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Die erste Liebe

In einem Häuschen, das etwas außerhalb der kleinen Stadt lag, wohnten der Baron und die Baronin Ravenstein. Der Baron war ein älterer, zierlich gewachsener Herr mit stark gefärbtem Schnurrbart und sehr artigem Auftreten; die Baronin mochte etwa zwanzig Jahre jünger sein als ihr Mann und konnte oft noch etwas sehr Jugendliches in ihrem Wesen haben. Sie war gutmütig und frisch, hatte Freude an Witzen und lustigen Geschichten, und die Leute sagten, sie sei viel klüger als der Baron und langweile sich mit ihm. Ob diese Behauptung richtig war, konnte aber niemand mit Sicherheit nachweisen. Jedenfalls lebte das Ehepaar in vollständiger Einigkeit nebeneinander hin, und wenn der Baron sehr regelmäßig dreimal täglich ins Wirtshaus, aber niemals mit seiner Frau spazieren ging oder sich sonst mit ihr öffentlich zeigte, so kam das einfach daher, daß er keine Zeit für sie und sie keine für ihn hatte. Das war von jeher so gewesen. Der Baron saß entweder in der Weinstube oder schrieb an einem Buche über Schußwaffen, das er schon seit Jahren in Arbeit hatte; die Baronin malte, kochte, nähte, strickte, rauchte Zigarren, pflegte arme Leute, kurz, sie tat alles, was eine Frau tun, und was sie nicht tun soll. Denn sie machte auch häufig Schulden. Ihren Mann aber schien sie niemals nötig zu haben, weder bei ihren guten noch bei ihren anfechtbaren Taten, und deshalb hatten sich alle ihre Bekannten daran gewöhnt, sie ohne ihn einzuladen und ihn niemals bei ihr im Hause zu sehen. Auf der andern Seite sprach der Stammtisch, an dem der Baron die Hälfte seines Tages verbrachte, niemals von der Baronin. Aber es gab niemand in der kleinen Stadt, der sich nicht längst an die beiden Menschen gewöhnt gehabt hätte. Sie waren eben nicht eins, sondern zwei ganz getrennte Persönlichkeiten, und das erfuhren insbesondre manchmal die Kaufleute, wenn sie sich etwa an den Baron wandten, um eine Rechnung seiner Frau Gemahlin bezahlt zu bekommen. Er drehte dann sehr nachdenklich seinen tiefschwarzen Schnurrbart und räusperte sich.

Also wieder nicht bezahlt! Wenn ich meine Frau gelegentlich sehe, lieber Herr Meier, dann will ich es ihr sagen. Ich mache mir einen Knoten ins Taschentuch, sehen Sie?

Aber der Knoten im Taschentuch half doch nichts, er sagte ihr niemals etwas, und die Lieferanten mußten schon die Baronin selbst aufsuchen.

Sie wurden dann sehr freundlich aufgenommen. Ach bitte, setzen Sie sich doch! Wollen Sie nicht eine Zigarre? Es ist eine gute Sorte – von Ihnen selbst! Ach, dabei fällt mir ein, ich habe sie wohl noch gar nicht bezahlt! Wie leichtsinnig! Sind Sie mir böse?

Der Schuldner war schon lange nicht mehr böse. Er ärgerte sich nur, daß er nicht den hundertsten Mahnbrief geschrieben hatte, anstatt sich dem Klange dieser frischen Stimme und dem harmlos freundlichen Blick dieser Augen auszusetzen. Die Baronin hatte eine merkwürdig jugendliche Stimme, obgleich sie über vierzig Jahre alt war. Nun kniete sie vor einem kleinen Schrank nieder, aus dem beim Öffnen alles mögliche hervorquoll, und holte ganz von unten ein verstäubtes Bild hervor.

