Christoph Friedrich Nicolai
Freuden des jungen Werthers
Christoph Friedrich Nicolai

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Freuden des jungen Werthers

Als Albert aus seinem Zimmer zurückkam, wo er mehr hin und her gegangen war und sich gesammelt, als seine Pakete durchgesehen hatte, kam er wieder zu Lotten und fragte lächelnd:

»Und was wollte Werther? Sie wußten ja so gewiß, daß er vor Weihnachtsabends nicht wiederkommen würde!«

Nach Hin- und Widerreden gestand Lotte, aufrichtig wie ein edles deutsches Mädchen, den ganzen Vorgang des gestrigen Abends. Indem sie's aber gesagt hatte, bangte sie auch schon, sie möchte, aus Unkunde zu lügen, ihm Wermut gereicht haben.

»Nein«, sagte Albert sehr ruhig: »Sie haben Balsam in meine Seele gegossen. Sie verleugnen auch hierin Ihr edles Herz nicht. Aber ein wenig unüberlegt haben Sie gehandelt, meine liebe Lotte. Sie hatten ihm, wie ich merke, ein Versprechen abgezwungen, daß er vor Weihnachtsabends nicht wiederkommen wollte. Sie wollten mich dadurch beruhigen, weil Sie wußten, daß ich verreisen mußte, weil Sie, liebste Lotte, meine Eifersucht gemerkt hatten, die ich gern vor mir selbst verborgen hätte. Ich danke Ihnen dafür.« (Er küßte ihr die Hand.) »Aber da nun Werther wider sein Versprechen sich eindrang, so hätten Sie sich nicht so vertraulich mit ihm aufs Kanapee setzen und unter vier Augen in Büchern lesen sollen. Sie verließen sich auf die Reinheit Ihres Herzens. Dies ist für ein Mädchen ein sehr edles Bewußtsein. Aber da denkt der beste Kerl nicht dran, zumal wenn die Liebe Hindernisse findet und die Zeit kostbar ist. O Weiber! Macht's dem besten Buben weis, daß er euch ein Versprechen ungestraft brechen darf, und er wird mehrere brechen wollen. So haben Sie's, liebste Lotte, ohn's zu denken, selbst so eingeleitet, daß Sie sich ins Kabinett verschließen mußten. – Die Szene war wirklich stark!«

Lotte weinte bitterlich.

Albert nahm sie bei der Hand und sagte sehr ernsthaft: »Beruhigen Sie sich, liebstes Kind. Sie lieben den Jungen, er ist's wert, daß Sie ihn lieben, Sie haben's ihm gesagt mit dem Munde oder mit den Augen; 's ist einerlei.«

Lotte fiel ihm schluchzend in die Rede, beteuerte, daß sie ihn nicht liebe, daß er vielmehr nach der letzten Szene ihren Haß verdiene, daß sie ihn verabscheue.

»Verabscheuen? Das ist etwas, liebstes Lottchen, das lautet so, als ob Sie ihn noch liebten. Hätten Sie ganz gelassen gesagt, der Bursche wäre Ihnen gleichgültig, so hätte ich ganz still geschwiegen, so hätte ich Ihnen nicht gesagt, daß ich wechselseitige Liebe nicht stören will, daß ich alle Ansprüche ...«

»Großer Gott!« rief Lotte laut schluchzend, indem sie sich das Gesicht mit dem Schnupftuche bedeckte, »wie können Sie meiner so grausam spotten! Bin ich nicht Ihre Verlobte? Ja, er soll mir sein, was Sie wollen, gleichgültig, verabscheuungswürdig, so gleichgültig als ...«

»Als ich selbst?« rief Albert. »Das wäre für mich gut, aber nicht für ihn. Für mich wäre unter diesen Umständen ...«

Indem kam der Knabe, der Werthers Zettelchen brachte, worin er Alberten um die Pistolen bat.

