Richard Nordhausen
Das Gespenst
Richard Nordhausen

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VII.

Sie stand hochaufatmend vor der schmutzigen, rissigen Kammertür still, auf die mit weißer Kreide der Name »Kowalsky« geschrieben war, und zwang sich mit Macht zur Ruhe. Niemand wußte daheim, daß sie diesen Besuch gewagt ... Niemand hatte ja eine Ahnung, daß er sich hier versteckt hielt – nur sie wußte es, sie allein in der Welt. Und nun wollte sie ihn zurückführen, den verwunschenen Königssohn, in das Haus seiner Jugend, in die Arme des Vaters, daß er wieder aufsteigen konnte zur Höhe, für die er geschaffen war ... Sie verlangte nichts für sich. Sie würde sich zu beherrschen wissen, sich daran genügen lassen, ihn um sich zu sehen, ihn fördern zu können. Alle anderen Träume waren eitle, unerfüllbare Torheiten, deren sie sich entschlagen mußte. Und nun ihr der Vater wieder zur Seite stand, nun ihr schwaches, begehrliches Herz doch wenigstens einen Menschen hatte, bei dem es Trost und Frieden suchen konnte, würde sie, wenn auch nur langsam, Heilung und Vergessen finden ... Das alles überdachte sie, während sie vor der Tür stand, hinter der er diese ganze Zeit über rachebrütend, ein Würgengel, gekauert hatte. Und als ihr heftig schlagendes Herz, ihre zitternden Hände zur Ruhe gekommen waren, pochte sie leise – ganz leise. Sie kam sich jetzt, in ihrer selbstlosen, wunschlosen Liebe, wirklich wie eine gute Fee vor, die ausgeht, Feinde zu versöhnen. Wie eine Fee ... Sie lächelte über diesen anmaßlichen Vergleich.

Auf ihr Pochen gab niemand Antwort. Mit wie ängstlicher Spannung sie auch lauschte, ihr feines Ohr vernahm kein Geräusch sich nähernder Schritte. Totenstill alles. Und seltsam – sie wußte nicht, woher ihr der gespenstische Gedanke kam – plötzlich war ihr zumut, als stehe sie vor einem geschlossenen Sarge und klopfe an und sei im Begriff, den Deckel aufzuheben, darunter der Tote schlummerte. Ihr Toter, Reinhold Lasser –

»Pfui!« schalt sie ärgerlich sich selbst – »wie feige! Ganz wie Heinrich!« Und als sie sich so Mut gemacht hatte, drückte sie auf die Klinke, die laut knarrte.

Jemand kam mit schleppenden Schritten heran, langsam, langsam; der Riegel kreischte. Sie schloß ein paar Sekunden lang wie betäubt die Augen; sie fühlte, daß sie am ganzen Leibe bebte.

Der Mann vor ihr musterte sie aufmerksam, dann umflog ein eigentümliches Lächeln seinen Mund. – »Du bist es, Marianne?« sagte er. »Ich wußte, daß du kommen würdest. Es ist wie mit Mohammed und dem Berge. Aber du warst immer so. Was bringst du mir?«

Sie horchte verzückt aus den Klang seiner Stimme – es war ihr wie ein Märchen. »Reinhold!« flüsterte sie, »Reinhold!« und streckte ihm beide Hände entgegen. »Sie sind noch kleiner geworden, als sie früher schon waren,« meinte er galant, ihre Finger leicht berührend. »Wenn du für ein paar Minuten näher treten willst – auf besondere Opulenz darfst du freilich nicht rechnen, aber hier zwischen Tür und Angel ist es doch ungemütlich.« Er sperrte die Türe weit auf. Dumpfer Geruch, leichter Branntweindunst schlug ihr entgegen.

