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2

In der Bodensenkung, dort wo der unter der langen Trestlebrücke hindurchfließende Broderson-Bach den oberen Weg durchschnitt, hatten die graugrünen Kopfweiden nach dem Ausästen frische Zweige getrieben. An den Ufern des Baches gab es einige sumpfige Stellen, die Hilma Tree ab und zu aufsuchte, um Wasserkresse zur Bereitung von Salat zu sammeln. Es war ein malerisches verstecktes Plätzchen, eine schattige grüne Oase inmitten der grenzenlosen Einförmigkeit flacher Weizenfelder. Der Bach hatte eine tiefe Rinne in die kleine Schlucht genagt. Mochte die Hitze oben auf den im Sonnenbrande flimmernden Feldern noch so groß sein, hier unten herrschte duftige, feuchte Kühle. Das gleichmäßige Murmeln des über große Steine fließenden Baches wurde von Zeit zu Zeit übertönt von dem Donner der Züge, die mit ihren Hunderten von Rädern über die Brücke rollten und die Luft mit dem Geruche von heißem Oel, beizendem Rauch und dem Dunste ausströmenden Dampfes erfüllten.

An einem Frühlingsnachmittag hatte Hilma auf dem Pfade, der von Los Muertos über Hoovens Pachtfarm nach Quien Sabe führte, den Heimweg eingeschlagen. Sie war bei Minna Hooven gewesen, die wegen eines verrenkten Fußes das Zimmer hüten mußte. Während Hilma nach der vom Wasser angeschwemmten Sandbank und dem Weidendickicht unter der Trestlebrücke hinabschritt, kam es ihr in den Sinn, Kresse für ihr Abendbrot zu pflücken. Am Fuße eines der Brückenträger wuchs die Kresse am üppigsten; Hilma pflückte einige Handvoll, die sie im Bache abspülte und in ihrem Taschentuche zu einem kleinen runden Bündel zusammenband. Ihr war von dem Wege warm geworden, und so drückte sie den kühlen, feuchten Ball an Gesicht und Hals; ein Gefühl köstlicher Frische durchrieselte sie jetzt.

Trotz der Veränderung, die Annixter während seines Festes an ihr bemerkt hatte, war Hilma dennoch in vielem ein Kind geblieben. Erfinderisch in der Art, sich zu vergnügen, trieb Hilma, wenn sie sich selbst überlassen war, allerlei Kurzweil. Jetzt eben fiel es ihr ein, sich flach auf die Erde zu legen und, das Gesicht halb im Wasser, aus dem Bache zu trinken; sie hatte zwar keinen Durst, aber das war für sie eine neue Art zu trinken. Sie stellte sich vor, eine von der Nacht überraschte Wandernde zu sein, eine arme Verstoßene, die ihren Durst aus dem Bach am Wege löschte. Die Nacht kam heran. Ein Unwetter drohte. Sie wußte nicht, wo sie ihr Haupt niederlegen sollte. An einer Hütte wollte sie um Obdach bitten.

Mit einem Male bekam sie große Lust, im Bache zu waten. Sie hatte immer ihren Spaß am Wasser gehabt. Wie herrlich müßte es jetzt sein, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und in dem seichten Wasser herumzupatschen. Sie trug niedrige Schuhe, an deren oberen, den Fuß umschließenden Rändern Staub und Sand während des Gehens eingedrungen war. Die Zähne wurden ihr förmlich stumpf, wenn sie das Zeug an den Fußsohlen fühlte. Köstlich müßte es sein, die Füße jetzt in das kühle klare Wasser zu tauchen, und wie leicht könnte sie das tun, wenn sie noch ein kleines Mädchen wäre. Erwachsen zu sein, war eigentlich recht dumm. Schon saß Hilma am Bachrande und steckte einen Finger an der Ferse in den Schuh, als sie im letzten Augenblicke zögerte. Wenn nun ein Zug käme! Sie glaubte schon den Lokomotivführer zu sehen, wie er, über das ganze Gesicht grinsend, sich aus dem Führerstande herauslehnte, oder den Bremser, der ihr von der Wagenplattform einen derben Spaß zurief. Und da wurde sie plötzlich purpurrot. Sie fühlte das Blut in den Schläfen und das Pochen ihres Herzens.

Seit seinem famosen Barnball hatte Annixter nur zweimal mit Hilma gesprochen. Sie kam nicht mehr in das Ranchhaus. Das junge Mädchen entsetzte sich bei dem Gedanken, Annixters Speise- oder Schlafzimmer zu betreten; ihre Mutter hielt jetzt diese Räume in Ordnung. Das einemal hatte sie mit dem Herrn von Quien Sabe nur einen Gruß gewechselt, als sie bei dem artesischen Brunnen an ihm vorüberging; das zweite Zusammentreffen war nicht so kurz gewesen. Annixter hatte unter dem Vorwande, die neue Käsepresse zu besichtigen und sich ihre Handhabung erklären zu lassen, Hilma in der Molkerei aufgesucht. Bei seinem letzten Besuch dort, der mit Annixters Unterfangen, Hilma zu küssen, geendet hatte, war das Mädchen recht gesprächig gewesen; fortwährend und von allem möglichen hatte Hilma geplaudert. Diesmal aber war seine Anwesenheit eine wahre Pein für sie gewesen. Kaum war Annixter eingetreten, als ihr Herz auch schon wie das eines von Hunden gehetzten Rehes zu klopfen und zu beben begann. Sie hatte die Sprache verloren. Während des ganzen kurzen Zusammenseins war ihre Zunge wie gelähmt gewesen; in ihrer Verwirrung und Angst konnte sie nur einzelne Worte stammeln. Als Annixter gegangen war, hatte sie sich in ihr Stübchen geflüchtet, die Tür verriegelt und sich auf ihr Bett geworfen, um, das Gesicht in den Kissen vergraben, herzzerbrechend zu weinen, ohne zu wissen weshalb.

Den Umstand, daß Annixter während des ganzen Winters mit Geschäften überhäuft war, empfand Hilma als eine wahre Erlösung. Seine Angelegenheiten nötigten ihn zu längerer Abwesenheit. Zuweilen blieb er auf seinen Reisen nach San Francisco, Sacramento und Bonneville wochenlang von Hause fort. Vielleicht vergaß oder übersah er sie; wenn Hilma sich anfangs auch sagte, daß es so am besten sei, so begann sie doch mehr und mehr darüber nachzudenken und sich zu fragen, ob das auch wirklich der Fall wäre.

Sie kannte seine Sorgen. Jedermann wußte darum. Die Nachricht von der plötzlichen Vorwärtsbewegung der Streitkräfte der Eisenbahn, womit diese zum entscheidenden Schlag ausholte, hatte sich wie ein Lauffeuer über die ganze Gegend verbreitet. Nach Hilmas Ansicht war Annixters Verhalten über alle Maßen heldenhaft. Sein Mut, den er bei dem Ball Delaney gegenüber gezeigt hatte und mit dem er jetzt der Eisenbahn entgegentrat, erschien ihr als der Gipfel der Erhabenheit. Sie wollte nicht einsehen, daß Bundesgenossen ihm im Kampfe beistanden. Die große Liga, der sich alle Ranchbesitzer anschlossen, war ihrer Meinung nach eine bloße Formsache. Ganz allein stand Annixter dem Ungetüm gegenüber. Wenn er nicht wäre, so würde die Bahn Quien Sabe verschlingen wie der Walfisch ein Weißfischchen. Er war ein Held, der sich zwischen die Schwachen und die Vernichtung stellte. Sie sah in ihm den Beschützer ihrer Familie. Er war ihr Ritter. Sie begann Annixter in ihr Abendgebet einzuschließen, dem sie noch die besondere Bitte hinzufügte, daß er ein recht guter Mensch werden, nicht so viel fluchen und nie wieder mit Delaney zusammentreffen möchte.

Während Hilma noch überlegte, ob sie wohl im Bache waten sollte, kam richtig der Ueberland-Expreß, ein durchgehender Eilzug, der auf der ganzen Strecke zwischen Bakersfield und Fresno nicht ein einziges Mal anhielt, über die Brücke gedonnert. Mit betäubendem Getöse und in einen Wirbel von Rauch gehüllt stürmte die lange Reihe der mit dem Staub der großen Wüsten des Südwestens bedeckten Personenwagen und schokoladenfarbenen Pullmans vorüber. Die Erschütterung der Brückenträger ließ den Erdboden an ihrer Grundfläche erbeben. Das Donnergeroll der Räder übertönte das Murmeln des Baches sowie das Knirschen von Pferdehufen auf dem Uferkies. Als sich Hilma, nachdem der Zug vorübergerasselt war, umwandte, sah sie plötzlich Annixter auf dem Buckskin dicht vor sich.

Er blickte sie an und lächelte, was er nur selten tat. Die scharfe Linie seiner vorstehenden Unterlippe schien heute gemildert, und er sah gutgelaunt aus. Annixter hatte den breitrandigen Filzhut zum Gruß abgenommen, und wenngleich sein strohgelbes starres Haar zu einem Quast gedreht war, so fehlte doch heute der kleine, wie die Skalplocke eines Apachen am Scheitel steif emporstehende Haarbüschel.

»Hallo, Fräulein Hilma, sind Sie's?!« rief er Pferde steigend, das er trinken ließ.

Hilma, die rasch aufgestanden war, nickte befangen und klopfte in nervöser Hast mit beiden Händen den Staub von ihrem Rocke.

Annixter setzte sich, den Zügel über den Arm gehängt, auf einen großen Stein in ihrer Nähe, zündete eine Zigarre an und begann zu reden. Er klagte über die Hitze, über den schlechten Zustand des unteren Weges, den er, von einer in Los Muertos abgehaltenen Vorstandssitzung der Liga kommend, geritten war, über das langsame Fortschreiten der Arbeit am Bewässerungsgraben und vor allem andern natürlich über die gegenwärtigen schlechten Zeiten.

»Fräulein Hilma,« sagte er plötzlich, »heiraten Sie nie einen Ranchbesitzer. Der kommt nie aus den Sorgen heraus.«

Hilma atmete schwer auf, ihre Augen öffneten sich weit. Ein plötzliches unerklärliches Schuldbewußtsein bemächtigte sich ihrer und versetzte sie in unsägliche Verwirrung. Ihre zitternden Hände preßten das Kressenbündel zu einem harten Ball zusammen. Annixter sprach weiter; das unerwartete Zusammentreffen hatte ihn ebenso überrascht wie erregt. In angestrengter Tätigkeit war ihm der Winter vergangen; den Wahlfeldzug hatte er mit fieberhaftem Eifer geführt, ohne sich in der Folge durch das endlose Hinziehen der von einem zum andern Gerichte verwiesenen und schließlich mit einer Niederlage endenden Prozesse entmutigen zu lassen. Im Kampfe mit all diesen Widerwärtigkeiten hatte er immer wieder daran denken müssen, wie er, den Arm schützend um Hilma geschlungen, mit ihr mitten im Barn gestanden und sein Leben von dem Revolver Delaneys bedroht gesehen hatte; der Ausdruck ihrer Züge war ihm unvergeßlich geblieben. Das stumme Geständnis in Hilmas angstvollen, weitgeöffneten Augen hatte ihm genug gesagt. In der Folge aber fehlte ihm die Gelegenheit, sich diesen Umstand zunutze zu machen. Während der kurzen Zeiträume, die er auf seiner Ranch zubringen konnte, hatte ihm Hilma immer auszuweichen gewußt. In der Weihnachtszeit war sie sogar während eines ganzen Monats bei dem Bruder ihrer Mutter, der ein Hotel in San Francisco hielt, zum Besuch gewesen. Heute aber hatte Annixter sie ganz für sich allein. Er wollte dem Zustande, der ihn alle diese Tage und Monate hindurch beunruhigt und gequält hatte, ein Ende machen. Jetzt war Zweifellos der entscheidende Augenblick gekommen; Annixter wußte nur nicht recht, was dann daraus werden sollte. Er schob seine Zigarre zwischen den Zähnen zurecht und begann von neuem zu reden. Die Laune wandelte ihn an, dieses Mädchen ins Vertrauen zu ziehen; er folgte dabei einer Eingebung, die ihm sagte, daß er dadurch Hilma nähertreten und ihr Vertrauen gewinnen würde.

»Was denken Sie wohl von diesem Streit, Fräulein Hilma – dieser Balgerei mit der Eisenbahn? Glauben Sie, daß Shelgrim und seine Bande sich in Quien Sabe festsetzen und uns von der Ranch jagen werden?«

»O nein, Herr Annixter,« beteuerte Hilma, die noch ganz außer Atem war. »O nein, nimmermehr!«

»Na, was denn sonst?«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Hilma mit einer ihre Ratlosigkeit ausdrückenden Gebärde.

»Nun, die Liga hat heut einen Beschluß gefaßt. Wenn wir beim Obergericht verlieren – Sie wissen doch, wir haben beim Obergericht in Washington appelliert –, dann kommt's zum offenen Kampf.«

»Zum Kampf?«

»Jawohl! Dann schießen wir!«

»Schießen wollen Sie wie – wie damals Sie und Herr Delaney – o, Gott – das wollen Sie?«

»Ich weiß nicht,« murmelte Annixter unsicher. »Was meinen denn Sie?«

»Aufeinander zu schießen« – Hilmas tiefe, fast heisere Stimme zitterte – »ach, das ist schrecklich! O, diese Revolver damals im Barn! Ich höre sie noch krachen. Es war, als ob bei jedem Schuß ganze Tonnen voller Pulver explodierten.«

»Sollen wir also ausreißen? Sollen wir Delaney und S. Behrman und die ganze Bande sich hier festsetzen lassen? Sollen wir klein beigeben?«

»Nein, niemals!« rief sie mit blitzenden Augen.

