Richard Nordhausen
Das Gespenst
Richard Nordhausen

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I.

»Daß Sie aber nie wieder von ihm gehört haben –«

»Nein, nie wieder.« Der alte Herr starrte, wie er das sagte, nachdenklich vor sich hin, Marianne senkte das blonde Köpfchen, als wollte sie einen Zug ihres weißen Angesichtes vor dem Nachbar verbergen, aber dieser Nachbar war eben damit beschäftigt, eine neue Zigarette in Brand zu setzen und achtete nicht auf seine junge Frau.

»Was Amerika verschlingt, gibt es so leicht nicht zurück«, meinte er dann mit jener Bestimmtheit im Tone, deren man sich gern beim Urteil über Dinge bedient, wovon man nichts versteht. »Brüchige Existenzen halten sich dort schon gar nicht. Sehen Sie, Herr Lasser, mir scheint es bereits ein Unsinn, wenn gesunde, kräftige Menschen mit klingendem und moralischem Kapital, sozusagen, die Reise übers Weltmeer antreten, denn der Kampf tobt drüben noch vernichtender als hier, und die Gewinnchancen sind noch geringer. Was einem dort glückt, gelänge ihm bei uns auch – nur unter minder großen Anstrengungen. Wenn in Amerika jemand zu was kommt, so ist's allein darum, weil er gezwungen wird, aus Leibeskräften zu arbeiten und immer die Augen offen zu halten. Na ja. Was nun Ihren Neffen anbelangt –«

»Wird es nicht Zeit, nach Hause zu fahren, Papa?« fragte die junge Frau. »Es kommt mir vor, als sei es plötzlich sehr kühl geworden.«

»Einbildung! Diese kostbare Mailuft – jeder Atemzug spart 'ne halbe Badereise. Und die Bowle ist so vorzüglich!« schmunzelte Herr Konrad Lasser. »Wer weiß, Mieze, ob wir in den nächsten Wochen Zeit und Laune haben, hier draußen wieder so gemütlich beisammenzusitzen. Wenigstens Heinrich und ich werden kaum in der Stimmung sein. Nicht wahr, Martiensen?«

Der Angeredete blies den ihn umspielenden Rauch seiner Zigarette von sich, als wären's unangenehme Gedanken. Er begnügte sich damit, statt jeder Antwort die Achseln zu zucken, und füllte dann vorsichtig die Gläser von neuem.

»Du meinst wegen der Arbeiter? Soll's denn wirklich so weit kommen?« erkundigte sich Marianne etwas ängstlich.

»Es scheint doch«, meinte ihr Vater, einen tiefen Trunk tuend. »Die Kerle sind so aufsässig und so dickköpfig – wenn wir ihre Lohnforderung nicht bis Sonnabend angenommen haben, ist der Streik da. Was sagst du zu dem Ultimatum? Wir können aber nicht, partout nicht.«

»Nun können könnten wir schon,« warf der Jüngere ein. »Überhaupt, wollten Sie auf meinen Rat hören –«

»Und wenn wir's könnten, dürften wir's nicht. So'n Gesindel! Sie wollen uns das Heft aus der Hand winden, sie wollen kommandieren, für unser Geld! Die Leute würden aber von selber gar nicht daran gedacht haben – 's ist ja auch zu unverschämt! – wenn nicht wieder fremde Hetzer die Hand im Spiel hätten. Da ist so'n Polack – wie heißt er doch gleich, Herr Sozius?«

»Kowalski –«

»'n schöner Name, was? Kein Mensch kennt ihn von uns, aber die Kerle gehen für ihn durchs Feuer, die hat er ganz verrückt gemacht. 's ist ja auch nicht schwer. Und vor dem sollen wir uns bücken? Lächerlich. Es wird diesmal genau so gehen wie vor drei Jahren, als Sie gerade in die Fabrik eingetreten waren – wir treiben sie auch diesmal zu Paaren, und mit Glanz.«

»Ich denke nun weniger optimistisch«, entgegnete Martiensen. »Ja, wenn die große Order von Martens nicht wäre – aber die muß doch pünktlich geliefert werden!«

»Ach Gott, ach Gott, dann warten die Breslauer eben! Aus den Rippen können wir uns doch keine Maschinen schneiden, und bauen können wir beide doch auch keine.«

Heinrich Martiensen paffte wütender als vorhin, erwiderte aber nichts.

