Christoph Friedrich Nicolai
Freuden des jungen Werthers
Christoph Friedrich Nicolai

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Zeitgenössische Schmähungen

Jakob Michael Reinhold Lenz

Briefe über die Moralität der »Leiden des jungen Werthers«

Vierter Brief

Nicolais Parodie ein Meisterstück? – Eine Schande seines Herzens und seines Kopfes! Was geht mich hier der Verfasser des »Nothankers« an, ich will's Ihnen beweisen.

Es hätte Sie zu lachen gemacht? – Mich auch, aber wie Demokriten mit Hohngelächter. Wenn man mit einer vielbedeutenden Miene die allerelendesten Plattheiten auskramt, was kann das anders erregen als Unwillen und Hohngelächter.

Der ganze Wisch ist so unwitzig, so furchtsam, so hergestottert für eine Pasquinade, die Erfindung mit der Blutblase so armselig, die Scheidungen Wertherns und Lottens so wenig in ihren Charakter hineingedacht ...

Wie denn? Lotte – nach der Anlage – einem solchen Kerlchen, wie er beschreibt, Gehör geben, um Werthern wehe zu tun, der unter der Last der öffentlichen Geschäfte schmachtete? Pfui, mit welchen elenden Ideen muß der Mann von dem Buch aufgestanden sein; ich möchte um aller Welt Güter willen in dem Augenblick nicht mit seinem Herzen getauscht haben.

Soll er da vielleicht das Meisterstück bewiesen haben, da er die ganze Geschichte so schön durcheinanderzettelt, daß das Hinterste zuvorderst kommt, Szenen, die nach der Verheiratung vorgingen, vor die Verheiratung setzt und damit, möcht' ich sagen, die Seele der ganzen Rührung herauszieht und alles zur elendesten Karikatur macht? Hat der Mensch auch wohl bedacht, was für Hindernisse sich gleich anfangs der Verbindung Werthers mit Lotten entgegenstellten und wie tief und unveränderlich unvermeidlich Werther das empfinden mußte, um Werther zu werden? Das gegebene Versprechen, das öffentliche Amt Alberts, kurzum, nichts mehr und nichts weniger als die ganze Ruhe und das ganze Glück seiner Lotte selber. Und wie die anwachsende Empfindung der Unmöglichkeit, Lotten jemals zu besitzen, diese heilige moralische Empfindung der Unverletzlichkeit des ehelichen Verhältnisses, nur und allein ihn zu dem verzweifelten Entschluß hinaufschrauben konnte. Und wie alles sogleich elende jämmerliche Fratze wird, was sonst das Angesicht eines leidenden Engels war, sobald diese Bedingung wegfällt, diese unübersteiglichen Schwierigkeiten wegfallen. In der Tat ein Meisterstück eines parodierenden Pasquillanten, wenn er nur sonst Witz und Herz genug hätte, Pasquillant zu sein. So aber, da er unter der Larve eines von den Sieben Weisen erscheint und doch alle Kunstgriffe eines Pajaß gebraucht – wer kann ihn da ohne Unwillen sehen Kapriolen schneiden.

Nun aber habe ich auch gesagt, daß die Schrift seinem Herzen Schande mache. Welcher Schriftsteller, der imstande ist, den Wert eines Genies nur einigermaßen zu erkennen und zu fühlen, welcher Schriftsteller hat das Herz zu sagen: Ein Genie ist ein schlechter Nachbar. Ihm die bittere Kränkung ins Herz zu schieben, seine Schriften zeugen von vielen großen Talenten, aber sie schaden dem Publikum, und das ganz gelassen zu sagen!

Wie, wenn ich das Blatt umkehrte und ihm nicht ganz gelassen, sondern mit vieler Hitze bewiese, seine kalte und abgeschmackte Parodie habe dem Publikum (ich meine dem seinigen) in ebendem Maße geschadet, als ihm die Lesung des »Leiden des jungen Werthers« Nutzen gebracht haben würde?

Fünfter Brief

Die Darstellung eines solchen Enthusiasmus ist ansteckend und eben deswegen gefährlich. Und die Gefahr? Es könnte mehrere Lotten geben und die mehrere Werthern finden. Das menschliche Herz ist geneigt, alles nachzuahmen, was es außerordentlich bewegt hat, wie schon Cicero eingesehen hat.