»Sie wollen sich nicht aus Ihrem Heim vertreiben lassen, wie, Fräulein Hilma? Quien Sabe ist ja doch Ihr Heim, nicht wahr? Seitdem Sie nur 'ne Spanne groß waren, haben Sie hier Ihr ganzes Leben zugebracht. Sie möchten doch nicht, daß S. Behrman und all das Gesindel Sie 'rausjagt?«

»N–ein,« murmelte sie, »das möcht' ich nicht. Und da ist Mama und – –«

»Aber können Sie auch nur 'ne Sekunde denken, daß ich's zuließe?« rief Annixter und biß grimmig auf seine Zigarre. »Sie bleiben hier, wo Sie sind. Ich werde Sie schon beschützen. Hören Sie,« fragte er plötzlich, »Sie machen sich doch nichts aus dem Brüller und Saufbold, dem Delaney, wie?«

»Ich halte ihn für einen schlechten Menschen,« erklärte Hilma. »Ich weiß, daß die Bahn ihm einen Teil der Ranch zum Schein verkauft hat, und daß er sich von Herr S. Behrman und Herr Ruggles zu allem möglichen gebrauchen läßt.«

»So ist's. Ich dachte mir's, daß Sie nicht auf ihn versessen sind.«

Es trat eine Pause im Gespräch ein. Der Buckskin zupfte prustend an dem spärlichen, zwischen den Kieseln hervorsprießenden Grase, und Annixter schob seine Zigarre in den andern Mundwinkel.

»'s ist hübsch hier,« brummelte er, sich umsehend. »Hören Sie, Fräulein Hilma,« begann er von neuem, »ich möchte mal mit Ihnen reden, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich versteh' mich nicht darauf, so gewisse Sachen zu sagen, und wenn ich mich dabei verhäddere, so kommt das davon, daß ich keine Erfahrung darin habe, wie man sich mit Femininas – mit jungen Mädchen zu verhalten hat, verstehn Sie? Sehen Sie mal, die ganze Zeit seit dem Barnball und auch schon lange vorher hab' ich immer an Sie denken müssen. Wahrhaftig, das hab' ich, und ich glaube, Sie wissen das. Sie sind wohl das einzige Mädchen, das ich je so richtig kennen gelernt habe, und ich glaube« – langsam und bedächtig sprach er die letzten Worte –, »daß Sie wohl die einzige sind, die ich überhaupt kennen will. Das liegt so in meiner Natur. Sie sagten weiter nichts damals, als wir zusammen dastanden und Delaney den Hansnarren spielte; ich hatte aber doch die Idee, daß Sie nicht wollten, daß Delaney mir auch nur das geringste zufügte, und daß ich Ihnen, wenn mir was passiert wäre, mehr leid getan hätte als irgendein andrer, der was abgekriegt hätte. Nun, mir ging's mit Ihnen gerade so. Er hätte irgendein andres Mädchen im Barn oder meinetwegen im ganzen Staat schießen können, nur Sie nicht. Wahrhaftig, Fräulein Hilma, wenn Ihnen was geschähe, da würde mir an nichts mehr was liegen. S. Behrman könnte Quien Sabe stehlen – ich hätte nichts dagegen. Und Delaney könnte mich, wenn's ihm einfiele, gut und gerne voller Löcher schießen. Ich ließe alles geschehen. Ruhig hinlegen würde ich mich. Mir wäre alles ganz egal. Für mich sind Sie ja das einzige Mädchen in der Welt. Zuerst dachte ich nicht so. Ich wollte nicht. Aber wie ich Sie so jeden Tag vor den Augen gehabt und gesehen habe, wie hübsch Sie sind und wie gescheit, und wie ich immer wieder Ihre Stimme gehört habe, und alles das, wahrhaftig, das muß mir wohl so ins Innere gedrungen sein, daß ich jetzt an nichts andres mehr denken kann, 's ist mir verhaßt, wenn ich nach San Francisco oder Sacramento oder Visalia oder auch nur nach Bonneville muß, weil Sie eben nicht dort sind, und ich erledige meine Geschäfte Hals über Kopf, damit ich nur bald wieder hierhereilen kann. Als Sie damals, Weihnachten, weg waren, da kam ich mir doch so einsam und verlassen vor wie – o, Sie können sich das gar nicht vorstellen! Jeden Abend strich ich die Tage im Kalender durch, einen nach dem andern, bis Sie wiederkamen. Und das läuft alles daraus hinaus –'ich will, daß Sie immer bei mir sind. Ich will, daß Sie ein Heim haben, das auch meins ist. Ich will Sie behüten und Sie ganz für mich allein haben – verstehen Sie? Was sagen Sie dazu?«

»Ich – ich weiß nicht,« flüsterte Hilma.

»Was wissen Sie nicht? Glauben Sie nicht, wir könnten uns miteinander vertragen?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich weiß, wir könnten's, Hilma. Ich will Sie doch nicht ängstigen. Warum weinen Sie denn?«

»Ich weiß nicht.«

Annixter stand auf, warf seine Zigarre weg und trat, den Zügel des Buckskins zu Boden gleiten lassend, dicht an Hilma heran und legte die Hand auf ihre Schulter. Sie rührte sich nicht, er fühlte aber, wie sie zitterte. Dabei zupfte sie fortwährend an dem Knoten ihres Bündels.

»Ich kann nicht ohne Sie sein, Hilma,« fuhr Annixter fort, »und ich muß Sie haben. Es geht nicht anders. Ich hab' nie viel vom Leben gehabt. Das muß wohl so in meiner Natur liegen. Ich bin ein harter Mann. Alle möchten sie mich unterkriegen, und jetzt stell' ich mich gegen die Eisenbahn auf die, Hinterbeine, Tag und Nacht, Hilma, schlag' ich mich mit dem Gesindel 'rum. Ich kämpfe jetzt für meine Heimstätte, für mein Land, für alles, was ich in der Welt habe. Gewinne ich, so will ich ein Wesen haben, das sich mit mir freut. Gewinn' ich aber nicht, so brauch' ich erst recht jemand, der mich bedauert, und dieser Jemand sind Sie. Hundsmüde bin ich geworden von dem ewigen Alleinsein. Ich brauche ein Wesen, das mir beisteht. Ich will das Gefühl haben, daß Sie an meiner Seite sind und mir auch mal unter die Arme greifen können. Ich hab's satt, mich nur für Sachen herumzuschlagen – Besitz, Land, Geld. Ich will für einen Menschen kämpfen, für jemand neben mir. Ich will das Gefühl haben, daß es nicht nur Selbstsucht ist, sondern daß es sich noch um ganz was anders handelt –, daß eine Person so an mich denkt, wie ich an sie denke, daß jemand da ist, wenn ich nach Hause komme, um den ich meinen Arm legen kann – so wie jetzt – und daß die auch ihre Arme um mich schlingt – wie –« Er hielt eine Sekunde inne, und beider Augen trafen sich wie damals, als er im Moment höchster Gefahr seinen Arm schützend um sie gelegt hatte. »Daß auch sie ihre beiden Arme um mich schlingt,« soufflierte ihr Annixter lächelnd, »wie – wie wohl, Hilma?«

»Ich weiß nicht.«

»Wie denn, Hilma?« drang er in sie.

»So – so vielleicht?« Mit einer Bewegung zärtlichster Liebe schlang Hilma, deren Tränen noch immer flossen, ihre Arme um seinen Hals. Er fühlte die Wärme ihres Körpers in seiner Umarmung und durch den dünnen Aermel hindurch die volle, weiche Rundung des an seine Wange geschmiegten Armes. Ein Wonneschauer, wie er ihn noch nie empfunden hatte, durchbebte Annixter. Er beugte den Kopf herab und küßte sie auf den Nacken, dort, wo der seine, bernsteinfarbene Schimmer ihrer Haut in die dichten duftenden Massen des dunkelbraunen Haares überging. Ein leichtes Zittern überflog Hilma; verschämt und ohne es zu wagen aufzublicken schmiegte sie sich dichter an ihn. Wortlos hielten sich die beiden eine lange Weile in den Armen. Dann löste sich Hilma sanft aus seiner Umschlingung und trocknete ihre tränennassen Wangen mit dem kleinen feuchten Ball des Taschentuches.

»Nun, was sagst du? Sind wir einig?« fragte Annixter frohgemut.

»Ich glaubte immer, ich haßte dich,« antwortete sie. Nie hatte ihre samtweiche Stimme ihm so süß geklungen.

»Und ich glaubte, es wäre der geschirrzerschmeißende Ziegenbock von 'nem versoffenen Kuhzwicker.«

»Delaney? Kein Gedanke! Ach, ich glaube, du bist's immer gewesen.«

»Seit wann, Hilma?« Er legte seinen Arm um ihre Hüfte und rief, unsäglich entzückt davon, daß sie diese Freiheit gestattete: »Ah, ist das schön, daß ich dich endlich habe, mein kleines Mädchen! Seit wann? Sag mir alles!«

»O, seit immer! Das war schon lange, ehe ich anfing, an dich zu denken – ja, ehe ich daran dachte – ich meine, bevor ich darauf kam – o, du weißt, was ich meine. Aber, wie ich soweit war, o, dann aber!«

»Wie, dann aber?«

»Ich weiß nicht – ich habe nicht lange genug daran gedacht, daß ich's wissen könnte.«

»Aber du sagtest doch, du hättest gedacht, ich müßte es immer gewesen sein.«

»Ich weiß, oder das war anders – ach, ich bin ganz konfus. Ganz aufgeregt und zittrig bin ich.« Ihr Gesicht nahm plötzlich einen ernsten, fast feierlichen Ausdruck an. »O,« rief sie und umschloß mit beiden Händen sein Handgelenk, »o, du wirst gut zu mir sein, nicht wahr? Ich bin in so vielem wie ein ganz kleines Kind, und ich habe mich dir gegeben, in einer einzigen Minute, und ich kann nicht mehr zurück, und es ist für immer. Wie's so gekommen ist und warum, weiß ich nicht. Manchmal denke ich, es möchte besser nicht so sein, aber jetzt ist's geschehen, und ich bin so froh und glücklich. Aber wenn du nicht gut zu mir bist – o, denke nur, was soll dann aus mir werden! Du bist groß und stark und reich, und ich bin nur dein Dienstbote, rein niemand bin ich, aber ich habe dir alles gegeben, was ich bin und habe – mich selbst – und da mußt du doch gut zu mir sein. Sei gut und lieb und freundlich zu mir in kleinen Dingen – in allem, sonst brichst du mir das Herz.«

Stumm schloß Annixter sie in seine Arme. Die Worte fehlten ihm; was er auch hätte sagen können, erschien ihm unzureichend. »Da sorg dich nicht. Kleine,« sagte er endlich. »Hab keine Angst. Ich werde dich schon gut halten. Sorg dich nicht.«

Lange saßen die zwei dicht aneinander geschmiegt: und nur hin und wieder einige Worte wechselnd im Schatten der großen Trestlebrücke. Wohl eine Stunde ging so hin. Der Buckskin, dem das magere Gras nicht schmeckte, wanderte mit am Boden nachschleifendem Zügel seinem Stalle zu. Annixter ließ ihn sich trollen. Alle seine Pferde hätten weglaufen können, ehe es ihm eingefallen wäre, den Arm von Hilmas Hüfte zu nehmen. Endlich aber rührte er sich und begann zu reden. Es schien ihm Zeit, seine Maßregeln zu treffen.

»Nun, Hilma, was werden wir jetzt tun?«

»Tun?« wiederholte sie. »Ja, müssen wir denn was tun? O, ist das nicht genug?«

»Es soll noch besser werden,« begann er von neuem. »Ich möchte dich irgendwo hinsetzen, wo du ein Nest ganz für dich allein haben kannst. Laß sehen. Bonneville ist nichts. Da lungert immer 'ne Masse zweibeiniger Köter 'rum, die uns kennen; die würden gleich zu kläffen anfangen. Aber wie wär's mit San Francisco? Wir könnten nächste Woche mal hin und uns umsehen. Ich find' da schon 'ne Wohnung für dich, und die könnten wir einrichten wie – wie – na, sein sag' ich dir!«

»O, warum wollen wir fort von Quien Sabe?« warf sie ein. »Und dann so auf einmal! Was brauchen wir eine Hochzeitsreise, wo du doch jetzt so viel zu tun hast? Wär's nicht besser – o, ich will dir was sagen, wir könnten, wenn wir geheiratet haben, auf 'ne Woche nur nach Monterey gehen; Mamas Leute wohnen dort. Und dann kommen wir zurück auf die Ranch, und dort leben wir ganz ruhig, und ich führe dir die Wirtschaft; dazu brauch' ich nicht mal 'nen Dienstboten.«

Annixter machte ein bedenkliches Gesicht. »Hm, ich seh' schon,« sagte er.

