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Die kleine Gesellschaft im Garten war also sehr heiter. Der Baron hatte einen Kasten mit Glaskugeln geholt, warf sie in die Luft und schoß danach. Er traf sie allemal, und Neumann, der es ihm nachzumachen versuchte, ärgerte sich ein wenig, daß er, der so gut mit Pistolen zu schießen verstand, es dem Baron doch nicht gleichtun konnte. Aber der Ärger war nur vorübergehend, denn plötzlich erschien ein Besuch, der Fritz Neumanns Interesse erregte. Es war Frau von Zehleneck, sehr jugendlich gekleidet und unter einem weißen Schleier so hübsch zurechtgemacht, dah sie selbst dem aufmerksamen Beschauer kaum dreißig Jahre alt erschien.

Amelie war lange nicht bei ihrer Freundin gewesen. Sie legte es ihr zur Last, daß Graf Rössing ihr bis dahin noch keinen Besuch gemacht hatte, und erging sich, andern Menschen gegenüber, in sehr bittern Bemerkungen über die Baronin. Auf die Länge aber sagte ihr der Zustand des Beleidigtseins nicht zu, und da sie gehört hatte, daß sowohl der Graf wie der reiche fremde Gutsbesitzer oft am Nachmittage bei Ada zu finden seien, so stellte auch sie sich ein.

Die Baronin begrüßte ihre Freundin mit ruhiger Freundlichkeit und wandte sich dann zu den Herren. Ehe sie aber ein Wort der Vorstellung sagen konnte, war Amelie mit ausgestreckten Händen auf den Grafen zugegangen.

Wir kennen uns, lieber Graf, sagte sie mit zitternder Stimme und einem sentimentalen Augenaufschlag.

Gewiß, Gnädigste, wir kennen uns sogar sehr gut! versetzte der Angeredete, sich kurz verbeugend. Er schien die ausgestreckten Hände nicht zu sehen und lächelte so eigentümlich, daß ihn Frau von Zehleneck unsicher anblickte und sich gleich zu Herrn Neumann wandte.

Dieser war nicht so abweisend wie Rössing. Er hatte schon unausgesetzt die großgewachsne und noch sehr schlank gebliebne Gestalt der auffallend gekleideten Dame betrachtet und sah ihr jetzt fest in die dunkeln Augen. Bald saß er neben der neuen Erscheinung und hörte andächtig auf ihre Unterhaltung.

Frau von Zehleneck hatte sehr viel vornehme Familienverbindungen, besonders nach Dänemark hin, und sie erzählte lebhaft von ihnen, als sie merkte, wieviel Eindruck sie damit hervorbrachte. Lehnsgrafen und Barone, Minister und Generale, ja sogar einige Prinzen flogen nur so um Neumanns Ohren, so daß er sich ganz dem gewöhnlichen Erdenleben entrückt vorkam. Gelegentlich erzählte Amelie auch, daß ihre fünf Kinder nicht bei ihr lebten, weil sie immer bei den Verwandten sein sollten. Aber darauf hörte Neumann nicht; er dachte nur an die vornehmen Leute, mit denen er vielleicht einmal bekannt werden könnte, und die blitzenden Augen der Dame gefielen ihm gut.

Am die Baronin bekümmerte er sich heute gar nicht. Diese fühlte sich aber nur erleichtert, daß er anderweitige Beschäftigung gefunden hatte. Ravenstein hatte sich wieder seinen Pistolen zugewandt. Er war sehr guter Laune, weil er fast keine Glaskugel verfehlte, die Rössing in die Luft warf, und erzählte dabei kleine, unbedeutende Geschichten, die weder Anfang noch Ende hatten, denen aber der Graf doch gutmütig zuhörte.

Der Sanitätsrat behauptet immer, ich schösse mich noch einmal tot, sagte der Baron. Der Sanitätsrat ist eine alte Unke! Die Hamburger sagen, ich würde bei Renz Riesenerfolg haben.