Und was wird das menschliche Herz dabei verlieren? Ich bitte, lieber Freund, reden Sie nicht so quer über die Sache weg, sondern lassen Sie uns erst einen Augenblick innehalten und bedenken, wovon die Rede ist. Von dem Enthusiasmus für wirkliche Vorzüge, für weiblichen Wert. Nicht für ein schön Gesicht, nicht für einen schönen Fuß – für den Inbegriff aller sanfteren Tugenden, aller edleren geistigen sowohl als körperlichen Reize zusammengenommen, für ein Ideal – aber nicht eines wahnwitzigen Augenblicks wie die Ideale gewisser Schriftsteller, sondern einer reifen, mit der Welt und ihren Verhältnissen und Einschränkungen durchaus bekannten Überlegung, für ein Ideal, wie es jede Tochter Germaniens täglich und stündlich werden kann, ohne ein Haar von dem natürlichen Stempel ihrer Seele zu verlieren, vielmehr sich so ihrer verlernten und verkünstelten Natur allein wieder zurücknähert. Und wer wollte nicht Enthusiasmus für ein solches Mädchen haben, wer, der sich nicht auch der Tugend schämt, sich eines solchen Enthusiasmus schämen? Welcher Holzkopf diesen Enthusiasmus unter seinen Landleuten zu hindern oder zu unterdrücken suchen?

Aber in dem hohen Grade? So schwärmerisch? So romantisch feierlich? – Läßt sich die Höhe der Empfindungen denn unter Regeln bringen? Und geschieht denn jemand auf der Gotteswelt anders ein Schade dadurch als dem armen unglücklichen Schwärmer selber? Wenn es ein Werther ist, ward sein ganzer Zustand nicht warnend genug vorgestellt? Wer hätte Lust oder das Herz, es ihm nachzumachen? Und verliert der Bräutigam, wenn's nicht ein Herodes Magnus an Eifersucht ist, auch nur ein Haar von seinem Glück dabei? Wird ihm dasselbe nicht vielmehr dadurch desto empfindbarer und rührender, da er seinen Nebenbuhler durch dessen Verlust so unwiederbringlich elend sieht? – Aber nun Lottens Mitleiden? »Ich liebe herzlich und verlange herzliche Gegenliebe.« Worin hatte sich Lotte vergangen? Albert verstieß gegen die erste Pflicht aller echten Liebe, wider das Zutrauen zu seiner Frauen Tugend und Zärtlichkeit für ihn, ohne daß sie im mindesten sich an seinem Kaltsinn im Worte und im Bezeigen zu rächen suchte. O Herr Albert aus Berlin! Wenn Sie nicht imstande waren zu fühlen, was der stumme Ausdruck ehelicher Treu und eines zarten aufgebrachten Gewissens sagen wollte, da Lotte nach der verstohlnen und doch unschuldigen Zusammenkunft mit Werthern mit ihrer Arbeit auf Ihre Stube kam und an Ihrer Seite zitterte, vielleicht Ihrer itzo nicht mehr wert zu sein – o Herr Berliner Albert! so verdienten Sie nimmer eine Lotte zu besitzen.

Die scheinbare Großmut, mit der ein Liebhaber seinem Freunde seine Geliebte abtritt, wie man ein Paar Handschuhe auszieht, ist mir von jeher wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Wissen die Herren, was es heißt, lieben? Und daß eine Geliebte abtreten schwerer ist als sich das Leben nehmen? Nur ein Albert aus Berlin konnte das, und das ganz gelassen. Aber der Henker glaub' ihm, daß er herzlich geliebt habe.

Wer erfahren hat, was die beiden Namen sagen wollen; Freund und Geliebte, der wird keinen Augenblick anstehen, seinen Freund, für den er übrigens das Leben geben könnte, seiner Geliebten nachzusetzen. Wer das nicht tut, hat weder ein Herz für den Freund noch für die Geliebte. So läßt sich begreifen, warum Albert Lotten nie verlieren konnte, da er das erste Recht auf sie hatte, oder er müßte ein Berliner Albert gewesen sein. So läßt sich begreifen, warum Albert nie so lächerlich und kauderwelsch eifersüchtig auf Werthern sein konnte, weil es Lottens und sein Freund war. – Albert aus Berlin, gehe hin in Frieden!


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