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Aurelia
oder
Der Traum und das Leben.

Zweiter Teil

Eurydike! Eurydike!

 

I

Zum zweiten Mal verloren ...

Alles ist zu Ende. Jetzt bin ich es, der sterben muß, hoffnungslos sterben.

Ist der Tod das Nichts? Wollte Gott! Doch Gott selbst kann es nicht machen, daß der Tod das Nichts ist.

Warum denke ich denn zum ersten Mal seit langer Zeit an ihn? Das unselige System, das in meinem Kopf regierte, hatte das einsame Königtum Gottes nicht zugelassen. Ich löste es höchstens in der Fülle der Wesen auf. Das war der Gott des Lucretius, machtlos in seiner Unmenschlichkeit verloren.

Sie aber glaubte an Gott. Den Namen Jesus traf ich einmal auf ihren Lippen. Er hauchte so sanft hin, daß ich weinte.

O mein Gott, diese Träne ... diese Träne ist so lang schon getrocknet. Diese Träne, o mein Gott, gib sie mir wieder!

Wenn die Seele unsicher zwischen Traum und Leben schwimmt, zwischen der Unordnung der Sinne und der Umkehr zur kühlen Überlegung: so muß man Hilfe in der Gläubigkeit suchen. In der Philosophie findet man sie nicht, dort bieten sich uns die Regeln des Egoismus, höchstens die der Gegenseitigkeit an, und die eitle Erfahrung und der bittere Zweifel. Sie bekämpft die Schmerzen des Gewissens, indem sie das empfängliche Gefühl vernichtet. Gleich der Chirurgie versteht sie das krankmachende Organ uns fortzuschneiden.

Freilich wir sind in Tagen der Revolution und des Sturmes geboren, da alle Frömmigkeit zerbrach. Wir sind höchstens in dem unbestimmten Glauben erzogen, der mit einigen äußerlichen Übungen zufrieden ist, sodaß die Zugehörigkeit zu ihm sündhafter als Ketzerei und Gottlosigkeit sein müßte. Uns wird es schwer, den mystischen Bau, wenn wir uns danach sehnen, wieder aufzurichten, indeß die Einfachen und Unschuldigen seine Hoheit noch wirklich in ihren Herzen bewahren.

»Der Baum der Erkenntnis ist nicht der Baum des Lebens!« Aber können wir aus unserem Geist hinauswerfen, was soviel denkende Geschlechter dort an Gutem und Unheilvollem aufgehäuft haben?

Die Unwissenheit ist nicht erlernbar ...

Bessere Hoffnung setze ich auf Gottes Güte. Vielleicht nähern wir schon an die verkündete Epoche, da die Wissenschaft nach Vollendung ihres ganzen Kreises von Analyse und Synthese, von Bejahung und Verneinung sich selbst klären wird: damit aus Chaos und Ruinen die wunderbare Stadt der Zukunft steige. So billig soll man die menschliche Vernunft nicht einschätzen, um zu glauben, sie gewinne etwas durch ihre blanke Erniedrigung. Das hieße ihren himmlischen Ursprung anklagen. Gott wird die Reinheit und Männlichkeit der Absicht würdigen. Welcher Vater findet Wohlgefallen daran, daß sein Sohn vor ihm alle Urteilskraft und Selbständigkeit aufgibt! Auch der Apostel, der mit seinen Fingern anrühren wollte, um glauben zu können, ist dafür nicht verdammt worden.

... Was habe ich da geschrieben? Das sind Lästerungen. So spricht die Demut eines Christen nicht. Und solche Gedanken sind weit davon entfernt, die Seele zu bewegen. Sie tragen auf der Stirn die stolzen Blitze aus der Krone Satans. Ein Vertrag mit Gott selbst? O Eitelkeit! o Wissenschaft!

Ich hatte Bücher der Kabbala gesammelt. In ihr Studium vertiefte ich mich und kam zu der Überzeugung: daß alles wahr ist, was der menschliche Geist von Jahrtausenden darin niedergelegt hat. Meine Anschauung vom Sein deckte sich zu gut mit dem Inhalt dieses Buches. Die Sätze und Gebräuche der verschiedenen Religionen offenbarten je einen Teil der Geheimnisse, kraft deren sie sich ausdehnten und verteidigten. Dieser Gehalt konnte schwächer werden, konnte verschwinden; dann brachen andere Völker über jene herein. Doch keines konnte siegen oder unterliegen als durch den Geist.

Dennoch war ich mir bewußt, daß menschlicher Irrtum sich auch in diese Wissenschaft gemengt hatte. Das magische Alphabet, der rätselhafte Hieroglyph sind uns unvollkommen überliefert, gefälscht entweder durch die Zeit oder durch die, in deren Interesse unsere Unwissenheit liegt. Suchen wir den verlorenen Buchstaben und das verlöschte Zeichen, stimmen wir die brüchige Tonleiter wieder, dann gewinnen wir Macht in der Geisteswelt.

So meinte ich in die Beziehungen zwischen ihr und der wirklichen Welt einzudringen. Die Erde mit ihren Bewohnern und ihrer Geschichte war der Vorort der körperlichen Dinge, die das Dasein der an der Seite des Schicksals stehenden Unsterblichen vorbereiten. Ohne den Schleier der Weltewigkeit zu berühren, wich mein Gedanke zur Epoche zurück, da die Sonne die fruchtbaren Keime von Pflanzen und Tieren in die Erde säte. (Wie folgt auch die Blume, die nach ihr benannt ist, mit hängendem Kopf der Umdrehung der Sonne!) So richtet das Feuer selbst, aus Seelen bestehend, triebhaft die gemeinsame Wohnung der Erde ein.

II

Wenn man sich unglücklich fühlt, denkt man an das Unglück des anderen. Einer meiner Freunde war krank; ich hatte es gehört, aber ihn noch nicht besucht. Ich machte mich jetzt auf den Weg zu ihm und trat in ein Hospitalzimmer mit weißen kalkigen Wänden. Die Sonne zeichnete lustige Winkel darauf. Sie spielte über einer Vase mit Blumen, die eine Nonne gerade neben den Kranken stellte. Es war wie die Zelle eines italienischen Anachoreten.

Ich wurde über die Verspätung meines Besuches noch betrübter, als ich hörte, daß es ihm am Vorabend schlechter gegangen war. Sein Gesicht war abgemagert, gefärbt wie gelbes Elfenbein; die Schwärze seines Bartes und Haares machten es noch greller. In seinen Augen funkelte ein Rest des Fiebers. Vielleicht bewirkte es auch der Kapuzinermantel um seine Schultern, daß er mir als neues Wesen erschien. Das war nicht mehr der lustige Kamerad meiner Feste und Arbeiten. Es war ein Apostel in ihm.

Er erzählte mir, daß auf dem Gipfel seines Leidens ein Anfall gekommen sei, der ihm wie der letzte und höchste Augenblick erschien. Sogleich habe der Schmerz wie durch ein Wunder aufgehört. Was dann folgte, war unbeschreiblich. Ein erhabener Traum in der Weite der Unendlichkeit, ein Gespräch mit einem Wesen, ihm ungleich und ihm ähnlich. Er meinte tot zu sein und fragte es, wo Gott sei. In dir, war die Antwort, in Allen, und du und ich denken und träumen zusammen und haben einander nie verlassen und sind ewig.

Ich weiß sonst nichts mehr aus diesem Gespräch, das ich wohl schlecht verstanden habe. Aber der Eindruck war stark. Ich möchte meinem Freunde nicht die Folgerungen zuschreiben, die ich, vielleicht ohne Recht, aus seinen Worten zog.

Mit ihm ist Gott, dachte ich, mit uns nicht mehr. O entsetzlich, ich habe ihn bedroht und aus mir verjagt. Er war der mystische Bruder, der sich immer weiter aus meiner Seele entfernte und mich vergeblich warnte. Der Gemahl ohne gleichen, der König des Ruhms, der mich urteilt und verurteilt, hat für immer, in seinen Himmel die entführt, die er mir geben wollte und deren ich nun unwert bin.

... In meiner tiefen Niedergeschlagenheit erkannte ich doch klar, was ich getan hatte. Ich zog das Geschöpf dem Schöpfer vor. Die Liebe vergötterte ich. Wie ein Heide betete ich sie an, deren letzter Seufzer Jesus geweiht war. Aber dennoch, wenn diese Religion wahr spricht, kann Gott mir noch verzeihen. Ja, er kann sie mir wiedergeben, wenn ich mich vor ihm demütige. Vielleicht kehrt ihr Geist in mich zurück... Erfüllt von diesen Gedanken irrte ich planlos in den Straßen umher. Ein Leichenzug kreuzte meinen Weg. Er bewegte sich nach dem Friedhof, wo sie bestattet war. Ich schloß mich an.

