Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente Juli 1882 bis Herbst 1885, Band 4
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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Die Fragmente von Juli 1882 bis Herbst 1885 bestehen aus 36 Handschriften aufgeteilt in 21 Heften, 12 Notizbücher, 3 Mappen mit losen Blättern.


[Tautenburger Aufzeichnungen für Lou von Salomé. Juli – August 1882]

[Dokument: Heft]

1 [1]

"solitudo continuata dulcescit." Madonna del Sasso. (Locarno)

1 [2]

Widerlegung der Moral?-

Die Moral ist die Sache jener, welche sich von ihr nicht frei machen können: für sie gehört sie eben deshalb unter die "Existenz-Bedingungen". Existenz-Bedingungen kann man nicht widerlegen: man kann sie nur – nicht haben

1 [3]

Grundsätze.

Der letzte physikalische Zustand der Kraft, den wir erschließen, muß auch nothwendig der erste sein.

Die Auflösung der Kraft in latente Kraft muß die Ursache der Entstehung der lebendigsten Kraft sein. Dem einen Zustand der Negation muß der Zustand der höchsten Position folgen.

Raum ist wie Materie eine subjektive Form. Zeit nicht.

Raum ist erst durch die Annahme leeren Raumes entstanden. Den giebt es nicht. Alles ist Kraft.

Bewegtes und Bewegendes können wir nicht zusammen denken, aber das macht Materie und Raum. Wir isoliren.

Die Entwicklung eines Dinges erlaubt Rückschlüsse auf die Entstehung des Dings.

Alle Entwicklung ist eine Entstehung.

Materie, Stoff ist eine subjektive Form.

Wir können uns Nichts anders als stofflich denken. Auch Gedanken und Abstrakta bekommen von uns eine sehr verfeinerte Stoff lichkeit, die wir vielleicht ableugnen: nichts destoweniger haben sie eine solche. Wir haben uns daran gewöhnt, diese feine Stofflichkeit zu übersehn und vom "Immateriellen" zu reden. Ganz wie wir todt und lebendig, logisch und unlogisch usw. getrennt haben. Unsere Gegensätze verlernen – ist die Aufgabe.

1 [4]

Auch die Begriffe sind entstanden. Woher? – Hier giebt es Übergänge.

1 [5]

Personen, die man zu einem Unternehmen benutzt hat, welches mißrathen ist, soll man doppelt belohnen.

1 [6]

Willst du lange jung bleiben, werde spät jung.

"Wer in seinem Urtheile über Andere zu streng ist, den halte ich für schlecht" – sage ich mit Demosthenes.

1 [7]

"Suaviter in re, fortiter in me."

1 [8]

Glaube aller Wieder-Erstandenen. – Wer früh einmal gestorben ist, stirbt lange nicht zum zweiten Male.

1 [9]

Leben nach dem Tode. – Wer Gründe hat, an sein "Leben nach dem Tode" zu glauben, muß seinen "Tod" während seines Lebens ertragen lernen.

1 [10]

Spät jung. – Spät jung erhält lang jung.

1 [11]

Das Ideal. – Das Auge sieht Alles außer sich: und so sehen wir auch unser Ideal immer noch vor uns, wenn wir es auch schon erreicht haben!

1 [12]

Begriff und Gefühl "edel" hat eine andere Vorgeschichte als Begriff und Gefühl "gut".

1 [13]

Vademecum. Vadetecum

Von F. Nietzsche

Erste Gesammtausgabe

Inhalt:

Menschliches Allzumenschliches. Mit Anhang

Der Wanderer und sein Schatten

Morgenröthe

Die fröhliche Wissenschaft.

1 [14]

Die Pflugschar.

Ein Werkzeug zur Befreiung des Geistes.

Erste Gesammt-Ausgabe.

in 2 Bänden

Inhalt:

Menschliches Allzumenschliches. Mit Anhang:

Vermischte Meinungen und Sprüche.

Der Wanderer und sein Schatten.

Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile.

Die fröhliche Wissenschaft.

1 [15]

An – – –

Freundin! – sprach Columbus – traue
Keinem Genueser mehr!
Immer starrt er in das Blaue,
Fernstes lockt ihn allzusehr!

Muth! Auf offnem Meer bin ich,
Hinter mir liegt Genua.
Und mit dir im Bund gewinn ich
Goldland und Amerika.

Stehen fest wir auf den Füßen!
Nimmer können wir zurück.
Schau hinaus: von fernher grüßen
Uns Ein Tod, Ein Ruhm, Ein Glück!

1 [16]

über vornehmliche oder ausschließliche Pflanzenkost

Menschen der heftigen Affekte, ehrgeizige gehässige wollüstige Menschen mögen in der Tat sich die Frage stellen, ob für sie nicht auch wenig Fleisch schon zu viel ist, obschon mir viel wichtiger als die Frage, was sie essen sollen, jene andere Frage gilt: wieviel, das heißt hier: wie wenig.

1 [17]

Wie Freund sich reißt von Freundesbrust.
Wohlan! Noch hast du deine Pein!

1 [18]

Was liegt an meinem Buche, wenn es nicht aushält, wenigstens sub specie trecentorum annorum betrachtet zu werden?

1 [19]

1 [20]

Zur Moral des "Ich".

Die Schwierigkeit, sich verständlich zu machen. An Viele ist es unmöglich.

Jede Handlung wird mißverstanden. Und man muß, um nicht fortwährend gekreuzt zu werden, seine Maske haben. Auch um zu verführen ...

Lieber mit solchen umgehen, die bewußt lügen, weil nur sie auch mit Bewußtsein wahr sein können. Die gewöhnliche Wahrhaftigkeit ist eine Maske ohne Bewußtsein der Maske.

