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Sylvia

Idylle aus dem Valois

I
Verlorene Nacht

Ich kam aus einem Theater, wo ich jeden Abend zum Vorspiel in der großen Haltung des Verliebten erschien. Manchmal war es ganz leer, manchmal sehr voll. Mir aber lag nichts am Anblick des Parterres mit seinen dreißig gezwungenen Zuhörern, den Logen im Schmuck verjährter Gewänder und Hauben. Ich nahm auch an der sprühenden Bewegung im Hause nicht teil, dessen Ränge die Kronen blühender Kleider, die funkelnden Sterne der Edelsteine und Gesichter trugen. Aber so wenig wie das Haus zog mich selbst die Bühne an – bis die zweite oder dritte Szene dieses geschmacklosen Werkes aus vergangener Ruhmeszeit einsetzte, eine wohlbekannte Gestalt den öden Raum erhellte und den leeren Gesichtern um mich ihr Leben und ihre Sprache lieh.

Ich lebte in ihr, und sie lebte für mich allein. Ihr Lächeln erfüllte mich mit grenzenloser Seligkeit, ihre Stimme schwang so fein und stark zugleich, daß ich vor Freude und Liebe zitterte. Sie war vollkommen, sie weckte all meine Begeisterung auf, sie sprach zu jeder Stimmung in mir. Wie der Tag war sie schön, wenn die Lichter der Rampe sie von unten beglänzten, wie die Nacht war sie bleich, wenn bei dunkler Rampe nur der Kronleuchter auf sie herniederstrahlte, daß sie im Schatten der eigenen Schönheit natürlicher schimmerte. So heben sich von dem braunen Grund pompejanischer Fresken die Figuren der göttlichen Horen ab, den Stern auf der Stirn.

Ein ganzes Jahr lang hatte ich mich noch nicht erkundigt, wer sie war. Ich fürchtete wohl, den magischen Spiegel zu trüben, in dem ihr Bild erschien. Ich hatte nur gelegentlich einige Äußerungen über die Schauspielerin, nicht über die Frau, gehört. Darauf achtete ich so wenig wie etwa auf Gerüchte, die eine Prinzessin von Trapezunt betroffen hätten. Ein Onkel von mir, aus vorletzten Jahren des achtzehnten Jahrhunderts (man muß im Jahrhundert gelebt haben, um es wahrhaft zu kennen) hatte mich frühzeitig belehrt, daß Schauspielerinnen keine Frauen seien; die Natur habe ihnen ein Herz zu machen vergessen. Er sprach gewiß von denen aus seiner eigenen Zeit. Aber er erzählte mir soviel Geschichten von seinen Erwartungen und Enttäuschungen, zeigte mir soviel elfenbeinerne Porträts, reizende Medaillons, die nun seine Tabakdosen schmückten, soviel vergilbte Kärtchen und verschossene Bänder, an die sich immer das Ende einer Liebe schloß, daß ich von den Frauen sehr schlecht dachte und sie auch kaum mehr nach Epochen unterschied.

Wir lebten jetzt in einer seltsamen Zeit, wie sie gewöhnlich auf Revolutionen oder Niedergänge großer Reiche folgen. Das war nicht mehr die Zeit heroischer Galanterie der Fronde oder die elegante geschmückte Lasterhaftigkeit der Regentschaft oder des Direktoriums Skeptizismus voll toller Orgien. Jetzt herrschte eine Mischung aus Tätigkeitsdrang und faulem Zögern. Blendende Utopien, philosophische und religiöse Strömungen aller Art, haltlose Begeisterungen vermengten sich mit neuen Instinkten einer Renaissance, Überdruß an alten Zwiespältigkeiten, ganz unbestimmten Hoffnungen; es war vielleicht wie zur Zeit des Peregrinus und Apulejus. Der materiell gewordene Mensch roch an den Rosen, die ihn in der schönen Isis Händen zu einem ganz neuen Geschöpf machen sollten. Die ewig junge reine Gottheit erschien uns in den Nächten und flößte tiefe Reue über die verlorenen Tage ein. Ehrgeiz jedoch lag unserem Alter nicht, und rings die gierige Jagd nach Ämtern und Ehren stieß uns immer weiter aus der Sphäre der Möglichkeiten, der Tätigkeiten hinaus: Unsere Zuflucht wurde der Elfenbeinturm des Dichters, und in ihm stiegen wir immer höher und entfernten uns von der Menge. Auf die hohen Orte von unseren Meistern geführt, atmeten wir endlich die reine Luft der Einsamkeit, tranken im Goldkelch der Legenden Vergessenheit, berauschten uns an Dichtung und Liebe. Ach – Liebe? Nur zu ungreifbaren Formen, zu rosigen und blauen Tönen, zu metaphysischen Geschöpfen – Liebe! Die wirkliche Frau, welche in unsere Nähe kam, störte nur all unsere Vorstellungen: Sie mußte als Königin oder Gottheit kommen – und vor allem in der Entfernung bleiben.