Es sah liederlich und armselig genug in dem niederen, kalkgetünchten Raume aus, aber ihn schien es nicht zu genieren, so wenig ihn die mehr als dürftige Kleidung genierte, die er trug. Er bot seiner Cousine einen Stuhl an, nachdem er allerlei Gerümpel von ihm heruntergeworfen hatte, und ließ sich ihr gegenüber auf einen Schemel nieder. Ihr ward seltsam beklommen zumute. Sie hatte sich das Wiedersehen doch ein wenig anders vorgestellt. Und nun tat er so burschikos, sprach und lächelte so oberflächlich, als wäre gar nichts vorgefallen, als lägen nicht fünf lange, bange Jahre voller Qual und Leid für sie beide zwischen ihnen.

Wie ein Sonnenstrahl über sein Antlitz lief, wagte sie es, ihm zum erstenmal wieder voll ins Gesicht zu blicken. Sie erschrak heftig, so verwüstet und bleich sah er aus. Wenn die funkelnden Augen nicht gewesen waren, die ihren saphirenen Glanz bewahrt hatten, und das leichtfertig bezaubernde Lächeln um diesen feingeschnittenen Mund, Marianne würde ihn kaum wieder erkannt, würde sich vielleicht vor ihm gefürchtet haben. Dieser Mensch hier – nein, das war nicht der Held ihrer Träume. Nicht der Triumphator, den eigene Kraft aus der Niederung erhoben hatte, darin er, sich vergessend, lange Zeit gewandelt war. Jeder Zug dieses Gesichtes spiegelte die verwegene, freche Seele, verriet selbstzufriedenen Stolz, unversöhnlichen Trotz; es war das Gesicht des Freien, Wilden, der sich von allen Pflichten losgelöst, die Maske abgeworfen hatte und zynisch sich selbst lebte.

»Du prüfst mich sehr genau, Marianne – ja, ich habe mich ein wenig verändert,« meinte er gleichmütig. »Aber nicht zu meinem Nachteil – höchstens im äußeren Habitus. Ich sag' dir, es lebt noch eine Tatenlust in mir, und eine Sehnsucht ... laß mich nur aus diesem Jammer heraus sein –«

»Du bist schon lange in Berlin, Reinhold?« fragte Marianne.

»Einige Monate. Und es geht mir recht gut. Ich fühle mich sehr wohl. Ich habe immer lohnende Beschäftigung gehabt.«

»Lohnende?«

»Ja natürlich. Ich habe nicht stehlen zu gehen brauchen. Drüben lernt man die Hände rühren, wenn schon sonst nichts. Und dieser Gewinn ist eine ganz annehmbare Entschädigung für die vielen Verluste, die man erleidet.« Er verstummte und starrte vor sich hin.

»Warum hast du denn auf meine Briefe nicht geantwortet, sag mal?« Ihr hübscher Mund verzog sich dabei zu einem reizenden Schmollen.

»Hm ... da, weißt du, einmal wollt' ich mein Inkognito wahren, und dann korrespondiert man doch nicht gern mit dem Feinde.«

»Ich – dein Feind?«

»Bildlich genommen, Cousinchen. – Aber ... aber daß ich deine Mitteilung über das Breslauer Geschäft so benutzte, das hat mir nachträglich leid getan, na ja ... im Kriege gelten schließlich alle Mittel. Du bist mir deshalb doch nicht allzuböse?«

»Wie meinst du?« fragte sie erstaunt. »Ich wußte, daß du von meinem Briefe nur den besten Gebrauch machen würdest, und ich bin dir dankbar dafür, daß du den Streik so rasch beendet hast.«

Er sah sie ganz verblüfft an. »Du dankst mir, – na aber! Das ist doch 'ne ganz wundersame Auffassung! Ich glaubte, von dir eine prachtvolle Moralpauke zu hören zu bekommen ... Du bist 'ne viel gewandtere Fechterin, als ich geahnt hätte. Ich sehe jetzt ein, es war unrecht von mir, deine Nachricht so zu verwerten ... ich sehe mein Unrecht immer ein, wenn's mir nicht vorgeworfen wird,« setzte er mit leichter Selbstverspottung hinzu. »Aber vor dir allerhand Achtung – du bist 'ne schlaue Krabbe, Cousinchen.«