Ich weiß nicht, dachte ich im Schreiten, wer der Tote ist, den man hier zu Grabe trägt. Aber ich weiß jetzt, daß die Toten uns sehen und hören. Vielleicht ist er zufrieden darüber, daß ihm ein Bruder im Leiden folgt, der trauriger ist als einer seines Trauergefolges. Sicher glaubten sie, als sie mich weinen sahen, ich sei wohl einer seiner besten Freunde. Ich aber fühlte mich von meinen süßen Tränen gesegnet. Die Hoffnung stieg auf. Ich konnte beten und genoß diese Kraft freudig. Ich erkundigte mich nicht nach dem Namen des Verstorbenen. Wir kamen zum Friedhof. Aus vielen Gründen war dieser Ort mir heilig. Gute Verwandte waren dort begraben worden. Jetzt waren ihre Gräber leer, man hatte sie in das ferne Land ihrer Geburt fortgeschafft. Aurelias Grab suchte ich lange. Ich konnte es nicht finden, man hatte die Anlage des Friedhofs geändert. Oder es lag an meinem Gedächtnis. Dies vergebliche Suchen aber mußte meine Pein noch verschärfen. Dem Wächter wagte ich nicht den Namen einer Toten zu nennen, auf die ich nach der Religion kein Recht hatte. Aber ich erinnerte mich, daß ich zu Haus eine genaue Bezeichnung des Grabes aufbewahrte. Mit klopfendem Herzen, mit brennendem Kopf lief ich zurück.

Ich hatte meine Liebe mit allerlei wunderlichem Aberglauben umgeben. In einer kleinen Schatulle, die ihr gehört hatte, bewahrte ich ihren letzten Brief. Wie in einem Reliquienschrein lagen Dinge darin, Andenken an Reisen, auf denen sie nicht selbst, doch der Gedanke an sie mich begleitet hatte. Eine in den Gärten von Schubrah gepflückte Rose, ein aus Ägypten mitgebrachtes Stückchen Band, Lorbeerblätter vom Flußufer Beiruts, zwei kleine vergoldete Kristalle, Mosaiken aus der Hagia Sophia, eine Rosenkranzperle, viel anderes. Endlich die Papiere, die man mir an dem Tage, da ihr Grab gehöhlt wurde, aushändigte. Ich errötete, ich zitterte, als ich diese wahnsinnige Sammlung ausschüttete. Dann steckte ich die Papiere ein. Aber im Augenblick, als ich mich aufs neue zum Friedhof begeben wollte, änderte ich meinen Entschluß. Nein, ich bin nicht würdig, am Grab einer Christin zu knien! Ich will nicht noch eine Entweihung zu vielen anderen begehen.

Und um den Sturm, der in meiner Brust tobte, zu besänftigen, fuhr ich gleich in eine kleine Stadt, einige Meilen von Paris entfernt. Dort hatte ich glückliche Tage meiner Jugend verbracht. Oft hatte ich mir gewünscht, wieder dort zu sein und die Sonne bei dem Haus, wo ich gewohnt hatte, untersinken zu sehn. Über die von Linden belaubte Terrasse schwebte die Erinnerung an junge Mädchen, mit denen ich aufwuchs. Eine von ihnen –

Aber wie kann ich nur daran denken, eine unbestimmte Kindesliebe dieser großen gegenüberzustellen, die nun meine Jugend verzehrt hat? ... Ich sah die Sonne über das Tal geneigt, das sich mit Dunst und Schatten füllte. Sie verschwand, ihre roten Lichter zuckten noch über die Waldwipfel auf den hohen Hügeln. Düsterste Traurigkeit zog in mein Herz ein. Ich ging in eine Herberge, wo ich bekannt war. Der Wirt unterhielt sich mit mir; er sprach von einem meiner alten Freunde in dieser Stadt, der sich nach unglücklichen Unternehmungen erschossen hatte. Der Schlaf brachte mir furchtbare Träume. Ich redete mit einem Menschen, der dem Erschossenen glich. Hinter uns hing ein Spiegel. Als ich zufällig einen Blick hineinwarf, sah ich A***. Sie schien traurig, nachdenklich, und dann ... ob sie nun aus dem Spiegel trat oder durch den Saal gehend nur gespiegelt worden war: das süße geliebte Gesicht war plötzlich neben mir. Sie reichte mir die Hand, sie richtete den schmerzlichen Blick auf mich und sagte: Wir sehen uns später wieder ... im Hause deines Freundes ... Ich dachte an die Hochzeit, an den Fluch, der uns trennte. Ich dachte: Ist es möglich? Sie kommt zu mir zurück? Hast du mir vergeben? fragte ich weinend. Aber alles verschwand.

Alles verschwand. Ich war an einem öden Ort. Ein herber felsiger Berg stieg aus einem Walde. Auf dem trostlosen Berge stand ein Haus, das mir bekannt war. Ich ging und kam auf unentwirrbaren Abwegen zurück. Von Gestein und Dorn ermattet suchte ich einen weicheren Weg durch die Büsche. Man erwartet mich dort oben, dachte ich.

Eine gewisse Stunde schlug. Horch, es ist zu spät! Stimmen antworteten: Sie ist verloren! Vollkommene Nacht umgab mich.

Das ferne Haus schimmerte, wie von einem Fest erleuchtet, wie mit Gästen gefüllt, die zur rechten Zeit gekommen waren.

Sie ist verloren! Warum? Ich fühlte: sie hatte einen letzten Versuch gemacht, um mich zu retten. Ich hatte den letzten Augenblick der Gnade verfehlt. Aber was lag an meiner Rettung? Weshalb sollte gerade ich dem Abgrund entrissen werden? Sie ist für mich verloren und für alle. Ich sah sie im Licht eines Sterns bleich inmitten düsterer Kavaliere hinziehen. Keuchend von Schmerz und Zorn erwachte ich. Mein Gott! mein Gott! um ihretwillen! um ihretwillen allein vergib mir! schrie ich und stürzte auf die Knie. Es war Tag. Aus einem Antrieb, über den ich nichts sagen kann, beschloß ich, sogleich die beiden Papiere zu vernichten, die ich aus der Schatulle genommen hatte: den Brief, ach, den ich noch einmal las und mit Tränen feuchtete; und den Begräbnisschein, der den Ort ihres Grabes angab. Gestern hätte ich umkehren und es wiederfinden sollen ... Mein unglücklicher Traum ist nur der Widerschein meines unglücklichen Tages!

III

Als die Flamme die Reliquien der Liebe und des Todes zerstört hatte, trug ich mein Leid, meine Reue hinaus in die Landschaft. Durch die Ermüdung des Gehens suchte ich die Stirn zu übertäuben, suchte mir mit Gewalt die Hoffnung auf einen besseren Schlaf in der nächsten Nacht zu erringen.

Hier halte ich ein: Es wäre Überhebung, wollte ich behaupten, der Zustand meiner Seele rühre nur von einer Liebeserinnerung her. Sagen wir eher, daß ich mich mit ihr gegen die schwere Reue über ein verschwendetes Leben schützte, darin das Böse oft triumphiert hatte. Die Fehler dieses Lebens erkannte ich erst unter dem Hiebe des Unglücks. Durfte ich jetzt auch nur noch denken ... an sie, die ich in ihrem Tode quälte und beunruhigte, nachdem ich sie im Leben betrübt hatte? Allein ihrem sanften heiligen Mitleid verdanke ich den letzten Blick der Vergebung. In der folgenden Nacht konnte ich nur Sekunden lang schlafen. Mir erschien eine Frau, die sich meiner in der Jugend angenommen hatte. Sie warf mir ein frühes schweres Vergehen vor. Ich erkannte sie wohl, wenn sie auch älter war als in ihrer letzten Zeit. Bei ihrem Tode freilich bin ich nicht zugegen gewesen. Sie sprach zu mir: Deine alten Verwandten hast du nicht beweint wie diese Frau. Wie kannst du auf Verzeihung rechnen?

Aber der Traum verwirrte sich. Gesichter aus mannigfaltigen Zeiten eilten im Fluge vorüber. Sie stiegen mit wachsendem Schein auf, erblaßten und fielen in die Dunkelheit zurück gleich Perlen eines Rosenkranzes. Auch plastische Bilder wie aus dem Altertum stellten sich vor mir auf und sahen mich an. All dies, schienen sie zu sagen, war gemacht, um dich das Geheimnis des Lebens zu lehren. Du hast nichts begriffen. Religionen, und Legenden, Heilige und Dichter vereinten sich, um dir alles zu offenbaren. Du hast es schlecht ausgelegt. Jetzt ist die Zeit vorbei.

Ich erhob mich erschrocken und dachte: Das ist mein letzter Tag. Nach zehnjähriger Zwischenzeit kam der Gedanke, von dem ich im ersten Teil des Berichtes sprach, fester und drohender wieder.

Nach dem Besuch des Steinernen Gastes hatte ich mich wieder zum Festmahl hingesetzt.

IV

Nun in völliger Einsamkeit erschienen mir alle Handlungen meines Lebens von ihrer widrigsten Seite. Bei der Gewissensprüfung, der ich mich überlieferte, sah ich die ältesten Tatsachen mit seltsamer Genauigkeit. Ich weiß nicht, aus welcher falschen Scham ich den Beichtstuhl durchaus vermied. Vielleicht hielt mich die Furcht ab, ich könnte mich in die Dogmen einer gewaltigen Religion verflechten, gegen die ich noch manch weises Vorurteil hegte. Ich bebte bei dem Gedanken, was für einen Christen ich abgeben würde, wenn mich mitten auf dem Wege mein Wissen um eine der vielen anderen Religionen stocken ließe ...