Einige von uns freilich nahmen diese platonischen Paradoxe nicht so schwer und durchkreuzten Alexandriens erneuerte Ideen mit der geschwungenen Fackel der Unterweltsgötter, die einen Augenblick lang ihre Funkenschleppe durch die Dämmerung der Welt zieht. So beschloß ich nun beim Verlassen des Theaters, trübselig wie von einem entschwundenen Traum, in eine Gesellschaft zu gehen, in der alle Melancholie vor dem unermüdlichen Schwung einiger stürmischer und manchmal feiner Geister entwich. Man trifft sie immer in Epochen des Verfalls oder Aufgangs. Ihre Reden konnten sich bis zu solchen Gipfeln steigern, daß Furchtsame unter den Zuhörern nach den Fenstern blickten, ob nicht plötzlich Hunnen oder Kosaken erschienen und diese zugespitzten Argumente niederschlügen.

Ich trat ein. Jemand sprach mich an: Seit langer Zeit treffe ich dich im gleichen Theater, sooft ich dort bin ... Welche ist es? ...

Ich nannte ihren Namen, obwohl man doch gewiß um keiner anderen willen dorthin gehen konnte. Ach! sprach jener nachsichtig, da drüben siehst du den Glücklichen, der ihr Begleiter ist, doch getreu den Gesetzen unseres Klubs sie erst am Ende der Nacht aufsuchen wird.

Ohne besondere Erregung blickte ich hin. Es war ein gutgekleideter junger Mann, mit bleichem nervösem Gesicht, mit sanften melancholischen Augen. Er warf Gold auf den Spieltisch, verlor gleichmütig. Ja, was gehts mich an, ob er es ist oder ein anderer. Auch scheint ers ja wert zu sein. – Und du? fragte mein Kamerad. – Ich? Sie ist nur ein inneres Bild für mich.

Ich ging hinaus, in den Lesesaal, blickte in eine Zeitung. Ich glaube, daß ich nach einem Börsenkurs suchen wollte. Der Rest meines Reichtums bestand zum großen Teil in ausländischen Papieren, die lange wenig Wertung gefunden hatten. Jetzt aber hieß es, die Börse habe sie aufgenommen. Es war richtig. Sie galten schon hoch. Ich wurde wieder reich.

Sofort kam mir aus der veränderten äußeren Lage dieser Gedanke: Ich würde die geliebte Frau nun besitzen können. Das Ideal – berührte ich mit den Fingern. Zur Sicherheit wühlte ich auch die anderen Blätter durch; sie bestätigten die Nachricht. Über dem Zeitungshaufen erhob sich mein Gewinn gleich der Goldstatue eines Molochs –. Was wird der junge Mensch sagen, dessen Platz ich nun einnehmen werde?

Nein, nicht so! Meine Jugend empörte sich, sie wollte Liebe nicht mit Gold töten! Es war ein Gedanke aus einer anderen Zeit gewesen, – daß eine Frau wie diese käuflich sein müßte!

Mein Blick lief noch wahllos durch die Zeitung in meiner Hand, und ich las jetzt folgende zwei Zeilen:

» Fest des Straußes der Provinz. – Morgen müssen die Schützen von Senlis den Strauß an die von Loisy abgeben.«

Diese einfachen Worte erregten in mir eine ganz andere Reihe von Empfindungen ... Aufstiegen Erinnerungen an die lang vergessene Provinz meiner Jugend, ein fernes Echo von kindlichen Festen ... Horn und Trommel erklangen weit in den Wäldern und Weilern, junge Mädchen zogen Girlanden, teilten singend bebänderte Sträuße aus. Ein schwerer Karren, mit Rindern bespannt, empfing im Vorbeifahren die Geschenke, und wir Kinder der Gegend bildeten einen Zug mit Bogen und Pfeilen und wußten nicht, daß wir so von Geschlecht zu Geschlecht über neue Verfassungen und Glauben hinweg ein druidisches Fest überliefern halfen.