»Ich verstehe dich nicht, Reinhold,« erwiderte sie verwirrt. »Papa hätte ja doch einmal von der Konventionalstrafe erfahren müssen, und Heinrich war so – so zurückhaltend, er wagte nicht, es ihm zu sagen. Da hast du's ihm mitteilen lassen, und das war gut.«

Er lachte. »Auch eine Erklärung. Ich kann mir ja denken, wie angenehm es dem Alten war, von seinen Arbeitern so etwas zu erfahren ... muß der in die Zügel geknirscht haben! Und nun – was begehren Seine Gnaden nun von mir?«

Sie sah ihn erwartungsvoll fragend an.

»Na heraus mit der Sprache!« Und er blinzelte ihr leichtfertig zu. »Laß uns doch nicht Fangeball miteinander spielen – für zwei so betagte Leutchen schickt sich das nicht mehr. Komm, sei ganz ehrlich und offen. Sag mir frei heraus, was Onkel von mir will. Ich sehe immer gern aufgedeckte Karten.«

Jetzt begriff sie, was er meinte. »Du glaubst, sie hätten mich zu dir geschickt?« fragte sie entsetzt.

Er nickte humoristisch.

»Und dessen hältst du mich für fähig?« schrie sie auf. »Du glaubst, ich käme zu dir, im Auftrage des Vaters, und sagte es nicht und täte, als käm' ich aus eigenem Antrieb? O, was mußt du von mir denken – wie niedrig! Wie erbärmlich mußt du von mir denken!«

Er zuckte die Achseln, lächelte aber nicht mehr. Dieser elementare Ausbruch war nicht erkünstelt, das fühlte er. Zuviel gekränkter Stolz, zuviel echte Leidenschaft, mit Verehrung für ihn gemischte Entrüstung über seine häßlichen Worte loderten daraus hervor. Er blickte prüfend zu ihr auf, und seine Mienen erhellten sich, als verstünde er nun erst die Schmeichelei, die für ihn darin lag, daß Marianne diesen Schritt gewagt hatte.

»Das hättest du aber nicht tun sollen, Mirjam!«, sagte er, sie bei dem alten, lieben Kosenamen nennend. »Das ist sehr unrecht. Du kannst dich ins Gerede bringen, Kleine. Na, nun bist du mal hier, und nun wollen wir die Zeit dazu verwenden, uns ernsthaft auszusprechen. Das mit der Konventionalstrafe von deinem Mann, das war doch zu dumm. Wie man so einen Kontrakt machen kann, ist mir rein unverständlich. Und dann so was dem Alten zu verheimlichen! Wenn ich Konrad wäre, dem hätt' ich's gesteckt. Aber daß du als seine Frau euerm erbittertsten Feind so ein bedenkliches Geheimnis ausplaudern kannst, das ist doch recht unvorsichtig – viel Korpsgeist scheint ihr nicht zu haben.«

»Du, unser erbittertster Feind?« fragte sie, wieder lächelnd. »Das glaub' ich nicht. Und wenn schon! Dir, Reinhold, würd' ich dennoch alles sagen, was ich weiß, auch das Ärgste. Dich kenn ich allzugut. Du bist ja gar nicht fähig, mit vergifteten Waffen zu kämpfen – ein Mann wie du! Nein, bei mir gelingt es dir nicht, dich anzuschwärzen.«

