Richard Nordhausen
Das Gespenst
Richard Nordhausen

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III.

Langsam und trübe schlichen die Tage dahin. Der Streik war ausgebrochen, und man erkannte bald, daß eine bedeutende organisatorische Kraft ihn leitete. Es gelang der Fabrik trotz gewaltigster Anstrengungen nicht, für die ausständigen Arbeiter Ersatz heranzuschaffen; die über sie verhängte Sperre schloß jeden Zuzug mit unbedingter Gewißheit aus. Ja, mehr noch. Die wenigen alten, der Firma treu gebliebenen Werkleute wichen bald genug dem Druck ihrer Genossen und legten die Arbeit gleichfalls nieder, und wenn es in den ersten Tagen des Streiks möglich gewesen war, wenigstens in einzelnen Werkstätten den Betrieb notdürftig aufrecht zu erhalten, so mußte jetzt das eiserne Fabriktor den ganzen Tag über geschlossen bleiben. Die mächtigen Maschinen schliefen ein, die hohen Schornsteine rauchten nicht mehr, und die Mittagsglocke war verstummt. Dem ungemein gewandten Führer des Aufstandes glückte es, in rastloser Tätigkeit größere Unterstützungssummen aufzubringen und den Arbeitern hinreichende Streikgelder zahlen zu können, so daß ihnen wirkliche Not fern blieb. Auch war die Jahreszeit dem Unternehmen günstig und geschickt gewählt; zahlreiche Versammlungen, in denen neben Kowalski auch hervorragende Größen der Partei sprachen, hielten den Mut der Kämpfenden aufrecht, stärkten ihre Widerstandskraft. So schien es, als sollte sich der Ausstand diesmal ungewohnt in die Länge ziehen und schwerere Opfer als sonst auferlegen.

Im Lasserschen Hause wurde die Stimmung immer gedrückter. Zwar Konrad selbst hatte seine gute Laune fast unversehrt in die Streiktage hinübergerettet; er machte sich gern über die Arbeiter, mehr noch über Heinrichs Unruhe und Verzweiflung lustig und meinte, daß ihm ein paar Monate Ferien in dieser köstlichen Frühlingszeit recht zu Passe kämen. Daß er ungemein neugierig wäre, zu sehen, wer es länger aushielte, er mit seinem Bankguthaben oder die Arbeiter mit ihren Sammeltellern. Er fühlte sich als glücklicher Bräutigam im siebenten Himmel und widmete nicht ungern die Stunden, die er sonst im Kontor seiner Fabrik verbrachte, seiner holdseligen Braut. Die Verlobung stand in Kürze bevor, mit Tochter und Schwiegersohn hatte er sich friedlich auseinandergesetzt und sah nun vergnügt in eine sonnige Zukunft. In eine Zukunft, die ihm noch einmal Jugend und lachendes Glück zurückbringen sollte. Und wenn er es auch aufs peinlichste vermied, mit Marianne eingehend über die Frage seiner Verheiratung zu sprechen, Heinrich gegenüber fühlte er sich um so sicherer, dem schenkte er volles Vertrauen. Er überließ ihm die Sorgen um die Fabrik, die jetzt allerdings nur gering waren, und begnügte sich damit, seine Befürchtungen und seine immer wiederkehrenden Bitten, den Ausständigen entgegenzukommen, fast übermütig zu bespötteln. Freilich war er, gerade jetzt in seinem Glücksrausch, ein viel zu oberflächlicher Beobachter, um bemerken zu können, daß Heinrichs Wesen sich mit jedem Tage mehr umdüsterte und daß der junge Mann eine Ängstlichkeit und Verlegenheit zur Schau trug, die selbst seinem wenig kraftvollen Charakter seltsam anstand. Martiensen seinerseits nahm sich immer wieder vor, dem Teilhaber zu offenbaren, was ihn bedrückte, verlor aber im entscheidenden Moment immer wieder den Mut. Statt dessen machte er dann krampfhafte Versuche, Arbeiter heranzuziehen und den Betrieb wenigstens hier und da wieder aufzunehmen, statt dessen sann er auf immer neue Vernunftgründe, um Lasser von der Notwendigkeit zu überzeugen, in Unterhandlungen mit dem Gegner einzutreten. Konrad hörte schließlich auf, über diese unermüdlichen Attacken zu lachen, er wurde ärgerlich und verschwor sich, vor »dem Gesindel« keinen Schritt zurückzuweichen. Wußte er doch, daß ihn außer einigem entgangenen Verdienst an schwebenden, nun nicht ausführbaren Orders absolut kein Schaden erwuchs, daß die Fabrik ausdehnungsfähig genug war, um im Winter, mit verdoppelter Belegschaft arbeitend, alles Versäumte nachholen zu können. Er blieb also fest, und Heinrichs haltloses Gebaren bestärkte den Eisenkopf nur in seinen Anschauungen.