Ich habe meine Mutter nie gekannt, die gleich den Germanenfrauen meinem Vater zum Heer folgte. Sie starb an Fieber und Ermattung in einer kalten Gegend Deutschlands. Mein Vater aber konnte mich nicht zum Glauben lenken. Der Teil unseres Landes, in dem ich aufwuchs, pflegte noch viel seltsame Legenden und wunderlichen Aberglauben; und ein Verwandter, der mich dort in seinem Hause erzog, liebte die keltischen und römischen Mythen. Im Boden seiner Besitzungen fand man Statuen von Göttern oder Kaisern, und seine Gelehrtenbewunderung leitete mich zu frommer Verehrung an. Da war ein Mars aus Goldbronze, eine bewaffnete Pallas, eine schöne Amphitrite; sie standen feierlich am dörflichen Brunnen. Im Garten lächelte das dicke bärtige Antlitz eines Pan. Diese Schutzgötter flößten mir größere Ehrfurcht ein als die armen christlichen Bilder in der Dorfkirche. Die beiden unförmigen Heiligen an der Tür, die manche für Gallierfürsten hielten, waren belanglose Steine.

Verlegen zwischen den verschiedenen Symbolen fragte ich einmal den Verwandten, was Gott sei. Gott ist die Sonne, erwiderte er. Das war die tiefste Anschauung eines Ehrenmannes, der sein Leben lang als Christ gelebt, aber die Revolution durchgemacht hatte. So blieb auch in mir eine gewisse Unentschlossenheit, während zugleich wirkliche Gläubigkeit wartete.

Verzweiflung und Selbstmord steigen aus solcher in der Tiefe zerrissenen Seele. Ich will erklären, wie ich mich zum guten Wege fand; wie das Bedürfnis des Glaubens, daß ein geliebtes totes Wesen fortlebe, mich stärkte; und wie es alle Wahrheiten, die ich nicht fest genug in die Seele aufgenommen hatte, reiner in mir zusammenschmolz.

... Die lange dauernden, fast ununterbrochenen Visionen hatten mich erschöpft, daß ich kaum zu reden vermochte. Die Gesellschaft meiner Freunde verhalf mir nur zu einer sehr unsicheren Ablenkung. Mein Geist, zu stark mit seinen Einbildungen beschäftigt, versagte vor den geringsten Abweichungen der Wirklichkeit. Ich konnte nur wenige Zeilen hintereinander lesen oder schreiben. Ich dachte manchmal an die schönsten Dinge der Welt, nämlich mit dem Bewußtsein: die sind für mich nicht da.

Georg, der Freund, unternahm es, diese Entrückung zu überwinden. Er führte mich in verschiedene Gegenden von Paris; und er sprach allein bei diesen Spaziergängen, während ich zusammenhanglos zu antworten pflegte. Der scharfe mönchische Ausdruck seines Gesichts traf einmal besonders wirkungsvoll mit Worten zusammen, die er gegen die Zeit des Zweifels äußerte. Er meinte die Jahre der politischen und sozialen Entmutigung, die auf die Juli-Revolution folgten. Ich war einer der Jungen dieser Epoche gewesen, und ihre Glut wie ihre Bitterkeit hatte ich erlebt. Er aber bewegte mich. Mir schien eine Absicht der Vorsehung aus seinem Mund zu sprechen.

Eines Tages aßen wir unter einer Laube in einem kleinen Dorfwirtshaus zu Abend. Eine Frau kam und sang an unserem Tisch. Ich weiß nicht, was in ihrer abgenutzten, dennoch angenehmen Stimme mich an Aureliens erinnerte. Ich sah sie an: auch in ihren Zügen lag diese Ähnlichkeit mit der Geliebten ... Man schickte sie fort, und ich wagte nicht, sie zurückzuhalten. Aber ich freute mich, daß ich ihr rechtzeitig ein Almosen gegeben hatte. Mir war, als sei auch dies eine Verbindung mit ihr gewesen.

Ich habe mein Leben schlecht gelenkt, dachte ich. Aber wenn die Toten verzeihen, sind sie unerbittlich in ihrer Forderung: daß man dem Bösen ganz entsagt. Ist das möglich? Mir fiel ein frisches Unrecht ein, es war nur eine kleine Nachlässigkeit gegen jemand. Ich ging hin und machte es wieder gut. Die Befriedigung darüber tat mir wohl. Sie war übertrieben wie die Entschuldigung selbst. Aber ich meinte nun einen Grund zum Leben und Handeln zu haben. Ich meinte nun wieder in der Welt zu stehen.

Bald kamen wieder Schwierigkeiten und vereinigten sich, um meinen Entschluß zu durchkreuzen. Ich hatte die Ausführung von Arbeiten zugesagt, die ich nicht bewältigen konnte. Man hielt mich für gesund und forderte sie ein. Da ich keine Lügen und Ausflüchte gebrauchte, drängte man mich. Es wurde ein Wirrwarr der Vergewaltigung. Die Masse von Entschuldigungen, die ich anzubringen hatte, erdrückte mich in meiner Ohnmacht. Auch der Gang der politischen Ereignisse erregte mich und verhinderte die Ordnung meiner Angelegenheiten. Der Tod eines Freundes vollendete das Unglück dieser Tage. Traurig sah ich seine Wohnung wieder, die Bilder, die er mir noch mit Freude gezeigt hatte. Ich ging an seinem Sarge vorbei, als man ihn zunagelte. Wenn auch ich plötzlich tot wäre?

An einem Sonntag machte ich mich auf den Weg nach Montmartre, ohne gegessen zu haben. Als ich endlich ankam, war der Friedhof geschlossen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Meine Erinnerung jagte willkürlich in mir herum. Ein deutscher Dichter hatte mich gebeten, ihm einige Seiten zu übersetzen, und er hatte etwas Geld darauf vorgestreckt. Ich schlug den Weg nach seinem Hause ein, um es ihm zurückzugeben.

Wie ich durch das Tor von Clichy ging, wurde ich Zeuge eines Streites. Ich versuchte die Wütenden zu trennen; es gelang mir nicht. In diesem Augenblick schritt ein Arbeiter von großem Wuchs über den Platz. Er trug auf der Schulter ein Kind in hyazinthfarbenem Kleid und trug es leicht wie eine Feder. Er erschien mir wie der heilige Christophorus, der den Heiland getragen hat. Und es quälte mich, daß ich zu schwach zur Trennung jener Wütenden gewesen war.

Ich irrte in dem ungeordneten Gelände umher, das zwischen dem Tor und der Vorstadt liegt. Zu dem Besuche war es zu spät. Endlich mündete mein hungriger planloser Lauf wieder in die Straßen. In irgendeiner begegnete ich einem Priester. Voller Verwirrung sprach ich ihn an; ich wollte ihm beichten. Er antwortete eilig, daß ihm dieser Pfarrbezirk nicht gehöre und daß er in eine Abendgesellschaft gehe. Aber wenn ich am nächsten Tage in die Kirche Notre-Dame kommen wollte, müßte ich nur nach dem Abbé Dubais fragen.

Verzweifelt lenkte ich meine Schritte zur Notre-Dame de Lorette und warf mich dort vor dem Altar der heiligen Jungfrau nieder. Bald regte sich etwas in mir und flüsterte: Die Jungfrau ist tot, deine Gebete sind unnütz. Ich schlich zu den hintersten Plätzen des Chors.

Niederknieend streifte ich einen silbernen Ring vom Finger, in dessen Stein drei arabische Worte graviert waren: Allah! Mohamed! Ali! Sofort entzündeten sich Kerzen im Chor, und ein Gottesdienst begann, mit dem ich mich zu vereinen suchte.

Als man beim Ave Maria angelangt war, unterbrach sich mitten im Gebet der Priester. Siebenmal begann er von vorn. Ich konnte die folgenden Worte niemals finden. Als das Gebet aufhörte, hielt der Priester eine Rede, die auf mich anzuspielen schien. Dann wurden die Kerzen ausgelöscht, und ich verließ die hallende Kirche nach den Champs-Élysées hin.

Auf der Place de la Concorde blieb ich stehen. Ich drehte mich zur Seine, mir war, ich müßte mich vernichten. Ich sah die Sterne glänzen. Mit einem Mal erloschen sie wie die Lichter in der Kirche.

Vielleicht war nicht allein mein Untergang nahe, die Zeit war erfüllt, die Johannes verkündigt? Tauchte jetzt nicht eine schwarze Sonne am Himmel auf? über den Tuilerien eine blutrote Kugel ...? Wenn die fürchterliche ewige Nacht beginnt, wenn die helle Sonne der Menschen nicht mehr ist ...

Plötzlich zwischen den rasch von den Winden gejagten Wolken sah ich viele Monde eilig vorübergleiten. Die Erde war vielleicht in eine andere Bahn gelangt. Sie irrte regellos wie ein entmastetes Schiff am Firmament umher. Die Sterne wuchsen und schrumpften ein, wenn sie ihnen nahte oder davonfuhr. Wohl eine Stunde lang sah ich dieser Unordnung zu.