Das "Ich" unterjocht und tödtet: es arbeitet wie eine organische Zelle: es raubt und ist gewaltthätig. Es will sich regeneriren – Schwangerschaft. Es will seinen Gott gebären und alle Menschheit ihm zu Füßen sehen.

Die befreiten Ich's kämpfen um die Herrschaft.

1 [21]

Dies ist kein Buch: was liegt an Büchern!
Was liegt an Särgen und Leichentüchern!
Dies ist ein Wille, dies ist ein Versprechen,
Dies ist ein letztes Brücken-Zerbrechen,
Dies ist ein Meerwind, ein Ankerlichten,
Ein Räderbrausen, ein Steuer-Richten,
Es brüllt die Kanone, weiß dampft ihr Feuer,
Es lacht das Meer, das Ungeheuer –

1 [22]

mit schönen Worten nennen, nachdem die Selbstsucht böse sein soll

1 [23]

daß die semitische Rasse zur indoeuropäischen gehört, glaube ich G. I. Ascoli und E. Rénan.

1 [24]

Das Leben eines heroischen Menschen enthält die abgekürzte Geschichte mehrerer Geschlechter in Bezug auf Vergottung des Teufels. Er macht den Zustand des Ketzers, der Hexe, des Wahrsagers, des Skeptikers, des Schwachen, des Gläubigen und überwältigten durch.

1 [25]

Wer selber den Willen zum Leiden hat, steht anders zur Grausamkeit; indem er wehethut, hält er das Wehethun nicht an und für sich für schädlich und schlecht.

1 [26]

"Jesus sah jemanden am Sabbat arbeiten und sagte zu ihm: wenn du weißt, was du thust, so bist du selig; wenn du's aber nicht weißt, so bist du verflucht und ein Übertreter des Gesetzes."

Lucas, 6,4. alte Hdschr.

1 [27]

Die vorhandene Welt von Kräften leitet zurück auf einen einfachsten Zustand dieser Kräfte: und ebenso vorwärts auf einen einfachsten Zustand, – könnten und müßten beide Zustände nicht identisch sein? Aus einem System bestimmter Kräfte, also aus einer meßbar sicheren Kraft kann sich keine Unzähligkeit der Zustände ergeben. Nur bei der falschen Annahme eines unendlichen Raums, in welchen sich die Kraft gleichsam verflüchtigt, ist der letzte Zustand ein unproduktiver, todter. Der einfachste Zustand ist zugleich – und +

1 [28]

Stellen wir uns auf den strengsten Standpunkt der Moralität, z. B. der Ehrlichkeit so ist schon der Verkehr mit den Dingen, alle die Glaubensartikel unseres gewöhnlichen Handelns unmoralisch (z. B. daß es Körper gebe.

Insgleichen, daß Mensch = Mensch sei zu glauben, an Stelle der Atomistik der Individuen.

Alles wird so zur Unredlichkeit. Und gesetzt, wir erkennen, das Leben ist Unredlichkeit, also Unmoralität – so ist das Leben zu verneinen.

Ebenso die unbedingte Gerechtigkeit bringt zur Einsicht, daß Leben wesentlich ungerecht ist.

Consequenz der äußersten Moralität der Erkenntniß: Verlangen nach Vernichtung.

Aber nun kommt erlösend die Kritik der Moral und Moralität: sie bringt sich selber um.

Also: das Leben ist nicht zu verneinen, denn die Moral steht nicht über ihm, sie ist todt. Der Exceß der Moral hat ihren Gegensatz, das Böse, als nothwendig und nützlich bewiesen, und als Quelle des Guten.

Haben wir damit das Gute auf zugeben ? Nein, gerade nicht ! Denn unsere Redlichkeit braucht nicht mehr so streng zu sein. Thatsächlich sind es die Guten nicht.

1 [29]

Das Bedürfniß des Gemüthes ist nicht zu verwechseln mit dem Bedürfniß nach Gemüth: das einige sehr kalte Personen haben.

1 [30]

Der Hund bezahlt Wohlwollen mit Unterwerfung. Die Katze genießt sich selber dabei und hat ein wollüstiges Kraftgefühl: sie giebt nicht zurück.

1 [31]

Zur Erklärung der sogenannten "Spiritistischen Erscheinungen". Ein Theil der intellektuellen Funktionen des Mediums verlaufen ihm unbewußt: sein Zustand ist darin hypnotisch (Trennung eines wachen und schlafenden Intellekts) Auf diesen unbewußten Theil concentrirt sich die Nervenkraft. – Es muß zwischen den durch die Hände verbundenen Personen eine elektrische Leitung nach dem Medium zu stattfinden, vermöge dessen Gedanken einer jeden Person in das Medium übergehen. Eine solche Leitung von Gedanken ist nicht wunderbarer als die Leitung vom Gehirne zum Fuße, im Fall eines Stolperns, innerhalb Eines Menschen. Die Fragen werden durch die lntellektualität der betheiligten Personen beantwortet: wobei das Gedächtniß oft etwas leistet und bietet, was für gewöhnlich vergessen scheint. Folge der nervösen Emotion. – Es giebt kein Vergessen. – Auch unbewußter Betrug ist möglich: ich meine, ein betrügerisches Medium fungirt mit allerlei betrügerischen Manipulationen, ohne darum zu wissen: seine Art Moralität äußert sich instinktiv in diesen Handlungen. – Zuletzt geht es immer so zu, bei allen unseren Handlungen. Das Wesentliche verläuft uns unbewußt, und der Schelm ist sich unbewußt hundertmal mehr und häufiger Schelm als bewußt.