»Du überschätzest mich doch sehr,« entgegnete Reinhold unsicher. Ihr blinder Glaube an ihn entwaffnete seinen Zynismus und rief seine Eitelkeit wach. Für dies Weib also stand er noch immer auf hohem Piedestal, sie sah noch immer bewundernd zu ihm auf wie früher ... Damals hatte er diesen Zoll der Verehrung, dies Weihrauchstreuen als etwas Selbstverständliches hingenommen, aber heute sog er seinen Duft mit tiefen Atemzügen ein. Man hatte sein Selbstgefühl in den vergangenen Jahren zu oft, zu unbarmherzig mit Füßen getreten, als daß er nicht jedem hätte dankbar sein sollen, der es schonte und achtete. Vor sich selber war er ja immer noch der Halbgott von damals, der starke Übermensch, der kein Unrecht tat, sondern sich nur voll auslebte; aber die andern hatten ihm ihre gegenteilige Meinung doch allzu rücksichtslos dargelegt, ihn allzutief gedemütigt. Dank den Erfolgen der letzten Wochen war er zwar wieder emporgestiegen und durfte wieder stolz auf sich sein, wozu bei ihm freilich nicht sonderlich viel gehörte. Dennoch peinigte ihn das Gefühl, als ein Ausgestoßener, Geächteter zu gelten, dennoch litt seine Eitelkeit Höllenqualen bei dem Gedanken, daß irgend jemand auf der Welt höhnisch und mitleidig auf ihn herabblicken könnte. Marianne goß Balsam auf diese Wunde.

»Onkel hat mich zugrunde gerichtet,« hub er an, als wolle er sich rechtfertigen, »hat mich im Elend verkommen lassen – ja, bin ich denn kein Mensch wie ihr, mit Empfindungen und Nerven wie ihr? Ich weiß, du siehst beiseite und tust, als sähst du die Lumpen nicht, die ich auf dem Leibe trage, und sähst nicht, daß ich heruntergekommen bin bis zur letzten Stufe – aber ich weiß es darum doch. Indessen, ihr habt mich nicht gebrochen. Ich bin noch stark, auch in der schmutzigsten Armut. Das wollt' ich euch zeigen. Und ich hab's gezeigt,«

»Ja,« sagte sie mit leuchtenden Augen, »das hast du ihnen gezeigt.« So wie jetzt hatte ihre Phantasie sich ihn ausgemalt, und sie fühlte sich eins mit ihm, stand auf seiner Seite im Kampf gegen ihre Angehörigen.

Sie gefiel ihm ganz ausnehmend in ihrer demütigen Hingabe, und etwas von der alten, längst verwehten Neigung für sie stieg in seinem Herzen empor. »Manchmal dauert's mich doch, ich will dir's verraten, daß alles so kommen mußte. Nun, wo man einsam in der Welt steht, meist ohne einen Silbergroschen in der Tasche, wo jeder sich erdreistet, mir gegenüber den Mitleidigen und Mildtätigen zu spielen, und doch keiner ist, der es wagen mochte, mich zu unterstützen, so daß ich wieder anfangen könnte, ein Mensch zu werden –«

»Ich hätte dir gern alles gegeben, was mein ist,« sagte sie zitternd, mit leiser Stimme. »Auch Vater –«

»Laß deinen Vater aus dem Spiel!« fuhr er zornig auf. »Meinst du, ich nähme von ihm auch nur einen Wasserstrunk? Ich schwöre dir, lieber ging ich selber ins Wasser. Ich will nichts von euch. Ich brauche euch nicht. Und das ist mein Stolz.« Nachdem er ihr so seinen Standpunkt in prächtigen Worten klar gelegt und den Eindruck seiner pathetischen Deklamation beobachtet hatte, fiel er wieder in den von ihm zuerst angeschlagenen Ton zurück, der ihm ganz offenbar weit besser lag. »Nun sag mal, Kinder, wie lebt ihr denn miteinander, du und dein Mann?«

Der jähe Stimmungswechsel berührte sie peinlich, »O – wir verstehen uns ja einigermaßen. Heinrich ist freilich sehr Kaufmann. Und in den letzten Wochen, wo uns soviel Unglück traf, wo auch der Vater mit seiner Verlobung Malheur hatte – wir litten alle sehr darunter, und du bist wahrhaftig mehr als hinreichend gerächt.«

»Nicht wahr?« Er konnte es nicht unterlassen, eine Prahlrakete abzubrennen. »Ja, siehst du, das wollt' ich auch. Eine kleine Rache muß der Mensch doch nehmen. Und willst du glauben, dies Frauenzimmer, Onkels Braut, hat mir einen Brief geschrieben, worin sie mir verspricht – na, davon schweigt des Sängers Höflichkeit besser. Und so was hat man geliebt! Zu dumm! Wir beide haben uns ja auch einmal gern gehabt, Marianne, he? Aber es ging doch poetischer dabei zu.« Er lachte und schien erstaunt, daß sie so ernst blieb.