Albert las den Zettel. Murmelte vor sich: »Der Querkopf!«, ging in sein Zimmer, ergriff die Pistolen, lud sie selbst und gab sie dem Knaben. »Da, bring sie«, sagte er, »deinem Herrn! Sage ihm, er soll sich wohl damit in acht nehmen, sie wären geladen. Und ich ließe ihm eine glückliche Reise wünschen.«

Lotte staunte. Albert erklärte ihr nun weitläufig, er gebe nach reifer Überlegung alle Ansprüche an sie auf. Er wollte eine zärtliche wechselseitige Liebe nicht stören. Er wolle sie beide und sich selbst nicht unglücklich machen. Aber er wolle ihr Freund bleiben. Er wolle selbst Werthers wegen sogleich an ihren Vater schreiben, das solle sie auch tun und Werthern eher nichts sagen, bis sie Antwort erhalten habe.

Lotte, nach vielen Umschweifen, nach vieler weiblichen Zurückhaltung, gestand ihre herzliche Liebe zu Werthern, nahm Alberts Vorschlag dankbar an und ging in ihr Zimmer, um zu schreiben.

Im Weggehen kehrte sie noch um und äußert' eine ängstliche Besorgnis wegen der Pistolen.

»Seien Sie ruhig, Kind! Wer sich von seinem Nebenbuhler Pistolen fordert, erschießt sich nicht. Und wenn er allenfalls ...«

So schieden sie voneinander.

Werther erhielt indessen die Pistolen, setzte eine vor den Kopf, drückte los, fiel zurück auf den Boden. Die Nachbarn liefen zu, und weil man noch Leben an ihm verspürte, ward er auf sein Bette gelegt.

Indessen wurden Werthers zwei letzte Briefe an Lotten und der Brief an Alberten dem letztern gebracht, und zugleich erscholl die Nachricht von Werthers trauriger Tat. Albert ließ dieselbe vor Lotten verbergen, las die sämtlichen Briefe und ging ungesäumt nach Werthers Wohnung.

Er fand ihn auf dem Bette liegend, das Gesicht und das Kleid mit Blut bedeckt. Er hatte eine Art von Konvulsion gehabt, und nun lag er ruhig mit stillem Röcheln.

Die Umstehenden traten weg und ließen beide allein. Werther hob die Hand ein wenig empor und bot sie Alberten. »Nun triumphiere«, sagt' er, »ich bin nun aus deinem Wege!«

»Ich komme nicht, zu triumphieren«, sprach Albert ruhig, »sondern dich zu bedauern und, wenn's möglich ist, dich zu trösten. Aber du bist rasch gewesen, Werther.«

Werther stieß, für einen so Hartverwundeten beinahe mit zu heftiger Stimme, viel unzusammenhängendes garstiges Gewäsche aus, zum Lobe des süßen Gefühls der Freiheit, diesen Kerker zu verlassen, wann man will.

Albert: »Dies ist, lieber Werther, ebenso wie die Freiheit, dies Glas zu zerbrechen, eine Freiheit, der man sich nicht bedienen muß, weil sie nicht nützt, sondern schadet.«

Werther: »Hebe dich von mir, vernünftiger Mensch! Du bist zu kaltblütig, so einen Entschluß auch nur von fern zu denken!«

Albert: »Ja freilich, so kaltblütig bin ich, und dabei ist mir recht wohl zumute! Meinst etwa, 's wäre 'n edler, großer Entschluß? Bild'st dir ein, 's wäre Kraft und Tat drin? Geh! Bist 'n weichlicher Zärtling. Kannst aus der Mutter Natur Schublade, wenn's dir einfällt, nicht eben Zuckerwerk genug naschen, so willst gleich aus 'r Haut fahren, denkst, sie gibt dir nie wieder Zucker.«

Werther: »O des weisen Vernünftlers! Und doch weißt du's, Mensch: es war keine Hilfe da! Ich konnte nicht besitzen, was ich liebte. Und nun« (Er schlug die Hand übers Gesicht.), »was kümmert mich Welt und Natur.«