Elektricitäts-Erscheinungen, kalte Ströme, Funken sind möglich dabei. Gefühle Angefaßt-werden können die Sache der Täuschung sein, Hallucinationen der Sinne: wobei möglich ist, daß es für mehrere Personen Hallucinat<ions>Einheit giebt. (Wie bei den alten orgiastischen Culten)

Der Glaube an die Wiederbegegnung mit Todten ist die Voraussetzung des Spiritismus. Es ist eine Art Freigeisterei. Wirkliche Fromme haben diesen Glauben nicht nöthig. (Buckle über Unsterblichkeit)

1 [32]

Advocatus diaboli

Neue Vorstellungen von Gott und Teufel. Die unbedingte Erkenntniß ist ein Wahnsinn der Tugend-Periode; an ihr gienge das Leben zu Grunde. Wir müssen die Lüge, den Wahn und Glauben, die Ungerechtigkeit heiligen. Wir müssen uns von der Moral befreien, um moralisch leben zu können. Meine freie Willkür, mein selbstgeschaffenes Ideal will diese und jene Tugend von mir d. h. den Untergang in Folge der Tugend. Das ist Heroismus.

1 [33]

Das National-Princip wird die Muhamedaner die Inder entfesseln.

1 [34]

Was macht denn z. B. die Prostitution so schädlich, schleichend, ihrer selber unsicher? Nicht "das Böse an sich" in ihr, sondern die schlechte Meinung, mit der sie behandelt wird. Dies gegen die Statistiker. Man sollte den Guten nachrechnen, daß die gröbere und feinere Nachwirkung ihrer Urtheile das innere und äußere Elend der Menschen ausmacht. Und dann nehmen sie dieses Elend als Beweis dafür, daß sie Recht haben, als Beweis der Natur und Kraft! Das schlechte Gewissen vergiftet die Gesundheit.

Die Ehe als die erlaubte Form der Geschlechtsbefriedigung.

Der Krieg als die erlaubte Form des Nachbar-Mordes.

Die Schule als die erlaubte Form der Erziehung.

Justiz als die erlaubte Form der Rache.

Religion als die erlaubte Form des Erkenntnißtriebes.

Die Guten als die Pharisäer, die Bösen mit schlechtem Gewissen und unterdrückt lebend. Was ist denn Ausschweifung aller Art mehr als die Consequenz der Unbefriedigung so Vieler an den erlaubten Formen? Was ist das meiste Verbrecherthum anders als Unvermögen oder Unlust zur Heuchelei der "Guten"? Mangel an Erziehung der starken Triebe? Es giebt dafür nur Gegner und Verächter.

1 [35]

Vom Glück des Pharisäers.

Seine Selbst-Überwindung. Die Herstellung des " sittlichen" Handelns unter allen Umständen und die Einübung, sich fortwährend solche Motive allein im Bewußtsein zu erhalten und die wirklichen Motive falsch (nämlich sittlich) zu benennen.

Es ist die uralte Übung innerhalb der Heerde: die eigentliche Unredlichkeit, bei sich nur die erlaubten Urtheile und Empfindungen zu sehen. Diese allen Guten gemeinsame Übung bringt die Uniformität der gemeinsamen Handlungen hervor: es giebt ihnen ihre ungeheure Kraft, an so wenige Motive bei sich und dem Nächsten zu glauben, und nur an gute.

Der Pharisäer ist der Urtypus des erhaltenden Menschen, immer nöthig.

Gegensatz:

die starken Bösen

und die schwachen Bösen, die sich so fühlen.

Aus ihnen entsteht mitunter der Sich-selber-Gute, der zum Gott gewordene Teufel.

1 [36]

Leiden verringern und sich selber dem Leiden (d.h. dem Leben) entziehen – das sei moralisch?

Leiden schaffen – sich selber und Anderen – um sie zum höchsten Leben, dem des Siegers zu befähigen – wäre mein Ziel.

1 [37]

Es ist ekelhaft, große Menschen durch Pharisäer verehrt zu sehen. Gegen diese Sentimentalität.

1 [38]

Auch das Rückwärts-gehen und Verfallen, beim Einzelnen und bei der Menschheit, muß seine Ideale erzeugen: und immer wird man glauben, fortzuschreiten.

Das Ideal " Affe" könnte irgendwann einmal vor der Menschheit stehen – als Ziel.

1 [39]

Meine Virtuosität: das zu ertragen, was mir unangenehm ist, ihm gerecht zu sein, ja artig dagegen – Mensch und Erkenntniß. Darin bin ich am besten geübt.

1 [40]

Ich habe eine Neigung, mich bestehlen, ausbeuten zu lassen. Aber als ich merkte, daß alles darauf aus war, mich zu täuschen, gerieth ich in den Egoismus.

1 [41]

Aus der vollendeten alten Moralität heraus verlangte mich nach der Selbstsucht.

1 [42]

Warum liebe ich die Freigeisterei? Als letzte Consequenz der bisherigen Moralität. Gerecht sein gegen Alles, über Neigung und Abneigung hinweg, sich selber in die Reihe der Dinge einordnen, über sich sein, die Überwindung und der Muth nicht nur gegen das Persönlich-Feindliche, Peinliche, auch in Hinsicht auf das Böse in den Dingen, Redlichkeit, selbst als Gegnerin des Idealismus und der Frömmigkeit, ja der Leidenschaft, sogar in Bezug auf die Redlichkeit selber; liebevolle Gesinnung gegen Alles und jedes und guter Wille, seinen Werth zu entdecken, seine Berechtigung, seine Nothwendigkeit. Auf Handeln verzichten (Quietismus) aus Unvermögen zu sagen: "es soll anders sein" – in Gott ruhen, gleichsam in einem werdenden Gotte.