Eins von beiden würde ich einmal versuchen, murrte Rössing etwas ungeduldig.

Ravenstein lachte. Da wäre es denn doch noch zweifelhaft, welches denn von beiden das größere Übel wäre. Was meinst du, Ada? sagte er, indem er sich zu seiner Frau wandte, die sich neben die Herren gestellt hatte.

Mit ernsthaften Dingen soll man keinen Scherz treiben, erwiderte sie unmutig.

Aber es wäre doch kein ernsthaftes Ding, wenn ich im Zirkus Kunstschütze würde! rief der Baron. Ich würde vielleicht meine Finanzen dabei in Ordnung bringen!

Das würde dir schwerlich gelingen, sagte Ada lächelnd. Du weißt, wir können beide nicht mit Geld umgehen!

Er nickte etwas bekümmert, da ihm einfiel, daß er heute gerade um eine bedeutende Summe gemahnt worden war und nicht wußte, wie er sie aufbringen sollte. Er hatte gerade gar kein Geld, und der Majoratsherr, sein Bruder, konnte ihm auch nicht helfen.

Erschießen ist eigentlich ein anständiger Tod, begann er plötzlich, und der Sanitätsrat sagt –

Seine Frau legte ihm die Hand auf den Arm.

Du sollst nicht solche häßliche Sachen sprechen, Rolf! Denkst du denn gar nicht an deine Frau?

Er sah sie freundlich, wenn auch etwas erstaunt an. An dich? Nun natürlich, Ada. Du hast eigentlich einen bessern Mann verdient, einen, der etwas könnte und etwas hätte! Sieh mal, Rössing, da fliegt eine Taube! Jetzt soll die mal ihr Leben lassen!

Der Graf hatte die letzte Unterhaltung des Ehepaares nicht mit angehört. Er war an eines der Beete getreten und hatte sich eine Rose ins Knopfloch gesteckt. Nun schoß der Baron, und schwer fiel die Taube auf die Rosenbüsche.

Bald darauf gingen beide Herren mit Neumann in die Weinstube. Neumann war anfangs tief in Gedanken versunken; erst als das Ziel fast erreicht war, wandte er sich an den Grafen.

Ist Frau von Zehleneck wirklich Witwe? fragte er.

Ganz gewiß und wahrhaftig! lautete die in etwas spöttischem Tone gegebne Antwort. Nette Dame, wie?

Sehr nett! bestätigte Neumann mit einem Anflug von Begeisterung. Dann wurde er aber gleich wieder bedächtig. Sie erinnert mich an eine andre, hm, an eine andre Dame, mit der ich früher verkehrt habe.

Wird eine schöne Pflanze gewesen sein! dachte Rössing, aber er sagte es nicht. Wenn Neumann ein Gimpel war und sich fangen ließ, dann war es seine eigne Sache.

Als er am folgenden Tage bei Ravensteins vorsprach, um mit dem Baron die gemeinschaftliche Fahrt nach Fresenhagen zu verabreden, fand er diesen nicht zu Hause, und Ada war in gedrückter Stimmung. Zuerst wollte sie nicht sagen, was sie verstimmte, allmählich aber kam es doch heraus.

Rolf und ich sind beide in scheußlicher Geldverlegenheit, Graf! Ihnen kann ich es ja gestehen. Sie gehören, Gott sei Dank, nicht zu den taktvollen Menschen, die einem nach solchem Geständnis anonym hundert Taler schicken oder einem sagen, sie hätten selbst so viele Ausgaben, sie könnten nicht helfen, kurz, die einen nur demütigen. Lachen Sie mich aus – das wird mir gut tun, denn ich bin sehr traurig. Wo bleibt alles Geld, das ich in die Finger bekomme? Vor zwei Jahren erbte ich von Tante Leonore fünftausend Taler; wenn ich von dieser Summe heute auch nur noch eine Mark mein eigen nenne, dann will ich sie in Gold fassen und mit Diamanten besetzen lassen!