Dann stand ich in der Gegend der Hallen. Die Bauern brachten ihre Lebensmittel heran. Sie werden sich wundern, wenn die Nacht nicht aufhört ... Müde ging ich nach Haus und überhörte das Bellen der Hunde, das Krähen der Hähne.

Ich hörte einen Chor singen: Christus! Christus! Christus! Es waren wohl Kinder in einer benachbarten Kirche. Sie wissen noch nicht, daß Christus nicht mehr ist!

Als ich erwachte, lag ich erstaunt im vollen Lichte des Morgens. Aber ich fand die Sonne kalt und farblos, als sei es nur noch aufgespartes Licht. Ich hatte Hunger, den ich mit einem kleinen Kuchen stillte. Ich wollte nur die Kraft gewinnen, um zum Haus jenes Dichters zu kommen, des Geldes wegen ...

V

Während der folgenden Zeit machte ich viele Wanderungen durch die Landschaft um Paris. Ich schlief wenig. Einmal ging ich nachts auf dem Hügel von Montmartre spazieren und sah den Sonnenaufgang. Kaum fühlte ich, ob er wirklich war. Ich sprach am Wege mit Bauern und Arbeitern. Meine Worte verwunderten mich selbst. Auf dem Boulevard nachts vergnügte ich mich damit, Gold- und Silberstücke in die Luft zu werfen. Wieder stand ich vor den Hallen und stritt mit einem Unbekannten, dem ich schließlich eine grobe Ohrfeige gab. Ich weiß nicht, weshalb dies gar keine Folgen hatte. Die Turmuhr von St. Eustache schlug. Die Kämpfe der Herzöge von Burgund und der Armagnacs gingen mir durch den Kopf. Wieder kam ich in Streit, mit einem Dienstmann, der auf seiner Brust ein silbernes Täfelchen trug. Ich nannte ihn Burgund, ich wollte ihn verhindern, in eine Schenke einzutreten. Aus einem unerklärlichen Grunde bedeckte sich sein Gesicht mit strömenden Tränen. Ich glaube, ich hatte ihn mit dem Tode bedroht. Gerührt ließ ich ihn gehen.

Dann besuchte ich meinen Vater; er war nicht zu Haus, ich stellte einen Strauß Margeriten auf seinen Tisch. Von dort ging ich zum Jardin des Plantes. Er war voller Menschen. Ich blieb am längsten vor dem Nilpferd stehen, das ungeheuer in seinem kleinen Bassin badete. In den Sammlungen betrachtete ich die riesigen Knochengerüste sintflutlicher Ungetüme. Ich verließ das Haus und trat draußen in einen heftigen Platzregen. Das Wasser strömte durch die Straßen. Halb dachte ich, nun komme die Sintflut über die Welt, halb empfand ich nur ein ruhiges gegenwärtiges Bedauern, daß die vielen Frauen und Kinder so stark durchnäßt wurden. An der tiefsten Stelle der Weltüberschwemmung warf ich meinen Ring hinein –: das Gewitter nahm ab, ein Sonnenstrahl glitzerte durch die gelösten Wolken.

Naß und müde kam ich zu einem Freunde. Unterwegs hatte ich bei einem Händler mit Altertümern zwei samtene Ofenschirme voll krauser Bilder gekauft. Ich legte mich aufs Bett und hatte eine wunderbare Vision.

Eine Göttin erschien mir und sprach: Ich bin die gleiche wie Maria, die gleiche wie deine Mutter, die gleiche auch, die du immer geliebt hast. Bei jeder deiner Prüfungen habe ich eine meiner Masken aufgegeben: bald wirst du mich so sehen, wie ich bin.

Da wuchs aus dem Gewölk hinter ihr ein köstlicher Weinberg hervor. Ein sanftes doch durchdringendes Licht erhellte seine paradiesische Wölbung. Indessen hörte ich ihre Stimme weiter, ohne Worte, und war wie trunken von Wein.

Aber ich erwachte. Ich ging mit meinem Freunde aus. Ich hielt mich so seltsam. Wir sprachen lange und begierig über die Seelenwanderung. Als ich unterwegs etwas kaufte, warf ich ein Goldstück hin. Mein Freund erhielt das Kleingeld heraus. Während er es nahm, setzte ich meinen Weg zu den Galerien des Palais Royal fort.

Mir schien, als ob jedermann mich ansähe. Wie lebendig sie sind, dachte ich. Und: es gibt keine Toten mehr. Während des Gesprächs mit meinem Freunde hatte ich gesagt, ich fühlte heut die Seele Napoleons in mir. Begeisterte Befehle hallten durch mein Inneres. Aber es war noch ein Gegenruf da, der mir beharrlich vorwarf, ich hätte einen Fehler begangen. Ich suchte in meinem Gedächtnis, das ich für Napoleons hielt, und konnte nicht dahinterkommen, was für ein Fehler es sei.

Im Garten des Palais interessierten mich kaum die Reigen der kleinen Mädchen, die mich sonst lange erfreuten. Plötzlich umringte mich eine ungeheure Menge Menschen. Sie wälzte sich so dicht an mich heran, daß ich fast erdrückt worden wäre. Zwei Bekannte befreiten mich, indem sie für mich bürgten.

Am Morgen erkannte ich, daß ich angebunden war. Fieberhaft rang ich mit meiner Zwangsjacke und konnte sie endlich abwerfen. Ich ging in den Sälen des Hospitals umher. Meine Hände enthielten eine göttliche Kraft zu heilen: ich legte sie einigen Kranken auf.

Dann trat ich auf eine Figur der heiligen Jungfrau zu und nahm ihr den Kranz von künstlichen Blumen ab. Mir setzte ich den Kranz auf, und meinte so die Macht, die ich besaß, noch zu erhöhen. Mit großen Schritten bewegte ich mich durch die Räume. Ich sprach laut von der Ahnungslosigkeit der Menschen, die an die Heilung durch die Wissenschaft glauben, und als ich auf dem Tisch ein Fläschchen mit Äther sah, goß ich es mit einem Schluck hinunter. Ein Arzt wollte mich festhalten; ich blieb stehen und beendete meine Rede, über die Ohnmacht seiner Kunst, ihm ins Gesicht. Unbehelligt stieg ich die Treppe hinunter und gelangte barfuß in einen Garten, wo ich über den Rasen ging und Blumen pflückte.

Aber man warf mir dabei die Zwangsjacke über und brachte mich in eine Anstalt außerhalb von Paris.

... Der Teil des Baus, in dem ich untergebracht war, ging auf eine große von Nußbäumen beschattete Wandelbahn. In einer Ecke stand ein kleiner Erdhügel, um den einer der Gefangenen den ganzen Tag herumging. Wir anderen gingen nur auf der Terrasse hin und her ... Dann war da eine Mauer, gegen Sonnenuntergang gelegen, auf die jemand Figuren gezeichnet hatte: Einen Mond mit geometrisch genauen Augen und Lippen, der eine Maske trug; ein Profil gleich einer japanischen Gottheit; einen gipsernen Totenkopf. Gegenüber standen zwei Quadersteine, die ein anderer der Gäste des Gartens behauen hatte: sie schnitten sehr gut ausgedachte Fratzen.

Besonders aber lockten mich zwei Türen, ganz unten in der Hausmauer: die Kellertüren erinnerten mich an die Eingänge, die ich bei den Pyramiden gesehen hatte. Unterirdische Gänge mußten dahinter sein.

VI

Nachdem ich die Bewohner dieser Welt eine Zeit lang beobachtet hatte, erkannte ich, daß sie Einfluß auf die Gestirne besaßen. Der, welcher sich den ganzen Tag im Kreise drehte, schien den Gang der Sonne regulieren zu müssen. Ein Greis, der von Zeit zu Zeit kam und mit der Uhr in der Hand einen Knoten machte, schien den Ablauf der Stunden zu hüten. Ich selbst fühlte mich in Verbindung mit dem Monde. Ein Blitzstrahl des Allmächtigen mußte einmal auf uns niedergefahren sein und hatte über das Antlitz des Mondes die schauerliche Maske gestürzt, deren Abbild dort gemalt war.

Meine Gefährten vereinten hier alle Rassen der Erde. Wir hatten die Ordnung der Gestirne aufs neue festzusetzen. Das neue System mußte ihnen eine größere Entwicklung geben. In der Zusammenstellung der Zahlen befand sich ein Irrtum. Und weil er sich eingeschlichen hatte, vollzogen sich alle Übel der Menschheit so folgerichtig.

Aber die himmlischen Geister bildeten nun, unter unseren menschlichen Formen, eine über die Zukunft entscheidende Generalversammlung. Wir waren himmlische Geister, wenn auch gemeine Sorgen vielfach auf unseren Gesichtern lagen. Meine Rolle war, durch die mir bekannten kabbalistischen Künste die zerstörte Welt zu heilen.