Als Mittel dieser Freigeisterei erkannte ich die Selbstsucht als nothwendig, um nicht in die Dinge hinein verschlungen zu werden: als Band und Rückhalt. Jene Vollendung der Moralität ist nur möglich in einem Ich: insofern es sich lebendig, gestaltend, begehrend, schaffend verhält, und in jedem Augenblick dem Versinken in die Dinge widerstrebt, erhält es sich seine Kraft, immer mehr Dinge in sich aufzunehmen und in sich versinken zu machen. Die Freigeisterei ist also im Verhältniß zum Selbst und zur Selbstsucht ein Werden, ein Kampf zweier Gegensätze, nichts Fertiges, Vollkommenes, kein Zustand: es ist die Einsicht der Moralität, nur vermöge ihres Gegentheils sich in der Existenz und Entwicklung zu erhalten.

1 [43]

  1. Unzufriedenheit mit uns selber. Gegenmittel gegen die Reue. Die Verwandlung der Temperamente (z. B. durch die Anorganica). Der gute Wille zu dieser Unzufriedenheit. Seinen Durst abwarten und voll werden lassen, um seine Quelle zu entdecken.
  2. Der Tod umzugestalten als Mittel des Sieges und Triumphes.
  3. Die Geschlechtsliebe, als das Mittel zum Ideal (Streben in seinem Gegensatz unterzugehen.) Liebe zur leidenden Gottheit.
  4. Die Krankheit, Verhalten zu ihr, Freiheit zum Tode.
  5. Die Fortpflanzung als die heiligste Angelegenheit. Schwangerschaft, Schaffung des Weibes und des Mannes, welche im Kinde ihre Einheit genießen wollen und ein Denkmal daran stiften.
  6. Mitleiden als Gefahr. Die Gelegenheiten schaffen, damit jeder sich selber helfen könne und es ihm freistehe, ob geholfen werden solle.
  7. Die Erziehung zum Bösen, zum eigenen "Teufel".
  8. Der innere Krieg, als "Entwicklung".
  9. "Arterhaltung" und der Gedanke der ewigen Wiederkunft.
  10. In wiefern jeder geschaffene Gott sich wieder einen Teufel schafft. Und das ist nicht der, aus dem er entstanden ist. (Es ist das benachbarte Ideal, mit dem er kämpfen muß)

1 [44]

Staat hat seine Moral dem I<ndividuum> einverleibt.

Willkür vielleicht der gelobteste Name einmal für Moral

1 [45]

Stil

Das Erste, was noth thut, ist Leben: der Stil soll leben.

Der Stil soll jedes Mal dir angemessen sein in Hinsicht auf eine ganz bestimmte Person, der du dich mittheilen willst.

Man muß erst genau wissen: "so und so würde ich dies sprechen und vortragen" – bevor man schreiben darf. Schreiben soll nur eine Nachahmung sein.

Weil dem Schreibenden viele Mittel des Vortragenden fehlen, so muß er im Allgemeinen eine sehr ausdrucksreiche Art von Vortrag zum Vorbilde haben: das Abbild davon, das Geschriebene wird nothwendig schon viel blässer (und dir natürlicher) ausfallen.

Der Reichthum an Leben verräth sich durch Reichthum an Gebärden. Man muß Alles, Länge Kürze der Sätze, die Interpunktionen, die Wahl der Worte, die Pausen, die Reihenfolge der Argumente – als Gebärden empfinden lernen.

Vorsicht gegen die Periode! Zur Periode haben nur die Menschen ein Recht, die einen langen Athem auch im Sprechen haben. Für die Meisten ist die Periode eine Affektation.

Der Stil soll beweisen, daß man an seine Gedanken glaubt, und sie nicht nur denkt, sondern empfindet.

Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will, um so mehr muß man erst die Sinne zu ihr verführen.

Der Takt des guten Prosaikers besteht darin, dicht an die Poesie heranzutreten, aber niemals zu ihr überzutreten. Ohne das feinste Gefühl und Vermögen im Poetischen selber kann man diesen Takt nicht haben.

Es ist nicht artig und klug, seinem Leser die leichteren Einwände vorwegzunehmen. Es ist sehr artig und klug, seinem Leser es übrig zu lassen, die Quintessenz unserer Weisheit selber auszusprechen.

1 [46]

G. Sand, Brief von 1868 an Maxime Du Camp.

"Faites un mariage d'amitié pour avoir des enfants. L'amour ne procrée guère. Quand vous verrez devant vous un être, que vous aimerez plus que vous-mêmes, vous serez heureux. Mais ce n'est pas la femme que l'on peut aimer plus que soimême, c'est l'enfant, c'est l’être innocent, c'est le type divin, qui disparaît plus ou moins en grandissant, mais qui, durant quelques années, nous ramène à la possession d'un idéal sur la terre."

1 [47]

Der Mann hat im. Hintergrunde aller seiner Empfindungen für ein Weib immer noch die Verachtung für das weibliche Geschlecht.

1 [48]

Gegen die moralische Empörung.

Dieselbe Grausamkeit wie in Religionskriegen. "Die Verachtung des Mitmenschen" als Gegenstand von Christi Entrüstung (er wurde gegen die Pharisäer ungerecht).

(Das Böse muß erhalten bleiben!)

1 [49]

Wer das Ideal eines Menschen geschaut hat, empfindet den wirklichen Menschen als dessen Carikatur.