Er nahm eine Handvoll Kieselsteine auf und warf, genau zielend, einen nach dem andern in den Bach. Ihm kamen allerlei Gedanken. Seine Liebesangelegenheit war zu einem Wendepunkte gekommen, den er nicht vorausgesehen hatte. Er war davon überzeugt gewesen, daß Hilma verstand, worauf er hinaus wollte. Und jetzt regte sich in ihm von neuem der Verdacht, daß sie ihn in ihre Gewalt zu bekommen suchte. Solche Reden, wie Hilma sie eben geführt hatte, waren ganz zwecklos. Diese femininen Mädels schienen ganz versessen darauf zu sein, zu heiraten und dadurch die Lage zu verwickeln.

»Ist's nicht so am besten?« fragte Hilma mit einem Blick nach ihm.

»Ich weiß nicht,« brummte Annixter verdrossen.

»Nun, dann lassen wir's. Bleiben wir in Quien Sabe; wir brauchen ja nicht nach Monterey zu gehen. Alles, was du willst, will ich auch.«

»So hatte ich mir das eigentlich nicht gedacht,« sagte er jetzt.

»Wie denn?«

»Können wir – können wir mit der Heiraterei nicht noch warten?«

»Das ist's ja gerade!« rief sie munter. »Ich wollte doch eben sagen, daß es zu früh ist. Es gibt vorher noch so viel zu tun. Warum sagen wir nicht am Ende des Sommers?«

»Was denn?«

»Dann erst wollen wir Heiraten, mein' ich.«

»Ach, warum denn heiraten? Was hat's für 'nen Zweck, so viel Wesens davon zu machen? Ich mag's nicht, daß der Pastor sich in meine Angelegenheiten mischt. Worauf kommt es denn schließlich dabei an? Wir verstehen einander. Ist das nicht genug? Pah, Hilma, ich bin kein Heirater.«

Einen Augenblick sah sie ihn verständnislos an, dann erst dämmerte ihr, was er meinte. Mit einem Ruck stand sie auf den Füßen; weit aufgerissen waren ihre Augen, schreckensbleich ihr Gesicht. Annixter, der sie nicht ansah, konnte hören, wie ihr Atem stockte.

»O!« rief sie, tief und schwer atmend. »O!« Angstvoll deckte sie ihre Lippen mit dem Rücken der Hand. Jäher, körperlicher Schmerz war es, der ihr einen Seufzer auspreßte. Tränen quollen aus ihren Augen. Annixter, der sich jetzt auch erhoben hatte, blickte sie verdutzt an.

»Was ist denn?« fragte er unsicher. »Was ist denn?«

Mit einer blitzschnellen Bewegung wich Hilma vor ihm zurück; von instinktivem Widerwillen erfaßt streckte sie die Hände wie zur Abwehr aus. Sie fürchtete sich, ohne zu wissen wovor. Den ihr angetanen Schimpf und die Verletzung ihrer Mädchenehre fühlte sie bis jetzt noch nicht. Entsetzt war sie – nichts weiter. Es war, als ob sie beim Suchen nach Feldblumen plötzlich auf eine Schlange getreten wäre.

Einen Augenblick verharrte sie so, stumm vor Schrecken, mit starren, angstvollen Augen und wogendem Busen; dann aber wandte sie sich zur Flucht und eilte über die den Bach überbrückende Planke und die jenseitige Uferböschung hinan. Wie ein aufgeschrecktes Reh brach sie durch die Büsche und war in wenigen Augenblicken verschwunden. Annixter fand sich plötzlich allein. Erst blieb er bewegungslos stehen; dann bückte er sich nach seinem Filzhut, drückte sorgfältig die Krempe in die gewohnte Form und setzte den Hut dann auf. Einen Augenblick blieb er noch stehen und blickte unentschlossen zu Boden. Dann ging er seines' Weges; wortlos und ohne daß sich der Ausdruck seiner Züge verändert hätte, folgte er, die Hände in den Taschen und lang ausschreitend, dem nach der Ranch führenden Pfade.

Hilma bekam er diesen Abend nicht mehr zu sehen. Am nächsten Morgen war Annixter in aller Frühe auf und nahm sich nicht Zeit, zu Hause zu frühstücken. Dringende Geschäfte riefen ihn nach Bonneville; er mußte sich dort mit Magnus und den die Sache der Liga führenden Anwälten beraten. Man wollte, ehe die letzte Instanz, das Obergericht in Washington, angerufen wurde, darüber schlüssig werden, welcher von den verschiedenen gegen die Bahn geführten Prozessen als grundlegender Fall vor das Obergericht gebracht werden sollte.

Statt wie gewöhnlich nach Bonneville zu fahren oder zu reiten, nahm Annixter in Guadalajara den Frühzug, der den Ortsverkehr zwischen Bakersfield und Fresno vermittelte. Um sieben Uhr zwanzig kam er in Bonneville an und frühstückte, wie verabredet war, mit Magnus Derrick und Osterman im Yosemite=Hotel auf der Hauptstraße.

Die Beratung des Ausschusses der Liga mit den Rechtsanwälten fand in einem Vorderzimmer des Hotels statt; ein Anwaltsgehilfe stenographierte die Verhandlungen und stellte auf der Schreibmaschine eine Anzahl Kohlenblätterkopien sämtlicher während der Sitzung verfaßten Briefe her. Die Beratung, bei der sehr verwickelte Fragen erörtert und Beschlüsse von großer Tragweite gefaßt wurden, dauerte lange, und es war bereits zwei Uhr, als Annixter wieder über sich verfügen konnte.

Er und Magnus stiegen zusammen die zur Vorhalle des Hotels führende Treppe hinab und wurden dabei auf eine Anzahl erregter Männer aufmerksam, die sich vor den schwingenden, die Halle mit der Hotel -Bar bar = Trinkstube. verbindenden Glastüren um Dyke geschart hatten. Der Ex-Lokomotivführer schien außer sich zu sein; der weite Raum hallte wider von seiner vor Zorn und Wut bebenden Baßstimme. Magnus und Annixter traten verwundert näher und sahen die erste Szene eines erschütternden Dramas sich vor ihren Argen abspielen.

An demselben Morgen hatte Frau Dyke den Sohn, wie ihr aufgetragen war, bei Tagesanbruch geweckt. Ein Posten vom Norden für ihn eingetroffener Hopfenstangen lagerte im Bonneviller Frachtschuppen der P. und S. W. Dyke wollte die Stangen heute mit seinem Farmgespann abholen.

»Hallo, hallo,« rief er, als die Mutter den fest Schlafenden am Ohr zog, um ihn wachzubekommen. 'n Morgen, Mama.«

»'s ist Zeit,« sagte sie. »Schon nach fünf. Dein Frühstück steht auf dem Ofen.«

Er ergriff ihre Hand und küßte sie zärtlich. Dyke liebte die Mutter ebenso innig wie sein Kleinchen. In dem blanken, von einem Walde grüner Hopfenranken umgebenen Häuschen führten die drei ein stillvergnügtes, eingezogenes Leben und wünschten sich, zufrieden, arbeitsam und glücklich, wie sie waren, nichts Besseres. Dyke, ein herzensguter, frohsinniger Mensch, verbreitete, wo immer er war, eine Atmosphäre von Frohsinn um sich. Wie ein großer Junge, ein älterer Bruder, pflegte er abends mit Sidney zu spielen. Die beiden hatten ein höchst ergötzliches Spiel erfunden. Auf dem Bett oder Sofa liegend, hob er die Kleine auf seinen nur mit Socken bekleideten Füßen hoch in die Luft, wippte sie wie ein Zirkusakrobat auf und nieder und tat dabei, als ob er sie fallen lassen wollte. Außer sich vor Entzücken, hielt sich die jauchzende Sidney krampfhaft fest, während er sie geschickt von einem Fuß aus den andern hob. Zum Schluß kam die auf ein dankbares Galeriepublikum berechnete Glanznummer. Noch einmal schnellte er die Kleine in die Höhe, um sie dann mit der mächtigen flachen Hand aufzufangen. Ehe dieses großartige Kunststück ausgeführt wurde, riefen die beiden Kinder – Vater und Tochter – Frau Dyke herbei. Sie sollte kommen, um zu sehen und zu bewundern. Ganz außer Atem eilte die Gute, den Kartoffelquetscher in der Hand, aus der Küche herbei.

»Solche Kinder,« murmelte sie kopfschüttelnd, aber seelenvergnügt, und klatschte, den Kartoffelquetscher unter den Arm klemmend, Beifall.

Ganz zum Schluß mußte Sidney auf den Vater herabfallen, wobei er ein Gebrüll ausstieß, als ob ihm entsetzlich weh getan würde; er erklärte dann immer, seine Rippen wären zerbrochen. Nach Luft schnappend und mit geschlossenen Augen stellte er sich an, als ob er, der vollständigen Auflösung nahe, sterben müsse. Sidney, die ihrer Sache nie ganz sicher und zwar belustigt, aber doch etwas furchtsam war, schüttelte ihn ängstlich, zupfte ihn am Bart, schob sein Augenlid mit einem Finger in die Höhe und bat dabei fortwährend, er möchte sie nicht ängstigen, sondern wieder aufwachen und gut sein.

Heute nun schlich Dyke, erst halb angekleidet, auf den Fußspitzen in das Zimmer seiner Mutter, wo Sidney in ihrem eisernen Bettchen, einen Arm unter den Kopf geschmiegt und die Lippen halb geöffnet, noch sanft schlummerte. Mit der größten Vorsicht küßte er sie zweimal und steckte dann in einen ihrer Strümpfe, die hübsch glatt gestrichen über der Stuhllehne hingen, ein in Papier gewickeltes Zehncentstück. Sich selbst verschmitzt zublinzelnd, verließ er das Zimmer und schloß mit übergroßer Behutsamkeit die Tür hinter sich.

Er frühstückte allein. Die Mutter goß ihm den Kaffee ein und stellte den Teller mit gebratenem Schinken und Eiern vor ihn hin. Eine halbe Stunde später fuhr er, ein Liedchen in den Bart summend und mit der Peitsche über seine ruhigen, bedächtigen Ackerpferde hin knallend, in dem federlosen Farmwagen davon.

Der Morgen war schön, und die Sonne ging eben auf. Dyke ließ das noch schlafende, totenstille Guadalajara links liegen und bog, über unbebaute städtische Grundstücke und einen Zipfel von Quien Sabe fahrend, eine Meile unterhalb der großen Trestlebrücke in den Oberen Weg ein. Aufs beste gelaunt, blickte er um sich über die braunen, im hellen Morgenlicht rötlich schimmernden Felder. Fast geradeaus in seiner Fahrtrichtung, aber noch weitab glänzte die vergoldete Kuppel des Bonneviller Gerichtsgebäudes in den ersten Sonnenstrahlen, mehr seitwärts, einige Meilen nach Norden hin, hob sich der ehrwürdige Glockenturm der Mission San Juan in seiner schwärzlichen Purpurfarbe scharf von dem flammenden Morgenhimmel ab. Das Land ringsum erwachte zu neuem Leben, während die großen, schweren Ackerpferde bedächtig dahintrotteten. Als Dyke eine Strecke Weges weiter den Bewässerungsgraben kreuzte, begegnete er einer Anzahl Portugiesen, die mit Spitzhacke und Schaufel über der Schulter zur Arbeit auszogen. Hooven, der bereits unterwegs war, rief ihm über den Zaun von Los Muertos einen Morgengruß zu. Weit im Südwesten, wo eine Gruppe von Eukalyptusbäumen und Zypressen einen dunkelgrünen Ton in das Braun der unabsehbaren kahlen Flächen brachte, stieg eine dünne Rauchsäule aus der Küche von Derricks Wohnhaus kerzengerade in die Luft. Etwa zwei Meilen jenseits der langen Trestlebrücke stieß Dyke zu seiner Ueberraschung auf Magnus Derricks Schützling, Vanamee, der auf einem über die Felder von Quien Sabe führenden Pfade daherkam. Ohne zu wissen weshalb, hatte er den Eindruck, daß Vanamee die Nacht nicht in seinem Bett zugebracht hatte. Prüfend blickte er den ehemaligen Schäfer an. Leuten, die er nicht verstehen konnte, traute der in ländlicher Umgebung aufgewachsene schlichte Mann nicht recht. Und so war ihm Vanamee immer verdächtig vorgekommen. Der paßte offenbar weder aufs Land noch in die Stadt. Er war ein Fremdling und Landstreicher, ein sonderbarer Geselle, der in geheimnisvoller Weise verschwand und wieder auftauchte, keine Freundschaften schloß und sich ganz für sich allein hielt. Warum hatte er niemals einen Hut auf dem Kopfe, warum trug er diesen auffallenden schwarzen spitzen Bart, während doch ein runder Voll- oder einfacher Schnurrbart allgemein üblich war? Warum ließ er sich nicht die Haare schneiden? Und vor allem andern – warum schlich er immer zur Nachtzeit umher? Als die beiden an einander vorüberkamen, war Dyke trotz all seiner Gutmütigkeit etwas kurz angebunden in seinem Gruß und blickte dem früheren Schäfer mißtrauisch über die Schulter nach.

Dyke hatte vorhin richtig vermutet. Drei Nächte hintereinander war Vanamee nicht in sein Bett gekommen. Am Montag hatte er die ganze Nacht in dem Missionsgarten zugebracht, dort an der Stelle, von der man das kleine Tal mit der Blumenfarm überblickte. Der Abend des Dienstags fand ihn weit ostwärts in einem Arroyo schmale, von einem Wasserlauf durchflossene Schlucht. der Vorberge der Sierra. Am Mittwoch wieder hatte er in einer verlassenen Adobehütte aus der Viehtrift Ostermans, zwanzig Meilen von dem letzten Nachtlager, geschlafen.