Ihr war die Kehle wie zugeschnürt. Das hätte sie nicht erwartet. Ihm galt als ein hübscher Spaß, was ihr ganzes Seelenleben ausfüllte und durchfeuerte. Woran sie im süßen Gedankenrausche nie gedacht, fiel ihr nun plötzlich ein; was sie für ganz selbstverständlich gehalten, wurde jetzt zweifelhaft – liebte Reinhold sie denn? Wer hatte ihr das Recht gegeben, als eine Tatsache zu betrachten, was doch vielleicht nur farbiges Spielzeug ihrer Einbildungskraft war? Welch eine Törin war sie, auch in der grellen Wirklichkeit des Tages den Traum noch fortträumen zu wollen! All ihr Treiben deuchte sie, in dieser trost- und hoffnungslosen Umgebung, diesem zerstörten Manne gegenüber, auf einmal so kindisch und abgeschmackt ...

»Du hast sie in der Zwischenzeit gewiß nicht entbehrt, dies Fräulein Minden?« fragte sie lauernd, krampfhaft bemüht, ihrer Stimme eine scherzhafte Färbung zu geben. »Aber wenn sie dir geschrieben hat – nun, warum sollst du die alte Verbindung nicht wieder aufnehmen? Ich glaube, sie liebt dich noch immer. Wenigstens machte sie mir neulich Andeutungen –.« Mit ängstlicher Spannung beobachtete die junge Frau das Mienenspiel ihres Vetters.

»Mein Gott,« antwortete Reinhold nachlässig, »wie besorgt ihr Frauen doch um unsere Herzensangelegenheiten seid! Weißt du übrigens, daß es gar keine Schmeichelei ist, wenn du mir so etwas sagst? Aber andererseits beruhigt mich deine mütterliche Sorgfalt doch in einer Beziehung, und ist mir sogar angenehm –«

»Wie das?«

»Ach – das sag' ich nicht. Entweder du ärgerst dich darüber, oder ich mache mich vor dir lächerlich.«

»O – ich verstehe.«

Eine Ernüchterung sondergleichen überkam sie, mit Scham und Verdruß gemischt. Er ahnte also, was in ihrem Herzen wogte und kämpfte, wußte, daß es nicht nur verwandtschaftliche Zuneigung und einfache Sympathie gewesen war, die sie veranlaßt hatte, mit ihm in Verkehr zu treten und diesen letzten Schritt zu wagen; und trotzdem ging er spielend über ihre Empfindungen fort. Er fühlte nichts mehr für sie, nichts mehr. Sie galt ihm im günstigsten Falle als die gute, opferfreudige Kameradin. Ihr kaum verhülltes Anerbieten, ihm in naher Zukunft etwas Höheres, Süßeres sein zu wollen, lehnte er kühl und bestimmt ab ...

Seltsam – wie ihr das mit Gedankenschnelle klar wurde, wie er ihre weibliche Eitelkeit so tief verletzte, sank noch ein anderer Schleier von den Augen ihres Geistes. Um seine jüngsten Taten lag für sie bis zu dieser Stunde ein romantischer Zauber von dämonischem Reiz gebreitet. Ein Tragödienheld hatte er ihr geschienen. Blutrache hatte er nehmen wollen, der Unversöhnliche, für alles, was man an ihm gesündigt; ihren Vater und ihren Gatten hatte er zu seinen Füßen niederzwingen und dann sie selbst, seine Jugendgeliebte, aus drückenden Fesseln erlösen wollen. Das Volk hatte er gegen das Haus Lasser aufgewiegelt, verschollene Geheimnisse wider die Verhaßten heraufbeschworen; aber ein Wort aus ihrem Munde genügte auch, seine gigantische Wut zu bändigen. So schwebte er ihr vor. Und nun? Nun sah sie, daß ihr Wort, ihr Leid und ihr Interesse ihm so wenig galten, daß er sie einfach in den Kreis seiner Gegner mit einschloß, ihre Schritte falsch deutete und von ihren Mitteilungen einen Gebrauch machte, der sie empörte.