Martens & Co. fragen heute an, wann sie mit Sicherheit auf Lieferung rechnen können,« sagte Heinrich eines Morgens beim Frühstückstisch, kaum imstande, seine Erregung zu bemeistern. »Sie wissen, Herr Lasser, ich hab' den großen Auftrag bei meiner Reise aufgenommen und den Leuten Lieferung in vier Monaten versprochen – es ist gleichsam eine Ehrensache für mich – und nun sind wir morgen so weit, daß der Liefertermin abgelaufen ist ... aber kein Gedanke an Lieferungsmöglichkeit.«

»Nun ja, nun ja,« sagte Lasser, ungeduldig auf die Uhr sehend – er wollte um halb elf Uhr Thessa aus ihrer Wohnung abholen und mit ihr zum Rennen fahren – »es geht eben nicht. Es ist ein fetter Bissen, schade drum, aber wir können nicht hexen. Ich habe mich mit der Sache schon abgefunden, es wäre schlimm, wenn wir den Posten verlören, doch die Leute müssen Einsicht haben. Schreiben Sie ihnen das doch.«

»Das habe ich schon getan, sie bestehen auf ihrem Schein.«

»Mir auch recht.«

»Wollen wir nicht ... wir dürfen doch so gute Kunden nicht verlieren – wir können ja hernach die Bude wieder schließen ... aber dieser Auftrag müßte ausgeführt werden, dieser eine –!«

»Sie kennen meine Ansicht,« sagte Lasser aufstehend und mit ungewohntem Ernst in der Stimme, »ich lasse mir von meinen Arbeitern keine Gesetze vorschreiben, absolut nicht. Gibt man einmal nach, dann ist die Autorität auf immer zum Teufel. Und was Sie da vorschlagen, scheint mir nicht nobel. Entweder, oder. Ich bin fürs Entweder. Bitte, Herr Martiensen, kommen Sie mir mit dergleichen Vorschlägen nie mehr. Sie verderben uns beiden den Tag damit.«

Heinrich erwiderte kein Wort, ließ aber sein Frühstück unberührt.

»Was hast du nur?« fragte Marianne ängstlich, als der Vater gegangen war. »Du hängst dich so auffällig an diese eine Arbeit –«

»Zum Teufel, ja!« schrie er, sich vergessend und seinem Weibe gegenüber der Verzweiflung, die ihn gepackt hatte, freien Lauf lassend. »Dein Vater weiß nichts davon, aber wenn er es wüßte ... Ich habe die Order von Martens nur bekommen, weil ich eine Konventionalstrafe übernahm – dreitausend Mark für jede Woche, die sich die Lieferung über vier Monate verzögert ... Mein Gott, wer konnte denn damals ahnen, daß die Kerle – daß dein Vater ein so verschrobener, dickköpfiger –«

»Heinrich – ich bitte dich!«

»Ja, nimm nur noch für den alten Narren Partei!« pfauchte Martiensen wütend. »Er ist ja keinem vernünftigen Worte zugängig in seiner lächerlichen Verliebtheit. Das ganze Viertel macht sich drüber lustig ... na, du kannst dir denken! Erst der Neffe, dann der Onkel, der mit den beaux restes fürlieb nimmt. So ein alter –«

Marianne hatte sich erhoben. »Wenn du noch ein Wort gegen den Vater sagst, dann sieh zu, wie du mit ihm allein fertig wirft. Dreitausend Mark für jede Woche? Aber Heinrich – das war doch leichtsinnig! Du hättest dich doch wenigstens für den Fall eines Streikes sichern sollen, das tut doch jeder Kaufmann ... Du kannst uns ja ruinieren.«

