborgen. Das Geräusch hörte auf. Die Erscheinung konnte nicht mehr näher kommen. Vanamee hob den Kopf und blickte auf.

Der Mond war emporgestiegen. Sein großes goldenes Schild hing hoch über dem östlichen Horizont. Keine sechs Fuß von Vanamee stand, klar und deutlich sich von der Mondscheibe abhebend, die Gestalt eines jungen Mädchens. Sie war gekleidet in ein Gewand von scharlachroter Seide, wie die Japaner es tragen; Vögel und Blumen waren mit Goldfäden aufgestickt. Ihr Antlitz rahmten goldig schimmernde Haarflechten ein, die zusammen mit den schöngeschwungenen Brauen ein die runde weiße Stirn einrahmendes Dreieck bildeten. Schlaff hingen die Hände an den Seiten herab. Zwischen den halbgeöffneten Lippen aber – Lippen von fast ägyptischer Fülle – kam langsam und regelmäßig der Atem. Die schwergeliderten Augen, deren schräg aufwärts nach den Schläfen verlausender Schnitt dem Antlitz einen fremdartig -rätselhaften, den Frauen des Orients eignen Liebreiz gab, waren geschlossen. Sie schlief.

Aus diesem blühenden Blumenleben, dieser Welt von Farbe, dieser von Wohlgeruch schwülen Luft, aus diesem mit süßen Düften erfüllten und überladenen Dunkel kam Angèle zu Vanamee. Aus der Fülle der Blumen nahte sie ihm. Der Duft der Rosen war in ihrem goldenen Haar; rot und duftig wie Nelken waren ihre Lippen. Der Nacken hatte das schneeige Weiß, den zarten Wohlgeruch und die schwebende Anmut der Lilienkelche. Von ihren Händen ging das süße Arom des Heliotrops aus. Der weiche, einschläfernde Duft der Mohnblüte wehte aus den Falten ihres Gewandes. Den kleinen Füßen war der seine Wohlgeruch der Hyazinthen eigen. Sie stand vor ihm, eine verwirklichte Vision – ein erfüllter Traum. Aus dem Unsichtbaren war sie aufgetaucht. Er sah sie, eine Gestalt aus Gold, Scharlach und Blumendüften, im rötlichgelben Licht des Vollmonds bewegungslos vor sich stehen. Sie, ein Geschöpf des Schlafes, schlief selber. Sie, ein Traum, träumte selbst. Heraufbeschworen aus der Finsternis, aus den Banden der Erde, aus der Umarmung des Grabes, aus Befleckung und Schmach, war sie göttlich rein zu Licht und Leben erstanden. Auf ihrer weißen Stirn war kein Makel, kein Fleck von irdischer Besudelung, kein Schandmal der Entehrung. Sie erschien ihm in derselben Schönheit unberührter Unschuld wie zu seiner Jugendzeit. Die Jahre hatten sie nicht verändert. Sie war jung geblieben. Die ursprüngliche Reinheit, das immer neu geborene Leben, die dem Tode trotzende Schönheit, die von Ewigkeit geheiligte und unsterbliche Jugend war wiedergekehrt. Einige Sekunden nur stand sie vor ihm; hingestreckt zu ihren Füßen, blickte er wie verzaubert zu ihr auf. Langsam wandte sie sich von ihm ab. Noch immer schlafend und mit geschlossenen Augen schritt sie den Hügel hinab und verschwand im Dunkel.

Vanamee sprang auf; wie aus einer Betäubung erwachend, blickte er wild um sich. Sarria stand vor ihm.

»Ich habe sie gesehen.« sagte der Priester. »Es war Angèle, das liebe Kind, die Tochter deiner Angèle. Sie gleicht ihrer Mutter.«

Aber Vanamee hörte ihn kaum. Wie verzückt schritt er, das Gewand des Priesters streifend, aus dem Garten ins Freie. Angèle oder Angèles Tochter bedeutete für ihn dasselbe. Sie, sie war es. Ueberwunden war der Tod, besiegt das Grab. Das ewig erneuerte Leben allein dauerte fort. Die Zeit, der Tod war nichts. Alles war unvergänglich, nur das Böse nicht – alles währte in Ewigkeit, nur nicht der Schmerz.

Und jetzt dämmerte der Morgen; im Osten stieg rosige Glut zum Zenit empor. Ohne zu wissen, wohin seine Füße ihn trugen, wanderte Vanamee weiter. Heller wurde die Dämmerung. Auf dem Gipfel eines die Ranchos beherrschenden Hügels machte Vanamee Halt und blickte nach Süden über die weiten Felder hin. Plötzlich warf er seine Arme empor und stieß einen Freudenruf aus.

Der Weizen war da, der Weizen! Ueber Nacht war er aufgekeimt. Er war da, war überall; von dem einen Rande des Horizonts bis zum andern zeigten sich seine seinen Spitzen. Die so lange kahle Erde strotzte jetzt von grünem Leben. Wieder schwang das Pendel der Jahreszeiten in seinem mächtigen Kreisbogen vom Tode zurück zum Leben. Das Leben sproß aus dem Tode. Aus der Auflösung ragte die Ewigkeit empor. Und das war die Lehre. Angèle war nicht das Sinnbild, sondern der Beweis der Unsterblichkeit. Das Samenkorn starb und vermoderte in der Erde, um in fleckenloser Reinheit zu neuem, unbesiegbarem Leben aufzuerstehen. Angèle war bei der Geburt ihres Kindes gestorben; ihr Tod aber hatte neues Leben unbesiegbar und rein aus Schmach und Befleckung emporsprießen lassen. Warum war ihm die göttliche Erkenntnis nicht gekommen? Du Narr, das du säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn. Das Samenkorn war gestorben. Und das du säest, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, nämlich Weizen oder der andern eins. Aus der Finsternis, aus den Banden der Erde, aus der Umarmung des Grabes ward der Weizen auferweckt. So ist's mit Angèle, so mit der Auferstehung der Toten. Es wird gesäet verweslich und wird auserstehen unverweslich. Es wird gesäet in Unehre und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesäet in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft. Ueberwunden, besiegt war der Tod.

Höher stieg die Sonne. Vorüber war die Nacht. Die obsiegende Herrlichkeit der Sonne schlug Mond- und Sternenpracht aus dem Felde. Vom Gipfel des Hügels schweifte Vanamees Blick über das ewig junge, grünende Leben der jungen Weizensaat, die ihre Fesseln gesprengt hatte. Er hatte das Grab besiegt, und sein Herz frohlockte. Vanamee breitete die Arme aus; weithin schallte sein jubelnder Siegesruf: »O Tod, wo ist dein Stachel? O Grab, wo ist dein Sieg?«


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