»Und dann stehen die Werke wieder still? Und die Leute haben nichts zu tun?« fragte die blonde junge Frau, ihren Vater mit großen, im Dämmerlicht des Gartens seltsam schimmernden Augen anblickend.

»Ja, das ist doch ihre eigene Schuld, Mieze. Wir verlieren mehr als sie. Denn neue Arbeiter kriegen, das hält schwer, gerade bei uns. Wie Pech und Schwefel klebt die Rotte zusammen, das ist 'ne Einigkeit, um die wir sie beneiden müssen. Na, Gebrüder Lasser ertragen's. Es ist der vierte Streik seit den fünfundzwanzig Jahren, da ich mit meinem Bruder selig die Bude aufmachte, und sie haben uns alle nicht ruiniert. Den ersten, Mieze, den hatten wir gerade, als deine liebe Mutter hinausgetragen werden sollte. Den zweiten legte – legte Reinhold bei. Ich erinnere mich noch deutlich, wie er ... schade um den Bengel. Sie hätten ihn kennen sollen, Martiensen. Ganz wie sein Vater, mein Bruder selig. Nur eben viel leichtsinniger, viel, viel. Aber seine Kraft und seine Augen und seine Stimme – die Kerls bebten vor ihm, und doch haben sie ihn vergöttert. Er verstand sie zu nehmen – bei all seiner Niedertracht und Rücksichtslosigkeit.«

»Niederträchtig und rücksichtlos – das war er nun eigentlich nicht, Papa«, wagte Marianne schüchtern einzuwenden.

»Was weißt du?« fuhr Lasser unwirsch auf. »Natürlich gegen dich ... hm. Ich sage dir, wenn es seine Freuden galt, sein Amüsement, dann schonte er niemanden und nichts, dann zertrat er rücksichtslos das Glück auch der Menschen, die ihm am nächsten standen, die ihn liebten, so wie ich ihn geliebt habe. Ich sage dir –« Er hielt plötzlich inne und leerte sein Glas mit einem Zug. »Laßt die Toten ruhen«, setzte er dann hinzu. »Wir wollen die Bowle austrinken und nach Hause fahren. Fräulein Minden kommt doch nicht, wahrscheinlich zu lange im Theater gewesen – und Marianne hat recht, es wird kühl.«