1 [50]

  1. Die weibliche Beurtheilung der Affekte.
    – der einzelnen Tugenden und Laster von Mann und Weib.
    Weib und Arbeit
    Weib und Staat
    Weib und Ruhm.
  2. Das weibliche Urtheil und der Glaube des Weibes in Betreff seines Urtheils.
  3. Die verhehlte Wirklichkeit und – – –
  4. Die Unwirklichkeit, welcher ein Weib sich verpflichtet fühlt, als wahr zu behaupten.
  5. Die Verführung der Anderen zur guten Meinung über uns, und das Sich-Beugen vor dieser Meinung als einer Autorität.
  6. Tempo der weiblichen Affekte.
  7. Schwangerschaft als der Cardinalzustand, welcher allmählich das Wesen des Weibes überhaupt gestaltet hat. Relation aller weiblichen Denk- und Handlungsweisen dazu.
  8. Die Pflege der Kinder theils zurückbildend – theils allzu sehr entkindlichend. Weiblicher Rationalismus.
  9. Verschiedenheit der weiblichen und männlichen Herrschsucht.
  10. Das weibliche Gefühl der Vollkommenheit – im Gehorchen.
  11. Was als unweiblich empfunden wird. Geschichte.
  12. Verneinen zerstören hassen sich rächen: warum das Weib darin barbarischer ist als der Mann.
  13. Sinnlichkeit von Mann und Frau verschieden.

1 [51]

Zur Wieder-Entstehung der Welt.

Aus zwei Negationen entsteht eine Position, wenn die Negationen Kräfte sind. (Es entsteht Dunkel aus Licht gegen Licht, Kälte aus Wärme gegen Wärme usw.)

1 [52]

Wirf deine Worte deinen Thaten voraus: verpflichte dich selber durch die Scham vor gebrochnen Worten.

1 [53]

Nur der Unbeugsame darf von sich selber schweigen.

1 [54]

Wir sind gegen Andere aufrichtiger als gegen uns selber.

1 [55]

In Bezug auf alle Wahrheit geht es uns wie in Hinsicht auf den inneren Leib.

1 [56]

Ursprünglich war die Lüge moralisch. Man gab die Meinungen der Heerde vor.

1 [57]

Um sich gut zu unterhalten, sucht der Eine einen Geburtshelfer für seine Gedanken, und der Andere einen, dem er helfen kann.

1 [58]

Bei jedem Gespräch zu dreien ist einer überflüssig und verhindert damit die Tiefe des Gesprächs.

1 [59]

Wer uns nicht produktiv macht, wird uns sicher gleichgültig. Wen wir produktiv machen, den lieben wir deshalb noch nicht.

1 [60]

Wie die Guten sich die großen Menschen imagin<iren>. Gegen ihre Sentimentalität.

1 [61]

Ideal bilden, d.h. seinen Teufel zu seinem Gotte umschaffen. Und dazu muß man erst seinen Teufel geschaffen haben.

1 [62]

Alles Gute ist aus einem Bösen geworden.

1 [63]

Wer nach Größe strebt, hat Gründe in der Quantität seine Vollendung und Befriedigung zu haben. Die Menschen der Qualität streben nach Kleinheit.

1 [64]

Der Zustand der absoluten Erkaltung in Bezug auf alle bisher geglaubten Werthe ist vorhergehend dem der Erhitzung.

1 [65]

Ich bin der advocatus diaboli und der Ankläger Gottes.

1 [66]

Der Mensch ist eine zu unvollkommene Sache. Liebe zu einem Menschen würde mich zerstören.

1 [67]

Grausamkeit in dem Genuß am Mitleiden. Das Mitleiden ist am stärksten, je tiefer wir den Anderen kennen und lieben. Folglich wird der Liebende, welcher gegen den, welchen er liebt, grausam ist, am meisten Genuß von der Grausamkeit haben. Gesetzt, wir lieben uns selber am meisten, so wäre der höchste Genuß des Mitleidens die Grausamkeit gegen uns. Heroisch = das ist das Streben nach dem absoluten Untergange in seinen Gegensatz, die Umschaffung des Teufels in Gott: das ist dieser Grad von Grausamkeit.

1 [68]

Die Existenz-Bedingungen eines Wesens, sobald sie sich als ein " Soll" repräsentiren, sind seine Moral.

1 [69]

Wie der Teufel zu Gott wird.

1 [70]

Zur Philosophie der Wiederkunft.

über heroische Größe als einzigen Zustand der Vorbereitenden.

(Streben nach dem absoluten Untergange, als Mittel, sich zu ertragen.)

Funktion-Werden-Wollen: weibliches Ideal der Liebe. Das männliche Ideal ist Assimilation und Überwältigung oder Mitleid (Anbetung des leidenden Gottes).

absolute Gleichgültigkeit über die Meinungen Anderer (weil wir ihre Maaße und Gewichte kennen): aber als Meinung über sich selber Gegenstand des Mitleidens.

Wir dürfen nicht Einen Zustand wollen, sondern müssen periodische Wesen werden wollen = gleich dem Dasein.

ich habe den ganzen Gegensatz einer religiösen Natur absichtlich ausgelebt. Ich kenne den Teufel und seine Perspektiven für Gott.

"Gut" und "Böse" als Lust- und Unlustempfindungen. Unentbehrlich. Aber für Jeden sein Böses.

Wer nicht den Weg zu seinem Ideale findet, lebt leichtsinniger und frecher als der, welcher gar kein Ideal hat.

Dem Weh thun, den wir lieben – ist die eigentliche Teufelei. In Bezug auf uns selber ist es der Zustand des heroischen Menschen – die höchste Vergewaltigung. Das Streben in den Gegensatz gehört hierzu.

1 [71]

"Idealist" als Gegensatz des redlichen und furchtlosen Erkennenden. Die Urtheile des Idealisten machen mir Ekel, sie sind ganz unbrauchbar.

1 [72]

Freude am Schaden des Anderen ist etwas Anderes als Grausamkeit, letztere ist Genuß im Mitleiden, und hat ihre Höhe, wenn das Mitleiden am höchsten ist (dann, wenn wir den lieben, den wir foltern).

Wenn ein Anderer dem, welchen wir lieben, das Wehe zufügte, dann würden wir rasend vor Wuth, das Mitleid wäre ganz schmerzhaft. Aber wir lieben ihn: und wir thun ihm wehe. Dadurch wird das Mitleid ein ungeheurer Reiz: es ist der Widerspruch zweier entgegengesetzter starker Triebe, der hier als höchster Reiz wirkt.