Tatsache war, daß die alte Ruhelosigkeit Vanamee von neuem erfaßt hatte. Etwas zog und zerrte an ihm; der Sporn eines unsichtbaren Reiters stachelte seine Flanke. Von neuem war der Wandertrieb in ihm erwacht. Seit einiger Zeit schon gehörte Vanamee zu den Angestellten der Los Muertos-Ranch. Sowohl auf Quien Sabe wie auf den andern Ranchos gab es jetzt in der Zwischenzeit, während der man auf das Aufgehen des Weizens wartete, nicht viel zu tun. Und so war Vanamee nach Los Muertos gegangen, wo er die meiste Zeit im Sattel verbrachte, die Zäune abritt und das Vieh aus Abteilung vier zum Brennen zusammentrieb und bewachte. Während sich aber der Wandertrieb in dem sonderbaren Menschen regte, setzte gleichzeitig auch eine Gegenströmung bei ihm ein. Immer öfter suchte Vanamee beim Einbruch der Nacht den Missionsgarten auf und blieb manchmal bis zum Morgengrauen dort; lang auf den Boden hingestreckt, das Kinn auf die gefalteten Arme gestützt, wachte und wartete er und suchte mit seinen scharfen Augen die Finsternis über dem kleinen Tal mit der Blumenfarm zu durchdringen. Von Tag zu Tag wurde er schweigsamer und zurückhaltender. Presley kam öfters auf die Viehtrift, um den in der Oede der kahlen grünen Hügelhänge Vereinsamten aufzusuchen, Vanamee aber zog ihn nicht mehr ins Vertrauen. Vater Sarria allein hörte seine seltsamen Berichte.

Nachdenklich fuhr Dyke weiter. Wie jedermann hierzulande wußte er um Vanamees und Angeles Geschichte, die Tragödie des Missionsgartens, den geheimnißvollen andern, Vanamees Flucht in die Wüsten des Südwestens und seine in gewissen Zeiträumen immer wieder erfolgende Rückkehr von dort; er kannte das verschlossene, menschenscheue Wesen des Sonderlings und hatte, wie der größte Teil des Landvolkes, die einfachste und bequemste Erklärung dafür. Der Mensch war sicher nicht richtig im Kopfe. Das war die ganze Geschichte.

Gegen elf Uhr hielt Dyke vor der Post in Bonneville; er ging aber mit dem das Eintreffen der Fracht meldenden Zettel nicht sogleich nach Ruggles' Office. Es machte ihm Spaß, vorher ein Stündchen herumzubummeln. Er kam selten in die Stadt; war er aber einmal dort, so gönnte er sich das Vergnügen, sich an seiner allgemeinen Beliebtheit zu erfreuen. Ueberall – in der Post, in der Apotheke, im Barbierladen, in der Umgebung des Gerichtsgebäudes traf er Freunde. Mit jedem plauderte er ein Weilchen; schließlich sagte der Betreffende fast immer:

»Kommen Sie, trinken wir eins.«

»Schön, mir ist's recht.«

Die beiden Freunde schlenderten dann in die Yosemite-Bar und tranken sich unter peinlicher Beobachtung des alten guten Brauchs einander zu. Dyke war jedoch ein streng enthaltsamer Mann. Das Leben auf der Lokomotive hatte ihn dazu gemacht. Alkohol war für ihn nicht vorhanden; er trank nur Ingwerbier, Sarsaparilla mit Eisen und andre leichte Getränke. In der Apotheke, die auch Schreib- und Zeichenwaren führte, stach ihm »die transparente Zeichentafel«, ein Zeitvertreib für Kinder, ins Auge; auf einer kleinen Glasplatte mit rauher Oberfläche ließen sich darunterliegende Bildchen von Kühen, Pflügen, Früchten, ja selbst von ländlichen Wassermühlen sehr hübsch durchzeichnen. »Das ist 'ne Idee, Jim,« bemerkte Dyke zu dem jungen Menschen hinter dem Sodawasserapparate. »Ich kenn' ein Kleinchen, das vor Vergnügen aus der Haut fährt, wenn sie das sieht. Ich denke, ich nehm' das Ding mit.«

»Was macht Sidney?« fragte der Verkäufer, während er die Tafel einpackte.

Dykes Schwärmerei für sein Töchterchen hatte Sidney in ganz Bonneville zu einer Berühmtheit gemacht.

Der Ex-Lokomotivführer wurde sofort redselig; wenn er von seinem Kinde sprach, war er unermüdlich.

»Das gescheiteste Kleinchen in ganz Tulare County und dabei spaßig – zum Totlachen! Ein ganzer Zirkus ist sie,« so schloß er.

»Und der Hopfen?«

»Großartig!« erklärte Dyke mit der Bereitwilligkeit des gutherzigen Mannes, jedem, der ihn anhören mag, von seinen Angelegenheiten zu erzählen. »Großartig! Eine Bonanzaernte ist mir jetzt bombensicher. Der Regen kam ausgerechnet gerade zur rechten Zeit. Ich weiß wahrhaftig nicht, ob ich die Ernte in den Schuppen unterbringe, die ich gebaut habe – so groß wird sie sein. Dieser Vormann war 'ne Perle! Und Geld werd' ich dabei herausschlagen, Jim! Nachdem ich die Hypothek abbezahlt habe – ich mußte nämlich Geld aufnehmen auf die Ernte und die Heimstätte, wissen Sie, aber ich kann die Hypothek samt den Zinsen mit Leichtigkeit abzahlen –, na, was ich sagen wollte, nach Abzug aller Unkosten bleibt mir noch 'ne Masse Geld übrig. Ja, lieber Herr! Ich wußte doch genau, daß mit Hopfen was zu machen war. Ich hab' für die Ernte schon abgeschlossen, wissen Sie. Der Vormann hat das gedeichselt. Er ist 'ne Perle, 'n Kunde in San Francisco nimmt mir den ganzen Kitt ab und natürlich zu dem hohen Preise. Ich wollte noch abwarten, bis er auf sechs Cents gestiegen wäre, aber der Vormann sagte: ›Nein, das ist gut genug.‹ Und da unterschrieb ich. Ist das nicht großartig, was?«

»Was werden Sie da alles machen?«

»Ja. ich weiß nicht. Vier Wochen oder so werd' ich mir Ferien machen. Ich will meine Mutter und das Kleinchen mal nach San Francisco nehmen und ihnen die Stadt zeigen. Wenn dann die Schulen wieder anfangen, dann wollen wir Sid in das Seminar in Marysville tun.«

»Sie werden wohl jetzt beim Hopfen bleiben, sollt' ich meinen.«

»Sehr richtig, alter Sohn. Ich weiß, was 'ne gute Sache ist. 'ne Masse Leute werden sich nächstes Jahr auf Hopfen verlegen. Ich hab' ihnen die Sache vorgemacht. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn das hier 'ne reguläre Industrie wird. Ich mache meine Pläne schon fürs nächste Jahr. Den Vormann kann ich gehen lassen, weil ich doch jetzt selbst genau Bescheid weiß. Ich hab' vor, 'n Stück Land von Quien Sabe zu kaufen, damit ich 'ne größere Ernte machen kann, und da werd' ich noch 'n paar Trockenschuppen bauen müssen, und, wahrhaftig, so in fünf Jahren soll die Geschichte großartig im Gange sein. Einen ganzen Haufen Geld werd' ich verdienen, Jim.«

Dyke trat wieder auf die Straße und schlenderte breitbeinig und selbstbewußt das Viertel hinunter. Er hatte das Gefühl, ein Mann geworden zu sein, der etwas mehr zu bedeuten hatte als früher. Er war kein Untergebener, kein Angestellter mehr. Sein eigner Herr war er jetzt; er gehörte zur besitzenden Klasse, hatte Grund und Boden und förderte ein Unternehmen, das großen Erfolg versprach. Niemand hatte ihm geholfen, niemand ihm gezeigt, was er tun sollte. Ganz allein war er drauflosgegangen; den Erfolg verdankte er ausschließlich der eignen Klugheit, Voraussicht und Betriebsamkeit. Er reckte die breiten Schultern, daß seine blaue Ginghamjacke fast in den Nähten platzte. Den großen blonden Vollbart hatte er in der letzten Zeit noch länger wachsen lassen; sein Gesicht war von der Arbeit in der Sonne braunrot geworden. Unter dem Schilde der noch aus seiner Lokomotivführerzeit stammenden Mütze blickten die blauen lustigen Augen. Dyke fühlte, daß er eine gute Figur machte, als er an einigen nach der Post schlendernden jungen Mädchen in Batist und Musselin und mit breitrandigen Strohhüten vorüberging. Er hätte gerne wissen mögen, ob ihm die jungen Damen nachblickten und ob sie wohl davon gehört hätten, daß er auf dem besten Wege wäre, ein reicher Mann zu werden.

Die Normaluhr im Fenster des Juwelierladens erinnerte ihn daran, daß es Zeit sei, an seine Geschäfte zu denken. Er machte kehrt und ging über die Straße nach Ruggles' Office hinüber, die neben den Frachten auch die Landgeschäfte der P. und S. W.-Eisenbahn vermittelte.

Während Dyke hinter dem Drahtgitter am Zahltisch darauf wartete, daß der Kommis ihm die Anweisung für die Güterabfertigungsstelle am Bahnhof ausschrieb, bemerkte er zu seiner Verwunderung einen ihm bekannt vorkommenden Mann, der, ihm den Rücken zukehrend, mit Ruggles an einem Pult in dem durch das Gitter abgeschlossenen Räume verhandelte. Anscheinend in den mittleren Jahren stehend, war er fett und dickbäuchig; von Zeit zu Zeit strich er sich mit der Hand über den feisten Wanst. Als er sich umwandte, um zu einem Angestellten zu reden, erkannte ihn Dyke; es war S. Behrman. Der Bankier, Vertrauensmann der Eisenbahn und politische Drahtzieher erschien dem ehemaligen Lokomotivführer dicker und ungeschlachter wie je. Die glattrasierten wabbligen Wangen quollen zu beiden Seiten seines Gesichts hervor, und im Nacken wölbte sich eine mit dünnem borstigen Haar bewachsene Fettwulst. Der ungeheure Hängebauch hatte etwas Herausforderndes; ihn umspannte eine mit unzähligen ineinander greifenden Hufeisen gemusterte braunleinene Weste. Der unvermeidliche braune steife Strohhut mit nach oben abgerundetem Kopfteil war so glänzend lackiert, daß er das durch die Fenster der Office fallende Licht wie ein blanker Helm zurückwarf. Dyke konnte das geräuschvolle Atmen des Dicken hören und das leise Klirren der hohlen Glieder seiner Uhrkette an den Westenknöpfen von falschem Perlmutter, wenn immer der ungeheure Bauch sich bei den Atemzügen hob und senkte.

Dyke sah sich ihn genau an. Das war der Feind, der Vertreter des Trusts, mit dem Derricks Liga die Waffen kreuzte. Die Gegner in dem großen Kampfe begannen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Täglich, fast stündlich kam Dyke mit den Ranchbesitzern, den Weizenbauern in Berührung. Er hörte ihre Anklagen und Drohungen, ihr trotziges Murren. Hier war ihr Widersacher, der gelassene fette Mann mit steifem Strohhut und braunleinener Weste, der stets gleichmütig blieb, ein freundliches Lächeln für seine Gegner hatte, ihnen gute Ratschläge gab, die Ueberwundenen nach jeder Niederlage bemitleidete und sich nie ärgerte oder aufregte. S. Behrman kannte seine Kraft; er wußte, daß hinter ihm die Maschine stand, die ungeheure Macht, die riesenstarke Organisation, deren unerschöpfliche Kriegs lassen Millionen ausspien gegen die Tausende der Liga.

Die Liga machte Lärm und war überall bekannt; die Kinder auf der Straße wußten, welche Ziele sie sich gesetzt hatte. Der Trust hingegen hüllte sich in Schweigen, und seine Maßnahmen waren unerforschlich; die Menge sah nur die Ergebnisse. Mit kalter Gelassenheit, wohlgeschult und jeden Widerstand überwindend arbeitete er in geheimnisvollem Dunkel. Dyke empfing plötzlich den lebhaftesten Eindruck von den unzähligen Verästelungen des riesenhaften Gefüges. Ihm war, als ob der Boden unter seinen Füßen unterwühlt wäre. Weit unten im Dunkeln krümmten und streckten sich die ungeheuern Fangarme; überall reichten sie hin und saugten dem Gegner das Mark aus. Ruhig und allmählich vordringend warteten sie ihre Zeit ab, um dann plötzlich vorzuschnellen und die Beute mit Riesenkraft zu erfassen.

»Ich werd' von euch Leuten diesen Sommer noch etliche Waggons brauchen,« sagte Dyke zu dem Kommis, während der die Anweisung zusammenfaltete und sie ihm hinreichte. Dyke erinnerte sich genau, daß er bereits vor mehreren Monaten wegen der Verfrachtung seiner Ernte unterhandelt hatte, aber er gefiel sich in seiner Rolle als Landbesitzer und es machte ihm Spaß, sich immer wieder mit allen Einzelheiten seines Unternehmens zu beschäftigen.