II
Adrienne

Ich ging nach Haus und legte mich hin, konnte aber keine Ruhe finden. Im Halbschlaf glitt meine Jugendzeit an mir vorbei. Dieser Zustand, wenn der Geist noch mit den tausend Erfindungen des Traumes streitet, zeigt uns manchmal in wenigen Minuten die schärfsten Bilder einer langen Lebensperiode.

Ein Schloß aus der Zeit Heinrichs IV. stand vor mir, mit spitzen Schieferdächern, roter Front, gelbgezähnten steinernen Ecken. Davor lag ein großer grüner Platz, umpflanzt mit Ulmen und Linden, deren Laub die untergehende Sonne flammend durchstach. Auf dem Rasen tanzten junge Mädchen und sangen Lieder, die ihre Mütter ihnen überliefert hatten. Sie sangen in so reinem natürlichem Französisch, daß man sich ganz tief im alten Land Valois fühlte, wo das Herz Frankreichs mehr als tausend Jahre schlug.

Ich aber war der einzige Jüngling in dieser Runde und war dort mit meiner jungen frischen Begleiterin, Sylvia, einem kleinen Mädchen aus dem Nachbardorf, mit schwarzen Augen, reinem Gesicht, leicht gebräunter Haut. Ich hatte sie lieb und sah nur sie, – bis zu diesem Tag! Manchmal bemerkte ich beim Tanzen eine große schöne Blonde, die Adrienne genannt wurde. Plötzlich, doch nach den Regeln des Tanzes, stand sie neben mir in der Mitte des Kreises. Wir waren gleich groß. Man rief uns zu, wir müßten uns küssen, und Reigen und Chor drehten sich wilder als vorher. Als ich ihr den Kuß gab, konnte ich nicht anders, mußte ihre Hand dabei drücken. Die langen Ringel ihres goldenen Haares rührten an meine Wangen. Von diesem Augenblick an war eine fremde Unruhe in mir.

Die Schöne mußte jetzt singen, um in den Reigen zurückkehren zu dürfen. Man hockte sich rings um sie nieder, und sogleich mit frischer klingender Stimme, auch ein wenig verschleiert, wie oft bei den Mädchen dieses nebligen Landes, sang sie eine alte Romanze voll Schwermut und Liebe. Wie immer war es das Unglück der in den Turm gesperrten Prinzessin, die der Vater für ihre Leidenschaft strafte. Jede Strophe schloß mit einem meckernden Triller, der das Zittern der Stimme eines Greises nachahmen sollte, aber mit melodiösem Schwingen die Jugend der eigenen hervortreten ließ. Während sie sang, stieg der Schatten der großen Bäume immer tiefer herab, und der Schein des aufgehenden Mondes fiel auf sie allein, mitten in unserem aufmerksamen Kreise.

Als sie schwieg, blieben wir alle still. Schwache Dünste bedeckten die Wiese und rollten sich zu blanken Flocken an den Spitzen der Gräser. Es war seltsam schön wie im Paradies. Endlich sprang ich auf und rannte zum Schlosse, vor dessen Erdgeschoß Lorbeerbäume in großen einfarbig bemalten Fayencevasen standen. Ich brachte zwei Zweige davon, sie wurden zum Kranz gebogen, und ich setzte ihn auf Adriennes Haupt, daß die Blätter auf dem blonden Haar im weißen Mondschein flimmerten. Sie erhob sich, ihre schwungvolle Gestalt grüßte uns, und sie lief ins Schloß. Wir hörten, sie stamme aus einer Familie, die den früheren Königen von Frankreich verwandt sei; vom Blute der Valois sei sie. Für diesen Festtag durfte sie an unserem Spiele teilnehmen. Doch wir sahen sie nicht wieder, denn am Tage darauf kehrte sie in ihr Kloster zurück.