Auf Borg? fragte der Graf lachend, und als sie vollkommen ernsthaft zustimmte, sagte er tröstend: Hoffentlich ist bald einmal eine alte Erbtante von Ihnen so freundlich, das Zeitliche zu segnen! Dann sind Sie wieder von aller Not befreit!

Ach, reden Sie nicht so häßlich! unterbrach ihn Ada. Ich möchte selbst nicht sterben, wie kann ich das andern wünschen? Die schwarze Erde kommt früh genug! – Sie schauderte ein wenig. – Nein, da opfere ich lieber meinen Restbestand Meißner Porzellan! Der Mann in Frankfurt bezahlt recht gut, und schließlich habe ich noch immer Geld gehabt, meine Schulden zu bezahlen, wenn es auch manchmal lange genug dauerte, bis alles wieder in Ordnung kam. Am Ende kommt alles besser, als man denkt!

Mit diesen Redensarten tröstete sie sich selbst, und als ihr der Graf nun eine lustige Geschichte erzählte, wurde sie wieder ganz vergnügt.

Rössing war aber doch nachdenklich, als er seine Freundin verließ. Er hätte ihr gern geholfen, wenn es in seiner Macht gestanden hätte, aber er hatte auch nur bescheidne Mittel und mußte für seinen Sohn sparen, der trotz seiner Jugend ziemlich viel Geld brauchte. Außerdem gehörte er auch nicht zu den Naturen, die sich viel Sorgen machen. Als er an einem der folgenden Tage mit Ravenstein nach Fresenhagen zu Neumann hinausfuhr, war er sehr guter Laune, und auch der Baron blickte vergnügt um sich, während der Wagen durch Wald und Flur dahinrollte.

Famoses Wetter! sagte er. Und wie der Weizen herrlich steht! Gerade so wie auf meinem ersten Hofe, wo die Bauern weither kamen, um meine Felder herumgingen, die Pfeife im Munde, und bei jedem dritten Schritt ausspuckten. Denn sie konnten sich nicht denken, daß ein Baron etwas von der Landwirtschaft verstehe. Nun – bankrott bin ich ja auch zweimal geworden. Doch es kam nicht vom Weizen, ich weiß nicht, woher es kam! Aber wenn ich einen Taler in der Tasche habe, dann brennt es mich, bis ich ihn habe fliegen lassen! Er sah so zufrieden bei diesem Bekenntnis aus, daß Rössing lachen mußte.

Nun, heute wirst du wohl nicht gebrannt, du scheinst ganz erleichtert zu sein!

Ravenstein machte eine Handbewegung. Pah – sprechen wir nicht vom Gelde – wir können ohne Mammon leben! Ich bin immer froh, wenn ich nichts in der Tasche habe!

Er sprach harmlos, aber der Graf dachte plötzlich an Adas sorgenvolles Gesicht und ärgerte sich über den Freund.

Du hättest eigentlich nicht heiraten sollen, sagte er mit etwas scharfem Ton. Die arme Ada!

Ravenstein, der zufrieden in die grüne, sonnenbeglänzte Welt um sich geblickt hatte, wiederholte das Wort halb in Gedanken.

Die arme Ada? Nun ja – er stockte einen Augenblick. Sie hat's eigentlich nicht sehr glänzend bei mir gehabt. Im Grunde genommen wollte ich auch gar nicht heiraten, und alles kam nur, weil mein Bruder mir zuredete, und Adas Großmutter es gleichfalls zu wünschen schien. Die arme Ada! Sie hätte einen bessern Mann bekommen können – aber sie ist immer sehr gut gegen mich gewesen. Wer weiß; vielleicht kommt noch einmal ein Glück für sie. Wer weiß! –

Er hatte langsam, halb träumend gesprochen. Den Grafen überkam die unangenehme Empfindung, als hätte er ein Kind geschlagen, das sich nicht wehren kann. Darum legte er halb zärtlich die Hand auf Ravensteins Schulter. Sei nicht verdrießlich, Alter! Du und deine Frau, ihr seid beide reizende Menschen, und ich wünschte nur, ihr könntet etwas besser mit dem Gelde umgehen!