»Ich denke doch, daß Sie mir die Waggons geben können,« sprach er weiter. »Diesen Sommer wird 'ne große Weizenernte zu verladen sein, und da möcht' ich bei der Not um Waggons nicht zu kurz kommen.«

»O, Sie sollen Ihre Waggons schon haben,« murmelte der Kommis.

»Sie werden durch mich ein gehöriges Geschäft machen,« fuhr Dyke fort. »Ich hab' so gut mit meinem Hopfen abgeschnitten, daß sich 'ne Masse Leute nächstes Jahr auf den Hopfenbau verlegen werden. Es wäre ja möglich, daß wir uns zu 'ner Art Vereinigung zusammenschließen« – ganz plötzlich war er auf diesen Einfall gekommen –, »daß wir 'ne Art Verfrachtergenossenschaft bilden – könnten Sie uns da nicht 'nett besonders billigen Preis machen – sagen wir anderthalb Cent?«

Der andre blickte auf.

»Anderthalb Cent! Sagen Sie vier und einen halben Cent – darüber ließe sich vielleicht reden.«

»Vier und einen halben Cent! Das versteh' ich nicht. Der reguläre Frachtsatz ist ja doch nur zwei Cents.«

»Das stimmt nicht,« entgegnete der Kommis und blickte Dyke mit würdevoll überlegener Miene an, »fünf Cents sind's.«

»Na, da sind Sie schief gewickelt, mein Sohn,« erwiderte gutgelaunt Dyke. »Sehen Sie nur nach! Da werden Sie schon finden, daß die Hopfenfracht zwischen Bonneville und Frisco bei Waggonladungen zwei Cents pro Pfund beträgt. Sie haben mir's ja vorigen Herbst selbst gesagt.«

»Das war vorigen Herbst,« bemerkte der Kommis. Einen Augenblick schwiegen die beiden. Dyke maß den jungen Mann mit einem mißtrauischen Blicke. Dann aber war er seiner Sache wieder ganz sicher und sagte:

»Sehen Sie nur nach! Sie werden sehen, daß ich recht habe.«

S. Behrman kam jetzt herzu und reichte dem Ex-Lokomotivführer höflich die Hand.

»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Dyke?«

Dyke erklärte ihm, worum es sich handle. Als er geendet hatte, wandte sich der Kommis in achtungsvollem Tone an S. Behrman:

»Unser Tarif für Hopfen beträgt fünf Cents.«

»Jawohl,« entgegnete S. Behrman nach kurzem Nachdenken, »jawohl, Herr Dyke, es stimmt – fünf Cents.«

Der Kommis reichte jetzt Dyke eine auf gelbes Papier gedruckte, mehrfach zusammengefaltete Liste, die am Kopfe den Vordruck »Tariftabelle Nr. 8« trug; darunter stand klein gedruckt und in Klammern: »hebt Nr. 7 vom 1. August auf«.

»Ueberzeugen Sie sich selbst,« sagte S. Behrman und deutete auf einen Posten unter der Ueberschrift »Verschiedenes«.

»Die nachstehenden Frachtpreise für Hopfen in Waggonladungen,« las Dyke, »treten am 1. Juni in Kraft und bleiben bis zu ihrer Aufhebung durch einen späteren Tarif bestehen. Die über Stockton hinausgehenden Frachtgüter werden nach Bedarf umgeladen und auf dem Wasserwege weiterbefördert.«

In der darunter gedruckten Liste fand Dyke, daß die Fracht für Hopfen zwischen Bonneville oder Guadalajara und San Francisco auf fünf Cents festgesetzt war. Einen Augenblick war er völlig verwirrt, dann aber wurde es ihm sofort klar, daß die Bahn die Fracht für Hopfen von zwei auf fünf Cents erhöht hatte.

Alle seine Berechnungen auf den aus seiner kleinen Kapitalsanlage zu erzielenden Gewinn hatten den Frachtsatz von zwei Cents zur Grundlage. Er war durch einen Vertrag gebunden, den geernteten Hopfen zu liefern. Dieser Verpflichtung konnte er sich nicht entziehen. Der neue Frachtsatz nahm ihm jeden Cent des erhofften Gewinnes. Er war ruiniert.

»Was soll denn das heißen?« stieß er hervor. »Sie haben mir einen Frachtsatz von zwei Cents versprochen. Daraufhin habe ich mein Geschäft abgeschlossen. Was soll das heißen?«

S Behrman und der Kommis beobachteten ihn von der andern Seite des Zahltisches her.

»Der Tarifsatz ist fünf Cents,« erklärte mürrisch der Kommis.

»So – das ruiniert mich,« schrie Dyke. »Verstehen Sie? Keine fünfzig Cents kann ich verdienen. Ach was, verdienen! Ich stecke dann in Schulden, – ich werde – ich – das ruiniert mich – verstehen Sie?«

Der andre zuckte die Achseln. »Wir zwingen Sie nicht, zu verladen. Sie können tun, was Ihnen beliebt. Der Tarifsatz ist fünf Cents.«

»Ja – Gott verdamm' euch – ich muß liefern, ich bin konktraktlich gebunden. Was soll ich denn tun? Sie haben mir's doch gesagt – Sie haben mir eine Fracht von zwei Cents versprochen.«

»Dessen entsinne ich mich nicht,« sagte der Kommis. »Ich weiß nichts davon. Aber das weiß ich – ich weiß, daß Hopfen in die Höh' gegangen ist, ich weiß, daß in Deutschland eine Mißernte war, und daß der Hopfen von New York nicht die Transportkosten wert ist. Beinah' auf einen Dollar ist der Hopfen gestiegen. Sie werden doch nicht glauben, daß wir das nicht wissen, Herr Dyke?«

»Was geht denn Sie der Hopfenpreis an?«

»Was uns der Hopfenpreis angeht?« gab der andre mit plötzlicher Schärfe zurück. »Das ist doch klar! Die Fracht ist in demselben Verhältnis wie der Preis gestiegen. Wir arbeiten nicht zu unserm Vergnügen. Ich hab' meine Order, den Tarifsatz auf fünf Cents zu erhöhen, und ich dächte, Sie kommen noch gut dabei weg.«

In dumpfem Staunen starrte Dyke vor sich hin. Für den Augenblick stand er nur unter dem Eindruck des maßlosen, frechen Uebermutes der Bahn. Er vergaß, wie schwer er selbst davon getroffen wurde.

»Mein Gott,« murmelte er, »mein Gott! Was werdet ihr Leute noch alles anstellen? Hören Sie mal, was legen Sie überhaupt Ihrem Frachttarif zugrunde?« schrie er auf einmal mit wütendem Hohn. »Was ist Ihre Richtschnur? Wonach verfahren Sie?«

Er hatte noch nicht geendet, als S. Behrman, der während der ganzen heftigen Auseinandersetzung geschwiegen hatte, sich plötzlich weit über den Zahltisch vorbeugte. Zum ersten und einzigen Male sah Dyke die Zornesröte in S. Behrmans Gesicht aufsteigen und die sich in seinen Zügen verratende Feindseligkeit und Verachtung für die von ihm bekämpften Bebauer des Landes.

»Jawohl, wonach richten Sie sich? Was legen Sie zugrunde?« schrie Dyke ihn an.

S. Behrman gab jedem Worte seiner Antwort dadurch Nachdruck, daß er mit dem Zeigefinger auf den Tisch klopfte: »Alles – was – das – Geschäft – tragen – kann.«

Dyke trat unwillkürlich einen Schritt zurück; er mußte sich mit den Fingern an den Rand des Zahltisches klammern, um nicht zu wanken. Er fühlte, wie er erbleichte; das Herz stand ihm still und lag wie ein Bleigewicht in seiner Brust. In der nächsten Sekunde sah er alles aus dem folgenschweren Ereignisse sich Entwickelnde wie die rasch aufeinander folgenden Bilder einer Wandeldekoration an seinen Augen vorüberziehen. Jeder Cent seiner Ersparnisse war in den Hopfenpflanzungen angelegt, und was noch schlimmer war – er hatte, des sicheren Erfolges gewiß, Geld geborgt, um sein Unternehmen zu fördern, von S. Behrman geborgt und ihm als Sicherheit die Ernte und seine Heimstätte verpfändet. Kam er seinen Verpflichtungen nicht nach, so legte S. Behrman auf alles Beschlag. Die Bahn verschlang jeden Cent des erhofften Gewinnes und nahm ihm obendrein noch sein Heim; mit einem Schlage war er bettelarm und obdachlos. Was sollte aus seiner Mutter, was aus seinem Kleinchen werden? Das Kleinchen! Das Steinchen, das er aufs beste erziehen, aus dem er eine feingebildete Dame machen wollte! Seit Jahr und Tag hatte er zu jedermann von diesem seinem Lieblingswunsch gesprochen. Ganz Bonneville wußte darum. Der Stempel der Lächerlichkeit war ihm jetzt aufgedrückt. So geht's, wenn der Handwerker ein Former sein will! Zur Zielscheibe für Spott und Hohn war er geworden, er, der sich einbildete, der Eisenbahn entgehen zu können. Es fiel ihm ein, einmal geäußert zu haben, daß der große Trust sein kleines Unternehmen übersehen hätte, weil der es jedenfalls unter seiner Würde halte, solch kleines Pack zu plündern. Das hätte er besser wissen sollen! Wie konnte er sich nur je einbilden, die Bahn würde es zulassen, daß er Geld verdiente?

Noch war kein Zorn in ihm; die weißglühende Wut, die mit gekrallten Fingern sich auf den Gegner stürzt, schlummerte noch und regte sich nicht. Noch war er zermalmt, verwirrt und betäubt von dem schweren Schlage.

Er trat zur Seite, um einem Manne in rotem Arbeitshemd Platz zu machen, der mit einem selbsttätigen Türschließer in der Hand eingetreten war.

»Wohin soll das kommen?« fragte der Mann.

Dyke ließ sich auf eine Polsterbank nieder, die einem ausgedienten Personenwagen entnommen war und jetzt in Ruggles' Office Verwendung fand. Mit einem Stumpf Blaustift schrieb er Zahlen auf die Rückseite eines gelben Briefumschlags, multiplizierte, zog ab und verrechnete sich dabei fortwährend.

S. Behrman, der Kommis und der Mann mit dem Türschließer hatten eine lange, erregte Auseinandersetzung, wobei sie anhaltend nach dem obersten Felde der Türfüllung emporsahen. Der Mann, der eigens gekommen war, um den Türschließer anzubringen, wollte keine Gewähr für diesen leisten, wenn nicht an der Außenseite der Tür eine Warnungstafel angebracht würde, die den Eintretenden darauf aufmerksam machte, daß der Schließer selbsttätig arbeite. Diese Tafel sollte fünfzehn Cents extra kosten.

»Davon haben Sie aber bei der Bestellung nichts gesagt,« erklärte S. Behrman. »Nein, mein Freund, das bezahle ich nicht, 's ist eine Ueberteuerung.«

»Sie brauchen nicht zu denken,« bemerkte der Kommis, »daß Sie uns deshalb prellen können, weil Sie mit der Eisenbahn zu tun haben.«

Genslinger trat jetzt ein in Begleitung von Delaney. S. Behrman und der Kommis kümmerten sich nicht mehr um den Mann mit dem Türschließer, sondern begaben sich wieder hinter den Zahltisch und redeten mit den eben Gekommenen. Genslinger stellte Delaney vor. Der hatte eine Koppel Pferde, die er südwärts schicken wollte. Er war gekommen, um eine Vereinbarung wegen der erforderlichen Viehwagen zu treffen. Die Unterredung der vier Männer verlief in äußerst freundschaftlicher Weise.

Dyke, der noch immer rechnete, kam jetzt wieder heran. Ganz von seinen Sorgen erdrückt, bemerkte er die Anwesenheit des Zeitungsmannes und des Kuhzwickers nicht. »Sagen Sie mir,« begann er unsicher, »wie ist das? Ich rechne mir aus – –«

»Wir haben Ihnen gesagt, was unsre Frachtpreise sind, Herr Dyke,« rief ärgerlich der Kommis. »Auf was andres gehen wir nicht ein. Tun Sie, was Sie nicht lassen können.« Er drehte dem ehemaligen Lokomotivführer den Rücken zu und begann von neuem mit Genslinger zu reden.

Dyke trat zurück und blieb, auf die Zahlen seines Briefumschlags starrend, in der Mitte der Office stehen.

»Ich weiß nicht, was ich anfangen soll,« murmelte er, »ich weiß wahrhaftig nicht, was ich anfangen soll.«

Jetzt kam Ruggles mit zwei andern Männern, in denen Dyke die von der Bahn vorgeschobenen Scheinkäufer der Ranchos Los Muertos und Osterman erkannte. Im Vorübergehen streiften sie seinen Ellbogen; als Dyke die Office verließ, hörte er noch in der Tür, wie die drei mit Delaney, Genslinger und S. Behrman freundschaftliche Begrüßungen wechselten.

Dyke stieg die Treppe hinab und wanderte, den gelben Briefumschlag zwischen den Fingern und starr vor sich auf die Fußbahn blickend, in der Richtung nach dem Yosemite=Hotel hin. Seine breiten Schultern waren gekrümmt; schlaff hingen die kräftigen Arme mit den weitgeöffneten, großen Händen herab.