Als ich wieder neben Sylvia stand, entdeckte ich, daß sie weinte. Da natürlich der Kranz, den meine Hände der schönen Sängerin aufgesetzt hatten, schuld an diesen Tränen war, so sagte ich: ihr solle sogleich ein anderer gepflückt werden! Aber sie antwortete, es liege ihr nichts daran, denn sie verdiene ihn nicht. Vergebens suchte ich mich zu rechtfertigen, sie sprach kein Wort auf dem Heimweg.

Ich aber mußte auf die Hochschule nach Paris zurückgehen. Und trug dies zwiefache Bild einer süßen, traurig zerbrochenen Freundschaft – und einer unbestimmten unmöglichen Liebe in mir, Quell schmerzhafter Gedanken, die von keiner Philosophie zu stillen waren. Adriennes Gesicht triumphierte endlich allein, Luftspiegelung glorreicher Schönheit, die mir die Stunden des ernsten Studiums streichelte oder zerstörte.

In den Ferien des nächsten Jahres erfuhr ich, daß ihre Familie sie hatte den Schleier nehmen lassen.

III
Entschluss

Diese halb geträumte Erinnerung machte mir alles klar. Die haltlose Liebe zu einer Frau vom Theater, die mich jeden Abend zur Stunde des Schauspiels ergriff, – wächst aus dem Andenken an Adrienne hervor. Blume der Nacht, der bleichen Klarheit des Mondes erschlossen! blondes rosiges Phantom, gleitend über das grüne von weißen Dämpfen gebadete Gras ... Ein Gesicht, das ich seit Jahren vergessen hatte, eine Ähnlichkeit, zeichnete sich nun mit sonderbarer Schärfe in mir ab.

Eine Nonne in der Form einer Schauspielerin lieben! Und wenn es die gleiche war? – Ich werde wahnsinnig! – Schicksalhaftes Dahinrollen, wenn das Unbekannte uns zieht, Irrlicht, vor uns fliehend über den Binsen eines toten Sumpfs ... Setze den Fuß wieder auf festes Land!

Und Sylvia, die ich so sehr liebte? Warum hatte ich sie seit drei Jahren vergessen, das schönste Mädchen von Loisy? Sie lebt, guten reinen Herzens, ich sehe ihr Fenster, wo der Wein sich um den Rosenstock schlingt, ich höre den tiefklingenden Lärm ihrer Klöppel und ihr Lieblingslied: »... Die Schöne saß – Am Bach im Gras ...«

Sie erwartet mich noch. Wer könnte sie genommen haben! Sie ist so arm, unter den guten Landleuten in Loisy, mit den rauhen Händen, den braunen dürren Gesichtern. Sie liebt allein mich kleinen Pariser. – Seit drei Jahren verzehre ich als großer Herr die schmale Hinterlassenschaft meines Onkels, den ich in Loisy oft besuchte. Sylvia würde es für ein hübsches Vermögen halten ... Und der Zufall macht mich gerade wieder reich. Es ist noch Zeit ...

Jetzt schläft sie. Nein, heute Nacht nicht, es ist Schützenfest, da tanzt man bis zum Morgen. Wie spät ist es? Ich hatte keine Uhr. Inmitten des glänzenden Krams, den man in dieser Zeit rings um sich aufzustellen pflegte, um sich ein echtes Zimmer vergangenen Stils hervorzuzaubern, blinkte dort das Schildpatt einer Renaissance-Stutzuhr: Medicäische Karyatiden, ruhend auf gebäumten Rossen, trugen die goldene Kuppel, auf ihr stand die Figur der Zeit; über einer Diana im Relief auf ihren Hirsch gestützt, kreiste das Zifferblatt mit den emaillierten Stunden auf schwarzem Schmelzgrund. Es war sicherlich ein gutes Uhrwerk darin, aber man hatte es seit zwei Jahrhunderten nicht mehr aufgezogen. Ich hatte sie auch gewiß nicht gekauft, um nach der Uhr zu sehen.

So stieg ich zum Pförtner hinab. Seine Kuckucksuhr zeigte auf eins. In vier Stunden konnte ich in den Ballraum zu Loisy eintreten. Ich eilte fort. Am Platz des Palais Royal warteten noch einige Fiaker auf späte Spieler. Schon rief ich dem besten zu: Nach Loisy!