Außer der Wandelbahn hatten wir noch einen Saal, dessen senkrecht vergitterte Fenster ins Grüne gingen. Wenn ich dort auf die Linien der äußeren Bauten hinaussah, begannen sich die Wände und Fenster in tausend mit Arabesken beschwingte Pavillons zu zerteilen. Darüber schweiften Ausschnitte und schössen Spitzen auf, gleich den kaiserlichen Kiosken, die den Bosporus entlang stehen.

Abends spazierte ich heiter durch den Mondschein. Wenn ich die Augen in die Bäume erhob, rollten sich die Blätter so schnell und eigenartig, daß sich Gestalten von Reitern auf kraus angeputzten Pferden bildeten. Triumphierend brausten sie über mich hin.

Mir war, als ob auch diese Blätter und Steine im Geheimnis unserer Weltverschwörung seien. Ja, wir alle wollten die Schöpfung in der ersten Harmonie aller Dinge wiederherstellen. Die Verbindung zwischen uns allen besorgte der Magnetismus der Gestirne. Eine ununterbrochene Kette der mit unserer Vereinigung beschäftigten Intelligenzen lief um die Erde. Auch die bezauberten Gesänge tagsüber, die Tänze, die Blicke strebten nach demselben Ziel. Der Mond aber war bereits der freieste Ort, wo an der großen Neuerung der Welt gearbeitet wurde.

Ich zeigte mich am eifrigsten von dieser Arbeit eingenommen. Die Zeit eines jeden Tages war für mich sogar um zwei Stunden gewachsen. In diesen zweien bewegte ich mich im Reich der Schatten, obschon ich nach den Uhren des Hauses aufstand. Die Genossen rings, die sich erhoben, schliefen noch. Bis auch für mich die Sonne aufging, boten ihre Gesichter das Bild des Tartarus. Dann grüßte ich das Licht mit meinem Gebet, und das gemeinsame Leben fing an.

Immer spürte ich den Blick der Gottheit auf mir. Und unten kamen aus der Pflanze, aus dem Tiere, aus dem kleinen Insekt die Stimmen, die mich benachrichtigten. Daß ich in der Sprache meiner Gefährten selbst die geheimnisvollsten Wendungen verstand, ist nicht wunderbar. Aber auch die formlosen und leblosen Dinge fügten sich in meine Berechnungen ein. Die Lage der Kiesel, die Form von Winkeln, Spalten und Löchern, die Rippen der Blätter, die Menge der Farben, Düfte und Töne: dies gab mir ein Vorgefühl der kommenden Harmonie.

Wie konnte ich nur so lange außerhalb der Natur bestehen? Mit ihr muß man sich gleichstellen. Alles lebt, alles handelt, alles ist dort in Beziehung. Jetzt aber berühre auch ich mich mit ihr. Die Strahlen, die von mir ausgehen, durchdringen ohne Stocken die unendliche Kette der geschaffenen Dinge. Ein Netz bedeckt den Kosmos, dessen Fäden sich von Ort zu Ort über Planeten und Sterne ziehen. Ich, für den Augenblick der Erde verknüpft, unterhalte mich mit dem Chor aller Himmel, die an meinen Freuden und Schmerzen teilnehmen.

Ich erschrak bei dem Gedanken, dies Mysterium könne belauscht werden. Auch in den elektrischen Strom, in die körperliche Magnetik, vermag die Neugier und der Haß sich horchend einzuschalten. Leicht können die Geister von feindlichen tyrannischen Genien belauert, getrennt und einzeln unterworfen werden. So haben sie ganze Völker an ihr ewiges unsichtbares Szepter gefesselt. Auch der Tod bringt keine Befreiung, denn wir leben wieder in unseren Kindern, wie wir in unseren schon verstorbenen Vätern gelebt haben. Sie wissen alles, was wir sprechen und tun. Die Stunde unserer Geburt, der Punkt der Erde, auf dem wir erscheinen, die erste Bewegung und die nächste, der Name und alle Weihen und Gebräuche, in die wir eintreten: – der dichten Reihe unseres Lebens folgen sie– oder gehen ihr voran.

Erscheint dies Verhängnis so mächtig, wie ist der daran, der die Formeln anrührt, auf denen die Ordnung der Wesen beruht! Nichts ist gleichgültig und schwach in dieser Ordnung. Ein Atom kann alles auflösen, ein Atom alles retten. Und meine Seele? Ist sie das unzerstörbare Molekül, von etwas Luft aufgebläht, doch immer sicher, ihren Platz in der Weltordnung wiederzufinden? Oder wird sie zur leeren Stelle, ein Bild des Nichts, wenn sie in die Unendlichkeit verschwindet?

Ich meinte eine Antwort nur finden zu können, wenn ich mir über all meine früheren Existenzen, nicht nur über mein Leben, Rechenschaft ablegte. Denn wenn ich nur bewies, daß ich gut sei, bewies ich, daß ich es immer gewesen war? Aber wenn ich schlecht bin, könnte dann dieses Leben nicht zur genügenden Sühne werden? Dieser Gedanke beruhigte mich ... über die Möglichkeit der Sühne. Doch ich konnte so für immer unter die Unglücklichen eingereiht sein. Ich fühlte mich in kaltes Wasser eingetaucht, und ein noch kälteres Wasser rieselte in der nassen Tiefe aus meiner Stirn.

Der zauberhafte Name der Mutter und heiligen Gattin, Isis, belebte mich immer. Sie erschien mir in der Gestalt der Venus oder mit dem Antlitz der Maria. Meine bleiche zerrissene Mondsichel aber wurde mit jedem Abend schmäler. Sie schwand, als müsse sie vom Himmel flüchten. Sollte irgendein ungeheurer Zwischenfall unsere Hoffnung, unsere Verschwörung wieder zunichte machen? Ich sah klagende Schatten oben auf dem weißen schneidenden Lichtstrich

... Mein Zimmer lag am äußersten Ende eines Gangs, den auf der einen Seite die Irren bewohnen, auf der anderen die Wärter. Ich habe, als einziger, ein Fenster nach dem Hof. Dort steht ein blattiger Nußbaum, den ich liebe, und zwei chinesische Maulbeerbäume. Darüber sieht man zwischen den grünen Gittern eine sehr belebte Straße laufen. Gegen Sonnenuntergang erweitert sich der Horizont. Dann scheint ein breites Dorf voller Fenster dazuliegen. Laub, trocknende Lumpen und Vogelkäfige hängen an den Häusern. Das Gesicht einer Greisin, einer jungen Hausfrau, eines rosigen Kindes schaut zuweilen hervor. Schreien, Gesang, Gelächter schallt. Es hört sich froh oder traurig an

... In meinem Zimmer fand ich beim Einzug alle Reste meiner verschiedenen Vermögen und Ausstattungen vor. Da lagen die verworrenen Haufen, die Trümmer des Wohlbehagens, die seit zwanzig Jahren überallhin zerstreut waren ... und die nun irgendjemand hier versammelt hatte. In dieser faustischen Trödelstube steht ein alter dreifüßiger Tisch mit Adlerköpfen, eine von geflügelter Sphinx getragene Konsole, eine Bibliothek des achtzehnten Jahrhunderts, ein Bett, dessen ovaler niedergesunkener, nicht mehr aufzustellender Himmel seinen blauen und roten Stoff in falsche Falten legt. Auf einem bäurischen Gestell drängen sich beschädigte Fayencen und Porzellane aus Sèvres; Wasserpfeife, Becher aus Alabaster, Kristallgefäß; bemalte Wandfüllungen aus Holz, vom Abbruch eines alten Hauses, in dem ich gewohnt habe.

Es machte mir Freude, alles zu ordnen und die enge Mansarde zu etwas Doppeltem umzuschaffen, das dem Palast und der Hütte glich. Es war ein guter Auszug meines unstäten Lebens. Über das Bett hing ich meine arabischen Kleider, zwei sorgsam ausgebesserte Kaschmirs, eine Pilgerflasche, einen gewaltigen Plan von Kairo. An das Kopfende stellte ich eine Konsole aus Bambus, mit einer Lackplatte, auf der ich meine Toilettesachen ausbreitete. Man nahm mir nur ein kleines Bild nach Correggio fort, das Aphrodite und Eros darstellte; und einen Wandspiegel mit Jägerinnen. Meine Waffen waren nach den neuen Vorschriften verkauft worden. Sonst aber war jedes der abwechselnd in Wohlleben und Elend zugebrachten Jahre mit bezeichnenden Sachen vertreten. Meine Bücher hätten den Schatten Picos de la Mirandola und des Nicolaus von Cusa Freude gemacht; ein Babelturm aller Interessen. Das ließ man mir, genug, um einen Weisen närrisch zu machen. Aber sollte hier nicht ein Narr weise werden?

Besonders gern ordnete ich in den Schubkästen die Haufen meiner Aufzeichnungen; und meines persönlichen oder öffentlichen, alltäglichen oder glanzvollen Briefwechsels. Der Zufall der Begegnungen und der Reisen spiegelt sich in ihnen. In Rollen liegen arabische Briefe und Papiere aus Stambul und Kairo.

O Glück! o tödliche Traurigkeit! Diese gelben Buchstaben, das zerknitterte Papier, diese verwischten Fetzen bilden den Schatz meiner einzigen Liebe. Ich lese sie wieder. Wieder. Viele fehlen. Manche Briefe sind zerrissen oder durchgestrichen ...

