Richard Nordhausen
Das Gespenst
Richard Nordhausen

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IV.

Als sie von dem nahegelegenen Postamte zurückkehrte, überraschte man sie durch die Meldung, daß Fräulein Thessa Minden, ihres Vaters Braut, sie zu sprechen wünsche. Zu jeder anderen Stunde hätte sie den Besuch rücksichtslos abgewiesen, in ihrer jetzigen fröhlichen und zukunftfrohen Stimmung aber kam ihr die Feindin gerade recht, um auch mit ihr nach den Worten des Evangeliums zu verfahren. Überdies sagte ihr eine Ahnung, daß etwas Besonderes vorgefallen sein müsse, und ihr Herz pochte ungestüm bei dem Gedanken, nun endlich Aug' in Aug' ohne Zeugen, der Frau gegenüber zu stehen, die so verwüstend in ihr und Reinholds Leben eingegriffen hatte.

Fräulein Minden sah berückend aus – das gehörte zu ihren Berufspflichten. Die Schönheit der Dreißigerin hatte sich zu blühender Üppigkeit entfaltet und schien doch so taufrisch wie vor zehn und mehr Jahren. Mariannens erstes Empfinden ihr gegenüber war weniger eine Regung der Eifersucht als des Neides, und trotzdem in diesem Augenblick eine Hochflut peinigender Gedanken auf sie einstürmte, blieb ihr doch Zeit genug, die kostbare Frühlingstoilette der Dame mit Kennerblicken zu mustern.

Sie begrüßte ihren Gast mit einfacher Höflichkeit. »Mein Besuch setzt Sie gewiß in Erstaunen, gnädige Frau,« begann Thessa die Unterhaltung. »Es sind in der Tat seltsame Umstände, die mich zwingen – die mir den Wunsch nahe legten, ein paar Minuten mit Ihnen zu verplaudern.«

Marianne verneigte sich. »Das ist mir lieb. Sie waren so lange unsichtbar. Sogar im Theater hab' ich Sie in den letzten vier Wochen nie gesehen.« Dieser kleine Stich sollte einmal ausdrücken, wie wenig Marianne sich für die künftige Stiefmutter interessierte, und dann sollte er das rollenarme Fräulein an ihre künstlerische Bedeutungslosigkeit erinnern.

Aber Thessa überhörte die kleine Bosheit, verstand sie vielleicht gar nicht und lächelte sehr liebenswürdig. »Wissen Sie, gnädige Frau, weshalb ich gerade diese Stunde zu meinem ersten Besuch in Ihrem Hause wählte? Weil ich Sie ganz allein haben wollte. Ihr Herr Gemahl steckt ja jetzt in der Fabrik, und Ihr Herr Vater –«. Sie lachte.

»Nun?«

»Der wartet bei mir auf mich. Wir Damen sind also ganz unter uns.«

Mariannens Züge verrieten allzudeutlich, wie unangenehm diese Worte sie berührten.

»Es war wirklich nur eine Kriegslist,« fuhr Thessa eifrig fort, »ich wußte wahrhaftig nicht, wie ich's anders anfangen sollte. Und ich mußte Sie doch sprechen. Ich habe nämlich gestern – gestern einen Besuch erhalten – einen sehr unerwarteten Besuch – und da wir nächstens doch in enge Verwandtschaft miteinander treten werden, Frau Marianne, so hielt ich es für meine Pflicht, diese Angelegenheit mit Ihnen zu erörtern.«

Die junge Frau sah ängstlich und doch vor gespannter Erwartung zitternd vor sich nieder. Sie wußte sogleich, was es mit diesem Besuche auf sich hatte.

»Es ist eine etwas peinliche Geschichte,« fuhr die Schauspielerin mit ziemlich gleichgültiger Miene fort. »Darf ich ganz offen sein?«

»Ich bitte sehr darum.«

»Es hat mich jemand davor gewarnt, Ihren Herrn Vater zu heiraten. Wenn ich nicht freiwillig zurückträte, würde er mich dazu zwingen, indem er Ihnen gewisse Briefe von mir an einen jungen Mann zustellte.«

»An meinen Vetter Reinhold?«

»Ach, Sie wissen? Ja, an Ihren Vetter Reinhold. Ich will nicht leugnen, ich habe ihn einmal sehr lieb gehabt. Ich war jung und lebenslustig und nicht klug genug, um voraussehen zu können, was kommen mußte. Ich mache gar kein Hehl daraus, wenigstens Ihnen gegenüber nicht. Sie werden mich auch verstehen. Nun gut. Aber dann ist er doch fortgegangen. Das sind jetzt fünf Jahre. Mein Gott, in dieser Zeit kann man sich doch ändern. Da verliert doch alle Bedeutung, was sich vorher mal ereignet hat. Ich kann Ihnen gestehen, daß ich damals ... ich war noch so unerfahren und dumm – ja, damals verstand ich die Vorzüge Ihres Herrn Vaters nicht so zu schätzen –«