Selbstverstümmelung und Wollust neben einander ist das Gleiche. Oder hellstes Bewußtsein und Bleischwere und Unbeweglichkeit nach Opium.

1 [73]

Allgemeine Frage: wie wirken widersprechende Empfindungen, also eine Zweiheit? Wie verwandte, als Zweiheit? (Abschwächend?)

Die höchste Liebe zum Ich, wenn sie als Heroismus sich äußert, hat Lust zum Selbst-Untergange neben sich, also Grausamkeit, Selbst-Vergewaltigung.

Die, welche die Menschheit liebten, thaten ihr am wehesten.

Die unbedingte Hingebung und das Gerneleiden vom Geliebten, die Begierde mißhandelt zu werden. Hingebung wird zum Trotz gegen sich.

Andererseits der Liebgehabte, welcher das Liebende quält, sein Machtgefühl genießt, und um so mehr, als er sich selber dabei tyrannisirt: es ist eine doppelte Ausübung von Macht. Machtwille wird hier zum Trotz gegen sich.

1 [74]

Der Freigeist als der religiöseste Mensch, den es jetzt giebt.

1 [75]

Gott hat Gott getödtet.

1 [76]

Die Moral starb an der Moralität.

1 [77]

Der gläubige Mensch ist der Gegensatz des religiösen Menschen.

1 [78]

Voraussetzung der Zeugung sollte der Wille sein, ein Abbild und Fortleben der geliebten Person haben zu wollen: und ein Denkmal der Einheit mit ihr, ja eine Vollendung des Triebes nach Einheit, durch ein neues Wesen. – Sache der Leidenschaft und nicht der Sympathie.

1 [79]

Die hohe und ehrliche Form des Geschlechtsverkehrs, die der Leidenschaft, hat jetzt noch das böse Gewissen bei sich. Und die gemeinste und unredlichste das gute Gewissen.

1 [80]

Die Verworrenheit der Mittel, die Ehe aufrecht zu erhalten: das Weib glaubt, prädestinirt nur für diese zu sein. In Wahrheit ist Alles gemeiner Zufall, und hundert andere Männer thäten ihr ebenso gut. Sie will gehorchen: sie arbeitet für den Mann und denkt und sagt: "was habe ich alles für dich gethan!" aber es war nicht für "dich", sondern für irgend einen, der ihren Trieben in den Wurf kam. – Der Beruf und die tägliche Arbeit trennt die Gatten und hält so die Erträglichkeit aufrecht. – Weil die Männer und Frauen früher nicht erfahren haben, was eigentlich Freundschaft ist, so sind sie auch nicht enttäuscht über den Verkehr: weder die Liebe, noch die Freundschaft ist ihnen bekannt. Die Ehe ist auf verkümmerte Halbmenschen eingerichtet.

1 [81]

Eitel – beleidigt

vorsichtig – in Acht nehmen

unmoralisch – verachten.

1 [82]

Er tödtet, wenn er sonst nicht leben kann.

Er raubt, wenn er einen Gegenstand nöthig hat oder einen Menschen (Ehe).

Er lügt, wenn er verborgen bleiben will um seines Zieles willen.

1 [83]

Mittag und Ewigkeit

Entwurf einer heroischen Philosophie.

1 [84]

Menschen, die nach Größe streben, sind gewöhnlich böse Menschen: es ist ihre einzige Art, sich zu ertragen.

1 [85]

Wie lange (wie viel Jahrhunderte) dauert es, bis eine Größe den Menschen als Größe sichtbar wird und leuchtet – ist mein Maaßstab der Größe. Bisher sind wahrscheinlich alle die Größten gerade verborgen geblieben.

1 [86]

Wer das Große nicht mehr in Gott findet, findet es überhaupt nicht vor und muß es leugnen oder – schaffen – schaffen helfen.

1 [87]

Die ungeheure Erwartung in Betreff der Geschlechtsliebe verdirbt den Frauen das Auge für alle weiteren Perspektiven.

1 [88]

Heroismus – das ist die Gesinnung eines Menschen der ein Ziel erstrebt, gegen welches berechnet er gar nicht mehr in Betracht kommt. Heroismus ist der gute Wille zum absoluten Selbst-Untergang.

Der Gegensatz des heroischen Ideals ist das Ideal der harmonischen All-Entwicklung: ein schöner Gegensatz und ein sehr wünschenswerther! Aber nur ein Ideal für gute Menschen!

1 [89]

In allem Verkehr von M<enschen> dreht es sich nur um Schwangerschaft.

1 [90]

Wenn fünf Menschen zusammen reden, muß immer ein sechster sterben.

1 [91]

Alle Mädchen glauben, daß ein Mann nur dann Freundschaft mit einem Weibe schließt, weil er nicht mehr erreichen konnte.

1 [92]

Wer das Hohe eines M<enschen> nicht sieht, sieht dessen Niedriges zu nahe und mit allzuscharfen Augen.

1 [93]

Wenn die Talente nachlassen, werden die moralischen Eigenschaften eines M<enschen> sichtbarer.

1 [94]

Die Männer gelten als grausam, aber die Weiber sind es. Die Weiber gelten als gemüthvoll, aber die Männer sind es.

1 [95]

Ah, wie ich der tragischen Gebärden und Worte satt bin!

1 [96]

Schilling, span<ische> Grammatik, Leipzig, Glockner.

1 [97]

Soll das Band nicht reißen,
Mußt du mal drauf beißen.