Sie war zu weit gegangen, allzuunvorsichtig gewesen, allzuoffenherzig und vertrauensselig. Nun, noch hatte sie Zeit, eine andere Taktik einzuschlagen. Und jene Feindseligkeit, die nur getäuschte und verschmähte Liebe erzeugt, stieg in ihr auf, jener bittere Trotz voll Hohn und Schärfe, der jedes Wortes Wirkung berechnet, wie der Wilde die Flugbahn seines Giftpfeiles; der darauf ausgeht, tödlich den zu verwunden, den man nicht lieben darf und deshalb haßt.

»Was gedenkst du nun zu beginnen, Reinhold?«

»O, ich finde wohl noch ein Unterkommen. Wenn nicht hier – denn seit dem Streik haben sie mich auf der Liste – so doch anderswo, in England vielleicht. Für das, was ich noch vom Leben verlange, erwerb' ich die Mittel ohne große Mühe.«

»Du bist noch sehr jung, Reinhold. So darf ein Greis sprechen oder ein nichtswürdiger Verlorener. Du sollst noch schaffen, du bist verpflichtet dazu. Dir gegenüber, der Welt gegenüber. Du hast manches gutzumachen.«

Er horchte auf. »Von wannen kommt dir diese Wissenschaft?«

»Muß ich sie dir erst bringen?«

»Du sprachst vorhin etwas anders.«

»Ja – weil ich sehen wollte, ob sie wirklich recht haben, die – die verächtlich von dir sprechen. Ob du wirklich der Haltlose bist, dessen ganze Kraft in seiner Selbstvergötterung liegt; der Genießling, der nur ein Gebot kennt und nur eine Freude –«

»Laß gut sein,« unterbrach er sie, noch bleicher als vorhin. »Ich glaubte wirklich – aber du hast ganz recht, und warum solltest du anders als die andern urteilen? Ihr habt alle recht. Ich bin ein Verworfener, ja – ich muß es sein, denn niemand vertraut mir mehr, niemand baut noch auf meine Zukunft. Ich würde mich zum Gespött meiner verehrlichen Freunde von damals machen, tät ich's allein. Ein Sonderling bin ich nie gewesen. Und ich habe den Plan schon oft gehabt, wegzureisen, sehr weit weg – wo mich niemand kennt – denn hier bin ich ja doch geächtet. Du hast mir den letzten, den überzeugenden Beweis dafür erbracht.«

Er stieß die Sätze abgerissen, mit fast tonloser Stimme hervor und vermied es, Marianne anzusehen. Dann trat er an das schmale Fensterchen, blickte lange sinnend in den Hof hinunter, ohne auf seine Cousine Rücksicht zu nehmen, und lachte unvermittelt hell auf.

Sie raffte sich zusammen. Sie wollte ihre Pflicht tun, obwohl ihr sein widerspruchsvolles Wesen immer unverständlicher wurde. »Vater ist sehr – sehr geneigt, dir zu verzeihen, Reinhold?«

»So? Ist er? Nun, das freut mich, ich bin auch sehr dazu geneigt, ihm zu verzeihen,« Und wieder klang sein Lachen verletzend höhnisch. »Ein bißchen in seinem Auftrag kommst du also doch?«

»Ich schwöre dir, Reinhold – – niemand ahnt, daß du diesen Namen angenommen hast. Aber ich sprach öfter mit Papa von dir –«

Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Sieh mal! Das nenn' ich nun reizend von dir, Cousinchen? Und du denkst immer noch an mich, gerade du? Ja, das ist eigentlich seltsam – es fällt mir erst jetzt auf. Soviel Menschenliebe – 's ist ja rein unmöglich. Dir habe ich doch damals – na, ich will nicht arrogant sein. Es stände mir jetzt erbärmlich schlecht zu Gesichte.«

»Ja, du hast mir damals wehe getan. Sprich es getrost aus,« sagte sie ruhig. »Sehr wehe sogar.«

»Hm, und trotzdem ... Du bist ein Engel, kleine Marianne. Wirklich und wahrhaftig, ein Engel.« Das hatte sie aus seinem Munde hören wollen, und jetzt, wo er es sagte, beleidigte es sie.

»Du willst also nicht zu Papa kommen, Reinhold?«

»Ich wüßte nicht, was eine Unterhaltung zwischen mir und ihm bezwecken sollte. Ins Joch schlüpf' ich doch nicht mehr, dafür bin ich verdorben. Verdorben – es ist wahr, das scheint der richtige Ausdruck. Du verstehst dich gut darauf, solche Ausdrücke zu münzen.«

»Ich habe das Wort nicht gebraucht.«

»Ja, Verzeihung – du sagtest sogar rsaquo;verworfenrlsaquo;. Verworfen ist noch viel bezeichnender. – Denke mal, wenn ich nun in euer Haus dränge, ich, der Haltlose, der Genießling, der Selbstvergötterer, all in meiner Schändlichkeit! Pu! Nein, das mag ich euch nimmermehr antun.«

Sie erschrak. Nun reute es die Wandelbare fast, was sie getan. Sie gedachte der Wünsche und Pläne, die ihr auf dem Wege hierher durch den Kopf gegangen waren ... Sie hatte ihre Mission schlecht erfüllt. Aber dafür auch die Süße der Rache gekostet bis zur Neige. – –

»Du wirst dir sehr überlegen, Reinhold, was dich mehr fordert und von größerem Nutzen für dich ist; ernste Einkehr in Frieden mit der Welt, oder ein wildes Wanderleben wie bisher. Ich weiß, es schlummern hohe Gaben in dir – sie werden nicht sämtlich, nicht ganz erloschen sein – warum willst du sie nicht segenbringend anwenden? Zeig uns doch, daß du ein Mann bist, ein rechter Mann, daß du noch Kraft hast zu wollen!« Sie beglückwünschte sich selbst dazu, wie verständig und überlegen sie zu ihm sprach.

Aber er lächelte nur auf sie herab. »Wo hast du dein Schulmeisterinexamen bestanden? An mir wird deine Pädagogik keine Freude erleben. Ich kann mir ja denken, was dich ärgert und enttäuscht. Du kamst mit hochgespannten Erwartungen hierher. Du dachtest einen gestürzten Titanen zu finden, so 'ne Art verarmten Faust, einen Grübler und finsteren Asketen, den sein Unglück geläutert hat ... Ach nein, Marianne. Wenn man fünf Jahre lang sein bißchen Brot mit allen möglichen, nicht immer gerade ästhetisch schönen Arbeiten verdient und ein Menschenkind ist wie ich, dann macht man sich nicht vor sich selber mit melodramatischen Posen lächerlich.« Er wurde ihr immer unbegreiflicher. Sie wußte nicht, ob er seinen Spott mit ihr trieb oder nun im Ernste sprach und seine vorherigen Äußerungen zurücknehmen wollte. »Wir haben uns ja in der Leipziger Straße gesehen,« fuhr er fort. »Sieh mal, das war noch 'ne aristokratische Beschäftigung, sozusagen. Ich habe andere gehabt ... Also der Stolz legt sich. Ein anderer Stolz, kleine Marianne, legt sich aber nicht.« Er sah sie eine Weile lang ernst an. »Weißt du welcher?«