»Sie brauchen sich vor mir nicht zu verteidigen, Fräulein Thessa,« fiel ihr Marianne mit einiger Schärfe in die Rede. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll, so muß ich gestehen, daß es mich auch wenig interessiert, zu erfahren, welche Umstände Sie auf die Vorzüge meines Vaters aufmerksam machten. Ich –«

»Aber verzeihen Sie, wenn ich unterbreche – was ich Ihnen sagte, gehört zur Sache. Sie wissen vielleicht nicht, daß sich Ihr Herr Vater schon damals um meine Hand bewarb, und daß nur durch Reinholds Schuld dieser Plan sich zerschlug. Er nutzte meine Unerfahrenheit aus – ja, das tat er. Und nun gönnt er mir nicht einmal jetzt, nach fünf Jahren, wo doch alles vergessen sein sollte, Ruhe. Ich ängstige mich sehr. Er war immer ein so desparater Mensch, Immer nur auf sich bedacht und alles, was er tat, hielt er für erlaubt. Wenn er nun wirklich nach Berlin zurückkommt –«

»Ich denke, er war gestern bei Ihnen?«

»Reinhold? Kein Gedanke!« entgegnete die Schauspielerin erstaunt. »Nein, das war ein Fremder – ein ganz Unbekannter. Und sehen Sie, ich finde es so sehr unrecht von ihm, daß er jemanden, den ich gar nicht kenne, in all diese Verhältnisse eingeweiht hat. Deshalb wollte ich Sie recht herzlich gebeten haben, gnädige Frau, wenn die Briefe in Ihre Hand kommen, sie einfach zu vernichten – oder noch besser, sie mir wiederzugeben, wenn Sie so gut sein wollen. Das ist's, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin.«

»Ich habe die Briefe noch nicht. Ich weiß auch noch nicht, ob ich sie überhaupt annehmen werde.«

»Wirklich?«

»Ich muß mir das erst überlegen. Ob ich sie dann aber verbrenne oder Ihnen zurückgebe, das hängt natürlich ganz von ihrem Inhalt ab. Sollte der so sein, daß er Sie kompromittiert, ja, Fräulein Thessa, dann ist's vielleicht das Vernünftigste, Sie folgen dem guten Rate Ihres Besuchers.«

»Aber ich bitte Sie – solche niederträchtigen Wühlereien im Dunkeln, vor denen sollte man sich beugen?«

»Wenn Sie damals so gehandelt haben, wie es recht ist – gewiß nicht.«

»Ich verstehe Sie nur halb. Sie werden doch mit mir einer Meinung sein, daß es sich um eine ganz gewöhnliche Erpressung handelt. Reinhold hat drüben mit meinen Briefen geprahlt und sie irgend jemand überlassen – das liegt so recht in seiner Manier – oder aber der jemand besitzt sie gar nicht und droht nur damit, um mich einzuschüchtern –«

»Ja – ich vermute nun aber, daß sich hinter Ihrem jemand mein Vetter selbst verbirgt. Er hat den Boten an Sie abgesandt.«

»Ach nicht doch! Ihr Herr Vater, mit dem ich gestern zufällig auch auf die Vergangenheit zu sprechen kam, versicherte mir ganz positiv, daß Reinhold verschollen, irgendwie, irgendwo in Amerika untergegangen sei.« Die herzlose Kälte, womit sie das sagte, der absprechende Ton, den sie bei der Erwähnung von Reinholds Charaktereigenschaften anzuschlagen beliebte, empörte Marianne aufs äußerste. Und um dieses gemeinen, käuflichen, leichtfertigen Geschöpfes willen hatte Reinhold sie verlassen, sie unglücklich gemacht für ihr ganzes Leben! – Die junge Frau warf einen schnellen Blick in den Spiegel ihr gegenüber, und verglich sich heimlich mit dem aufgeputzten Besuche. Und ihr Entschluß stand jetzt fest.

»Nun, ich kann Sie versichern, daß Ihr früherer Geliebter in Berlin ist.«

»Sie haben ihn gesehen –«

»Nur ganz flüchtig freilich. Aber man erkennt einen Verwandten doch immer wieder.«

Thessa hatte sich erhoben und sah sehr betroffen aus. »Ist das Ihr Ernst, Frau Marianne?« stammelte sie.