Sehen Sie, das ist eine Viehherde, die habe ich gemalt! Sie müssen es nicht verkehrt halten, dann ist es nicht zu erkennen; aber wenn Sie es gerade vor sich hinhalten und das Licht hell darauf fallen lassen, werden Sie doch die Kühe darauf sehen können! Ich werde das Bild fertig malen und es zu verkaufen suchen. Nicht wahr, Herr Meier, solange darf ich noch mit der Bezahlung der alten, dummen Rechnung warten? Oder muß ich die alten Tassen dort überm Kamin verkaufen? Sie sind das letzte Andenken von meiner Großmutter!

Nein, erwiderte Herr Meier, die Baronin möchte die Tassen nicht verkaufen. Herr Meier kam sich plötzlich wie ein Barbar vor; denn es fiel ihm ein, daß die Baronin vor einigen Wochen seinen kleinen Jungen auf der Straße mit einem Loch im Kopfe gefunden, ihn mitgenommen, ihn gewaschen und verbunden hatte. Weil er zornig auf Frau von Ravenstein war, hatte er sich nicht bedankt; nun stotterte er seinen Dank und murmelte dabei, daß er gern einen Strich durch die Rechnung machen wolle, wenn nur keine neuen Schulden aufliefen.

Die Baronin lächelte, ihre kleine Gestalt richtete sich aber sehr gerade in die Höhe.

Oh, Sie bekommen Ihr Geld schon, sagte sie mit einer Handbewegung. Es war nämlich einer von den Widersprüchen in ihrem Charakter, daß sie sich nichts schenken lassen wollte, trotz ihrer Neigung zum Schuldenmachen; und wirklich, nach einiger Zeit bezahlte sie ihre Rechnung. Der Antiquitätenhändler in Frankfurt wußte, wie sie es machte, und Herr Meier ärgerte sich, daß er sie gemahnt hatte.

So war es immer mit Frau von Ravenstein. Die Leute fanden allerhand an ihr auszusetzen, und sie hatte auch ihre unleugbaren Schwächen; aber jeder, der mit ihr in Berührung kam, mußte ihr doch zugetan sein.

Es gab sogar Damen, die sie zu kopieren suchten, und zu diesen gehörte Frau von Zehleneck, eine Verwandte und Jugendbekannte Ada Ravensteins, die als Witwe in der kleinen Stadt lebte und ungemein lebenslustig war. Sie brach zwar jedesmal in Tränen aus, wenn sie am Kirchhofe vorüberging, weil er sie an ihren toten Mann erinnerte; aber da sie diesem Manne bei seinen Lebzeiten mehrere Male fortgelaufen war, so wunderte sich niemand, wenn sie nach dem Weinen bald wieder lachte. Sie stand in dem Rufe, daß sie gern eine zweite Ehe eingegangen wäre, aber es hatte sich noch niemand gefunden, der sie hätte heiraten wollen.

Das kommt von meinen fünf Kindern, sagte sie zu Ada Ravenstein, als sie dieser einmal ihre Vereinsamung klagte. Ich hätte zwei Partien machen können, aber die Kinder! Und sie sind doch alle im Kadettenkorps oder bei Verwandten untergebracht! Ihretwegen könnte ich schon heiraten! – Bei diesen Worten sah sie in den Spiegel, der eine sehr wohlkonservierte dunkle Dame mit funkelnden Augen zurückgab. – Wahrhaftig, Ada, ich kann es noch mit manchem Backfisch aufnehmen.

Ada nickte. Sie strickte gerade für den Armenverein und war friedlich gesinnt; deshalb sagte sie nichts. Amelie Zehleneck freute sich dieses zustimmenden Schweigens und sprach weiter.

Du hast es gut, Ada! Keine Kinder, einen Mann, der sich gar nicht um dich kümmert – wirklich zu nett! Wenn ich mir denke, wie Julius manchmal mit mir war! Nun, er ist tot, Friede seiner Asche! Er ist manchmal scheußlich gegen mich gewesen, aber übers Grab hinaus trage ich ihm nicht das geringste nach! Weißt du übrigens, daß Wally Rössing hierher zieht?

Die Baronin, die ihrer Freundin mit einem flüchtigen Lächeln zugehört hatte, blickte auf.