Da steht Rehwild! rief der Baron hastig. Eine Ricke mit zwei Kälbchen – siehst du sie?

Der Wagen fuhr jetzt schon durch parkartige Anlagen, und, sehr bald hielt er vor dem alten Fresenhagner Herrenhause, einem roten Backsteinbau aus dem achtzehnten Jahrhundert mit einigen Sandsteinverzierungen im Zopfstil.

Herr Neumann stand oben an der Treppe und empfing seine Gäste mit großer Höflichkeit. Obgleich ihn keinen Augenblick seine ruhige Bedächtigkeit verließ, merkte man ihm doch an, wie ihn der Besuch der zwei Herren erfreute. Er selbst war im Gesellschaftsanzug, und seine Augen leuchteten befriedigt, als er sah, daß die Gäste den Frack angelegt hatten, und daß der Graf sogar einen kleinen Orden um den Hals trug.

Er hatte für die glänzendste Aufnahme gesorgt. Die kleine Tafel in dem großen Gartensaal, an dessen Wänden allerlei Stuckverzierungen und sehr viele Spiegel angebracht waren, funkelte von Kristall und Silber; alle Speisen waren mit großer Sorgfalt zubereitet, und eiskalt perlte der Sekt in den flachen Schalen. Während die drei Herren in dem kühlen Gemach fröhlich allem Guten zusprachen, hatten sie durch die weit offenstehenden Gartentüren einen köstlichen Ausblick auf die grünen Rasenflächen des Parks und das verschiedne Laub seiner Baumgruppen. Die Sonne strahlte vom Himmel, die Vögel sangen, die ganze Welt schien im Frieden zu liegen und zur Freude aufzufordern.

Neumann war ein sehr aufmerksamer Wirt; als der Baron sich mit den andern von der Tafel erhob, hatte er das Gefühl, als hätte er unglaublich viel Champagner getrunken. Aber er bemerkte zufrieden, daß er ihn noch vertragen konnte, und er gar nicht auf unsinnige Gedanken kam, wie ihm das wohl ehemals nach reichlichem Weingenuß passiert war. Er trat mit Rössing auf die Gartenterrasse hinaus, wo der Kaffee eingenommen werden sollte, und setzte sich in einen Schaukelstuhl. Er war sehr vergnügt gewesen, so heiter wie lange nicht. Es kam wohl daher, daß er gar kein Geld mehr hatte. Das gab ihm ja immer ein Gefühl der Erleichterung. Träumerisch blickte er in den hellblauen Himmel über sich, an dem kleine weiße Wolken zogen, dann sagte er plötzlich: Arme Ada! Aber kein Mensch hörte auf ihn; Graf Rössing hatte sich an das entfernteste Ende der Terrasse gesetzt und ein Kissen unter seinen Kopf geschoben. Er war schläfrig geworden und wollte einen Augenblick nachdenken.

Neumann war ins Haus gegangen. Als er zurückkehrte, brachte er mehrere Kisten Zigarren und ein blankpoliertes Kästchen, das er vor den Baron stellte. Dieser öffnete es halb in Gedanken, wurde aber dann aufmerksam und griff nach dem Inhalt. Es waren zwei kleine, zierlich ausgelegte Pistolen von ganz besondrer Form und sehr schöner Arbeit; beide doppelläufig und geladen.

Russische Waffen, erklärte Neumann, der die Liebhaberei des Barons kannte und Lust verspürte, die beiden kostbaren Stücke den Herren zu schenken. Er wußte nur nicht recht, wie er es anfangen sollte, und schob die Absicht vorläufig hinaus.