»Leichtsinnig, leichtsinnig! Die Order hat uns für vier Monate Arbeit gegeben und einen schönen Verdienst – soll man so was der Konkurrenz lassen? Wir sind überhaupt viel zu altmodisch; wenn man nichts riskiert, kommt man zurück ... Aber dies Verhängnis ... Ich sage dir, Mieze, hätt' ich eine Idee gehabt – eine Idee! Ich hätte ja die Hände davon gelassen. Aber ich war meiner Sache so sicher ... Da kommt der Streik, ganz unvermutet. Du weißt, wie ich mich abgequält habe, um ihn zu hintertreiben. Und wäre dieser Bandit nicht gewesen, dieser Straßenräuber, der Kowalski – der hat sie ja alle zwischen den Fingern –«

»Könntest du nicht versuchen, auf ihn einzuwirken?«

»Den schlauen Gedanken hatt' ich schon selbst!« höhnte Martiensen. »Sei sicher, ich habe nichts unversucht gelassen. Ich war sogar selber bei ihm – vergangenen Dienstag. Ich habe ihm eine Werkmeisterstelle geboten ... denn er hat was weg; wie ich hörte, soll er ein verbummelter Ingenieur sein ... aber er lachte mich aus. Betriebsführer sollt' er werden, zuletzt hab' ich ihm Geld geboten, viel Geld, denn ich sah, wie es ihm ging – da warf er mich aus seiner Dachhöhle hinaus, der Schnapskato!«

»Und bist du gewiß, wirklich gewiß, daß er den Ausschlag gibt?«

»Kein anderer. Du mußt nur sehen, was er für 'nen Einfluß hat, 's ist horrend. Wie die kleinen Kinder laufen sie ihm nach, die Narren. Und dabei – dabei ... ich versteh's nicht. Ich will mich nicht rühmen, aber ich habe zehnmal besser gesprochen als er ... Es ist eine schreckliche Lage, Mieze. Ich wag's deinem Vater nicht zu sagen. Er würde ja toll, du kennst ihn. Vielleicht übernimmst du's, Miezchen.«

Die junge Frau sah zaudernd vor sich nieder. »Wärst du nur offen gegen ihn gewesen!« seufzte sie. »Wie kannst du nur so etwas auf eigene Faust abmachen!«

»Gott, Gott, Wenn man dich reden hört! Du kennst ihn ja! Er wäre nie darauf eingegangen. Und ich wollte durchaus die Order haben – so 'ne prachtvolle Order haben, über 350 000 Mark! Das ist doch kein Spaß, das liegt doch nicht auf der Straße. Ich mochte sie nicht fahren lassen, die 350 000 Mark. Aber so was verstehst du eben nicht.«

»Dem Vater dürfen wir's nicht sagen,« meinte Marianne nachdenklich. »Wenigstens jetzt nicht mehr. Gleich als der Streik anfing, vor vier Wochen, da war's Zeit dazu. Heute aber – er würd' es dir nie verzeihen, daß du gegen seinen Willen und hinter seinem Rücken so gehandelt hast und dann nicht einmal so viel Courage hattest –«

»Papperlapapp!«

»Aber vielleicht fährst du nach Breslau, Heinrich, und stellst es den Leuten vor – bittest um Aufschub –«

»Ja, die! Was machen sich Kaufleute daraus! Du hast Ansichten, Mieze! Eher erbarmt sich ein Stein als die.«

»Das ist schlimm, Heinrich.«

»Brauchst du mir nicht zu sagen. Denke lieber nach, wie wir's ändern. Überleg dir's doch mit Papa. Mal muß er's ja doch hören. Besser jetzt. Heut' abend, wenn er nach Hause kommt ... Ich muß nach Hermsdorf 'raus – ich werde also nicht stören. Bitte, Mieze, tu's doch! Ich bin so verzweifelt – tu's doch!«

»Das – das ... Nein, ich mag's nicht, deinetwegen. Du hast es dann ein für allemal mit ihm verspielt. Ich kenne ihn, so etwas vergißt er nie. Aber ich habe eine andere Idee, Heinrich.«

»Ja?«

»Ich – Nun, ich will sie lieber noch für mich behalten. Denn ich weiß nicht, ob es hilft ... Aber ich hoffe es ...«

»So rede doch!«

»Nein, später – wenn es so weit ist!«

»Hab' dich nicht albern. Für solche Geheimniskrämerei ist die Sache zu ernst. Und vielleicht kann ich dir dabei helfen.«

»Du kannst gar nicht dabei helfen. Im Gegenteil.« Und dabei blieb sie.