Der junge Mann nickte und stieß mit seiner Frau an, die ihm bleich und leise zitternd Bescheid tat. Martiensen bereute beinahe, daß er nicht rechtzeitig dem Gespräch eine andere Wendung gegeben und den Fabrikanten daran gehindert hatte, wieder von Reinhold Lasser zu sprechen. Als er vor etwa drei Jahren mit seinem jetzigen Sozius in Verbindung getreten war, hatte er sich als vorsichtiger Kaufmann eingehend über ihn und seine Verhältnisse erkundigt und natürlich auch erfahren, daß zwei Jahre vorher sein vierundzwanzigjähriger Neffe und Teilhaber, Reinhold Lasser, bei Nacht und Nebel nach Amerika geflüchtet war. Er sollte sich ungeheurer Verschwendungen und noch schlimmerer Dinge schuldig gemacht haben, die die angesehene Firma in ihren Grundfesten erschütterten. Herr Konrad Lasser schenkte damals Heinrich Martiensen reinen Wein über seine Verhältnisse ein, die keinesfalls verzweifelt lagen, vermied es aber aufs sorgfältigste, auf die familiären Verhältnisse irgendwie anzuspielen. Und dabei blieb er lange Zeit. Reinhold Lasser war für ihn und sein Haus nicht mehr vorhanden, nie vorhanden gewesen. Seit einigen Monaten erst brachte er das Gespräch immer häufiger auf den Verschollenen, schalt und beschimpfte ihn mit fast fanatischem Grimm und geriet regelmäßig in Zorn, wenn jemand Partei für den Untergegangenen ergriff. Heinrich hatte mit Marianne gelegentlich über die Eigenheit des Vaters gesprochen und sich mit ihr dahin verständigt, auf seine Stimmung Rücksicht zu nehmen, wenn möglich überhaupt allen Reinhold betreffenden Erörterungen auszuweichen. Es war ihm nicht unbekannt, daß die Dame, für die Konrad hohes Interesse zeigte, Fräulein Thessa Minden, vom Klatsch in Verbindung mit Reinhold Lasser gebracht wurde und daß man behauptete, der Neffe habe seinerzeit den Onkel ausgestochen, sich aber auch für die schöne Schauspielerin ruiniert. – Martiensen wußte sich in die Lage zu schicken und ließ, dem Schwiegervater zu Gefallen, an Reinhold Lasser kein gutes Haar, obgleich er ihn nur aus den Schilderungen des Teilhabers kannte und ihm im Grunde durchaus nicht gram zu sein vermochte. Wenigstens deuchte ihn die wahnsinnige Schwärmerei für das noch immer blendend schöne Weib, dem zuliebe Reinhold sein Vermögen vergeudet hatte und zum Wechselfälscher geworden war, ganz und gar nicht unnatürlich. Und wenn er schon, in kaufmännischer Gewissenhaftigkeit, den Verbrecher nicht freisprechen, sondern ihm eben nur mildernde Umstände zubilligen konnte, so blickte er in mancher Stunde doch mit einem merkwürdigen Gemisch von Abscheu und Bewunderung zu diesem Manne empor, der einer tollen Leidenschaft wegen alles, Reichtum, Ehre und Zukunft, in die Schanze geschlagen hatte. Er sah Reinhold in bengalischer Beleuchtung, interessierte sich für ihn wie für ein seltenes Raubtier, blieb aber, zum mindesten seinem Sozius gegenüber, immer in scharfer Opposition wider ihn. Marianne glückte es weniger, auf die unausgesprochenen Wünsche des Vaters einzugehen. Anfangs hatte sie, wie ihr Mann bemerken wollte, den immer häufiger werdenden Anspielungen des Vaters auf Reinhold verwunderte Gleichgültigkeit entgegengesetzt, dann aber an der Unterhaltung eifrig teilgenommen und mit immer steigender Leidenschaftlichkeit für ihn gesprochen. Sie wußte, wie bitter sie den Vater damit kränkte, wußte, daß sie ihm damit die gute Laune von Grund aus verdarb, aber so oft sie es auch sich selbst und ihrem Manne versprach, kluge Rücksicht walten zu lassen, es gelang ihr immer weniger. Martiensen stand einigermaßen ratlos und einigermaßen belustigt zwischen den beiden. Er wußte sich Lassers Eifersucht auf einen Abwesenden zwar zu erklären, aber sie schien ihm doch ungemein abgeschmackt; für Mariannens Verhalten wußte er überhaupt keinen vernünftigen Grund.

Eine dämonische Macht schien in das stille, friedliche Haus gedrungen zu sein und nun die Herzen der Bewohner zu vergiften. Zu allem Glück war Heinrichs Beobachtungsgabe überaus gering, sonst würde ihm das veränderte Wesen seiner Frau weit mehr aufgefallen sein als die lärmenden Launen seines Schwiegervaters. So aber begnügte er sich damit, sein junges Weib gelegentlich mit ihrem Vetter zu hänseln, den Hauptstrom dessen, was er Witz nannte, aber in ihrer Gegenwart über Lasser selbst zu ergießen. Und weil er bemerkte, daß ihr dies Vergnügen bereitete, scherzte er sehr oft auf Kosten seines Schwiegervaters, und es fiel ihm gar nicht ein, daß Mariannens herzliches, für ihn so schmeichelhaftes Gelächter eigentlich recht unkindlich war und daß sich dahinter vielleicht nicht Wohlgefallen über seine Späße, sondern unbewußter, wachsender Haß wider den Vater verbarg ...