Graf Rössing zieht hierher? Ich habe kein Wort davon gehört!

Ja, sagte Amelie. Gestern ist schon ein Kaffee ihm zu Ehren gegeben worden, wo ausschließlich über diesen neuen Zuwachs unsrer Gesellschaft gesprochen wurde. Seine Frau ist seit einem Jahre tot, sein Sohn ist irgendwo auf der Schule oder auf der Universität – er kommt hierher! Sie seufzte und blickte wieder in den Spiegel.

Weshalb bist du denn so traurig? fragte Ada harmlos.

Aber Liebste, du weißt doch, daß Rössing und ich eigentlich verlobt waren? Ach, es ist lange her, ich war siebzehn Jahre alt, aber ich glaube sicher, daß er meine erste Liebe war! Die seine war ich, das hat er mir damals mehr als einmal gesagt. Es wäre alles so gut gegangen, wenn nicht der dumme Krieg gekommen wäre, der uns die dänische Einquartierung bringen mußte. Es war ein so niedlicher kleiner Leutnant dabei! Herr von Petersen hieß er allerdings, und ich dachte mir natürlich gar nichts bei seinen Aufmerksamkeiten, aber Wally muß sich plötzlich etwas dabei gedacht haben! Er schrieb mir einen Absagebrief; ich ärgere mich noch, wenn ich an den denke! Nun, da war die Geschichte aus, und jeder von uns heiratete einen andern!

Rössing soll sehr glücklich mit seiner Frau gelebt haben, sagte die Baronin.

Frau von Zehleneck zuckte die Achseln. So sagt man! bemerkte sie kurz. Aber die erste Liebe bleibt doch die erste Liebe. Das mußt du doch auch wissen; du warst ja ebenfalls mit einem schleswig-holsteinischen Offizier so gut wie verlobt. Ich glaube, sein Vater war Bäcker, und deine Großmutter prügelte deinen Anbeter, als die Sache herauskam. So erzählte wenigstens mein Vater.

Die Baronin hatte ihr Strickzeug in den Schoß gleiten lassen und machte ein spöttisches Gesicht.

Was dein Vater erzählte, war bekanntlich niemals wahr! bemerkte sie gleichmütig. Du wirst dich erinnern, daß, als er tot war, keiner aus seiner Familie zur Beerdigung kommen wollte, weil jeder glaubte, er löge nur. Nein, Großmutter hat den kleinen Fritz Neumann niemals geprügelt, dazu war sie denn doch zu sehr große Dame, aber aus dem Hause komplimentiert ist er worden. Sein Vater war auch kein Bäcker, sondern ein Kaufmann, und er selbst ein halber Student. Es war eine Kinderei! setzte sie halb lachend hinzu.

Aber es war doch deine erste Liebe! rief Frau von Zehleneck. Hast du eigentlich nie wieder etwas von ihm gehört?

Frau von Ravenstein strickte schon wieder. Ich glaube, er ist nach Amerika gegangen, antwortete sie ruhig.

Die Freundin stand auf. Also deine erste Liebe ist in die Ferne gegangen, und die meine kommt wieder. So sind die Geschicke der Menschen verschieden.

Als sie Abschied genommen hatte, saß Frau von Ravenstein einen Augenblick mit nachdenklicher Miene da und vergaß ihr Strickzeug. An den blassen schleswig-holsteinischen Offizier, der auf ihrem elterlichen Gute einquartiert gewesen war, hatte sie lange nicht gedacht. Nun stand er plötzlich vor ihr, jener lange, blonde Mensch, der so wenig sprach und keine besonders feinen Manieren hatte, der aber doch von allen wie ein Held angestaunt wurde. Denn er war von den Dänen verwundet worden, ein Held, ein Vaterlandsverteidiger! Ada hatte sich mit ihren siebzehn Jahren natürlich gleich in ihn verliebt, sie hatte von ihm geträumt und hätte sich gern von ihm entführen lassen, wenn Fritz Neumann Lust dazu gehabt hätte. So weit war es aber, Gott sei Dank, nicht gekommen. Die Baronin empfand wirklich Dankbarkeit gegen Gott bei diesem Gedanken, aber sie wurde doch auch von einer vorübergehenden Rührung erfaßt, wenn sie dachte, wie unglücklich sie eine Zeitlang nach dem Abschied von ihrer ersten Liebe gewesen war. Ein dunkler Platz in der großen Allee vorm Herrenhause stand plötzlich in ihrer Erinnerung. Dort hatte Fritz Neumann ihr den ersten und letzten Kuß gegeben, und sie hatte lange Zeit nicht ohne tiefe Bewegung an diesem Fleck Erde vorübergehen können.