Als er so dahinging, begann sich etwas wie das Gefühl der Scham in ihm zu regen. Er sagte sich, daß jeder, der ihm begegnete, ihm sicher sein Unglück ansehen mußte. Dykes Aussehen und Haltung verrieten schon den in allen seinen Unternehmungen hoffnungslos Gescheiterten. Die jungen Mädchen in Batist und Musselin und mit den breitrandigen Strohhüten kamen, die Hände voll Briefe, eben von der Post zurück; er erschien ihnen gewiß als das Urbild des zahlungsunfähigen Bankrottiers.

Jetzt erst flammte die Wut in ihm auf. Nein, bei Gott, seine Schuld war es nicht! Er hatte keine Torheit begangen. Mangel an Eifer, Fleiß und Voraussicht konnte ihm niemand vorwerfen. An ihm war ein ungeheurer Betrug, eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit verübt worden; er war der unersättlichen Gier des Ungeheuers zum Opfer gefallen. Unter seinen Füßen, im dunkeln Erdinnern lag das Scheusal auf der Lauer; einen von den Millionen seiner Fangarme hatte es nach ihm ausgeschnellt und um seinen Hals geschlungen, ihn damit gewürgt und sein Lebensblut ausgesaugt. Einen Augenblick dachte er an die Gerichte, um aber sofort den Gedanken zu verlachen. Welcher Gerichtshof war wohl der Macht des Ungetüms nicht unterworfen? O, die Wut der Hilflosigkeit, die Raserei über seine Ohnmacht! Keine Hilfe, keine Hoffnung – in einem kurzen Augenblick zugrunde gerichtet – er, ein wahrer Riese mit Muskeln von Stahl, breitschulterig und baumstark, in blühender Gesundheit und im Vollbesitz seiner Geisteskräfte! Wie konnte er sich jetzt zu Hause zeigen, wie seiner Mutter von diesem Schicksalsschlage sprechen? Und Sidney – das Kleinchen? Was sollte er dem Kinde sagen, auf welche Weise das Unglück erklären und wie dem Liebling über die bittere Täuschung hinweghelfen? Was sollte er tun, daß Sidney sich nicht die Augen ausweinte – wie es beginnen, daß sie nicht das Vertrauen auf ihn, den Glauben an seine Tüchtigkeit verlor? Bitterer, wilder Grimm stieg unheilkündend in seinem Herzen auf. Er ballte die Fäuste und knirschte mit den fest aufeinander gebissenen Zähnen. O, könnte er nur einen Augenblick seine Hand am Halse S. Behrmans haben, um ihm den Atem abzuwürgen, den roten Lebenssaft aus ihm zu pressen und die Straße mit dem Blut zu färben, das der Vampir dem Volke aus den Adern gesaugt hatte!

Dem ersten Freunde, den er traf, noch einem und wieder einem erzählte Dyke die Geschichte seines Unglücks. Die Nachricht davon wurde von Mund zu Mund weitergegeben und verbreitete sich mit Blitzesschnelle. Sie überholte Dyke und eilte ihm voraus, so daß er sie beim Betreten der Vorhalle des Yosemite=Hotels schon seiner wartend vorfand. Eine dichtgedrängte Gruppe bildete sich um ihn. Die in seiner Nähe geführten geschäftlichen Besprechungen wurden kurz abgebrochen. Die Zahl der ihn Umdrängenden nahm zu. Einer seiner Freunde nach dem andern mischte sich unter die Menge; Magnus Derrick gesellte sich ihr zu. auch Annixter. Immer wieder und wieder erzählte Dyke seine Geschichte; er begann jedesmal mit der Tatsache, daß ihn diese selbe Gesellschaft aus ihrem Dienst entlassen hatte, weil er für unangemessene Bezahlung nicht arbeiten wollte. Seine Stimme zitterte vor Erregung, und der mächtige Körper bebte vor Wut. Das Weiße seiner Augen war mit Blut unterlaufen und sein Gesicht glühte, während er sprach und mit der wie tiefer Orgelton dröhnenden Baßstimme die Ausrufe und hingeworfenen Bemerkungen seiner Zuhörer übertönte. Von allen Gesichtspunkten aus wurde sein Fall erörtert; die einen redeten sich dabei in eine fieberhafte Erregung hinein, andre äußerten sich ruhig und sachgemäß. Aber ein Ausspruch erhielt die Zustimmung fast aller. Annixter tat ihn: »Sie sitzen fest. Sie können brüllen, bis Sie schwarz im Gesicht sind, aber gegen die Eisenbahn können Sie nicht bocken, 's ist nichts zu machen.«

»Totschießen können Sie den Schuft, Sie können S. Behrman über den Haufen schießen!« rief jemand aus der Menge. Ja! Bei Gott, totschießen können Sie ihn!«

»Armer Narr,« murmelte Annixter sich abwendend.

Nichts zu machen! Nein, es war nichts zu machen, rein gar nichts. Dyke, den man endlich allein gelassen hatte, fuhr zur Stadt hinaus. Er war eben noch mit gutem Rat und wohlmeinenden Vorschlägen, ja selbst mit Anerbieten finanzieller Hilfe überhäuft worden. Es fehlte Dyke auch nicht an Freunden, die ihm die mannigfachsten, sein ersonnenen Pläne und die listigsten Anschläge unterbreiteten. Sie waren alle wertlos. Der Fangarm hielt ihn in unlösbarer Verschlingung. Dyke konnte sich nicht rühren. Er saß fest.

Als er weiter ins offene Land hineinfuhr, wich allmählich sein Zorn von ihm, und er verfiel von neuem in den Zustand dumpfer Betäubung. Er vermochte nicht, eine Stunde im voraus zu denken; er war nicht imstande, auch nur irgend etwas für den nächsten Tag zu planen. Dyke wußte nicht, was er beginnen sollte. Er saß fest.

Mit dem trägen Beharrungsvermögen eines Sandsackes, die Zügel in den schlaffen Fingern baumeln lassend und zwischen den Pferdeköpfen hindurch ins Leere starrend, ließ er sich ziellos dahinführen. Dyke ergab sich in sein Los. Was lag ihm auch daran? Wozu noch etwas tun? Er saß fest.

Sein Gespann stammte aus dem Stalle von Los Muertos; die sich selbst überlassenen Pferde schlugen den Weg nach dem Derrickschen Gehöft ein. Der völlig geistesabwesende Dyke merkte das erst, als die das Wasser witternden Tiere an dem Trog vor Carahers Kneipe und Kramladen Halt machten.

Der Ex-Lokomotivführer stieg vom Wagen, blickte um sich und merkte jetzt erst, wo er war. Um so schlimmer! Aber es war schließlich alles eins. Da er doch schon so weit gefahren war, so kam er auf diesem Wege ebenso schnell nach Hause, wie wenn er umgekehrt wäre. Er löste die Zugstränge und sah, vor den Pferdeköpfen stehend, den Tieren zu, wie sie tranken.

»Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich anfangen soll,« murmelte er.

Caraher erschien jetzt im Rahmen der offenstehenden Ladentür; sein rotes Gesicht, der rote Bart und das feuerrote Halstuch hoben sich scharf von dem Schatten des Türeinganges ab. Er rief Dyke einen Willkommengruß zu.

»Hallo, Käpt'n!«

Dyke blickte auf und nickte teilnahmslos mit dem Kopfe.

»Hallo, Caraher!«

»Na,« begann der Kneipwirt, einen Schritt vortretend, »was gibt's Neues in der Stadt?«

Dyke erzählte. Carahers rotes Gesicht wurde noch röter. Grimmig blitzten seine Augen unter den roten Brauen. In einer Reihe herausgesprudelter Flüche machte er seiner Wut Lust.

»Jetzt sind Sie an der Reihe,« eiferte er. »Die haben's nicht allein auf die großen Weizenbauer, auf die reichen Leute abgesehen. Auch dem armen Mann plündern sie die Taschen. O, sie werden den Wanst schon vollkriegen! So kann's nicht weitergehen. Eines schönen Tages werden sie mal an den Unrechten kommen, an 'nen Kerl mit Murr im Leibe; der wird schon mit ihnen reden mit 'nem Feuerbrand in der einen Hand und 'ner Dynamitpatrone in der andern.« Er reckte die geballten Fäuste in die Höhe. »Gott soll mir helfen,« schrie er, »wenn ich an alles das denke, so werd' ich verrückt – ganz rot wird mir's vor den Augen. O, wenn das Volk sich nur seiner Kraft bewußt würde! O, wenn ich die Leute nur aufwecken könnte! 's ist nicht Shelgrim allein – noch viele andre sind da. Alle die Magnaten, alle die Schlächter und Blutsauger – Tausende sind's. Aber ihr Tag wird kommen, bei Gott, er wird schon kommen!«

Inzwischen hatten sich Ex-Lokomotivführer und Kneipwirt in die hinter dem Kramladen gelegene Trinkstube begeben, um alle Einzelheiten dieses neuen Frevels durchzusprechen. Der noch immer halb betäubte Dyke setzte sich an einen der Tische und sprach, in trübe Gedanken versunken, nur wenig. Caraher stellte, wie sich das für ihn von selbst verstand, die Whiskyflasche vor seinen Gast hin.

Zufällig trat gerade in diesem Augenblick Presley, der, die Taschen voll Postsachen, von Bonneville nach Los Muertos zurückkehrte, in den Laden, um sich Graphit für die Kette seines Zweirades zu kaufen. Die Tür der dünnen Scheidewand, die Laden und Trinkstube trennte, stand offen, und so entging Presley kein Wort des zwischen Dyke und Caraher geführten Gesprächs.

»Lassen Sie mich die ganze Sache hören, Dyke,« drängte Caraher.

Zum fünfzigsten Male erzählte Dyke seine Geschichte. Sie hatte schon eine bestimmte Form angenommen. Bei jeder Wiederholung gebrauchte er dieselben Redewendungen, dieselben Sätze und Worte. So hätte er sie jedem, der ihn anhören wollte, Woche auf Woche, Jahr auf Jahr, ja sein ganzes Leben lang erzählen können: »Ich rechnete mit einem Frachtsatz von zwei Cents. Wie sie nun merkten, daß ich ein hübsches Stück Geld verdienen würde, da erhöhten sie den Tarif auf das Doppelte – alles, was das Geschäft trägt, nehmen sie – und ich hatte S. Behrman die Hypothek gegeben – im Handumdrehen hat er mich ruiniert – ich sitze fest, die Kehle haben sie mir zugeschnürt, und 's ist rein nichts zu machen.«

Während er sprach, trank er Glas auf Glas von dem Whisky; sein ehrlicher Zorn, die offene, unverhüllte Wut gerann gleichsam und verdickte sich, um dann einen Bodensatz von dumpfem Haß und tückisch-feindseliger Böswilligkeit zu bilden.

Caraher, der jetzt sicher war, einen Anhänger zu gewinnen, füllte Dykes Glas von neuem. »Wollt ihr uns jetzt noch verurteilen,« rief er aus, »uns Rote? O, jawohl, ihr von der Mittelklasse könnt gut Mäßigung predigen. Das kann ich auch. Und Sie auch, wenn Sie sich den Bauch vollgeschlagen haben, wenn Ihr Eigentum geschützt und Ihre Frau nicht ermordet ist, und wenn Ihre Kinder nicht am Verhungern sind. Ja, dann ist's verdammt leicht, gesetzliche Mittel und Wege, Hilfe bei den Gerichten und allen solchen Quatsch zu predigen. Aber mit uns,« eiferte er, »wie ist's denn mit uns? Ah, gewiß, ich bin ein großschnäuziger Schnapswirt, nicht wahr? Ich bin ein wildäugiger Striker, wie? Ich bin ein blutdürstiger Anarchist, was? Warten Sie nur, bis Sie sehen, wie man Ihnen die Frau nach Hause bringt, das Gesicht, das Sie geküßt haben, zermalmt von 'nem Hufschlag – hingemordet vom Trust, wie mir's gegangen ist. Dann sprecht von Mäßigung! Und Sie, Dyke, der Lokomotivführer auf der schwarzen Liste, der entlassene Angestellte und ruinierte Landwirt, warten Sie nur, bis Sie sehen, wie man Ihre Mutter und Ihr Kleinchen zum Hause hinauswirft, wenn S. Behrman auf Ihr Eigentum Beschlag legt. Warten Sie, bis Sie sehen, wie abgezehrt und blaß die beiden sind. Und dann fragt Ihr kleines Mädchen, warum ihr alle denn nicht ein bißchen mehr eßt, und dann will sie ihr Mittagbrot haben und Sie können's ihr nicht geben. Warten Sie, bis Ihre Familie verhungert, weil kein Brot im Hause ist, und währenddem sehen Sie, wie hunderttausend Acker Weizen, Millionen Scheffel von Getreide vom Eisenbahntrust zusammengeraubt und verschlungen werden, und dann reden Sie von Mäßigung. Das will der Trust ja gerade hören. Davor fürchtet er sich nicht. Aber es gibt schon was, worauf er scharf hinhorcht und wovor er Angst hat – und das ist das Volk mit Dynamit in den Händen – sechs Zoll gutplombiertes Gasrohr – das wirkt!«

Dyke erwiderte nichts. Er füllte sein Glas und trank es mit zwei Schlucken aus. Sein dunkelrotes Gesicht war noch finsterer und grimmiger geworden. Wie ein müder Stier hatte er den auf den mächtigen Schultern sitzenden Kopf vornübergebeugt. Die trüben Augen starrten, ohne zu blinzeln, auf seine schwieligen, sehnigen Hände, die flach und müßig vor ihm auf dem Tische lagen, weil ihnen ihre Arbeit genommen war. Presley dachte nicht mehr an seinen Graphit. Er lauschte Carahers Worten. Durch die offene Tür konnte er den gebeugten, breiten Rücken Dykes mit den vornüberfallenden Schultern sehen.