Das war zur Nacht ein trauriger Weg. Schön wird die flandrische Landstraße erst, wenn sie die Wälder erreicht. Immer zwei Reihen einförmiger Bäume schneiden links und rechts dunkle Grimassen.

IV
Eine Fahrt nach Kythera

Während der Wagen über die Hügel rollt, steigen aufs neue Erinnerungen in mir herauf.

Einige Jahre nach jener Begegnung mit Adrienne war ich zum Kirchweihfest wieder in Loisy. Ich nahm meinen alten Platz in der Bogenschützenkompagnie ein. Das Fest leiteten junge Männer aus alten Familien, deren Schlösser, mehr von der Zeit als von den Revolutionen mitgenommen, hier und da verloren noch in den Wäldern standen. Aus Chantilly, Compiègne, Senlis sprengten lustige Reitergruppen herbei und stellten sich in den ländlichen Zug der Bogenschützen ein. Nach langem Marsch durch alle Orte, nach der Messe in der Kirche, nach den Wettkämpfen und der Verteilung der Preise wurden die Sieger zum Festmahl geladen.

Das fand auf einer von Pappeln und Linden überschatteten Insel statt, die in einem der von Nonette und Thève gespeisten Seen lag. Man wählte sie, weil auf ihr ein ovaler Säulentempel stand als ein herrlicher Festsaal. Die Gegend ist mit solchen leichten Bauten des achtzehnten Jahrhunderts übersät, philosophische Millionäre ließen sich damals vom alles beherrschenden Geschmack in ihren Plänen inspirieren. Dieser Bau war, glaube ich, einst der Urania geweiht. Drei Säulen waren umgestürzt und hatten ein Stück des Architravs mitgerissen. Aber man hatte das Innere aufgeräumt, Girlanden zwischen die Säulen gespannt und die Ruine ganz jung gemacht.

Auf bewimpelten Barken ruderten wir zur Insel; Watteaus Gemälde schwebte wohl vor. Wir trugen freilich moderne Kleider. Der ungeheure Feststrauß, aus seinem Karren gehoben, schwamm in einer großen Gondel mit. Die weiße Schar der jungen Mädchen, die ihn geleiten mußte, saß rings um ihn auf den Bänken der Gondel, und der anmutige Brauch aus alten Tagen spiegelte sich im Gewässer rings um die abendlich gerötete Insel mit ihren Dornbüschen, Säulen und hellen Bäumen. Die Barken landeten rasch, der Blumenkorb wurde feierlich hinaufgetragen und in die Mitte der Tafel gestellt. Alles nahm Platz; wer die Eltern kannte, durfte sich neben die Mädchen setzen.

So saß ich neben Sylvia. Ihr Bruder hatte mich schon angesprochen: da ich ihnen solange ferngeblieben sei. – Nein, mich, nur mich hat er vergessen, sagte Sylvia, wir sind vom Lande, Paris steht hoch darüber! Ich wollte sie küssen, damit sie schweige. Aber sie war böse, und ihr Bruder erst erreichte, daß sie mir gleichgültig die Wange hinhielt. Ich hatte keine Freude an diesem Kuß, den alle erhalten konnten. Denn in diesem patriarchalischen Lande, wo man jeden Vorübergehenden grüßt, ist ein Kuß nur eine Höflichkeit unter guten Leuten.

Eine schöne Überraschung war von den Festgebern vorbereitet worden. Am Ende des Mahles erhob sich vom Grund des mächtigen Blumenkorbes ein wilder Schwan, bisher ein Gefangener unter den Blumen. Mit seinen starken Flügeln zog er ein Netz von Girlanden und Kränzen mit sich empor und zerriß es und zerstreute die Blumen nach allen Seiten. Während er sich froh in die letzten Lichter der Sonne schwang, haschten wir nach den Kränzen, mit denen jeder die Stirn seiner Nachbarin schmückte. Ich griff einen der schönsten und Sylvia ließ sich lächelnd küssen, zärtlicher als beim ersten Mal. Jetzt war die Erinnerung ausgelöscht! Und meine Bewunderung war nicht mehr zwischen zweien geteilt. Wie schön sah sie aus! Hinreißend schwarze Augen, schon in der Kindheit verführerisch, ein Lächeln unter den gebogenen Brauen, ein plötzliches Aufleuchten der regelmäßigen sanften Züge, fast athenisch. Ja, ihr Gesicht war der antiken Kunst würdig inmitten der zerknitterten Gesichtchen ihrer Freundinnen. Die feine Länge der Hände, die Arme, die im Wachsen stets weißer geworden waren, die unbefangene Haltung veränderte sie vollkommen gegen früher. Ich mußte ihr das sagen, in der Hoffnung, so auch meine rasche Treulosigkeit von einst zu begraben.