Inzwischen kam der Kaffee, und nachdem der Baron eine Tasse getrunken hatte, erfaßte ihn seine alte Neigung zum Schießen. Im Sitzen schoß er zwei Sperlinge tot, die über den Dachfirst zu den Herren heruntersahen, dann ein Schwalbe im Fluge. Darauf griff er nach der zweiten Pistole und ging die Treppe der Terrasse hinunter, in den Garten. Dabei pfiff er leise vor sich hin und schien nach einem Ziele für die nächsten Schüsse zu spähen. Dann verschwand er in einem Boskett, und gleich darauf hörte man einen Schuß.

Dieser Mörder! sagte der Graf halb verdrießlich. – Er war plötzlich wach geworden und griff nach Kaffee und Zigarre. – Nun hat er wieder einem armen Vögelchen das Lebenslicht ausgeblasen! Wenn wir öfter kommen sollten, dann müßten Sie dem Baron Glaskugeln halten!

Das werde ich mit dem größten Vergnügen tun, versicherte Neumann, obgleich es ja den Vögeln eine Freude sein muß, von der Meisterhand des Herrn Baron zu fallen.

Rössing gähnte. Wenn er mit Neumann allein war, fand er ihn langweilig, und solche abgeschmackte Sätze fielen ihm auf die Nerven. Nachdem beide Herren noch eine Zeitlang über gleichgültige Dinge gesprochen hatten, stand der Graf auf.

Wo steckt Ravenstein eigentlich? Er kann doch dort im Boskett nicht darauf lauern wollen, ein Wild mit seiner Pistole zu schießen?

Es steht eine Bank unter den Bäumen, erwiderte Neumann. Vielleicht hat er sich einen Augenblick zurückgezogen, um etwas zu schlafen.

Beide Herren schritten langsam über den knirschenden Kiesboden, bis sie an die Büsche und Bäume kamen, wohin Ravenstein gegangen war. Jelängerjelieberstauden, Jasmin- und Fliederbüsche standen eng zusammen, und über ihnen erhoben sich einige Ahornbäume. Es war eine kleine Wildnis, aber in der Mitte stand, von Rasenflächen umgeben, eine Bank. Vor ihr lag der Baron. Sein Kopf ruhte auf abgefallnen Jasminblüten, und seine Augen waren weit geöffnet.

Als der Graf mit einem Schreckenslaut auf ihn zustürzte, versuchte er zu lächeln. Ada, arme Ada! murmelte er, die Hand hebend. Es war, als wenn er noch mehr sagen wollte, aber er konnte die Worte nicht mehr formen. Zwei, dreimal setzte er an, dann gab er den Versuch auf.

Er sprach auch nicht wieder, obgleich er noch einige Stunden lebte. Er war durch die Lunge geschossen, und der Sanitätsrat, den man durch einen Zufall, als man nach einem Doktor eilte, auf der Landstraße getroffen hatte, nahm an, daß er mit der Pistole in der Hand gestolpert sei. So war es auch wohl: niemand konnte sich etwas andres denken. Graf Rössing und Neumann mußten beide zugeben, daß der Baron sehr viel Champagner getrunken hatte und vielleicht nicht ganz sicher gewesen sei. Vielleicht hatte er den Hahn der Pistole gespannt, um einen Vogel zu schießen, hatte es aber vergessen, um gleich darauf durch eine unvorsichtige Bewegung zu fallen. Vielleicht – ach es gab noch viele Vielleicht. Nur das eine war bald eine traurige Gewißheit: ein toter Mann im Nebenkabinett des Gartensaals!

Es war ein kleines, dürftig möbliertes Zimmer, in das man Ravenstein getragen hatte. In die Wände waren ebenfalls Spiegel eingelassen, die mit halb blinden Augen auf den stillen Gast herabblickten.