Klar und deutlich stand das durch die Verdopplung der Fracht hereingebrochene Verhängnis vor seinem geistigen Auge. Dykes Fall war nur einer von vielen. Unzählige andre spielten sich überall im ganzen Staate ab. Fortwährend ereigneten sie sich. Eben erst im Entstehen begriffene Erwerbszweige wurden erstickt, und die Luft war erfüllt von dem Todesröcheln kleiner Unternehmungen, die unbeachtet ihr Leben in weit entlegenen Countys, in den Schluchten und Tälern der Vorberge aushauchten. Sie waren von jedermann übersehen worden, nur nicht von dem Ungeheuer, das vor keinem Angriff auf ein noch so mächtiges Unternehmen zurückschreckte und ebensowenig die Gelegenheit, das Allerkleinste auszuplündern, vorübergehen ließ. Mit einem Fangarm riß das Ungetüm hunderttausend Acker Weizenland an sich, während es mit dem andern einen Sack voll Hopfen stibitzte. Stumm, mit gebeugtem Haupt und die Hände krampfhaft um die Lenkstangengriffe seines Zweirades geklammert, setzte Presley die Fahrt fort. Seine Lippen waren weiß, und in seinem Herzen tobte, Gotteslästerungen ausstoßend, der blinde Dämon der Empörung.

In Los Muertos fand Presley Annixter vor. Als er mit seinem Rade in den zum Wohnhause führenden Fahrweg einlenkte, sah er, wie der Besitzer von Quien Sabe und Harran auf den Stufen der Veranda miteinander redeten. Magnus stand im Türeingang und sprach mit seiner Frau.

Im Drange der Geschäfte und aufgehalten durch eine letzte Unterredung mit den Rechtsanwälten der Liga, die den Tag darauf nach Washington reisen sollten, hatte Annixter den Zug versäumt, den er, um nach Hause zu kommen, bis nach Guadalajara benutzen wollte. Er war daher der Aufforderung des Governors gefolgt, auf dessen Bockwagen bis Los Muertos mitzufahren; vor seinem Aufbruch von Bonneville hatte Annixter noch dem jungen Vacca telefoniert, ihm den Buckskin nach Los Muertos zu bringen. Er fand auch das Pferd dort vor, verweilte aber noch einige Zeit, um Harran mitzuteilen, was Dyke zugestoßen war.

»Ich möchte wohl wissen, was er jetzt tun wird,« sagte Harran nach dem ersten Ausbruche seiner Empörung.

»Nichts,« erklärte Annixter. »Er sitzt fest.«

»Das verschlingt jeden Cent von seinen Ersparnissen,« fuhr Harran fort. »Zehn Jahre hat er gespart. O, ich sagte ihm schon damals, als er von seiner Absicht sprach, Hopfen zu bauen, er sollte mit der Eisenbahn seiner Sache ja sicher sein.«

»Eben hab' ich ihn gesehen,« sagte Presley, auf die beiden zutretend. »Nur von rückwärts. Er trank an einem Tische und hatte mir den Rücken zugekehrt. Aber ich konnte sehen, daß er ganz gebrochen, daß er völlig zerschmettert war. Es ist schrecklich, – schrecklich!«

»Bei Caraher war er?« fragte Annixter.

»Ja, gewiß.«

»Getrunken hat er?«

»Ich glaube. Eine Flasche hab' ich gesehen.«

»Bei Caraher trinkt er,« rief bitter Annixter. »Ich sehe schon, wie er endigen wird.«

Schweigen folgte seinen Worten. Nachdenklich blickten die drei zu Boden.

In stummem, bitterem Grimm und tiefbekümmert sahen die drei Männer, als ob sie selbst in diesem Augenblicke in der Trinkstube des Caraherschen Landstraßenwirtshauses ständen, den langsamen, unaufhaltsamen Zusammenbruch, den völligen Untergang eines ihrer Gefährten, die Vernichtung einer Laufbahn, den Ruin einer Persönlichkeit; sie sahen, wie ein ehrlicher, starker, furchtloser und aufrichtiger Mann von einer riesigen Macht niedergeworfen wurde und, einem bösen Einflusse folgend, blind in sein Verderben rannte.

»Ich sehe schon, wie er endigen wird,« wiederholte Annixter. »Dyke gibt das Spiel auf, und S. Behrmann, Shelgrim und Kompanie gewinnen ein weiteres Point.«

Hastig ging er zu seinem Pferde, löste den Strick, mit dem es angebunden war, und schwang sich in den Sattel.

»Gott für uns alle,« sagte er im Wegreiten, »und der Teufel hol' den Letzten. Adieu, ich will nach Hause. Vorläufig hab' ich noch 'n Zuhause.«

Er galoppierte auf dem Unteren Weg nach Quien Sabe hin. Annixter hatte den das Ranchhaus umgebenden Zypressen- und Eukalyptushain hinter sich gelassen und kam jetzt auf die kahle Fläche des Weizenlandes, das, zu beiden Seiten des Weges in unabsehbare Weiten sich erstreckend, noch keine Spur des in ihm schlummernden Lebens zeigte.

Es war spät am Tage, und schon lagen lange Schatten auf dem Staubpolster der Landstraße. Vor sich in weiter Ferne sah Annixter den ehrwürdigen Glockenturm der Mission San Juan in den letzten Strahlen der sinkenden Sonne glänzen; hinter dem Reiter, im Nordwesten, hob sich die vergoldete Kuppel des Bonneviller Gerichtsgebäudes dunkelpurpurn von dem wie in Flammen stehenden Abendhimmel ab. Annixter gab dem Buckskin die Sporen. Er fürchtete, spät zum Abendessen zu kommen. Ob Hilma ihm wohl sein Mahl bringen würde? Hilma! Der Name durchzuckte sein Hirn mit wohliger Glut. Während des ganzen, in angestrengter Tätigkeit zugebrachten Tages, inmitten all der sorgfältigen und bis ins kleinste ausgesonnenen Pläne für den letzten und entscheidenden Feldzug der Liga gegen den Trust war der Gedanke und die Erinnerung an Hilma der Unterstrom seines Denkens gewesen. Jetzt endlich war er allein. Er konnte alles andre beiseite lassen und sich nur mit ihr beschäftigen. In der Pracht des scheidenden Tages, in der Flut sonnigen Lichtes erschien sie ihm. Unerfinderisch, schwerfällig, nüchtern, wie seine Einbildungskraft war, zauberte sie ihm doch das in Sonnenschein getauchte und in hellstem Glänze strahlende verführerische Bild Hilmas vor die Augen. Er sah die holde Einfachheit ihrer Haltung, das statuenhafte Gleichmaß der Umrisse ihrer Gestalt, die wundervolle Rundung des Busens, die schweren Massen ihres Haares. Er erinnerte sich der kleinen, ihrem schlichten Wesen widersprechenden Merkmale weiblicher Zierlichkeit, die ihm so oft an ihr aufgefallen waren; an ihre zarten, schmalen Füße dachte er, an die kleinen Stahlschnallen auf ihren ausgeschnittenen Schuhen, an die schwarze Bandschleife, die sie seit einiger Zeit im Nackenhaar trug; er glaubte ihre tiefe, samtweiche Stimme zu hören, deren lieblicher, gedämpfter, fast heiserer Klang mehr aus der Brust als aus dem Halse zu kommen schien.

Die Hufe des Buckskins knirschten auf den Kieseln des Broderson-Baches unter der langen Trestlebrücke. Annixters Gedanken wanderten zurück zu der Szene vom Abend zuvor, als er sie dort überrascht hatte. Er biß die Zähne vor Aerger und Enttäuschung zusammen. Warum hatte sie ihn denn nicht verstanden? Was war nur mit den Weibern los, denen immer nur die Heiraterei im Kopfe spukte? War es nicht genug, daß er mehr nach ihr verlangte als nach irgendeinem andern Mädchen seiner Bekanntschaft und daß auch sie ihn mochte? Sie hatte so was doch selbst gesagt. Glaubte sie denn die Herrin von Quien Sabe zu werden? Ah, das war's! Auf sein Eigentum hatte sie's abgesehen, wegen seines Geldes wollte sie ihn heiraten. Er konnte seinen unüberwindlichen Argwohn gegen die Frau, sein angeborenes Mißtrauen gegen das ganze Weibergeschlecht nicht überkommen. Wie bodenlos falsch mußte sie sein, daß sie so unschuldig erscheinen konnte! Es war fast unglaublich; ja – sollte man's denn wirklich glauben?

Zum ersten Male befielen ihn Zweifel. Angenommen, Hilma war wirklich das, was sie zu sein schien. Angenommen, sie dachte gar nicht daran, ihn wegen seines Landbesitzes zu heiraten. Und der Augenblick war wohl auch wenig geeignet, ihn deshalb heiraten zu wollen – jetzt, wo doch der Besitz von Quien Sabe während der nächsten Monate völlig in der Schwebe hing. Angenommen, sie war wirklich ohne Falsch. Aber noch rechtzeitig ertappte er sich bei diesem Gedanken. Sollte er sich auf seine alten Tage noch von einem femininen Frauenzimmer narren lassen? Er, Buck Annixter, der geriebene, schlaue Geschäftsmann! Das könnte ihm gerade fehlen. Was auch kommen mochte, er wollte der Herr bleiben.

In dieser Stimmung kam er zu Hause an. Aber trotz aller Vorsätze konnte er gegen sich ihm aufdrängende Gedanken nicht ankämpfen. Während er den Buckskin absattelte und ihn zum Wassertroge neben dem Stall führte, begann sein Herz bei der bloßen Vorstellung von Hilmas Nähe heftig zu klopfen. Es wurde bereits dunkel; Annixter lugte verstohlen hier- und dorthin, um zu sehen, ob sie nicht irgendwo zum Vorschein käme. Er war – ohne zu wissen, weshalb – fest überzeugt, daß Hilma ihren Eltern nichts davon sagen würde, was sich am Abend zuvor zwischen ihm und ihr unter der langen Trestlebrücke ereignet hatte. Nicht im geringsten kam ihm der Gedanke, daß es aus war zwischen Hilma und ihm. Er sah es ein, daß er sie um Verzeihung bitten mußte – in den sauren Apfel mußte er beißen. So bald wie möglich wollte er sie aufsuchen, um alles wieder einzurenken und dann von neuem zu beginnen. Er wußte nicht recht, was er eigentlich mit Hilma vorhatte. Früher hatte er das ganz genau gewußt. Jetzt aber schwebte ihm das Ziel seiner Wünsche nur höchst unklar vor. Er hätte nicht sagen können, was er wollte. Ihm war es am liebsten, wenn alles so weiterging wie bisher, ohne daß er an irgendwelche Folgen zu denken brauchte; traten sie ein, so ergab sich alles andre im natürlichen Verlaufe der Dinge von selbst. Ueber das eine aber war er sich klar, daß sich seine Gedanken vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit Hilma beschäftigten; er war glücklich, wenn er in ihrer Nähe weilen konnte, und unglücklich, wenn er ihr fernbleiben mußte. Schweigend brachte ihm der chinesische Koch das Nachtmahl. Annixter aß und trank und zündete sich nach der Mahlzeit eine Zigarre an, die er, den schönen Abend genießend, auf der Veranda rauchte. Die Luft war mild und warm und der Himmel wie gepudert mit Sternen. Von den Ställen her hörte er einen portugiesischen Arbeiter auf der Gitarre klimpern. Aber er verlangte Hilma zu sehen. Der Gedanke, zu Bett gehen zu müssen, ohne sie, wenn auch nur flüchtig, gesehen zu haben, war ihm unerträglich. Annixter erhob sich von seinem Sitz, stieg die Verandastufen herab und wanderte, Auge und Ohr anspannend, ziellos zwischen den Wirtschaftsgebäuden umher. Vielleicht würde er irgendwo auf sie stoßen.

Das kleine Haus der Trees, zu dem es ihn unwiderstehlich hinzog, war finster. Sollten seine Bewohner schon so zeitig zu Bett gegangen sein? In weitem Bogen und scharf hinhorchend umschlich er das Haus, aber alles blieb still. Die Tür der Molkerei war angelehnt; er stieß sie auf und trat in das duftende Dunkel. Aus den Ecken und von den Wänden her schimmerten die blankgeputzten Metalleimer und Schüsseln in mattem Glanz. Der prickelnde Geruch frischen Käses kitzelte seine Nase. Alles blieb still. Niemand war in der Molkerei. Er ging wieder hinaus, zog die Tür hinter sich ins Schloß und blieb, ungewiß, was er jetzt tun sollte, auf dem freien Platz zwischen der Molkerei und seinem neuen Barn stehen. Während er noch unentschlossen zögerte, kam sein Vormann aus dem Schlafhause der Arbeiter von der andern Seite der Küche her und ging auf den Barn zu.

»Hallo, Billy,« murmelte Annixter, als der Mann an ihm vorbeikam.