Der schmucke Landauer rollte mit seinen drei Insassen durch die laubüberwölbten Gänge des Tiergartens. Durchs Gezweig blinkten die Sterne, die Lichter der Wagenlaternen spielten über den Weg, sonst lag dichte Finsternis ringsum. Lasser war tief in Gedanken versunken, achtlos hielt er die erloschene Zigarre in der Hand, und Marianne gab auf die Fragen ihres Mannes nur einsilbige, zerstreute Antworten. So lind und so erfrischend die Abendluft durchs Geäst lief, so milde würziger Lenzduft aus dem Grase aufstieg, gleich dem diskreten Parfüm einer schönen Frau, über den dreien lag die schwüle Atmosphäre einer Gewitternacht. Als er all' seine Versuche, eine zwanglose Unterhaltung anzuknüpfen, scheitern sah, schwieg auch Heinrich. Es fehlte nicht an Sorgen, denen er nachgrübeln konnte; er blickte dem kommenden Streik aus zwingenden Gründen mit Grauen entgegen und war entschlossen, alles aufzubieten, um ihn zu hintertreiben. – Ein Seufzer der Erleichterung entstieg seiner Brust, als endlich die Laternen der Tiergartenstraße näher kamen, dann elektrisches Licht der Kaffeehäuser am Leipziger Platz herüberflutete. »Wir fahren am besten gleich nach Hause?« fragte er.

»Gewiß – was sonst?««

»Ihr seid heute beide so seltsam – ich versteh euch nicht«, rief Heinrich, endlich seiner Verwunderung Ausdruck gebend. »Wahrhaftig, es ist zum Lachen, aber drinnen im Tiergarten wurd' es mir für einen Augenblick fast unheimlich in eurer Gesellschaft. Es war gerade, als ob ein vierter mit uns führe – ein Fremder, und als ob ihr Angst davor hattet, in seiner Gegenwart zu sprechen.«

Lasser schwieg noch immer, und Marianne lachte etwas gezwungen. »Du wirst ja ordentlich phantasiereich auf deine alten Tage«, bemerkte sie leichthin. »So viel Geist hättest du vorhin entwickeln sollen, dann wäre sicher eine etwas lebhaftere Unterhaltung in Gang gekommen. Aber so seid ihr Männer – immer alles zur unrechten Zeit, und Geschenke immer am falschen Ort.«

Der Wagen war in die Leipziger Straße eingefahren, die im fahlen Schimmer der Gaslaternen recht ungewohnt geheimnisvoll aussah und ganz unberlinisch still dalag. Plötzlich hielt der Kutscher die beiden prächtigen Pferde zu gemächlichem Trott an und bog energisch nach rechts. Nur wenige Meter von ihnen entfernt war ein Arbeitertrupp damit beschäftigt, das Asphaltpflaster aufzureißen und irgend eine Reparatur vorzunehmen, die im hochflutenden Tagesverkehr nicht auszuführen war. Flackernde, mächtige Gasflammen, die aus kurzen, in die Erde gebohrten Rohren frei emporschlugen, beleuchteten phantastisch die Gruppe der eifrig ihre Hacken schwingenden Männer.

Heinrich griff großmütig in die Tasche und winkte dem Kutscher, noch langsamer zu fahren, dann beugte er sich aus dem Wagen hinaus, klopfte dem Nächststehenden jovial auf die Schulter und ließ ein Silberstück auf den Damm fallen. »Da, guter Freund, trinken Sie ein Glas Bier!« Er liebte sich in seiner Arbeiterfreundschaft, auf die er große Stücke hielt, dergleichen mildtätige Überraschungen und weidete sich gern an den verblüfft dankbaren Mienen der Beschenkten. Der Mann vor ihm im zerlumpten, groben Kittel wandte sich, mit dem Aufhacken des harten Zementgrundes eine Weile inne haltend, herum und griff an seine löcherige Mütze.