Rössing hatte eine ganze Weile neben seinem toten Freunde gesessen, obgleich er dem Tode immer vorsichtig aus dem Wege gegangen war. Er hatte lange mit dem alten Sanitätsrat gesprochen, der sich, trotz aller Trauer über diesen Unglücksfall, nicht einer gewissen Befriedigung darüber erwehren konnte, daß seine Prophezeiung, der Baron würde sich noch einmal selbst erschießen, in Erfüllung gegangen war. Nun, wo er doch nichts mehr machen konnte, mußte er endlich weiter zu einem Schwerkranken fahren, und Rössing ging langsam in das anstoßende Zimmer.

Hier saß Neumann, den Kopf in die Hand gestützt, und blickte finster in den Park. Die Schatten des Abends begannen über den Rasen zu fallen, und durch die Bäume ging das leise Rauschen des Windes. Der Besitzer von Fresenhagen war so blaß und verstört, daß ihn der Graf mit Teilnahme betrachtete. Er selbst hatte sein Gleichgewicht noch nicht wieder erlangt, und es berührte ihn angenehm, daß auch der Fremde so erschüttert war.

Ich muß in die Stadt fahren, um die Baronin vorzubereiten, sagte er.

Ein entsetzliches Unglück! murmelte Neumann. Und daß es gerade bei mir geschehen mußte! Meine Pistolen! Was werden die Leute sagen! Ich werde gewiß Unannehmlichkeiten haben!

Unannehmlichkeiten! Der Graf, der sich neben Neumann gesetzt hatte und manchmal leise aufstöhnte, sah ihn fragend an.

Nun ja, hier in Deutschland kommt bei allen solchen Fällen doch sofort das Gericht und steckt seine Nase hinein. Mit diesen Leuten mag ich nichts zu tun haben.

Neumann hatte heftiger gesprochen, als es sonst seine Gewohnheit war; nun stand er auf und ging im Zimmer hin und her. Der Graf sah ihn mit seinen scharfen Augen an und vergaß für einen Augenblick seine Trauer.

Das Gericht wird Ihnen nichts anhaben können, bemerkte er ruhig. Die Herren werden wohl herkommen und sich die traurige Geschichte von uns erzählen lassen; weiter kann aber doch gar nichts geschehen.

Sehr unangenehm! sagte Neumann stehenbleibend, indem er die Augen starr auf einen Punkt heftete.

Der Graf blickte ihn noch einmal an. Sind Sie so bange vor den Gerichten? fragte er etwas spöttisch.

Neumann biß sich auf die Lippen. Ich? bange? Warum sollte ich bange sein! Ich mag nur mit diesen Leuten nichts zu tun haben, wie ich schon einmal sagte. Aber Sie haben Recht: ich muß leider Ihren Wagen bestellen.

Während Neumann das Zimmer verließ, legte der Graf beide Hände vor die Augen. Er war kein Gefühlsmensch und lachte oft über die Sentimentalität unsrer Tage. Aber wie er sich vorstellte, daß er nun mit der schrecklichen Botschaft vor Ada treten sollte, zitterte ihm doch das Herz in der Brust.

Aber es kam besser, als er gedacht hatte. Ada wollte zwar zuerst nicht fassen, daß das Entsetzliche wahr sei, war dann tieftraurig und gebeugt, aber doch von Anfang an gefaßt. Sie bekam keine Weinkrämpfe, wie sie der Graf allen Frauen bei einer Trauerbotschaft zutraute; sie warf sich nicht auf die Erde und raufte ihr Haar: sie saß nach den ersten Schreckenslauten ganz still und faltete die Hände.

Er war immer sehr gut, wiederholte sie, während ihre Tränen leise flossen – mehr sagte sie nicht über ihren Mann.

Es war nur eine kleine Grabrede, aber sie gefiel dem Grafen doch nicht schlecht. Als nach einigen Tagen der Hauptpastor des Ortes dem Baron die Trauerrede hielt und es für seine Pflicht hielt, den Toten nach allen Richtungen zu loben, obgleich er ihn bei Lebzeiten nicht hatte ausstehen können, da mußte Rössing wieder an die Worte der Frau von Ravenstein denken, die so wenig und doch alles enthielten, was vom Baron gesagt werden konnte.