Anmerkung der Freunde des Verfassers: Fragmente dieser Briefe fanden sich unter den Papieren Gérards. Sie mögen hier stehen, ohne Ergänzung, ohne Verknüpfung, ohne die Beziehung, deren Geheimnis der arme Träumer mit sich fort nahm.

*

So schreibe ich Ihnen wieder, da ich nur an Sie denke. Mit Ihnen beschäftige ich mich, mit Ihnen zerstreue ich mich, die Sie ganz beschäftigt und zerstreut sind. So vernünftig sind Sie. O Frau! o Frau! Der Künstler wird in Ihnen immer stärker als die Liebende sein. Ich aber liebe Sie auch als Schauspielerin.

In Ihrem Können ist Magie, die mich verzaubert. So gehen Sie denn mit festem Gang diesem Ruhm entgegen, den ich vergesse! Und brauchen Sie noch eine Stimme, die ermutigt, einen Körper, über den Sie noch höher steigen können ...

(Ein anderes Blatt)

Ich las Ihren Brief, o grausame Frau. Er ist zart und gut. Ich beklage mich nicht. Doch der Gedanke, daß in den edelsten und aufrichtigsten Gefühlen Lächerliches sein kann, macht mein Blut gefrieren.

Ich will lieber ungerecht gegen mich sein. Nein, Sie gleichen den Frauen nicht, die kein Herz haben und mit der Liebe spielen.

Doch seien Sie auf der Hut, nicht vor Ihrem guten Herzen, sondern vor der leichten Laune. Und schmerzlicher noch wäre mir, wenn Sie mich verließen, als wenn Sie mir untreu wären, nachdem Sie mir gehört hätten. Denn ich selbst bin argwöhnisch gegen die Empfindlichkeit. Darum würde ich, wenn Sie mir untreu wären, nur nach wirkungsvolleren Mitteln suchen, um in Ihre Zuneigung zurückzukehren. Ich bin von Dankbarkeit gegen Sie überfüllt. Vergessen Sie die Verzweiflung nicht, der die Trennung von Ihnen mich hinwürfe, ... o mein Gott!

Die Eifersucht ist ein toter Teil meines Wesens. Mein Geist weiß sich zu beugen. So kennen Sie mich nun, meine schöne Freundin. Lesen Sie dies und fürchten Sie nicht, mich zu sehen ...

(Ein anderes)

Sie irren, gnädige Frau, ich vergesse Sie nicht, und ich bescheide mich nicht, von Ihnen vergessen zu werden. Ich will es zwar, für Sie und für mich; aber mein Wille ist hier nicht am Platze. Ich ließ mich von den Dingen des Alltags abziehen: aber ich blieb immer am selben Ort. Es ist unentwirrbar; es ist verhängnisvoll; es ist komisch. Mich beruhigt nur, daß Sie allein auf der Welt es ernst nehmen müssen.

O, wenn ich etwas aus meinem Dasein in das Ihre mischte, wenn ich ein ganzes Jahr lang Sie mit meinen Briefen und mit meiner Gegenwart beschäftigte, wenn mir, ganz mir, Tage Ihres Lebens und gegen Ihren Willen Stunden Ihrer Gedanken gehörten: wie wäre jede Pein ein Lohn! Ich erhielt ein Lächeln. Ihre Furcht zerriß mir das Herz. Ich habe die Hand nur der Künstlerin geküßt.

Als ich Sie näher sah, hat meine Liebe sich gewandelt. Denn meine Kraft, bisher klar und scharf, ist ins Taumeln gekommen. Ich empfand nicht mein ganzes Glück, Ihnen nahe zu sein, auch nicht die ganze Gefahr, wenn ich Ihnen gefallen würde. Mein Wille durchkreuzte sich selbst Ich wollte mich Ihnen als ein scheuer Mensch zeigen. Aber diese beiden Eindrücke mußten in Ihrem Herzen einander zerreiben. Wäre ich jünger gewesen, hätte ich Sie mit naiverer, heißerer Leidenschaft gerührt. Älter, hätte ich meine Schritte überlegt, Ihr Wesen besser studiert und langsam in Ihr Herz gefunden ...

(Ein anderes)

Freundin, ich weiß nicht, was Sie geträumt haben. Ich aber komme aus einer schrecklichen Nacht. Ich bin unglücklich durch eigene Schuld, durch Ihre nicht; doch ich bin es. Großer Gott, verzeihen Sie die Unordnung meiner Seele, ihre bitteren Kämpfe. Ja, es ist wahr und umsonst verberge ich es Ihnen: Ich begehre Sie so sehr wie ich Sie hebe. Doch ich stürbe, ehe ich Ihr Mißfallen erregte. Verzeihen Sie mir! Seit diesen drei Monaten bin ich Ihnen treu, ich schwöre es Ihnen. O, wollen Sie mich der leeren Flut überlassen, die mich tötet?

Ich sage dies nur, damit Sie später daran denken. Es soll nicht sogleich sein. Sie machten mir Hoffnung, – ich denke an keinen bestimmten Tag. Aber tragen Sie doch gute Sorge darum! Ich weiß, die Frauen geben sehr ungern ohne einen Zwang nach. Sie aber müssen alle Galanterie verlassen, für das Glück. Was kümmert es mich, daß Sie anderen gehört haben. Mir sind Sie die erste Frau, die ich liebe. Vielleicht bin ich der erste Mann, der Sie liebt.

Es müßte die wahre Hochzeit werden, wo die Braut sich hingibt und spricht: Das ist die Stunde. Auch ich kenne gewisse Formen, eine Frau zu zwingen, die mich verschmäht. Sie wissen, ich habe sonderbare Gedanken, ich richte mein Leben gern wie einen Roman ein. Mißtöne schlagen mich, das moderne Verhalten der Männer gegen ihre Geliebten ist mir zuwider. Lassen Sie sich auf solche Art lieben, Sie werden Zauber und Süßigkeit empfinden, die Sie noch nicht kennen. Fürchten Sie nicht meinen Überschwang. Ihre Furcht soll immer die meine sein.

O, gute und wahre Freundin, nur eins würde ich fürchten: daß Ihre Einwilligung nicht aus Zärtlichkeit sondern aus Mitleid kommen könnte. Sie warfen mir vor, meine Liebe sei körperlich. Sie ist es nicht, denn ich würde eher verzichten, sollte ich statt einer zärtlich gewonnenen Frau eine resignierte in den Armen halten. Ich sage alles offen und meine Worte würden einen kalten Sinn abstoßen, doch ein nachsichtiges und gutes Herz werden sie rühren.

Eine Erregung, die ich kürzlich bei Ihnen wahrnahm, machte mir Freude: Sie schienen zu glauben, daß meine Beständigkeit seit einigen Tagen getrübt sei. Ach, seien Sie ruhig, wie wenig Verdienst ist doch in meiner Treue. Denn es gibt für mich nur eine Frau auf der Welt ...

(Ein anderes)

... aber hatten mir erlaubt, Sie heute eine Stunde zu sehen; und Sie klagen darüber. Mich hat meine Liebe Jahre verlieren lassen. Freilich, wenn Sie wollten, wären die Jahre wieder da. Mein Ruhm ist mir gleichgültig, wenn er nicht Ihr Antlitz trägt, um mich zu krönen. Bis dahin verliere er sich in dem Ihren. Und all mein leidenschaftliches Drängen soll niemals Ihren Weg zerwühlen. Schenkten Sie mir die Augenblicke Ihrer Ruhe! denn ich bin heute ruhiger ...

(Ein anderes)
(Der Anfang fehlt)

Ich stoße mich bei jedem Schritt. Glaubten Sie mich so ungerecht, so eigensüchtig, daß ich Ihre Ruhe mit meinem Wahnsinn stören könnte? Ach, ich denke doch so viel, und Sie haben so zahlreiche Beweise meiner Herrschaft über mich. Bin ich ein Kind, da ich Sie freilich mit aller Unklugheit des Kindes liebe?

Aber fordern Sie noch einen Beweis von mir. Ein Mann muß wohl ganz in Liebe sein, wenn er vor einer Probe auf Tod und Leben nicht zurückweicht. So werden Sie erfahren, wie Sie geliebt und verehrt sind.

Ich fürchte Sie ja so sehr, wie ich Sie liebe. Ihr Blick ist der süßeste und der schrecklichste für mich. Erst weit von Ihnen gebe ich mich jenen »extremen« Gedanken hin. Ich bin wohl allzusehr erregt, um den Weg zu Ihnen finden zu können. Da berühre ich Hindernisse, die ich nicht sehe, da stoße ich auf Feinde, die ich erkennen müßte!

Sicher hat sich Ihr Gefühl geändert; sonst würden Sie nicht verletzt sein von ein paar Ungleichmäßigkeiten, von Verrücktheiten, die meine Lage so einfach erklärt. Sagen Sie mir doch, woher kommt es? Hat Sie jemand beleidigt? Geben Sie mir etwas, an das ich mich halten kann, geben Sie mir jemanden, mit dem ich kämpfe! Ich brauche es, o Gott, um ohne Gnade Ihnen zu dienen, um Sie von mir zu befreien und alle Ungewißheit zu enden ...