Albert: »Armer Tor, der du alles so geringachtest, weil du so klein bist! Konntest nicht? 's war keine Hilfe da? Könnt' nicht ich, der ich dich liebe, weil du ein braver Junge bist, dir Lotten abtreten. Faß Mut, Werther! Ich will's noch itzt tun.«

Werther richtete sich halb auf: »Wie? Was? Du könntest, du wolltest? Schweig, Unglücklicher! Deine Arznei ist Gift. Denn was hülf's?« (Er sank wieder zurück.) »Nein! 's ist auch nichts. Du bist ein Boshafter. Wer kalt ist, ist boshaft. Hast dir's abstrahiert, wie du mich bis aufs Ende quälen willst.«

Albert: »Guter Werther, bist 'n Tor! Wenn doch kalte Abstraktion nicht klüger wäre als versengte Einbildung. Da, laß dir's Blut abwischen. Sah ich nicht, daß du 'n Querkopf warst und würd'st deinen bösen Willen haben wollen? Da lud ich dir die Pistolen mit 'ner Blase voll Blut. Es ist von 'nem Huhn, das du heute abend mit Lotten verzehren sollst.«

Werther sprang auf: »Seeligkeit – Wonne – usw.«

Er umarmte Alberten. Er wollte es noch kaum glauben, daß sein Freund so großmütig gegen ihn handeln könne.

Albert sagte: »Sprich nicht von Großmut; ein bißchen kalte Vernunft tut's meiste, und den Rest tut's, daß ich 'n Jungen liebe wie du, in dem 's liegt, noch viel zu schaffen. Das Ding mit dir und Lotten hat mir schon lang gewurmt, 's gefiel mir schon nicht, als du in dem geschlossenen Plätzchen hinter den hohen Buchenwänden dich zu ihren Füßen warfst; so unbefangen du dabei schienst, so war's doch ein so romantisch-feierliches Ding, das 'nem Bräutigam nicht in' Kopf will. Darüber habe ich denn allerlei hin und her gedacht. Du wirst dich noch erinnern, wie sich Unmut und Unwillen aneinander vermehrten, als du am Sonntage so ungebeten dableiben wolltest. Dem sann ich auch nach und machte mir die leidige Abstraktion, daß meine Braut dich liebte. Du hältst mich für kalt, Werther, und ich bin's auch, wenn's Zeit ist, aber so warm bin ich doch, daß ich herzlich liebe und herzliche Gegenliebe verlange. Ich sah also, ich konnte mit Lotten nicht glücklich sein. Mein Entschluß war schon unterwegs gefaßt, euch glücklich zu machen, weil ich selbst nicht glücklich sein konnte. Nun kam noch die gestrige Szene dazu. Lotte hat sie mir erzählt! Hör, Werther, 's ist 'ne starke Szene! Und ich hab' auch dein'n Brief an Lotten drüber, gelesen. Hör, Werther, 's Ding 'st nu so, so!«

Werther rief: »Was meinst du? Meine Liebe ist rein wie die Sonne. Lotte ist ein Engel, vor dem alle Begierden schweigen.«

Albert sagte: »Ich glaub's ja! Aber hör, Werther, hätt'st 's auch wohl schreiben können, in dem letzten Briefe, worauf du sterben wolltest.«

Und so gingen sie zum Abendessen.

In wenigen Monaten ward Werthers und Lottens Hochzeit vollzogen. Ihre ganzen Tage waren Liebe, warm und heiter wie die Frühlingstage, in denen sie lebten. Sie lasen auch noch zusammen Ossians Gedichte, aber nicht Selmas Gesang oder den traurigen Tod der schönäugigen Dar-Thula, sondern ein wonniglich Minnelied von der Liebe der reizenden Colna-Dona, »deren Augen rollende Sterne waren, ihre Arme weiß wie Schaum des Stroms und deren Brust sich sanft hob wie eine Welle aus dem ruhigen Meere«.

Nach zehn Monaten war die Geburt eines Sohns die Losung unaussprechlicher Freude.


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