Ada war auch sonst keine untröstliche Witwe. Sie war eben für die Veränderung, und der Umstand, daß sie so viel Beileidsschreiben und Besuche erhielt, tat ihrem Herzen wohl. Und obgleich ihre Finanzen durch den Tod ihres Mannes noch viel schlechter geworden waren, bestellte sie doch gleich ein teures Grabmal für ihn. Stundenlang konnte sie jetzt sitzen und über die Inschrift darauf nachdenken. Sie las bei dieser Gelegenheit viele Kapitel der Bibel durch, und wenn sie nicht mehr lesen mochte, dann ging sie langsam in ihrem kleinen Garten auf und nieder. An dem Platz, wo Ravenstein nach Glaskugeln geschossen hatte, stand sie manchmal eine Viertelstunde und sah ernsthaft vor sich hin.

Als der Herbst kam, mußte Rössing seiner Gesundheit wegen nach dem Süden. Er tat es widerstrebend; ihm kam es vor, als ließe er die Freundin sehr einsam zurück. Sie sagte aber kein Wort, als er Abschied nahm, und als er von ihrer Einsamkeit sprach, nickte sie nur flüchtig.

Es ist manchmal ganz gut, allein zu sein und ein wenig nachdenken zu können! sagte sie.

Rössing hatte das unangenehme Gefühl, daß sie ihn nicht einmal entbehren würde. Da ging er denn verdrießlich fort und schalt auf alle Weiber.

Nachdem er abgereist war, machte Neumann bei Frau von Ravenstein einen Besuch, und sie nahm ihn freundlich auf. Er war nur zum Kondolieren bei ihr gewesen und hatte sich seitdem von der Stadt und ihrem Umgang ferngehalten. Mit dem Baron Ravenstein war ihm auch der beste Freund vom Stammtisch verlorengegangen; den andern Herren stand er unsicher gegenüber, und der Graf Rössing hatte etwas Unheimliches für ihn bekommen. So hatte er in Zurückgezogenheit gelebt, obgleich ihn das Gericht, wie es natürlich war, wegen Ravensteins Tod nicht belästigt hatte, und erst als er hörte, daß der Graf abgereist sei, meldete er sich wieder bei der Baronin.

Seine Gedanken waren oft bei der liebenswürdigen, noch immer jugendlichen Frau gewesen. Die Stunden bei ihr standen ihm in angenehmster Erinnerung, und auf Fresenhagen fühlte er sich einsam. Als er sie nun vor sich sah, in tiefe Trauer gekleidet und doch freundlich, da bewegte sich etwas in seinem Innern, das er schon lange vergessen geglaubt hatte. Es fiel ihm plötzlich ein, daß Ada seine Jugendliebe gewesen sei, daß sie noch sehr gut aussehe, und daß es für ihn nur angenehm sein könne, eine vornehme Frau zu heiraten. Seine Stellung würde in der ganzen Gegend eine andre werden, wenn er mit dem halben Adel versippt und verschwägert würde, er selbst wäre nicht mehr einsam, und außerdem tue er ein gutes Werk. Denn alle Welt sprach von Adas Schulden, die schon lange selbst das den vornehmen Leuten erlaubte Maß überschritten hatten.