Ja, das waren vergangne Zeiten! Die Baronin lachte etwas vor sich hin, und als jetzt ihr Mann den Kopf in die halbgeöffnete Türspalte steckte, rief sie, er möchte doch hereinkommen.

Herr von Ravenstein gehorchte sofort. Er war eigentlich nicht gewohnt, nachmittags mit seiner Frau zu sprechen, und hatte nur aus flüchtiger Neugier in ihr Zimmer gesehen. Aber er war viel zu höflich, um dem Wunsche seiner Gattin nicht zu entsprechen.

Warst du in der Weinstube, Rudolf? fragte sie ihn jetzt.

Natürlich; da bin ich ja um diese Tageszeit immer!

War es interessant?

Der Baron sah sie etwas erstaunt an.

Ja, es war ausnahmsweise interessant, und es freut mich, daß du mich danach fragst. Zwei fremde Herren aus Hamburg waren da, wir kamen aufs Pistolenschießen zu sprechen, und ich habe ihnen etwas vorschießen müssen. Erst im Zimmer, dann im Garten. August, der Kellner, war allerdings erst etwas ängstlich, als ich ihm den Taler aus den Fingern wegschießen wollte, nachher aber besann er sich. Sehr hübsch war es, als er mir später ganz ahnungslos das Profil seiner Gestalt zuwendete, und ich ihm den obersten Knopf aus seiner Jacke schoß!

Ravenstein hatte sehr lebhaft gesprochen. Es war die größte Freude seines Lebens, weit und breit für den besten Pistolenschützen zu gelten, er übte die Kunst so oft wie möglich aus.

Seine Frau sah ihn mit einem nachsichtigen Lächeln an. Nun, wunderten sich auch die Herren aus Hamburg über dich?

Gewiß! Sie sagten, ich würde sofort eine Anstellung bei Renz bekommen. Auch die andern Bekannten lobten mich; nur der Sanitätsrat war in seiner Unkenstimmung und sagte, ich würde mich noch einmal totschießen. Aber er war schlechter Laune. Denn der alte Etatsrat, der vor einiger Zeit hierhergezogen ist, und den wir alle nicht leiden können, hat einen Podagraanfall gehabt und unsern Doktor zu seinem Leibarzt gemacht. Diese Ehre hat ihn riesig verstimmt, der Etatsrat ist eben zu langweilig.

Was wollten denn die Herren aus Hamburg hier? fragte die Baronin, die gern etwas Neues hörte.

Es waren zwei Unterhändler, die das Gut Fresenhagen an einen reichen Herrn verkauft haben. An irgend jemand aus Amerika oder Australien, ich habe nicht darauf geachtet.

Er wird vielleicht nur aus Bremen oder Lübeck sein, meinte Ada gleichgültig.

Ihr Mann stand auf. Auch möglich, sagte er. Ich habe nicht danach gefragt. Aber es ist irgendein Fremder mit einem sehr gewöhnlichen Namen. Und nun darf ich mich wohl zurückziehen, liebe Ada? Denke dir, mir sind heute alle Kapitelüberschriften meines Buches eingefallen! Wenn ich die einmal habe, wird das Werk bald fertig sein, ich muß mich an die Arbeit setzen.