1 [98]

Gelegentlich habe ich eine ungeheure Geringschätzung der Guten – ihre Schwäche, ihr Nichts-Erleben-Wollen, Nicht-sehen-wollen, ihre willkürliche Blindheit, ihr banales Sich-Drehen im Gewöhnlichen und Behaglichen, ihr Vergnügen an ihren "guten Eigenschaften" usw.

1 [99]

1 [100]

Cosa bella e mortal,
Passa e non dura !!!

1 [101]

Columbus novus.

Dorthin will ich, und ich traue
Mir fortan und meinem Griff!
Offen ist das Meer: in's Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.

Alles wird mir neu und neuer
Hinter mir liegt Genua.
Muth! Stehst du doch selbst am Steuer,
Lieblichste Victoria!

(Sommer 1882)

1 [102]

Der Baum spricht.

Zu einsam wuchs ich und zu hoch:
Ich warte: worauf wart' ich doch?
Zu nah ist mir der Wolken Sitz:
Ich warte auf den ersten Blitz.

1 [103]

An das Ideal.

Wen liebt ich so wie dich, geliebter Schatten!
Ich zog dich an mich, in mich – und seitdem
Ward ich beinah zum Schatten, du zum Leibe.
Nur daß mein Auge unbelehrbar ist,
Gewöhnt, die Dinge außer sich zu sehen:
Ihm bleibst du stets das ew'ge "Außer-mir".
Ach, dieses Auge bringt mich außer mich!

1 [104]

"Die fröhliche Wissenschaft".

(Sanctus Januarius)

Dies ist kein Buch: was liegt an Büchern!
An diesen Särgen und Leichentüchern!
Vergangnes ist der Bücher Beute:
Doch hierin lebt ein ewig Heute.

1 [105]

Im Gebirge.

(1876.)

Nicht mehr zurück? Und nicht hinan?
Auch für die Gemse keine Bahn?
So wart' ich hier und fasse fest,
Was Aug' und Hand mich fassen läßt!
Fünf Fuß breit Erde, Morgenroth,
Und unter mir – Welt, Mensch und – Tod.

1 [106]

An die Freundschaft.

Heil dir, Freundschaft!
Meiner höchsten Hoffnung
Erste Morgenröthe!
Ach, ohn' Ende
Schien oft Pfad und Nacht mir,
Alles Leben
Ziellos und verhaßt!
Zweimal will ich leben,
Nun ich schau' in deiner Augen
Morgenglanz und Sieg,
Du liebste Göttin!

1 [107]

Das Wort.

Lebend'gem Worte bin ich gut:
Das springt heran so wohlgemuth,
Das grüßt mit artigem Genick,
Ist lieblich selbst im Ungeschick,

Hat Blut in sich, kann herzhaft schnauben,
Kriecht dann zum Ohre selbst den Tauben,
Und ringelt sich und flattert jetzt,
Und was es thut – das Wort ergetzt.

Doch bleibt das Wort ein zartes Wesen,
Bald krank und aber bald genesen.
Willst ihm sein kleines Leben lassen,
Mußt du es leicht und zierlich fassen,

Nicht plump betasten und bedrücken,
Es stirbt oft schon an bösen Blicken –
Und liegt dann da, so ungestalt,
So seelenlos, so arm und kalt,

Sein kleiner Leichnam arg verwandelt,
Von Tod und Sterben mißgehandelt.
Ein todtes Wort – ein häßlich Ding,
Ein klapperdürres Kling-Kling-Kling.

Pfui allen häßlichen Gewerben,
An denen Wort und Wörtchen sterben!

[Tautenburger Aufzeichnungen für Lou von Salomé]

1 [108]

1.

Menschen, die nach Größe streben, sind gewöhnlich böse Menschen; es ist ihre einzige Art, sich zu ertragen.

2.

Wer das Große nicht mehr in Gott findet, findet es überhaupt nicht vor und muß es entweder leugnen oder – schaffen (schaffenhelfen)

<3.>

[

 

]

4.

Die ungeheure Erwartung in Betreff der Geschlechtsliebe verdirbt den Frauen das Auge für alle fernen Perspektiven.

5.

Heroismus – das ist die Gesinnung eines Menschen, der ein Ziel erstrebt, gegen welches gerechnet er gar nicht mehr in Betracht kommt. Heroismus ist der gute Wille zum absoluten Selbst-Untergange.

6.

Der Gegensatz des heroischen Ideals ist das Ideal der harmonischen All-Entwicklung – ein schöner Gegensatz und ein sehr wünschenswerther! Aber nur ein Ideal für grundgute Menschen (Goethe z. B.)

Liebe ist für Männer etwas ganz Anderes als für Frauen. Den Meisten wohl ist Liebe eine Art Habsucht; den übrigen Männern ist Liebe die Anbetung einer leidenden und verhüllten Gottheit.

Wenn Freund Rée dies läse, würde er mich für toll halten.

Wie geht es? – Es gab nie einen schöneren Tag in Tautenburg als heute. Die Luft klar, mild, kräftig: so wie wir Alle sein sollten.

Von Herzen

F. N.

1 [109]

Zur Lehre vom Stil.

1.

Das Erste, was noth thut, ist Leben: der Stil soll leben.

2.

Der Stil soll dir angemessen sein in Hinsicht auf eine ganz bestimmte Person, der du dich mittheilen willst. (Gesetz der doppelten Relation.)

3.

Man muß erst genau wissen: "so und so würde ich dies sprechen und vortragen" – bevor man schreiben darf. Schreiben muß eine Nachahmung sein.

4.

Weil dem Schreibenden viele Mittel des Vortragenden fehlen, so muß er im Allgemeinen eine sehr ausdrucksvolle Art von Vortrage zum Vorbild haben: das Abbild davon, das Geschriebene, wird schon nothwendig viel blässer ausfallen.

5.