»Welcher denn?«

»Der, daß man auf sich selbst steht. Keinen braucht. Kein fremdes Geld, keinen fremden Rat, kein fremdes Mitleid. Überhaupt, Mitleid ist beleidigend. Ich kenne euch nicht mehr, seid so gut und kennt mich auch nicht mehr. Dies ist die einzige Bitte, die ich an dich habe.« So entschieden klangen seine Worte, so todesernst war der Ausdruck seines Gesichtes, daß sie erblaßte. Das Spiel, das sie mit ihm trieb, nahm ein unvorhergesehenes Ende, und er gewann die Partie. Was würde sie dem Vater sagen können, den es doch nach einer Aussöhnung mit Reinhold verlangte? Und wie würde sie in Zukunft über sich selbst und ihr launisches Treiben in dieser entscheidenden Stunde urteilen müssen? Sie sah ihn verwirrt, fast bittend an. »Reinhold!« Und einem jähen Impulse nachgebend, in tiefer Trauer, vielleicht um die nun zertrümmerten, goldenen Träume vom kommenden Glück, vielleicht auch um sein bejammernswertes Schicksal, begann sie heftig zu weinen. Und nun es doch zu spät war, nun plötzlich gewann sie den Mut, ihm schluchzend zu gestehen: »Ich habe dich so lieb gehabt, Reinhold –«

»Aber es ist vorbei, nicht wahr?«

Und nun – sie hat nie begriffen, was sie in dieser Minute zwang, zu lügen – nun kam ihr das Ja nicht über die Lippen, und sie hauchte, über und über erglühend: »Ich – ich weiß nicht –.«

Da lächelte der Mann an ihrer Seite, ein Lächeln, das ihn seltsam verschönte. Die plötzliche Gewißheit, daß ihm dies Herz immer noch gehörte, aller Stürme und Wandlungen ungeachtet, machte ihn stolz und groß, riß ihn kraftvoll aus all dem Elend des Augenblicks und gebar in ihm den Wunsch, sich solcher Liebe würdig zu zeigen. Ein Schleier zerriß, der vor seinen Augen gelegen hatte, und er sah in sein vergangenes Leben wie in sein kommendes.

»Ich reise heute ab. Grüß daheim alle von mir. Und bleib mir gut. Wenn du aber ein übriges tun willst, liebe Marianne –«

Er sah ihr wieder ins Gesicht, mit seinen schönen, blauen Augen –

»Dann komm und laß dich zum Abschied küssen, Cousinchen. Ich habe dich doch auch einmal so gern gehabt, und wenn ... ach, Unsinn. Es ist aber darum gut, wenigstens für mich, daß ich davongehe. Darf ich dich zum Abschied küssen. Mirjam?«

Sie schlang in plötzlicher Aufwallung die Arme um seinen Hals. »Du – du –«

Er preßte sie an sich, und während sie die Augen schloß, ruhten seine Lippen auf den ihrigen. Dann ließ er sie frei. »So – nun geh ... geh ... Ich weiß nun ... Und siehst du, jetzt bin ich doch dein Schuldner geworden, Kleine, und wollte doch erst nichts geschenkt nehmen ... Du nimm von mir tausend Dank. Geh jetzt. Ich muß allein sein.«

»Reinhold – ehe du reist – versprich mir, daß ich dich vorher noch einmal wiedersehe –«

»Ehe ich reise ... nun, wiedersehen sollst du mich jedenfalls. Ich bitte sogar darum. Schon wieder eine Bitte.«

»Und wann?«

»Vielleicht schon morgen. Mein Wort darauf.«

»Du schreibst?«

»Na ja – du sollst es rechtzeitig erfahren. Und nun geh.«

Und sie ging.

Der junge Mann sah eine Weite lang regungslos vor sich hin. Dann kramte er unter den Papieren herum, die den Tisch hoch bedeckten, und zog einen Revolver hervor. Er lauschte, bis Mariannens Schritte verklungen waren, er lauschte und fühlte, wie es ihm heiß in die Augen stieg. Aber die Tränen übermannten ihn nicht. »Auf Wiedersehen!« sagte er mit lauter Stimme und versuchte dabei zu lächeln. Dann hob er die im Sonnenschein blinkende Waffe empor.


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