Rolf Ravenstein ging, und seine Frau legte ihr Strickzeug zur Seite und vertiefte sich in einen französischen Roman. Es war ihr ganz selbstverständlich, daß ihr Mann sich mit nichts anderm als Pistolenschießen, am Stammtisch sitzen und gelegentlich etwas Schreiben beschäftigte, und daß sie niemals über sein tatenloses Dasein nachdachte.

Diese Unterhaltung hatte im Frühling stattgefunden. Nun hatte sich ein warmer Sommer mit den milden, sonnenlosen Tagen eingestellt, wie sie im Norden so häufig sind, und die Baronin saß viel in ihrem Garten. Der war wenig gepflegt und bestand nur aus einigen zerzausten Blumenbeeten, aber er hatte eine sehr geräumige grüne Laube und einen wundervollen Blick auf den blauen Landsee und seine sanft ansteigenden Ufer. Auch der Baron war oft im Garten. Entweder schoß er hier nach Glaskugeln, die er in die Luft warf, oder er saß bei seiner Frau und sah ihr bei ihren Beschäftigungen zu. Früher hatte er das nicht getan, aber in diesem Jahre war er so allmählich in die Gewohnheit gekommen, hin und wieder mit Ada zusammen zu sein, und es gefiel ihm ganz gut. Obgleich er vor bald zwanzig Jahren nicht aus Liebe, sondern auf den Wunsch seines ältern Bruders, des Majoratsherrn, geheiratet hatte, war ihm doch das Zusammenleben mit seiner Frau immer ganz bequem gewesen. Von Liebe hatten beide niemals gesprochen. Von solchen Dingen wisse Ada noch gar nichts, hatte ihre Großmutter damals gesagt, die die Heirat zustande brachte. Ada war ein vermögensloses adliges Mädchen und mußte sich freuen, eine standesgemäße Partie machen zu können.

Der Baron mußte in diesem Sommer manchmal an die alte hochmütige Dame denken, vor der er immer Angst gehabt hatte. Wie gut, daß ihr Ada gar nicht ähnlich sah! Er blickte zufrieden in ihr schmales, etwas farbloses Gesicht, das sich gerade eifrig über ein Buch von David Strauß beugte. Der Pastor hatte neulich von der Kanzel davor gewarnt; nun hatte die Baronin ein Armband verkauft, um die verbotne Frucht kennenzulernen. Aber sie war nicht immer auf das Lesen versessen. Oft saß sie müßig und unterhielt sich mit Graf Waldemar Rössing, der seit einigen Wochen seinen Wohnsitz in der kleinen Stadt aufgeschlagen hatte und sie oft besuchte. Er war ein mittelgroßer Herr mit kurzgeschornen, eisgrauen Haaren und einem Raubvogelgesicht, aus dem dunkle, unruhige Augen blickten. Seine Art zu sprechen war nicht immer angenehm, da er sich über sehr viele Menschen, besonders über die Frauen lustig machte und gern kleine boshafte Geschichten von ihnen erzählte. Aber er fühlte sich doch oft einsam, und da er die Baronin von früher her kannte, so plauderte er gern mit ihr: von seinem Hause, das er sich eben gekauft hatte, von seinem Sohne, der viel Geld brauchte, von alten Familiengeschichten. Er war außerdem ein guter Menschenkenner, und Adas Charakter gefiel ihm trotz mancher Eigentümlichkeiten.

Sie sind ein merkwürdig gleichgültiges Wesen, sagte er einmal zu ihr. Ihr Enthusiasmus, Ihre plötzliche Nächstenliebe sind nur Ausflüsse von Stimmungen, und im ganzen empfinden Sie wenig!

Sie sah ihn erstaunt und belustigt an.

Also ganz empfindungslos? Ich weiß doch nicht – sie wurde nachdenklich. Aber von Stimmungen hänge ich allerdings ab und hätte in dieser Beziehung gut ins Mittelalter gepaßt. Heute könnte ich mich im Vollgefühl meiner Sünde halbtot geißeln, und morgen wüßte ich nicht wohin mit meiner Lebensfreude und Lebenslust!

Lebensfreude! Der Graf machte ein verdrießliches Gesicht. Das Wort macht Zahnschmerzen!