Trotz seiner äußern Bedächtigkeit war Neumann doch ein Mann schneller Entschlüsse. Er besuchte Frau von Ravenstein eine Woche hindurch jeden Tag, und da er sich nicht anstrengte, unterhaltend zu sein und auch nicht lange blieb, so machte er keinen ungünstigen Eindruck auf sie. Er sprach jedesmal vom Baron, und seine ruhige, anscheinend mitfühlende Art rührte die verwitwete Frau. Nachdem die erste Neuheit von ihrer Trauer abgestreift war, bekam sie nicht mehr viel Besuch und hatte oft einsame Stunden. Nun kam Neumann und zeigte ihr seine Treue. Das war immerhin gut von ihm; und als er nun, nach achttägigem täglichen Sehen, alles Ernstes um ihre Hand anhielt, fiel Ada nicht gleich in Ohnmacht, wie sich dies für eine eben verwitwete Frau wohl geschickt hätte, sondern sie hörte ihm schweigend zu.

Für eine ältere Dame ist es nie ohne Reiz, einen Heiratsantrag zu bekommen, und Neumann sprach sehr vernünftig. Die Liebe ließ er ganz aus dem Spiel; nicht einmal von der ersten sprach er, weil er schon gar nicht mehr an sie dachte, aber seine Worte klangen doch wohltuend. Er wollte nicht von einer baldigen Vereinigung reden, da diese keinesfalls vor Ablauf des Trauerjahres erfolgen durfte und auch dann noch hinausgeschoben werden konnte; er wollte nur das Recht haben, Frau von Ravenstein als Freund und Berater zu besuchen und ihr nahezustehen, bis sie ihn endlich vielleicht würdig finden würde, ihm ihre Hand zu reichen und Herrin von Fresenhagen zu werden. Er sprach wirklich gut und mit einer leichten Verlegenheit, die ihm nicht schlecht stand, und die daher kam, daß er die Verbindung mit Ada augenblicklich sehr lebhaft wünschte und immer fürchtete, sie würde nein sagen. Aber das tat sie doch nicht. Sie machte allerdings ein etwas zweifelndes Gesicht und seufzte mehreremal, als wenn sie sich nicht recht entschließen könnte; dann aber streckte sie Neumann zögernd die Hand entgegen. Sie dachte plötzlich an ihre erste Liebe und daran, daß es doch eigentlich lustig sei, ihr wieder zu begegnen. Was ihre Großmutter wohl gesagt haben würde! Das war eigentlich der Grundton ihrer Gedanken und stimmte sie heiter. Es war eine ruhige Verlobung. Weder Neumann noch die Baronin machten viel Gefühlsaufwand. Er war zufrieden, daß er bald in der adligen Gesellschaft festen Fuß fassen würde, wie es sich für einen Gutsbesitzer gehörte, und als er sich von seiner Braut trennte und über die Straße nach dem Wirtshaus ging, wo sein Wagen stand, pfiff er ein Lied vor sich hin, was ihn selbst so überraschte, daß er einen Augenblick stehenblieb und nachdachte, was denn eigentlich passiert sei. Dann pfiff er weiter.

Die Baronin war, nachdem sie Neumann verlassen hatte, in das Zimmer ihres verstorbenen Mannes gegangen. Es war ein sehr einfach eingerichtetes Gemach, mit einem alten Schreibtisch aus Tannenholz und einem Reitstuhl davor, der ehemals vielleicht gute Tage gesehen hatte. Nun war er alt und schäbig wie die ganze andre Einrichtung. Nur an den Wänden hingen einige schöne Waffen, und auf dem Schreibtisch lagen beschriebne Blätter. Das war das Buch über Waffenkunde, das der Baron seit zwanzig Jahren hatte schreiben wollen, über dessen Anfang er aber nie weit hinausgekommen war, obgleich auf einem der Blätter alle Kapitelüberschriften aufgezeichnet standen. Die Baronin wischte hier täglich den Staub ab, gerade so wie bei Lebzeiten ihres Mannes, und gerade so wie sonst lachte sie auch in dieser Zeit gutmütig über die kleinen literarischen Versuche, auf die Ravenstein so stolz gewesen war. Heute aber setzte sie sich in einen knarrenden Korbstuhl und weinte. Da aber niemand sie fragte, weshalb sie so traurig sei, so sagte sie es auch keinem.


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