(Ein anderes)

Mein Gott! mein Gott! ich konnte Sie einen Augenblick sehen. Also nicht so zornig, wie ich glaubte? Sie haben noch ein Lächeln für mich?.. Ich trage den Sonnenstrahl davon. Ich eile, daß mich ein Wort, ein immer gefürchtetes Wort nicht enttäuscht; – und hielt mich schon für allmächtig! Ein Blick schlägt mich nun nieder, ein Blick hebt mich auf, stark bin ich nur in der Ferne.

Ich verdiene wohl die Erniedrigung. Mit mehr Leiden noch muß ich zahlen, weil ich einen Augenblick solchen Stolzes hatte, solchen Ehrgeizes, daß ich einer so schönen, so begabten Frau teuer zu sein glaubte. Nun, ich warte, ängstigen Sie sich nicht, ich warte ...

(Ein anderes)

Zwei Tage ohne Sie zu sehen, ohne Dich zu sehen. O, wenn Du mich liebst, ... sind wir noch sehr unglücklich. Du hast Deine Stunden, Dein Theater; ich selbst stecke in einem Gewühl von Arbeit und Ärger. Ich weiß nicht, was ich gestern getan habe. Ich kam und ging, ich ging und kam ...

... Den armen Jean wage ich nicht so schlecht zu beurteilen, denn ich habe ihn nicht gesehen. Wenn man jemand nicht sieht, ist es seine Schuld? ... Nicht darüber lachen ...

(Ein anderes)

Sie sind seltsam. Doch es ist recht so. Mit einer Liebe wie der meinen muß man vielfältig kämpfen. Auf solche unermüdliche Leidenschaft muß ein unerhörter Widerstand antworten. Ja, recht so, gegen solche Listen und Apparate, gegen die taube und blinde Energie, die kein Mittel verschmäht, der keine Nachgiebigkeit zu groß ist, feurig wie eine spanische, geschmeidig wie eine italienische Leidenschaft: braucht es alle Feinheiten der Frau, und alle Gewalt des weiblichen Kopfes gegen ein entschiedenes Herz. Ja, der Widerstand durfte nicht leichter und unblutiger sein. Und ich bin vom letzten Schlag noch nicht geheilt ...

(Ein letztes)

Wir haben uns nun vor einem zu hüten: das ist die Ermattung, die auf die Heftigkeit, auf die übermenschliche Drangabe folgt. Wer nur ein mäßiges Verlangen hat, für den ist der Erfolg eine große Freude, die alle seine menschlichen Fähigkeiten springen läßt, ein Licht in seinem Dasein, das erbleichen und verlöschen wird. Aber wenn das ganz und gar ergriffene Herz vom Übermaß der Erregung einen Augenblick lang alle Federn seines Lebens angezogen fühlt: so kommt ein großer krampfhafter Schmerz, eine tiefe Verwirrung und das Haupt neigt sich knirschend wie unter dem Hauch eines Gottes. Ach, wie arme Geschöpfe sind wir! Wie sollen wir würdig der Stärke des Fühlens entsprechen, die der Himmel in uns legte! Ich bin nur ein Mann und Sie eine Frau, und die Liebe zwischen uns ist doch unvergänglich und göttlich ...

VII

Eines Nachts hörte man mich ekstatisch sprechen und singen. Einer der Angestellten holte mich aus meinem Zimmer und brachte mich ins unterste Stockwerk, wo er mich einschloß.

Ich setzte meinen Traum ungestört fort. Ich stand in der Mitte des Raumes und sah, daß ich in einem orientalischen Kioske eingeschlossen war. Als ich die Winkel untersuchte, stellte ich fest, daß er achteckig sei. Ein Diwan beherrschte rings umlaufend die Wände. Diese aber waren aus dickem Glas und ich sah dahinter reiche Schätze, Schals und Stickereien glänzen. Durch das Türgitter erschien mir eine vom Mond erhellte Landschaft voller Baumstümpfe und Felsen.

Langsam drang bläuliches Tageslicht in den Kiosk. Da war es, als stände ich mitten in einem aufdämmernden blutigen Fleischhaufen. Aus der Mauer gegenüber trat der Körper einer riesenhaften blutenden Frau hervor. Sie war wie mit einem Säbel in Stücke zerschnitten. Andere Frauen kamen aus den anderen Wänden, in rotem Wirrwarr zerteilter Glieder und Köpfe. Alle Rassen zeigten sich in ihrem Bau und ihren Zügen, und es waren Kaiserinnen, Fürstinnen, Damen, Bäuerinnen.

Das ist die Weltgeschichte, dachte ich, in mörderischen Strichen auf diese Wände mir vor die Seele gemalt. Das ist die dem Menschen verliehene Gewalt. Sie hat die Schönheit so gut zerstört! Die Säfte der Rassen verrinnen. Und von einer Schattenlinie, die durch die Türspalten schlich, meinte ich wie von einem Maß das Niedersteigen der Generationen ablesen zu können. Wir sanken ... sanken ...

Das angenehme, mitfühlende Gesicht meines Arztes weckte mich. Mit Absicht holte er mich in einen Saal, wo er einen Soldaten behandelte. Es war ein Afrikaner, der sich seit sechs Wochen weigerte, Nahrung zu nehmen. Durch einen langen Kautschukschlauch, den man in ein Nasenloch einführte, ließ man Gries und Schokolade in seinen Magen rinnen.

In diesem Leidenden begegnete mir ein unbeschreibliches, schweigsames und geduldiges Wesen. Es saß wie eine Sphinx an den äußersten Toren des Lebens. Ich liebte es bald wegen seines Unglücks und seiner Verlassenheit, und meine Zuneigung erhob mich selbst aus meiner Einsamkeit. Wie ein erhabener Dolmetsch schien es zwischen den Tod und das Leben gesetzt. Es war ein Beichtiger, der die Geheimnisse der Seele hören sollte, wenn sie nicht mehr zum Leben sprechen kann. Es war das Ohr, das reine und offene Gottes, ohne Beimengung von Gedanken eines Andern. Ich verbrachte Stunden mit dieser Prüfung, indem ich meinen Kopf über seinen neigte und seine Hand faßte.

Zum ersten Mal schenkte mir die Nacht einen heiteren Traum. Ich war in einem Turme. Er steckte so tief in der Erde und hob sich so hoch in den Himmel, daß mein ganzes Leben mit Aufsteigen und Absteigen zu vergehen schien. Meine Kräfte erschöpften sich und mein Mut wollte sinken, als sich plötzlich eine Seitentür öffnet. Ein Geist tritt hervor und sagt: Komm, Bruder! Ich weiß nicht, woher es in mein Ohr klang, daß er Saturnin heiße. Er hatte die Züge des armen hungernden Soldaten, doch wissend und verklärt. Er führte mich auf ein sternhelles Feld und wir blickten über den Himmel hin. Der Geist legte seine Hand auf meine Stirn: da begann einer der Sterne zu wachsen und ungeheuer zu leuchten. Und die Gottheit meiner Träume erschien. Sie trug ein indisches Gewand und schritt zwischen uns beiden, und die Wiesen grünten und auf der Spur ihrer Füße erhoben sich die Blätter und Blüten.

Sie sprach zu mir: Deine Prüfung ist zu Ende. Die Stufen, die dich müde machten, waren die Grade der alten endlosen Einbildungen. Erinnerst du dich, daß dein Fieber begann mit jenem Tage, da du zur heiligen Jungfrau flehtest, dann aber meintest, daß sie tot sei! Dein Gebet mußte ihr von einer einfacheren Seele überbracht werden. Diese Seele von der Erde gelöster, hat sich, dir nahe, gefunden. Nun darf ich selbst kommen, dich trösten.

Sie schwand. Ich erwachte lächelnd. Der Tag brach an. Ich schrieb auf die Wand vor mir die Worte:

Du hast mich in dieser Nacht besucht!

In diesen Worten sollte der Traum mir nicht mehr entschwinden.

VIII

Herrlich träumt es sich nun! Auf einem schlanken Gipfel der Auvergne ist der Hirtengesang verklungen. Arme Maria! Königin der Himmel! an dich wenden sich die Guten! Diese ländliche Melodie ist zum Ohr der Korybanten gedrungen. Sie stürzen, selbst singend, aus den geheimen Grotten, wo sie das Obdach der Liebe fanden.

Hosianna! Friede auf Erden und im Himmel! Zwischen beiden, auf dem gewaltigen Berg des Himalaya, ist eine kleine Blume geboren. Ein Stern sah sie an, eine süße fremde Sprache ließ sich über dem Vergißmeinnicht vernehmen: Myosotis!

... Eine silberne Perle schimmerte im Sand, eine goldene Perle leuchtete im Himmel. Die Welt war. Keusche Liebe, göttlicher Seufzer! Entzündet den heiligen Berg. Denn ihr habt Brüder in den Tälern und schüchterne Schwestern unter den Wäldern.

Und ihr, duftende Büsche von Paphos! O mit vollen Lungen die Luft des Vaterlandes atmen! Die wilde Nachtigall verbreitet Zufriedenheit.