Im selben Augenblick schrie Marianne, wie vom Blitzstrahl getroffen, laut auf, so daß Lasser, der müde und gelangweilt, mit geschlossenen Augen, dagelegen hatte, sich heftig erschreckt über sie beugte, während der Kutscher ganz verwirrt auf die mutigen Tiere einhieb, daß sie in Karriere davonrasten. Heinrich umfaßte die schlanke Hüfte seiner Frau und drückte sie an sich: »Was hast du, Kind? Du siehst ja entsetzlich aus!« In der Tat war jeder Blutstropfen aus Mariannens Gesicht gewichen, ihre Mienen waren verzerrt, ihre dunklen Augen leuchteten aus dem bleichen Antlitz mit unheimlichem Feuer hervor und schienen noch großer als sonst; ihr Leib bebte wie im Fieber. Sie starrte selbstvergessen in die Weite, zu den Arbeitern am Gasfeuer zurück, deren Umrisse in der Dunkelheit rasch verschwammen. Sie hörte nicht die besorgten Fragen und Bitten ihrer Angehörigen.

»Es – es war nichts«, stieß sie endlich krampfhaft lächelnd hervor. »Ich habe euch wohl sehr erschreckt – aber mir wurde mit einem Mal so elend ... so elend ... Laßt mich jetzt – ich weiß nicht, ich bin sehr müde –.«

»Wir werden sofort den Arzt holen lassen, wenn wir zu Hause sind!« sagte Heinrich ängstlich. »Das ist ja ein Unglückstag heute, weiß Gott –«

»Ach Unsinn – ich brauche keinen Arzt!« wehrte Marianne, sich aufraffend, ab. »Es geht schon vorüber. Es war eine Schwäche – von der Hitze heut', und bei dem Dunst in der Straße –«

»Natürlich!« pflichtete ihr der Vater eifrig bei. »Jungverheirateten Dämchen passiert so 'was leicht. Das kennt man schon.« Und er schmunzelte, wobei er Heinrich von der Seite ansah: »Mensch, sei helle!« Der erwiderte nichts, um seiner Frau ein Erröten zu ersparen, schien aber sofort merkwürdig beruhigt und erschöpfte sich in zarten Liebenswürdigkeiten gegen Marianne, bis man daheim angelangt war.

Fast ohne Abschied zu nehmen, zog sich die junge Frau auf ihr Zimmer zurück, dessen Tür sie hinter sich verriegelte. Es war dunkel im Gemache, und durch die offenen Fenster, die auf den Garten hinausgingen, strich balsamische Frühlingsluft. Sie achtete es nicht. Sie löste das Haar, ihrem schmerzenden Haupte Erleichterung zu schaffen, und stützte die Stirn, dahinter es wild hämmerte und pochte, in die kalten Hände. Und dann weinte sie leise vor sich hin. Weinte um unwiederbringlich verlorenes Glück, um einen Blütenlenz, den das Schicksal in der Knospe gebrochen hatte, um ihre Jugend, die sie sich einst so ganz anders ausgemalt und um die man sie betrogen hatte. Sie wußte ja, damals wie heute, daß er nach all dem wüsten Gebraus, nach all dem tollen Treiben im Strudel des Lotterlebens, nach tausend an frech geschminkte Dirnen verschwendeten Küssen zu ihr zurückkehren würde. Daß es nur ein Wahn gewesen war, der seine Sinne umfangen hielt, ein Taumel, daran sein Herz unbeteiligt geblieben war, sein Herz, das ihr gehörte in alle Ewigkeit. Daß ihn eine Teufelsschönheit ihr zwar auf Monate abwendig gemacht und ihn zugrunde gerichtet hatte, daß aber die alte Liebe noch in seiner Seele blühen mußte wie in der ihrigen.

Nun war er gekommen. Verwildert und zerlumpt, der Ärmsten einer, in der Pfütze des Elends versunken, in harter Arbeit um sein täglich Brot noch in sinkender Nacht ringend und Bettelgroschen von dem nehmend, der so tief unter ihm stand, ihm so wenig glich. Reinhold Lasser, der Liebling des Glückes, der prächtige Junge, dem jeder eine Zukunft voll unerhörtem Glanz prophezeit hatte, der Gewaltiges leistete in allen Dingen, womit er sich beschäftigte, der sogar Verse zu schreiben verstand ... O, sie bewahrte all' seine Verse noch heute auf. Und sie vergegenwärtigte sich seine geliebte Gestalt und sein Lächeln, mit dem er aller Menschen Herzen bezwang und sich geneigt machte; an seine wilde Kraft dachte sie und die überschäumende Lebensfreude, die aus seinen Augen und seinen Worten sprühte ...

