Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente Juli 1882 bis Herbst 1885, Band 4
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Herbst 1883]

[Dokument: Heft]

20 [1]

Du gehst den Weg der Größe: nun ist für dich Abgrund und – Gipfel in Einem beschlossen.

Schaue dich nicht um: das sei dein bester Muth, daß es hinter dir keinen Pfad mehr giebt.

Hier soll dir keiner nachschleichen: wo dein Fuß nur schritt, da ist der Weg ausgelöscht und darüber geschrieben "Unmöglichkeit".

Nun ist das deine letzte Zuflucht worden, was bisher deine letzte Gefahr war.

Die Zeit ist abgeflossen, wo du noch Wunsch sein durftest: was du jetzt noch bist, soll Hand und Wille und Griff des Wollens sein.

Einige wollen, aber die Meisten werden nur gewollt.

Und alles Gute sollst du dir gewähren als einem, der es sich auch versagen könnte.

Es giebt Schauspieler wider Wissen und Schauspieler wider Willen.

Daß wir unsere Unsterblichkeit ertragen könnten – das wäre das Höchste.

Bin ich dazu gekommen, die kleinen Leute ihre kleinen Tugenden zu lehren? Sie wissen sie schon selber zu finden und rechnen es mir hart an, daß mich ihr Fund nicht neidisch macht.

20 [2]

Auf dem Meere.

Rede auf seine Freunde. Ich wollte sie schonen, sie nicht als Apostel herumsenden, ich wurde zu liebevoll gegen sie – nun habe ich sie eben dadurch vernichtet.

Umsonst bisher!

Das Leben über die Mitte unwiederbringlich geopfert.

Der furchtbarste Gedanke einer ewigen Wiederkehr der Vergeudung.

Die vergeudete Menschheit (und alles Ringen und Grosse ein ewig zielloses Spiel) (Schlange und Hirt)

Die Seligkeit wider Willen (der Genesende und die Lust an der Oberfläche)

Sehen in der großen Natur.

Sucht seine Thiere, im Verlangen nach Mitgefühl.

Hellsichtigkeit über sein Schenken-wollen. Wanderer, Blitz.

Mitgefühl mit den Tyrannen und Volks-Schöpfern.

"Ich versuche es noch einmal" Lösung. – Scepsis gegen allen Pessimismus gewendet. – Vergessen, Neubeginn, wie bei allen prophetischen Menschen.

Jenseits von Gut und Böse (Schluss) zu Allem bereit.

20 [3]

Entwurf zu Zarathustra 3.

  1. Auf dem Meere. "Blase Wind." Columbisch. Ahnungen, treibende Kräfte, wohin
    Unwiederbringlich geopfert. Der Wanderer. Spätherbst.
  2. Die Raststätte. Das Glück des Freigeistes. Auch an seine Freunde nicht gebunden (du hast sie freigemacht!) Was ist Einer! Der "Wanderer". Zögere in deinem Glück! Stimmung der "fröhlichen Wissenschaft" und Kritik.
  3. Die Todtenfeier und die Rede auf die Freunde. Das Zärtlichste des Einsamen.
  4. Vertrieben, flüchtig, verachtet. Alles Elend der Religionsstifter, das von außen kommt, zusammenfassen.
  5. Vergeudet! Nutzlos! Elend, das von innen kommt.
  6. Hellsichtig über sein "Schenken" und seine "Liebe". – Das ist seine Selbstsucht, sich als goldene Kette und Schloß vieler Selbste zu fühlen – das verräth den Herrschenden. – Ziel: die Einheit des Vielfachsten, die Schönheit des Häßlichsten, die Nothwendigkeit des Zufälligsten persönlich darstellen. Der Staat als Mittel.
  7. Es bleibt ihm nur übrig, sich selber zu tyrannisiren – mit einem unbeschränkten Willen zum Leiden. Hohn auf die bisherigen Pessimisten.
  8. Die wehethuendste Wahrheit (Möglichkeit) heraufbeschworen. Wie, wenn du dies ewig wieder erlebtest!
  9. Die große Natur und der Mensch.
  10. Hohn auf die dem Leben Vertrauenden. Oh daß es einen gäbe, dem ich fluchen könnte!
  11. Jenseits von "gut" und "böse" – die Tartüfferie der Schwachen. Spencer 2 p 110
  12. Hohn auf die Künstler: die sich im Bilde, das sie schaffen, ausruhen. – Wahrer Sinn vom Ruhme: ich will ein Sporn sein und blutig ritzen alle Kommenden.
  13. Hohn auf das Vergnügen der Erkennenden. "nüchtern und gemein"
  14. Letzte Steigerung: die vergeudete Menschheit. Mitgefühl mit den Herrschenden und ihrer Noth, und Hohn über sie.
  15. Er sucht seine Thiere. Höhle zerstört. Tiefste Vereinsamung.
  16. Er zerreißt seine Schlange, der Hirt stirbt, er kämpft mit seinem Adler.
  17. Krankheit. Fiebertraum "der Fliegende".
  18. Der Einsiedler als Versucher.
  19. Der Genesende. Von der Seligkeit wider Willen.
  20. Der Wille: versuchen wir's noch einmal! Die Scepsis gegen den Pessimismus gewendet.
  21. Die Erscheinungen: Regenbogen, Löwin mit Taubenschwarm, die Kinderchöre.
  22. Hymnus auf die urbestimmte Natur. "ich als fatum."