Die andere zuckte die Achseln. »Weshalb zweifeln Sie daran?«

»Ja – und meinen Sie wirklich, daß Reinhold fähig wäre ... so eine niedrige Handlung – nein, nein ... er war immer ein Gentleman, ein nobler Charakter ... ach, das glaub' ich nicht –«

»Wie rasch Sie doch Ihre Ansichten über meinen Vetter wechseln!« bemerkte Marianne. »Aber jetzt sagen Sie die Wahrheit – ja, er war ein nobler und adliger Mensch,« Zorn und Mitleid für den zugrunde Gerichteten bebten in ihrer Stimme. »Warum haben Sie ihn ins Verderben gestürzt? Wundert es Sie denn, daß er nun mit solchen Waffen gegen Sie kämpft? Sie haben ihn dazu gezwungen.«

»Das ist ein Ton –,« erwiderte die Schauspielerin gereizt, »ich muß sagen –.« Sie bezwang sich aber im nächsten Augenblick und versuchte wieder zu lächeln. »Gnädige Frau fassen das viel zu scharf auf. Ich habe Reinhold geopfert, was zu opfern war, ich vertraute ihm blindlings, ich war nicht selbstsüchtig, glauben Sie mir. Wenn Sie ihn geliebt hätten, wie ich –«

»Ach, lassen wir das!«

»Und nun sehen Sie, ich kann doch nicht bis zum Ende meiner Tage die Kette nachschleifen ... Er war es doch, der mich verließ. Ich muß doch das Recht haben, mir eine neue Existenz zu gründen und meinem Herzen, wenn es wieder spricht, nachzugeben. Nicht wahr? Ach, Frau Marianne, denken Sie an Ihr eigenes Leben – vielleicht erging es Ihnen ganz ähnlich.«

»Sind denn die Briefe so gefährlich?«

»Gefährlich – nein. Das gerade nicht. Aber Ihr Herr Vater darf sie nicht lesen. Um keinen Preis. Ich habe mich oft um diese Briefe gegrämt –«

»Ja – dann sind Sie verloren. Reinhold wird die Briefe gar nicht mir, sondern meinem Vater direkt senden.« Es leuchtete wie schadenfroher Triumph aus den sonst so mild blickenden Augen der jungen Frau, und sie weidete sich an der tödlichen Angst ihrer Nebenbuhlerin. All die frommen Gedanken und Empfindungen waren wie dünne Wölkchen verweht vor dem Sturmwind wilder Leidenschaft.

»Der – der Bote sagte mir aber, daß Sie die Billette erhalten sollen. Und da doch, was ich vor Jahren geschrieben habe, mein Eigentum ist – unbestreitbar mein Eigentum, und da Sie mir doch nicht feindlich gesinnt sein können, denn ich habe Sie ja nie beleidigt – warum wollen Sie mir den Gefallen nicht erweisen, warum mich und noch mehr Ihren Vater unglücklich machen? Lasser liebt mich, ich weiß es, von ganzem Herzen.«

»Das ist seine Sache. Das geht mich nichts an.«

»Sie weigern sich also.«

»Ja. Reinhold weiß, weshalb er gerade mir die Briefe schickt. Mein Vater könnte sie aus Liebe zu Ihnen unterdrücken. Wenn ich sie ihm aber bringe, darf er es nicht – verstehen Sie – wagt er es nicht!«

Beide Frauen standen sich mit funkelnden Augen gegenüber und starrten sich sekundenlang an, als mäßen sie ihre Kräfte.

Und so fand sie Lasser, der, als er Thessa in ihrer Wohnung vergeblich erwartet und vergeblich auf der Promenade gesucht hatte, mißmutig heimgekehrt war.

Er begrüßte die Damen in ziemlicher Verwirrung. »Auf eine so freudige Überraschung war ich nun allerdings nicht gefaßt,« sagte er, es vermeidend, Marianne anzublicken. »Nun, ich hoffe, Fräulein Minden, Sie haben sich mit meiner Tochter bereits recht intim befreundet. Ja es freut mich, daß Sie diesen Schritt taten. Marianne ist ein wenig steif –«

»Du erlaubst wohl, Papa, daß ich gehe,« unterbrach ihn die junge Frau. »Fräulein Minden ist mit einer Bitte zu mir gekommen, über die sie am besten gleich mit dir reden kann ... Ich empfehle mich, Fräulein!« Und sie verneigte sich vor ihrem Gast und verließ das Zimmer.