Besuchen Sie Amelie Zehleneck! riet die Baronin. Dann werden Sie vielleicht etwas besser gestimmt! Sie ist schon sehr böse auf mich, weil sie meint, daß ich Sie von einem Besuch bei ihr zurückhielte!

Der Graf wurde noch grämlicher.

Mit Amelie mag ich nichts zu tun haben, sagte er. Sie hat viele Ahnen und ist vom ältesten Adel, aber sie weiß nicht, was adlige Gesinnung ist. Ich bin zwar selbst niemals viel wert gewesen, aber bei Amelie ärgere ich mich doch.

Aber sie war doch Ihre erste Liebe, platzte Ada heraus.

Eben deswegen, sagte Rössing gelassen. Wenn man merkt, daß man in seiner goldnen Jugend einen so niederträchtig schlechten Geschmack gehabt hat, dann ärgert man sich. Wäre Amelie vor zwanzig Jahren gestorben, dann würde sie in meinem Herzen mit einem kleinen Heiligenschein weiter leben. Es ist ungeschickt von ihr, daß sie nicht tot ist, denn sie ist eine wandelnde Enttäuschung für mich. Vor etwa zehn Jahren, als ich sie wiedersah, habe ich dies empfunden. Da trafen wir uns auf irgendeinem Hoffest. Sie war sehr geschminkt, kokettierte nach allen Seiten, und als sie mich sah, tat sie einen Schrei, der gefühlvoll klingen sollte. Nachher sagte jemand, sie wäre beinahe ohnmächtig geworden, weil sie ihre erste Liebe wiedergesehen hätte. Das war ich; ich schämte mich schon damals dieser ersten Liebe!

Die Baronin hatte ihrem Besuch nachdenklich zugehört. In den Romanen wird die erste Liebe immer gepriesen, sagte sie jetzt halb verlegen. Denn es kam ihr so vor, als würde sie sich auch nicht freuen, ihrer ersten Liebe wieder zu begegnen.

Man darf sie eben niemals wiedersehen! versicherte Rössing im Weggehen, und obgleich Ada ihn einen gefühllosen Menschen schalt, war sie doch seiner Meinung.

Sie ahnte nicht, daß das stille Leben der kleinen Stadt doch noch eine Überraschung für sie zutage fördern sollte. Diese war das plötzliche Auftauchen Herrn Friedrich Neumanns, desselben Herrn, der sie einmal im Dunkeln geküßt hatte. Der Baron brachte ihn eines Tages mit nach Hause. Er war der neue Besitzer des schönen alten Gutes Fresenhagen, der an den Stammtisch der Weinstube gegangen war, um Bekanntschaften zu machen, und der mit dem Baron gleich Freundschaft geschlossen hatte. Ravenstein hatte sehr viel Interesse für Landwirtschaft. Er war vor seiner Verheiratung schon auf zwei Höfen bankrott geworden und konnte deswegen gut Ratschläge erteilen, und Herr Neumann verstand fast gar nichts von der Bewirtschaftung eines Gutes und noch viel weniger von der Behandlung seines Wildbestandes. Da war es denn gut, daß er sich gleich an den Baron wandte, der ihm mit Wonne alles sagte, was er wußte, und ihn mit sich nach Hause nahm, um ihm ein Buch über die Jagd zu leihen.

Frau von Ravenstein war im Zimmer ihres Mannes, als dieser mit dem Besuch eintrat. Sie war bei der Vorstellung sehr überrascht, faßte sich aber schnell und betrachtete nicht ohne Interesse die magre, etwas vornübergebeugte Gestalt des Jugendfreundes, den die Jahre nicht verschönt hatten. Er war noch gerade so blaß wie damals, und seine hellen Augen blickten etwas verschwommen. Seine Stimme aber klang gleichmäßig ruhig, und der starke englische Akzent, den er sich angewöhnt hatte, verlieh ihm etwas angenehm Fremdartiges.