20 [4]

So lange noch gehandelt werden soll, also befohlen wird: ist noch nicht die Synthesis (die Aufhebung des moralischen Menschen) da. Nicht anders können: Triebe und befehlende Vernunft über den Zweck hinaus: sich selber genießen im Thun. Teichmüller p. 55.

der Wille selber ist zu überwinden – alles Gefühl der Freiheit nicht aus dem Gegensatz des Zwangs mehr schöpfen!

Natur werden!

Irrthum des Aristoteles p 65

denn die Begierde bewegt nicht und die befehlende Vernunft bewegt nicht.

der Wille bewegt nicht, sondern er ist eine Begleit-Erscheinung.

20 [5]

Gegen die Epicur<äer> – sie haben sich befreit von einem Irrthum und genießen die Freiheit als ehemals Gefangene. Oder sie haben einen Gegner, auf den sie eifersüchtig waren, überwunden oder geglaubt zu überwinden, ohne Mitgefühl mit dem, welcher nicht sich gefangen sondern geborgen fühlte, noch auch mit dem Leide der überwundenen.

20 [6]

Die niedrigsten Menschen, abzuschätzen nach ihrer Wirkung auf die " großen Menschen".

  1. die Schmarotzer – die welche sich in die Schwächen der Starken und Großen einnisten
  2. die Wehseligen, welche gleich Mücken den Großen viel kleines Leid machen und sie so verkleinern – auch den heiteren Himmel durch ihr Jammern trüben.
  3. die Gutmüthigen, welche nicht zu widerstehen wissen und ihn als Befehlenden verderben: sie machen ihn zu einem Verachtenden.
  4. die Behaglichen: sie machen das Leben kleinlich in der Lust

20 [7]

"Tapfer ist, wer erduldet, fürchtet oder wagt, was man soll und weswegen man es soll und wie man es soll und wann man es soll" Arist<oteles>

Befreier vom Wahne "Gott" und noch mehr vom Wahne "Gott und Mensch".

Bescheidung als Erden-Bewohner

die ewige Bedeutung des Individuums. ego.

20 [8]

Nicht klagen à la Hamlet! NB.

Plan zu Zarathustra 3.

1 Zarathustra auf dem Meere.

2-10 Zarathustra hört vom Tod der seligen Inseln. Reden gegen seine wahren Feinde.

Die erschütternde Wirkung seines Lobes auf seine Freunde:

die Stadt umgeworfen, Zarathustra muß sich losreißen: er verachtet ihre Schwäche darin. fürchterlicher Ausbruch seiner Verachtung, und Lob der Tyrannen und der Bösesten

11-12 Z<arathustras>Einsamkeit. Umsonst! Es ist zu spät!

Tod des Knaben mit der Schlange. – Symbol.

13 Zarathustra sucht krank, entsetzt seine Höhle. Seine Thiere fliehn und erkennen ihn nicht, die Höhle ist zertrümmert.

14-20 Rede des Einsiedlers. Zarathustra sieht, daß im Gott-Vertrauen die letzte Quelle alles Schwachwerdens liegt. Noch Ein Mal! Entschluß.

21-22 Heraufbeschwörung des furchtbarsten abgründlichsten Gedankens. Die vorbestimmte Natur – Hymnus.

Seligkeit wider Willen (wie ein Eifersüchtiger das geliebte Weib vor sich her stößt und zärtlich noch in der Härte ist)

20 [9]

Zarathustra 3.

Mehrere Reden am "Grabe"

warum mußten sie fort von euch?

Zuletzt Mitgefühl mit allen Herrschern und Tyrannen, die an den schwachen Menschen ihre Verachtung ausließen (sie trieben ihren eigenen Willen ins Höchste)

sie (Volk, Weise, Gute) haben alle keinen Glauben mehr, ein Vorrecht auf höheres Menschenthum zu haben – ihren innersten Zweifel decke ich auf!

"ich will nicht, daß die Tugenden der Starken verwechselt werden mit denen der Schwachen."

Fluch, daß die Besten sich zurück ziehen müssen

Von der Herrschaft der Feiglinge.

zur Charakteristik der Freunde (rührendstes Lob zuletzt!

  1. den Willen kräftigen
  2. keine Lüsternheit
  3. schweigen lernen
  4. Einsamkeit
  5. das tiefe Mißtrauen und das tiefe Vertrauen
  6. seinen Feind suchen, seinen Freund aber finden.

20 [10]

Zarathustra 4.

Der König und der Narr geben einen Begriff, daß das Kommen Zarathustra's nöthig ist.