Konrad Lasser sah seine Braut halb ärgerlich, halb belustigt an. »Du foppst mich ja recht ausgiebig,« lachte er. »Während ich nach dir suche, bist du bei uns ... Übrigens scheint ihr euch beide nicht gut vertragen zu haben. Du, das tut mir leid. Hättest du mir von deiner Absicht gesagt, hätt' ich dir ein paar Verhaltungsmaßregeln gegeben ... Das Mädel war immer so sensibel. Und nun gerade dir gegenüber ... Wie konntest du auch nur, ohne mich zu fragen –! Ich erzählte dir bis jetzt nichts davon, weil es keinen Zweck hatte und ich solche Dinge nicht gerne anführe, aber –«

»Aber?«

»Na – sie hat den – den Reinhold sehr gern gehabt.«

Die Schauspielerin zuckte zusammen. Nun wurde ihr mit einem Male Mariannes Benehmen verständlich, und nun erkannte sie, daß die Partie verloren war. »Reinhold ist wieder in Berlin,« preßte sie hervor. »Und – und er will nicht, daß wir uns heiraten. Er hat mir gedroht.«

»In Berlin? Lächerlich, lächerlich! Wer hat dir den Unsinn vorgeredet?« flüsterte Lasier erschrocken. »Um Gottes willen, rede nur nicht hier davon ... Wie kannst du mich nur so ... Nein, das ist ja ganz unmöglich. Du siehst Gespenster, Kind. Bist du ihm denn selber begegnet?«

»Ich nicht ... aber deine Tochter Marianne. Von ihr weiß ich's. Aber ich weiß es auch sonst. Und sieh mal, Konrad – damals, als er –«

»Laß das, laß das – ich vertrag' das nicht, du weißt. Es war eine kindische Tändelei – du hast dir nichts zuschulden kommen lassen, hast immer an mich gedacht und warst froh, als er dich freigab –«

»Ja.« Ein verächtlicher Zug krümmte ihre Mundwinkel, Hohn über den närrischen Alten, der sich so leicht betrügen ließ und so gern eine schmeichlerische Lüge glaubte. Und wie sie die verzückten Blicke sah, mit denen er ihre reizende Gestalt und ihr bleich gewordenes Gesicht musterte, da entschloß sie sich, einer plötzlichen Eingebung folgend, zu einer Generalbeichte.

»Konrad,« hauchte sie. »Du, ich liebe dich so sehr. Glaubst du das?«

»Mein holder Liebling!« Und er umfaßte sie innig und küßte sie.

»Ich bin zur Vernunft gekommen – ich war ein törichtes, leicht verführtes Kind damals. Und siehst du – Reinhold verstand es, sich meine Unerfahrenheit zunutze zu machen, und –« Sie errötete heftig.

Er ließ sie los, furchtbar erschrocken, fast unfähig, ein Wort zu sagen. »Was – was heißt das?«

O die Briefe, die Briefe, in denen sie sich verraten hätte, die zermalmendes Zeugnis ablegen würden wider sie ... Diese Briefe, darin sie sich über den eifersüchtigen Alten lustig gemacht und ihn mitleidlos verspottet hatte, um den jüngern, gebefreudigeren Liebhaber zu beruhigen! Diese Briefe, deren allzu vertraulicher Ton oft nur eine Deutung zuließ ... Sie besann sich schnell eines Besseren. Wenn die Beweise erst da waren, blieb ihr immer noch Zeit, die Waffen zu strecken.

»Nun, das hab' ich dir ja schon oft erzählt!« schloß sie hochaufatmend.

»Und weiter nichts? Ich dachte wahrhaftig –.« Sein Mißtrauen war rege geworden, und er verstand es nicht zu verbergen. Ganz gegen seine Gewohnheit ließ er sie, die er eifersüchtig hütete, diesmal den Weg nach Hause allein antreten, und dann sperrte er sich in sein Arbeitszimmer ein, wo er in gedankenloses, dumpfes Brüten versank.

Reinhold in Berlin ... Und sie fürchtete seine Enthüllungen, wollte ihnen vorauskommen, besann sich aber noch rechtzeitig ... Reinhold in Berlin! Nun wußte er, was ihn alle die Tage geängstigt und gequält hatte – wie ein Phantom, dessen Gegenwart man ahnt, das mit uns zu Tisch sitzt, uns bei der Arbeit über die Schulter sieht und durch die Scheiben unseres Schlafgemaches grinst ... Der Verlorene wieder in der Heimat!

Konrad Lasser erhob sich schwerfällig, um zu seiner Tochter zu gehen.


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