Der Reichthum an Leben verräth sich durch Reichthum an Gebärden. Man muß Alles, Länge und Kürze der Sätze, die Interpunktionen, die Wahl der Worte, die Pausen, die Reihenfolge der Argumente – als Gebärden empfinden lernen.

6.

Vorsicht vor der Periode! Zur Periode haben nur die Menschen ein Recht, die einen langen Athem auch im Sprechen haben. Bei den Meisten ist die Periode eine Affektation.

7.

Der Stil soll beweisen, daß man an seine Gedanken glaubt, und sie nicht nur denkt, sondern empfindet.

8.

Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will, um so mehr muß man erst die Sinne zu ihr verführen.

9.

Der Takt des guten Prosaikers in der Wahl seiner Mittel besteht darin, dicht an die Poesie heranzutreten, aber niemals zu ihr überzutreten.

10.

Es ist nicht artig und klug, seinem Leser die leichteren Einwände vorwegzunehmen. Es ist sehr artig und sehr klug, seinem Leser zu überlassen, die letzte Quintessenz unsrer Weisheit selber auszusprechen.

 

F. N.

Einen guten Morgen,
meine liebe Lou!

1 [110]

"Ja, ein schwaches Geschlecht!" – so reden die Männer von den Frauen, so reden auch die Frauen von sich selber: aber wer glaubt, daß sie bei dem gleichen Worte das Gleiche denken? Doch lassen wir einmal die Männer hierüber denken, was sie wollen; was meint für gewöhnlich ein Weib, wenn es von der Schwäche seines Geschlechts spricht? –

Schwäche fühlen – das ist ihm nicht nur einen Mangel an Kraft fühlen, sondern vielmehr: ein Bedürfniß nach Kraft fühlen. Es sucht nach Kraft, es blickt nach außen dabei, es will sich anlehnen es ist ganz Fühlhorn für Alles, woran es sich anlehnen könnte, es schlingt sich verlangend auch um das, was zur Stütze ungeeignet ist und versucht sich daran zu halten, ja es täuscht sich gerne über die Kraft alles Anderen, Fremden außer ihm – es glaubt in dem Grade an die Kraft außer sich als es an die Schwäche in sich glaubt. Das Gefühl der Schwäche, im äußersten Maaße empfunden, findet geradezu überall Stärke und dichtet Kraft in jedes Außer-sich hinein, mit dem es sich berührt: und wenn das Auge widersprechen sollte, so wird das Auge – zugemacht!

Dies ist in der That der Zustand, in dem das schwache Geschlecht sich befindet, und nicht nur in Beziehung auf die Männer seiner Umgebung, sondern auch in Beziehung auf Religion und Sitte: das schwache Weib glaubt an seine Unmöglichkeit, ungestützt stehen zu können und verwandelt alles, was es leiblich oder geistig umgiebt, in Stützen – es will nicht sehen, was dies Alles wirklich ist, es will nicht prüfen, ob das Geländer, an dem es über den Fluß geht, wirklich hält, es glaubt an das Geländer, weil es an seine Schwäche und Angst glaubt. Woran ein solches Weib sich anlehnt, das ist unter allen Umständen nicht die erkannte Kraft, sondern die erwartete, gewünschte und erdichtete Kraft: und je größer sein Gefühl der Schwäche war, um so mehr Kraft wird es an dem fühlen wollen, das ihm "Halt giebt". Das schwächste Weib wird aus jedem Manne einen Gott machen: und ebenso aus jedem Gebot der Sitte und Religion etwas Heiliges, Unantastbares, Letztes, Anbetungswürdiges. Es liegt auf der Hand, daß für die Entstehung der Religionen das schwache Geschlecht wichtiger ist als das starke. Und, so wie die Weiber sind, würden sie sich, wenn man sie allein ließe, aus ihrer Schwäche heraus nicht nur beständig "Männer" erschaffen, sondern auch "Götter" – und beide, wie zu vermuthen steht, einander ähnlich –: als Ungeheuer von Kraft!

1 [111]

Vom Weibe.

1 .

  1. Das weibliche Urtheil und der Glaube (Aberglaube) des Weibes in Betreff seines Urtheils.
  2. Die weibl<iche> Beurtheilung der Affekte, der einzelnen Tugenden und Laster,
  3. Das weibl<iche> Urtheil über
    Mann und Weib,
    Staat und Natur,
    Arbeit, Muße, usw.
  4. Was von der Wirklichkeit sich das Weib verhehlt.
  5. Worin es sich verpflichtet fühlt, eine Unwirklichkeit, die es als solche kennt, doch als wirklich zu behaupten.
  6. Tempo der weiblichen Affekte
  7. Die Pflege der Kinder, theils zurückbildend und hemmend, theils allzusehr entkindlichend (der weibl<iche> Rationalism) In wiefern die Weiber den Mann als Kind behandeln.
  8. In wiefern das Weib die Anderen zur guten Meinung über sich verführt und trotzdem sich dann vor dieser Meinung beugt (als vor einer Autorität)
  9. Geschichte dessen, was vom Weibe als unweiblich empfunden wird, – je nach Volk und Sittenzustand.
  10. Der weibl<iche> Glaube an irgend eine oberste weibl<iche> Tugend, welche da sein müsse, damit irgend eine höhere Natur des Weibes erreicht werden könne – und der thatsächl<iche> Wechsel dieser "obersten Tugenden".
  11. Gefühl der Vollkommenheit und Wesens-Vollendung z. B. beim Dienen, Gehorchen
  12. Schwangerschaft als der Cardinalzustand, welcher allmählich, im Verlauf der Zeiten, das Wesen des Weibes festgestellt hat. Relation aller weiblichen Denk- und Handlungsweisen dazu.
  13. Verneinen, zerstören, allein sein, kämpfen, verachten, sich rächen: warum das Weib in alledem barbarischer ist als der Mann usw. usw. usw.

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