Und wie schön ist immer meine große Freundin. Sie ist so groß, daß sie der Welt verzeiht, so schön ist sie, daß sie mir verziehen hat. Nachts schlief sie in einem unbekannten Palast und ich konnte sie nicht erreichen. Ich wollte mich aufschwingen, doch mein Brandfuchs bäumte sich. Die zerrissenen Zügel hingen über dem Schweiß der Kruppe, und ich mußte mich keuchend mühen, daß er sich nicht zu Boden warf. Saturnin mit dem guten Gesicht kam mir zu Hilfe und da erschien die Freundin selbst. Auf einer weißen, silbern gezäumten Stute hielt sie neben mir. Sie sprach: Mut, mein Bruder! Ihre großen Augen verschlangen den Raum, sie ließ ihr unendliches Haar hinwehen, es duftete nach Yemen.

Ich aber erkannte das Antlitz von ***. Triumphierend flogen wir. Zu unsern Füßen blieben die Feinde, die Feinde blieben zurück. Ein Wiedehopf geleitete uns als Bote, es ging zum höchsten Himmel. Der Bogen des Lichts klang in den apollinischen Händen. Adonis' bezauberndes Horn klang aus den Wäldern.

O Tod, wo ist nun dein Sieg! Da der siegende Messias bei uns reitet! Ihr Kleid ist von schwefligem Hyazinth, an Gelenk und Knöchel strahlen die Rubinen.

Da berührte sie mit leichter Gerte das perlmutterne Tor des Neuen Jerusalem. Ein Meer von Licht empfing uns.

Die frohe Botschaft verkünde ich unter den Menschen. Ich bin erwacht. Ich habe die Geliebte verklärt gesehen. Im geöffneten Himmel stand das Wort: Vergebung. Es war mit dem blendenden Blute Jesu Christi geschrieben.

... Aus dem finsteren Schoß des Schweigens sind zwei Töne erklungen, ein schwerer und ein leichter, und sogleich hat der ewige Kreislauf begonnen. Von Sonntag zu Sonntag flichtst du, o ewige Oktave, die Zeit in deine Wiederkehr. Die Berge preisen dich den Tälern, die Bäche den Strömen, die Ströme dem Meer. Die Luft küßt sich mit den Blumen. Ein Liebesschauer steigt und sinkt. Ins Unendliche entrollt sich der Chor der Sterne, kommt wieder, zieht sich zusammen und entfaltet sich voller Keime, voll neuer Schöpfungen.

Auf einem bläulichen Berggipfel ist eine kleine Blume geboren. Ein Stern sah sie an. Eine süße, fremde Sprache antwortete aus dem Vergißmeinnicht: Myosotis!

... Fluch über dich, Gott des Mordens! Der du mit Hammerschlag die heilige Tafel, aus den sieben kostbarsten Metallen, zertrümmertest. Denn die in der Mitte ruhte, die rosenfarbene Perle, konntest du nicht zerbrechen. Sie sprang hart empor unter dem Eisen ... und wir haben uns für sie bewaffnet! Denn sie ist die kleine Welt, des Makrokosmos liebliches Bild: Fluch dir, kriegerischer Gott, der eine Welt zerschlagen wollte.

Aber, riesiger Tor, Christi Gnade ist selbst für dich! Nun ist der Tod süß. Vergeben ist selbst der Schlange, welche die Welt umwindet. Siehe, ihre Ringe erschlaffen, ihr gähnender Rachen haucht die Blume Anxoka, die Schwefelblume, Strahlenblüte der Sonne.

IX

Und ich war in Zaardam, wie letztes Jahr. Schnee bedeckte die Erde. Ein kleines Mädchen lief gleitend über den harten Boden, sie ging auf das Haus Peters des Großen zu. Sie hatte ein schönes, bourbonisches Profil, ihr strahlender Hals neigte sich halb aus dem Schwanenfederkragen.

Mit ihrer kleinen rosigen Hand schützte sie eine Lampe gegen den Wind. Jetzt klopfte sie an die grüne Haustür. Eine dünne Katze fuhr heraus und zwischen ihre Beine, daß sie hinfiel. Ach, nur eine Katze! rief sie und stand wieder auf. Eine Katze ist auch etwas! antwortete ihr eine sanfte Stimme.

Auch ich war bei dieser Szene zugegen. Auf meinem Arm trug ich eine kleine graue Katze, die schrie. Es ist das Kind der alten Fee, sagte das kleine Mädchen zu mir. Darauf trat sie in das Haus.

... Ein farbiger Nebel wurde durchsichtig. Ein tiefer Grund enthüllte sich, wo tosend die Flut der eisigen Ostsee sich dehnte. Dort muß die kleine Newa mit blauen Wellen ganz in den mächtig wogenden Erdspalt münden. Die Schiffe von Kronstadt und Sankt-Petersburg rasselten an ihren Ankern, als müßten sie sich losreißen und ganz in den Abgrund stürzen.

Da fiel ein helles Licht von oben auf das trostlose Land. Im Nebel zeigte sich der Fels, der Peters des Großen Standbild trägt. In Wien habe ich Säulen gesehen, auf jedem Platze dieser Stadt, die man Gnadensäulen nennt: Wolken aus Marmor ballen sich empor und bilden die salomonische Ordnung, sie tragen Erdkugeln, auf denen die Gottheit thront: – Vom schweren Sockel des Standbilds zu Petersburg türmten sich Wolken aufwärts und erhoben sich bis zum Zenit. Auf ihnen thronten strahlende göttliche Gestalten, ich erkannte die beiden Katharinen und die heilige Kaiserin Helene, umringt von den schönsten Prinzessinnen Moskaus und Polens. Ihre sanften Gesichter waren nach Frankreich gerichtet, ihre Augen überwanden den Raum durch Gläser aus Kristall.

Ich aber deutete es: Mein Vaterland soll der Schiedsrichter im orientalischen Streit sein. Mein Traum schloß mit der Hoffnung, daß uns endlich Friede gegeben würde. Und so galt es für mich, all meine Träume, auch jene nicht einfach auf die Wirklichkeit bezogenen, festzuhalten. Warum sollte ich nicht, mit meinem ganzen Willen bewaffnet, die geheimnisvollen Tore erobern können? meine Gesichte beherrschen statt ihr Knecht zu sein? die lockende und grausame Chimäre bändigen? Kann ich nicht doch die Geister der Nächte, die mit der Vernunft spielen, in eine Regel zwingen? Der Schlaf besitzt ein Drittel unseres Lebens. Er ist der Trost für die Mühen der Tage oder die Buße für ihre Freuden. Ich aber hatte nicht mehr empfinden dürfen, daß der Schlaf die Ruhe sei. Nach einer Betäubung von wenigen Minuten begann immer das neue Leben, das losgelöst von Zeit und Raum sich dem Sein nach dem Tode näherte. Die Verbindung zwischen beiden Welten erinnerte an den fratzenhaften Widerschein von Dingen auf bewegter Wasserfläche ...

Da ich mich nun mühte, nach dem Sinn meiner Träume zu suchen, griff eine große Unruhe auch in den wachen Zustand über. Mein Gewissen jedoch war leicht und frei. Ich wußte nun um die Unsterblichkeit aller Geliebten und segnete die Bruderseele, die mich aus der Tiefe der Verzweiflung in himmlischen Glauben gelenkt hatte.

Dieser arme Soldat, dessen geistiges Leben sich so sonderbar zurückgezogen hatte, erwachte allmählich aus seiner Empfindungslosigkeit. Als ich erfuhr, er sei auf dem Lande geboren, brachte ich manche Stunde bei ihm zu und sang ihm alte rührende Dorflieder vor. Zu meiner Freude hörte er gern zu und wiederholte manche Stellen. Eines Tages endlich öffnete er die Augen, um eine einzige Sekunde: und ich sah, daß es blaue Augen gleich denen meines Traumgeistes waren.

Einige Tage danach behielt er die Augen offen. Er begann zu sprechen, mit vielen Pausen, und erkannte mich, sagte du zu mir und nannte mich Bruder. Noch immer wollte er nichts essen, bis er einmal aus dem Garten zurückkam und zu mir sagte: Ich habe Durst. Ich holte ihm zu trinken. Das Glas berührte seine Lippen, aber er konnte nichts schlucken. Warum, fragte ich, willst du nicht essen und trinken wie die anderen?

Weil ich tot bin, antwortete er. Ich bin auf jenem Friedhof begraben, an jenem Platz ... Und jetzt? Wo bist du? Im Fegefeuer. Ich vollende meine Reinigung ... Solche wunderlichen Gedanken kommen gewiß nur aus der Krankheit. Ich fühle, daß ich selbst nicht weit vom gleichen Glauben entfernt gewesen war. Gute Pflege hat mich nun schon der Liebe meiner Familie und meiner Freunde zurückgegeben. Ich urteile ruhiger; doch ich bin glücklich, daß ich dies erlebte und sah. Ich vergleiche meine Prüfungen dem, was den Alten das Hinabsteigen zur Unterwelt bedeutete

*

Dies sind die
letzten Worte, die
Gérard schrieb.

*


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