»O, guten Abend, Herr Annixter,« erwiderte der und blieb vor ihm stehen. »Ich wußte nicht, daß Sie schon zurück waren. Und, was ich sagen wollte, der alte Tree und seine Familie sind fort.« Der Vormann schien anzunehmen, daß Annixter schon davon wußte. »Werden sie lange wegbleiben? Oder gehen sie ganz fort von hier?«

»Was ist denn das?« rief Annixter aus. »Wann sind sie fort? Sind alle drei gegangen?«

»Ja, ich glaubte, Sie wüßten's! Nach San Francisco sind sie mit dem Nachmittagszug. In aller Eile haben sie sich davongemacht – alle ihre Koffer haben sie mitgenommen. Ja, alle drei sind fort, das Fräulein auch. Heut früh haben sie mir's erst gesagt. Das hätten sie nicht tun sollen! Ich weiß nicht, wo ich jetzt in aller Schnelligkeit jemand herkriegen soll, der die Molkerei versehen kann. Wissen Sie vielleicht jemand, Herr Annixter?«

»Nun, in drei Teufels Namen,« brach jetzt Annixter los, »warum haben Sie sie denn fortgelassen? Warum haben Sie sich nicht erkundigt, ob sie ganz von hier fortwollen? Wofür füttere ich Sie denn, wenn Sie nicht auf Dinge aufpassen, um die ich mich selbst nicht kümmern kann?«

Annixter wandte sich kurz um und ging geradeswegs auf und davon, ohne darauf zu achten, wohin ihn sein Weg führte. Er hatte die Wirtschaftsgebäude hinter sich gelassen und stapfte, die Zähne zusammenbeißend und seine Stiefelabsätze voller Wut in den Erdboden bohrend, querfeldein. So trieb er es eine ganze Weile, um dann seine Schritte zu beschleunigen und hin und wieder zu murmeln: »Fort, bei Gott! Fort, bei Gott! Zum Teufel ist sie, weg ist sie!«

Sein Kopf war ganz wüst und leer. Er vermochte nicht seine Gedanken zu sammeln, um diese neue Wendung der Dinge zu erwägen. Er versuchte es nicht einmal. »Fort, bei Gott!« rief er nur immer. »Bei Gott, weg ist sie!« Er kam zum Bewässerungsgraben und auf den von den Erdarbeitern getretenen Pfad, dem er etwa fünf Minuten lang folgte; dann aber bog er im rechten Winkel ab und eilte über das unebene Feld auf einen großen weißen, aus dem Boden ragenden Stein zu. Auf diesen Stein setzte er sich; vornübergebeugt und die Ellbogen auf die Knie stützend, starrte er, während seine Gedanken sich schnell wieder ordneten, hinaus in die Nacht. Er war allein. Die Stille der Nacht, die tiefe Ruhe der flachen, kahlen Erde – beide unermeßlich – breiteten wie uferlose Seen sich um und über ihn. Feierlich und geheimnisvoll flutete mattes Zwielicht von den Sternen herab.

Annixter litt scharfe Pein. Für ihn gab es keinen Zweifel mehr, – jetzt war es Hilma oder nichts. Jetzt, da sie ihm unerreichbar, ihm verloren war, überfiel ihn die Erinnerung an sie mit unwiderstehlicher Gewalt. So sehr auch sein ganzes Sinnen und Denken von Hilma erfüllt gewesen war, so war er sich bis zu dieser Stunde doch nicht bewußt geworden, einen wie großen Platz in seinem Leben sie einnahm. Er hatte ihr das wohl gesagt, aber selbst nicht daran geglaubt.

Plötzlich wallte heiße Wut gegen sich selbst in ihm auf bei dem Gedanken an die Beleidigung, die er ihr am Abend zuvor zugefügt hatte. Er hätte anders handeln sollen. Wie – das wußte er selbst nicht, aber die ihr angetane Schmach prallte jetzt mit furchtbarer Gewalt auf ihn zurück. Er fühlte tiefschmerzliche, leidenschaftliche Reue. Er hatte ihr weh getan. Er hatte Tränen in ihre Augen gebracht. So schwer hatte er sie beleidigt, daß sie nicht mehr dieselbe Luft mit ihm atmen wollte. Sie hatte ihren Eltern alles gesagt. Von Quien Sabe war sie geflohen, auf immer hatte sie ihn verlassen, jetzt, in dem Augenblick, da er sie erobert zu haben glaubte. Das Vieh, die Bestie, die er war – er hatte sie vertrieben!

Eine Stunde verstrich; zwei Stunden gingen dahin, dann vier, dann sechs. Noch immer saß der ratlose Annixter, mit einem Zustande völliger Fassungslosigkeit, wie er ihn noch nie gekannt hatte, ringend, auf seinem Steine. Er wußte nicht, was in ihm vorging. Aus dem Dunkel und dem Wirrwarr, der ihn umgab, vermochte er den Weg nicht zu finden. Die Frauen kannte er ganz und gar nicht. Ihm fehlte jede Erfahrung, die ihn hätte leiten können. Wie sollte er sich da herauswinden, was sollte er beginnen, um alles wieder ins Gleiche zu bringen? Hilma aufzugeben kam ihm nicht einen Augenblick in den Sinn. Haben mußte er das Mädchen. Sie wollte sich ihm ja auch zu eigen geben. Danach hätte alles andre doch ganz leicht sein müssen, und trotzdem fand ihn diese Nacht hier allein und mit sich ringend in einer Bedrängnis, wie er sie noch nie erfahren hatte, während Hilma ihm weiter als je entrückt war.

Gewiß – er konnte Hilma selbst jetzt noch besitzen, wenn er sich zur Heirat mit ihr entschloß. Die Ehe aber war für ihn etwas so Unbestimmtes, in weiter Ferne Liegendes, fast wie sein Tod – etwas, das so manchem zustieß, ihm aber sicher nicht passieren würde; geschah es aber doch, so konnte das nur nach langen Jahren sein, wenn er älter, gesetzter, reifer war. Das immerhin mögliche Ereignis durfte aber erst in seine mittleren Jahre fallen, die ja noch in weiter Ferne lagen.

Er hatte sich noch nie mit Heiratsgedanken getragen, sondern sie weit von sich gewiesen. Dergleichen nahm keinen Platz in seinem Leben ein. Er war kein Heirater.

Aber Hilma war stets gegenwärtige Wirklichkeit und ihm so nahe wie seine rechte Hand. Die Ehe war ein unbestimmter, weitabliegender Begriff, Hilma dagegen eine mit Händen zu greifende Tatsache. Bevor Annixter diese beiden Gegensätze vereinen, bevor er an die Ehe und Hilma als etwas Unzertrennliches denken konnte, mußten unendliche Fernen von ihm überbrückt, mußte so Widerstreitendes wie Feuer und Wasser miteinander verschmolzen werden; wie auf der Folter wurde er in diesem Kampfe hin und her gezerrt.

Langsam und unmerklich begann das bisher untätige und widerspenstige Triebwerk seiner Einbildungskraft zu arbeiten. In demselben Grade nahm die Verstandestätigkeit ab. Er begann weniger zu denken und mehr zu fühlen. Während dieses ungeordneten, verwirrten und dunkeln Zwischenzustandes wurde in seiner Seele eine tiefe Furche gezogen, und ein kleines Samenkorn darin eingepflanzt, das zunächst schwach, vergessen und verloren in den finsteren Tiefen seines Wesens ruhte.

Als nun Annixters Geist immer langsamer arbeitete und mählich erstarrend seine Kraftäußerung einstellte, schwand ihm das Bewußtsein der eignen Persönlichkeit. Er dachte nicht mehr an sich selbst; nicht länger betrachtete er die Ehe von dem Standpunkte des eignen Behagens, der eignen Wünsche und Vorteile. Er fühlte, daß der eben in ihm erwachte sehnsüchtige Wunsch, Hilma glücklich zu machen, aufrichtig war. Darin lag wirklich etwas, sagte er sich. Jemand glücklich zu machen – wie wär's, wenn er's versuchte? Es war doch wohl der Erwägung wert.

Fern im Osten begann ein Streifen fahlen, grauen Lichtes sich über der Linie des Horizontes zu zeigen. Schwarz hob sich davon der Turm der Mission ab. Der Morgen dämmerte. Das verwirrende Dunkel der Nacht wich. Verborgenes kam an das Licht des Tages.

Die Augen halb geschlossen, das Kinn auf die Hände gestützt, ließ Annixter seiner Einbildungskraft freies Spiel. Sollte er wohl Hilma, das schöne junge Mädchen, dessen Lauterkeit er jetzt kannte und dessen ganzes Wesen jungfräuliche Unschuld und den Seelenadel sich erschließender Weiblichkeit kündete, sein Leben teilen lassen? Bei diesem Gedanken überfiel ihn das niederdrückende Gefühl seiner eignen Unwürdigkeit. Er hatte die ganze Sache falsch angefaßt und gleich zu Anfang einen schweren Irrtum begangen. Sie stand unendlich hoch über ihm. Er verlangte nicht danach, der Herr zu sein. Sie, seine Dienerin, die arm und schlicht, ja selbst von niederer Herkunft war, stieg herab zu ihm.

Vor seinem geistigen Auge enthüllte sich plötzlich die Zukunft, wie sie sich für ihn gestalten würde, wenn er jetzt seinem besten, edelsten und selbstlosesten Antriebe folgte. Er sah Hilma, wie sie ihm zu eigen war und sein Los teilte, mochte es nun Glück oder Unglück, Reichtum oder Armut sein. Alle Schranken zwischen ihnen waren gefallen, und er überließ sich ihr mit demselben edeln Freimut, mit dem sie sich ihm hingegeben hatte. Die Kräfte seines Fühlens, nicht seines Willens, aufs höchste steigernd, erkämpfte er sich den Weg über den Abgrund, der zwischen Hilma und dem Gedanken an eine Heirat mit ihr klaffte. Im selben Augenblicke gingen diese beiden Vorstellungen wie die Verschmelzung wundervoller Farben, wie der Zusammenklang herrlicher Akkorde ineinander auf, und in seiner rauhen, harten Welt wurde ein neuer Gedanke lebendig; überquellendes Zärtlichkeitsbedürfnis und ein heißes Verlangen, gut zu sein – Gefühle, die er noch nie gekannt hatte –, wallten in ihm auf und füllten sein Herz zum Zerspringen. Aus den dunklen Furchen seiner Seele, aus den zerklüfteten Tiefen seines Wesens strebte etwas empor, um sich am hellen Licht zu entfalten. Dieser arme Mensch, hart und rauh, engherzig und ungeschliffen, mit seinem abstoßenden Wesen, seinem barschen Trotz, seiner Selbstsucht und seinem Eigensinn ward sich plötzlich bewußt, daß die ganze Süße des Daseins, daß all die große und ewige, lebenspendende Kraft der Menschenliebe mit einem Male in ihm erwacht war.

Das längst gepflanzte kleine Samenkorn war in der Stille erstarkt, um endlich zu keimen.

Als bei dem zunehmenden Licht des Tages, der eben für ihn gedämmert hatte, all das Fühlen und Ahnen in ihm zur Gewißheit wurde, da stieß Annixter einen Freudenschrei aus. Jetzt endlich wußte er, was mit ihm vorgegangen war.

»O – ich – ich liebe sie!« rief er. Nie zuvor war ihm das in den Sinn gekommen. Nie zuvor hatte er, so sehr Hilma auch sein Denken beherrscht haben mochte, dieses erhabene Wort über die Lippen gebracht. Es war das Tönen der Memnonssäule, das Klingen des plumpen, aus feuersteinhartem Granit roh gehauenen menschlichen Ebenbildes, das, einen Freudenruf ausstoßend, der neu aufgehenden Sonne zujauchzte.

Inzwischen war es fast Tag geworden. Rosig glühte der Osten. Annixter sah die Felder von Licht überflutet. Aber eine Veränderung war eingetreten. Ueber Nacht war etwas vorgegangen. In seiner Erregtheit glaubte Annixter zuerst an eine Täuschung, an ein Trugbild seiner Einbildungskraft. Als aber das Licht zunahm, blickte er schärfer über die ungeheuern, sich von Horizont zu Horizont aufrollenden Flächen hin. Er hatte sich nicht getäuscht. Die Veränderung war eingetreten. Nicht länger waren die Felder leer und ohne Leben, nicht länger zeigten sie ihr stumpfes Braun. Annixter stieß einen lauten Jubelruf aus.

Der Weizen war da, der Weizen! Das vor langer Zeit in die tiefen, dunkeln Ackerfurchen eingebettete Samenkorn war mählich schwellend zum Keimen gekommen und hatte sich plötzlich in einer Nacht nach aufwärts und zum Lichte gedrängt. Der Weizen war aufgegangen. Vor Annixters Augen, überall, in unbegrenzten, unermeßlichen Weiten war er emporgesprossen. Ueber dem winterlichen Braun der Felder lag ein lichter grüner Schimmer. Die Verheißung der Saat begann sich zu erfüllen. Die Erde, die treue Mutter, die nie ermattete, nie versagte, hatte wieder ihre Pflicht getan. Wieder einmal war die Stärke der Völker erneut. Wieder einmal erfüllte neue Lebenskraft die Welt. Wieder einmal dehnte der ruhevolle, gütige Titan erwachend seine Glieder, und die ganze Herrlichkeit des jungen Morgens strahlte herab auf einen Mann, dessen von Glück übervolles Herz die Liebe zu einem Weibe stürmisch pochen ließ, und auf eine frohlockende Erde, die da leuchtete in der strahlenden, über alle Sinne hinausgehenden Pracht eines unverbrüchlichen Gelöbnisses.


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