Niemals hatte das harte Urteil der Welt über den Geflüchteten sie auch nur eine Sekunde lang wankend gemacht. Zwar seine Treulosigkeit verwundete sie tief, und damals, als er der schönen Thessa Minden zu Füßen lag und sie ganz vergessen zu haben schien, damals waren wohl Stunden gekommen, wo sie neben der koketten Schauspielerin auch ihn haßte. Als sich dann aber die fürchterlichen Szenen zwischen ihm und dem Vater abspielten und Reinhold, durch den Hohn und die Brutalität des Oheims gereizt, an Thessa festhielt, wie ein Rasender sein Hab und Gut verschwendete und zuletzt den Sprung in den Abgrund tat, da hatte sie seine Partei ergriffen. Trotz alledem. Und sie beneidete die verabscheute Nebenbuhlerin, die ihr ihr Teuerstes gestohlen hatte, um so viel Liebe und Ergebenheit, immer in der geheimen Hoffnung, selbst wieder dieser Liebe und Ergebenheit teilhaftig zu werden, und sie sah in dem häßlichen Verbrechen Reinholds nichts als einen Beweis dafür, wessen er fähig war für die, denen sein Herz gehörte. Arbeit, Pflicht und Ehre – alles vergaß er über seiner Liebe, alles opferte er ihr ... Reinhold blieb der Held der Träume und Wünsche Mariannens.

Ehe er, von Lasser noch reich mit Geld unterstützt, die verhängnisvolle Reise über den Ozean antrat, hatte er von ihr Abschied genommen. Er war einigermaßen befangen, denn er wußte, daß ihr sein Tun und Treiben kein Geheimnis geblieben war; sie selbst aber hielt es unter ihrer Mädchenwürde, zu verraten, wie sehr sie den Ungetreuen liebte, wie gern sie ihm noch in dieser Stunde um den Hals gefallen wäre ... Hätte sie damals doch diesem Triebe nachgegeben, alles wäre anders gekommen. Doch sie bezwang sich. Sie glaubte auch, seine Abwesenheit würde nicht von langer Dauer sein. Und sie lauschte mit verhaltenem Atem seinen kühlen, verständigen Abschiedsworten. Er erwähnte mit keiner Silbe, was sie sich beide vor nicht zu langer Zeit, ehe er sich so unselig verblenden ließ, gewesen, er sprach auch nicht von Thessa, zeigte keinerlei Reue, keine sentimentalen Empfindungen. Und dieser sein Trotz imponierte ihr unsagbar. So und nicht anders liebte sie den Stolzen, Unbeugsamen.

Sie hatte ja eigentlich gedacht, er würde ihre Knie umfassen und bitterlich weinen, wie die Heineschen Männer, und dann würde sie ihn mild verzeihend aufrichten und mit ihm in die Ferne ziehen. Aber seine Männlichkeit hätte dadurch doch Einbuße in ihren Augen erlitten. Wenigstens überredete sie sich dahin, als er gegangen war. Er mochte eben tun und lassen, was er wollte – Mariannen gefiel es immer, und sie ordnete ihre Gefühle den seinigen bedingungslos unter. Andere hätten vielleicht gemeine Herzenskälte darin erblickt, wie er dem unglücklichen Kinde, dem doch der Abschiedsjammer und die heiße unzerstörbare Liebe aus den großen Augen leuchtete, jeden Trost versagte; sie fand es heroisch. Andere hätten vielleicht den Ton stolzer, siegessicherer Überlegenheit, den er anschlug und mit dem er ihr seine Zukunftspläne schilderte, lächerlich genannt und den Wechselfälscher, den haltlos gewordenen Lebebengel an seine schmachvolle Lage erinnert; Mariannen war jedes Wort eine Offenbarung, von der sie jahrelang zehren konnte. Und als er dann ging, zu schnell, zu eilfertig, und ihre Augen voll Tränen standen, die sich nicht mehr zurückdrängen ließen, da hätte es nur einer Bewegung des Gewaltigen bedurft, und die Demütige, die Keusche hätte ihm im Überschwang ihrer Leidenschaft alles gegeben ... alles ... Er verschmähte es. Und auch das rechnete sie ihm, der in seiner Mädchenjägerei sonst gar nicht wählerisch war, überaus hoch an, auch darin erblickte sie einen Beweis seines Edelmutes, seiner Selbstüberwindung. Sie liebte ihn dafür nur um so mehr.