Als Heinrich gegangen war, begab sich Marianne in ihr Stübchen und riegelte sich ein. Dann kramte sie aus der untersten Schublade der altväterischen Kommode ein Päckchen Briefe und eine Photographie hervor, die sie bedächtig vor sich auf den Tisch legte. Verwehter Sonnenschein, der durch die frischgrünen Zweige der alten Buchen im Garten geglitten war und nun goldig grün ins Gemach lugte, spielte über die verblaßten Schriftzüge hin, beleuchtete die ausdrucksvollen Linien des Bildes, daß es Leben anzunehmen, zu atmen schien. Und einer plötzlichen Eingebung folgend, riß Marianne es an die Lippen und küßte es.

In sich versunken, saß sie lange und starrte in das flackernde Licht, das rheinweinfarben durchs Geäst rieselte und an den silbergrauen Stämmen langsam niedersickerte. Ihre Gedanken flogen in die Weite, in saphirene Höhen hinauf, und ihre Augen flammten. Vor der Weißglut ihrer Träume versank die nebelgraue Gegenwart, und eine neue Welt, vom Morgenrot umstrahlt, dufterfüllt, tauchte empor. Er würde Sieger bleiben auch in diesem Kampfe, zu Boden schmettern würde er ihren Vater, ihren Gatten, und jauchzend würde sie es begrüßen. Ja, mit klingendem Jubel. Ganz arm sein, bettelarm, daß er ihr helfen müßte, von ihm und seinem Mitleid abhängen – es dünkte sie Wonne. Und doch war sie überzeugt, daß es nur eines Wortes von ihr bedürfe, um ihn zu entwaffnen, ihr Haus zu retten. Sie wollte sich bezwingen, wollte dieses Wort aussprechen, aber ihm nachher allen Ruhm gönnen. Sie kämpfte mit ihm vereint, an seiner Seite, führte ihn, daß er nicht Böses mit Bösem vergalt, sondern nach den Worten des Heilandes handelte ... So saß sie, fast eine Stunde lang, und träumte. Als sie aus süßem Brüten erwacht war, schmückte ein fremdes, engelhaftes Lächeln ihre Lippen, und mit dem Eifer eines Backfisches, der seinen ersten Liebesbrief empfängt, las sie die vergilbten Papiere. Und da hatte sie die Kraft gefunden zu schreiben.

»Lieber Reinhold. – Ich weiß, daß Du wieder in Berlin bist, und weiß auch, was Du treibst. Sogar schon gesehen habe ich Dich. Ich würde Dich überall sofort wiedererkennen. – Nun hast Du gewiß recht, Papa zu zürnen, aber ich glaube, Du neigst so sehr zur Versöhnung wie er. Ach, wenn Du wüßtest, was wir alle in diesen Wochen gelitten haben, ich in allen diesen Jahren, Du wärst befriedigt und rächtest Dich nicht weiter.

Der Streik muß aufhören. Mein Mann – ich bin nämlich seit einem Jahre verheiratet, Du wirst es wohl erfahren haben – hat sich ohne Papas Vorwissen zu einer hohen Konventionalstrafe an eine Breslauer Firma verpflichtet, und Du kannst Dir denken, wenn das herauskommt! Ich weiß, daß Du großen Einfluß auf die Arbeiter hast, nun bitte, sei so gut und hilf mir. Wir haben uns ja damals gegenseitig versprochen, einander zu schreiben, wenn einer den andern braucht. Du warst zu stolz, um es zu tun, obgleich ich so herzlich gern alles für Dich hingäbe, was ich habe; Du brauchtest nur ein Wort zu sagen. Ich geniere mich nicht vor Dir.

Ich bitte Dich inständig, lieber Reinhold, komm wieder zu uns. Es muß ja alles wieder gut werden. Wenn Du vorher schreibst, triffst Du mich immer zu Hause. Mit tausend herzlichen Grüßen Deine Cousine Marianne.« Sie las den Brief noch einmal durch und war mit seinem Inhalt sehr zufrieden. Und nachdem sie ihre sorgsam gehüteten Schätze wieder in die Schublade verschlossen hatte, kuvertierte sie das Schreiben an den verlorenen Geliebten und machte sich zum Ausgehen fertig, um es selbst auf die Post zu tragen. Sie kam sich recht groß vor in diesem Augenblicke; sie wußte sich des Sieges sicher und empfand ein wohltuendes Gefühl des Triumphes bei dem Gedanken, daß in ihren Händen das Schicksal von vier Menschen lag, daß Gott sie berufen hatte, die Sünden anderer wieder gutzumachen, und die zu versöhnen, die sich haßten.


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