Neumann regte sich ebensowenig bei dem Wiedersehen auf. Er sprach vollständig harmlos von den alten, vergnügten Zeiten, erwähnte häufig seine zarte Gesundheit, die ihn nötige, auf dem Lande zu leben, und legte einigen Nachdruck darauf, daß seine frühere Verwundung ihm noch immer zu schaffen mache. Diese letzte Bemerkung rührte den Baron. Er war auch schleswig-holsteinischer Freiheitskämpfer gewesen, das lustige Soldatenleben hatte ihm gut gefallen, und an seine Kameraden dachte er mit großer Freundlichkeit. Neumann war also, von Achtundvierzig her, sein Kamerad, und daß sein Kamerad vom Kriege her noch Schmerzen hatte, tat ihm sehr leid. Obgleich er sonst eigentlich niemand einlud, ihn zu besuchen, forderte er doch Neumann dringend dazu auf, und der neue Gutsbesitzer, der sich in seinem alten Herrenhause und unter den vielen neuen Menschen ungemütlich fühlte, kam nur zu gern.

Neumann war niemals ein sehr großartiger Charakter gewesen, obgleich er für die Freiheit gekämpft hatte; aber er gehörte nicht zu den schlechten Menschen. Er dachte vor allem an sich, tat aber auch andern nichts zuleide und hatte das Bedürfnis, mit gebildeten, womöglich auch vornehmen Menschen zu verkehren. Dieses Bedürfnis hatte er immer gehabt, und sein Aufenthalt im Westen von Nordamerika hatte es nicht verringert. Dort hatte er nämlich fast zwanzig Jahre gelebt und ein anscheinend recht beträchtliches Vermögen erworben. Gelegentlich erzählte er diese Tatsache, aber nichts Näheres von seinem Leben dort. Es fragte ihn auch niemand danach. Er war ein früherer Offizier und Waffenbruder Ravensteins, das war für den ausschlaggebenden Stammtisch in der Weinstube genügend; und Ravenstein machte sich von dem Leben in Amerika eine so allgemeine, freundliche Vorstellung, daß er gar nicht weiter darüber nachdachte, was man dort wohl tun könne. Nach seiner Ansicht schoß man in dem großen, fernen Lande sehr kapitale graue Bären und löschte seinen Durst später an einer Quelle, deren Steine goldhaltig waren. Dort mußte man also sehr leicht reich werden können, und es tat dem guten Baron nur leid, daß er in seiner Jugend auch nicht einmal drüben gewesen war. Die Baronin hatte noch liebenswürdigere Gedanken über Amerika. Die grauen Bären waren ihr gleichgültig, sie dachte mehr an Paradiesvögel und Diamanten und an ein fröhliches, sorgenloses Leben, ohne Rechnungen und ohne Mahnbriefe. Wenn nun auch Herr Neumann gelegentlich eine Äußerung tat, die darauf schließen ließ, daß die Paradiesvögel und die Diamanten nicht gerade eine hervorragende Rolle in seinem Leben gespielt hätten, so achtete doch Ada wenig darauf. Sie war im Laufe des Sommers wieder ganz vertraut mit Neumann geworden, und wenn sie auch sein etwas ungeschicktes Wesen manchmal langweilte, so ergötzte es sie doch, ihn etwas erziehen zu können. Sie gewöhnte ihm seine englischen Redensarten, seinen schweren, englischen Akzent ab, sie gab ihm einige Anweisungen in der feinern Redensart, und der ehemalige Leutnant lernte schnell und eifrig. Er hatte doch das Bewußtsein, daß ihm etwas abhanden gekommen sei, und seine Gelehrigkeit machte der Baronin Freude. Zum Dank für ihre Geduld war Neumann der aufmerksamste Zuhörer bei den Erzählungen des Barons. Obgleich er einen guten Inspektor angenommen hatte, fragte er doch den Baron bei jeder Kleinigkeit um Rat; er ließ sich von ihm im Pistolenschießen unterweisen, obgleich er selbst ein guter Schütze zu sein schien, und er hatte eine liebenswürdige Art, Blumen oder Früchte von seinem Gute mitzubringen, die sehr angenehm war.