Und dann schlichen die Jahre langsam vorüber. Keine Kunde von Reinhold drang in die Heimat; er war verschollen. Sein Name war im Hause verpönt, aber dafür baute ihm Marianne Altäre. Sie idealisierte ihn immer mehr, daß er endlich über Menschengröße hinauswuchs. Sie kam sich ihm gegenüber immer kleiner und unbedeutender vor. Wenn er einmal aus Amerika zurückkehren sollte, würde er's, davon war sie überzeugt, nur als Nabob, als hervorragender Staatsmann, genialer Erfinder tun. Ihr würde er verloren sein, ganz gewiß. So bitter diese Erkenntnis sie anfangs schmerzte und so viel sie darüber in ihre Kissen hineinweinte, endlich fand sie sich auch in diese neue Stellung zu ihrem Heiligen. Heinrich Martiensen hatte es nun leichter, ihr Jawort zu erringen. Freilich bedurfte es noch schwerer Kämpfe vorher.

Und nun war Reinhold heimgekehrt. Unvermutet, überraschend, so ganz anders, als sie immer mit Zuversicht erwartet hatte. Noch schwindelte ihr der Kopf, noch vermochte sie sich die Folgen dieser Begegnung nicht entfernt klar zu machen. Über den Haufen gerissen, vom jähen Wettersturm vernichtet war ja alles, was sie sich im Laufe dieser Jahre mühsam ersonnen und erbaut hatte. An eine solche Möglichkeit hatte sie nie auch nur eine Sekunde lang gedacht. Selbst der Vater war ja überzeugt gewesen, daß Reinhold drüben »ein vernünftiger Mensch« werden würde. Wie sollte sie jetzt dem Jugendgeliebten gegenübertreten? Ihre Gedanken gingen mit ihr durch, sie wußte nicht aus noch ein. Und so saß sie am offenen Fenster und blickte zum gestirnten Lenzhimmel hinauf, phantastisch lächelnd, von bunten Träumen umgaukelt. Er war ja wieder da – was bedurfte sie fürs erste mehr als diese Gewißheit? Die Hoffnung lullte sie ein wie Opium. Alles mußte wieder gut werden, und in wenigen Tagen, Durch welche Mittel – diese Frage kümmerte sie nicht. Sie saß am Fenster und träumte. Ihr tränenfeuchtes Antlitz rötete sich leicht; ihre Finger glitten durch die duftigen Haarwellen, wie einst seine Finger getan, und ihr Mund küßte dies Haar, wie einst sein Mund. Sie dachte der berückend schönen, sonnigen Tage, da sie seiner Liebe sicher gewesen, da ihr jede Stunde die Tür zum Paradies geöffnet, da sie Seligkeiten empfunden hatte wie kein Mensch vorher. Diese Vormittage, die ihr in Gedanken an ihn verstrichen, bis sie ihn und den Vater durch den Garten aus der Fabrik kommen sah, diese Abende, die sie auf der weinumrankten Veranda verplauderten, während welcher er die funkelnden Schätze seines Geistes vor ihr ausschüttete! Diese Spaziergänge unter den alten Buchen des Gartens, diese heimlichen Wanderungen mit ihm durch den Stadtpark, zur Nachtzeit! Niemand ahnte, daß sie ihn liebte. Sie spielten geschickt Versteck – und diese Heimlichkeit war ihre höchste Wonne, würzte noch den goldenen Nektartrank. Erst als er geschieden und alles verloren war, verriet sie sich dem Vater. Ihren Schmerz vermochte sie nicht allein zu tragen wie ihre übergroße Seligkeit.

Marianne saß am Fenster und träumte, bis nebenan Schritte laut wurden und Heinrich Martiensen fragte, ob sie sich nun wirklich wieder ganz gesund fühle.


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