Zarathustra schließt immer engere Kreise: große Reden, worin er ausschließt. Immer kleinere Kreise, auf höheren Bergen.

Zunächst werden 1) die Schmarotzer, dann 2) die Heuchler 3) die Schwachen Gutmüthigen dann 4) die unbewußten Heuchler der Moral ausgeschlossen.

Letzte Scene: Schilderung der höchsten Seele, die am Tiefsten hinunter kann, der umfänglichsten, die sich am weitesten verirren kann, der nothwendigsten, die sich in Zufälle stürzt, der Seienden, die ins Werden sich verliebt; der Habenden, welche verlangt und will; der sich immer wieder Fliehenden und wieder Einholenden: ganz Selbst-Liebe und darum ganz in Allem: der alles Spiel ist; Weisheit, die sich ins Meer der Thorheit stürzt: Lachen und Tränen: die Welt, eines Gottes Ausgelassenheit: Erlösung von allen einmaligen steifen "weisen" usw. – Sünde selber als Genuß der Selbst-Aufhebung.

Alle Wesen nur Vorübungen in der Vereinigung Einverleibung von Gegensätzen.

Die Erlösung vom Zufalle: was ich habe geschehen lassen, das weiß ich hinterdrein mir gut machen: und deshalb hinterdrein wollen, was ich nicht vorher wollte.

ganz in sich Ziel

Darauf erzählt Zarathustra, aus dem Glück des Übermenschen heraus, das Geheimniß daß Alles wiederkehrt.

Wirkung. Pana will ihn tödten.

Er begreift endlich, macht alle Wandlungen durch, bis zur siegreichsten, als er aber sie zerbrochen liegen sieht – lacht. Steigt lachend aufwärts auf den Fels: aber dort angekommen stirbt er glücklich.

Hinreißende Wirkung des Todes: die Gelobenden.

20 [11]

Vom Einen Siege.

So wie ich ihn einst siegen und sterben sah: den Freund, der göttliche Augenblicke und Blitze in meine dunkle Jugend warf –

muthwillig und tief, voranstürmend zur Freude noch im Sturm der Schlacht, voranblutend im Leide, und wo der erwählten Fahne Feinde nahten, –

unter Sterbenden der Heiterste, unter Siegenden der Schwerste, nachdenklich-vordenklich auf seinem Schicksal stehend – erbebend darob, daß er siegte, lachend darob, daß er sterbend siegte –

befehlend, indem er starb: – und er befahl, daß man vernichte und nicht schone

Oh du mein Wille, mein In-Mir, Über-mir! du meine Nothwendigkeit! Gieb, daß ich also siege – und spare mich auf zu diesem Einen Siege!

Bewahre und spare mich auf und hüte mich vor allen kleinen Siegen, du Schickung meiner Seele und Wende aller Noth, du meine Nothwendigkeit!

20 [12]

Kenne ich nicht, gleich dir, alle Heiterkeit – auch die Heiterkeit, die im Vorgenuß des nahen Todes ist: denn die große Bürde, die ich trug, ließ mich oft in großen Gefahren jauchzen

kleine verkrochne Gemeinde und Dunst und Dünkel aller Betbrüder – sie alle bedürfen der Stuben und Kämmerchen zu ihrem Beten!

Du bist gleich mir "von Ohngefähr" das ist der älteste Adel der Welt.

und nicht nach ihrem Lande der Verheißung will ich dem Geiste folgen, den sie heilig heißen: ich sah immer Ziegen und Gänse voran unter seinen Kreuzfahrern

vertraulich und offenherzig, aber gleich Thoren, durch die nur Niedriges eingeht.

20 [13]

Die feierlichen Schnurrpfeifer, die mit Tönen düstere Lehren und Lügen predigen.

Ich wollte, ich sähe schon die Feuersäule, in der sie verbrannt wird: denn solche Feuersäulen müssen dem großen Mittage vorangehn.

Wie viel Höhlen hat das Leben

Vor Sonnenaufgang.

20 [14]

Ich fand einen Übermuth in allen Dingen, den heiße ich göttlich. Ich fand diesen Übermuth auch in meiner Seele.

Diesen Übermuth der Weisheit, fand ich in allen Dingen, daß sie allen Dingen auf den Füßen von Narren gehen heißt.

So wenig Vernunft als möglich: mehr nimmt sie nicht mit in ihren Schnappsack, wenn sie über Land geht und Tagsüber ihr Feld bestellt.

Auf den Füßen des Zufalls laufen alle Dinge – hinweg und zurück und hinauf zur Weisheit,

– das ist ihre selige Sicherheit, daß sie alle Dinge nur mit dem Zufalle zu sich gängelt.

20 [15]

Von unschuldigen Dingen am liebsten genährt und von Wenigen, bereit und ungeduldig, davonzufliegen: wie sollte nicht Etwas an mir von Vogel-Art sein?

Dem Geist der Schwere todfeind auch noch mit dem Leibe: wohin folgte ihm nicht meine Feindschaft! Wohin flog und verflog sich nicht mein geflügelter Tod-Haß!

20 [16]


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