Ravenstein war denn auch sehr glücklich über seinen neuen Umgang. Die Baronin aber entdeckte eines Tages, daß sie Neumann überdrüssig wurde. Wenn sie über ihn nachgedacht hätte, würde ihr vielleicht zum Bewußtsein gekommen sein, daß etwas Unklares, Dunkles in seinem Charakter war, daß sie nicht ergründen konnte. Aber Ada hatte niemals Lust gehabt, nachzudenken. Er langweilte sie mit seiner trocknen Art zu sprechen, seiner Unfähigkeit, lustig zu sein – weiter nichts. Da dachte sie dann eigentlich gar nicht mehr an ihn, auch nicht, wenn er dicht neben ihr saß, und freute sich, Graf Rössing zu haben, mit dem sie plaudern und lachen konnte.

Der Graf kam oft zu ihr in die grüne Laube, um seinen Nachmittagskaffee bei ihr zu trinken, und dann wußte er immer etwas Neues. Manchmal war es etwas Trauriges, manchmal etwas Lustiges, aber es war doch eine Abwechslung, und die schönen Augen der Baronin strahlten auf, wenn sein scharfgeschnittnes Gesicht vor ihr erschien.

Sie sind meine Rettung aus Neumanns Langeweile! sagte sie einmal zu ihm. Der Graf lachte. Schelten Sie nicht auf Neumann, ich glaube, er betet Sie an!

Mich? – Ihr Gesicht nahm einen verächtlichen Ausdruck an. Meinetwegen, setzte sie dann gleichgültig hinzu. Er ist sehr nett gegen meinen guten Rolf. Aber es ist sonderbar: der Mensch weckt eine Sehnsucht in mir, etwas zu erleben, etwas Besondres, Merkwürdiges, wie ich es früher gar nicht gekannt habe! Ich bin ganz zufrieden mit meinem kleinen Dasein in diesem Neste gewesen. Rolf ist gut gegen mich – manchmal habe ich Sorgen, manchmal keine; manchmal bin ich mit Leidenschaft fleißig, manchmal mit Leidenschaft faul, und ich freue mich immer am Sonnenschein, am Wasser und am Buchenwald. So war es, und so sollte es bleiben bis an mein seliges Ende. Und nun ist es anders geworden. Sobald ich Neumann sehe, dann kribbelt's mich irgendwo, und ich meine, in die weite Welt zu müssen – weit, weit weg von hier!

Die Baronin hatte lebhafter gesprochen, als es sonst ihre Art war, und Rössing hörte ihr mit einem belustigten Lächeln zu. Das sind Stimmungen, wie Sie sie oft gehabt und immer gleich wieder vergessen haben, erwiderte er. Der gute Neumann ist wirklich eine so neutrale Persönlichkeit, daß ich mir einen besondern Einfluß, den er auf Sie ausüben könnte, gar nicht vorzustellen vermag.

Ja ja, es sind Stimmungen! sagte die Baronin hastig, dann stand sie auf, um dem Besprochnen entgegenzugehen, der gerade in Begleitung ihres Mannes in den Garten trat. Herr Neumann sah allerdings noch gerade so blaß aus wie bei seiner Antrittsvisite, aber ganz so neutral, wie ihn der Graf nannte, war er denn doch nicht. Er war bereits etwas lebhafter in seinem Auftreten geworden, und der Umgang mit den adligen Herren schien ihm recht angenehm zu sein. Jedenfalls suchte er sich immer von seiner liebenswürdigsten Seite zu zeigen, und heute kam er mit einer dringenden Einladung für Ravenstein und den Grafen. Beide sollten ihn an einem der folgenden Tage zum frühen Mittagessen besuchen und ihm wegen der Anlage eines Wildparks mit ihrem Rate zur Seite stehen.

Seine Einladung wurde freundlich angenommen. Auch Graf Rössing hatte seine Schwächen und sah gern anerkannt, daß er von der vornehmen Führung eines Gutes am meisten verstand.


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