So oft es ging, entschlüpften wir dem Tanze, um von der Kindheit zu sprechen und träumerisch die letzten Spiegelungen des Himmels im Wasser und im Laube anzuschauen. Der Bruder riß uns aus der Versunkenheit, denn es war spät, und ihr Dorf lag ziemlich fern.

V
Das Dorf

Ihre Eltern wohnten im früheren Haus des Polizeidieners. Ich begleitete sie bis vor die Tür, dann ging ich nach Montagny zurück, wo ich beim Onkel wohnte. Um das Wäldchen zu durchqueren, bog ich von der Straße in einen dicht umbuschten Pfad ab. Dort mußte ich zu den Mauern des Klosters kommen, an denen ich eine Viertelmeile entlang zu gehen hatte. Der Mond kroch von Zeit zu Zeit hinter die Wolken und leuchtete kaum auf den dunklen Sandstein und das Heidekraut herab, das sich endlos unter meine Füße schob. Zu beiden Seiten liefen formlose Waldwege hin, und immer standen vor mir die druidischen Felsen, die in diesem Lande das Andenken der von den Römern vertilgten Söhne Armens ewig aufbewahren. Vom Gipfel dieser ehrwürdigen Erhebungen sah ich die fernen Seen wie Spiegel auf nebliger Ebene liegen, und jener, in dessen Mitte das Fest gespielt hatte, unterschied sich nicht mehr von den anderen.

Die Luft war lau und süß, ich beschloß nicht weiter zu gehen und hier den Morgen zu erwarten. Ich warf mich auf die Kräuter hin. – Beim Erwachen sah ich die lange Linie der Klostermauern neben mir, auf der anderen Seite den Hügel mit den schartigen Ruinen einer karlovingischen Residenz. Nahe dabei über den Waldwipfeln stemmten die hohen Gebäude der Abtei von Thiers ihr von gotischen Kleeblättern und Spitzbogen durchbrochenes Gemäuer in den Horizont. Darüber spiegelte die vom Wasser wie einst umflossene Burg Pontarmé schon die ersten Strahlen des Tages, während im Süden die hohe Warte von La Tournelle und vier andere Türme auf Hügeln standen.

Diese Nacht war mir süß gewesen, und ich dachte nur an Sylvia. Aber der Anblick des Klosters erregte mich doch einen Augenblick lang, als könnte hier vielleicht Adrienne wohnen ... Die Morgenglocke klang noch in meinem Ohr, davon war ich wohl aufgewacht. Ich wollte schon auf die höchste Spitze der Felsen steigen, um einen Blick über die Mauern ins Kloster zu werfen. Aber ich besann mich; es wäre eine Entweihung gewesen. Die Sonne kam, sie vertrieb die sinnlose Erinnerung und duldete nur noch Sylvias rosenfarbene Züge. Jetzt will ich sie wecken, dachte ich, und schlug den Weg nach Loisy ein.

Da lag das Dorf, zwanzig Häuschen, deren Mauern Weinstock und Rosenstock umklettern und mit Blatt und Blüte behängen. Morgendliche Spinnerinnen mit roten Kopftüchern arbeiten vor einem Bauernhof in dichter Gruppe. Sylvia ist nicht unter ihnen. Sie ist fast ein Fräulein, seit sie feine Spitzen macht, während ihre Eltern gute Dörfler geblieben sind. Ich bin zu ihrer Stube hinaufgestiegen, ohne daß sich jemand wundert. Sie ist schon lange auf und rührt ihre Spitzenklöppel, die mit sanftem Geräusch auf dem grünen Kissen im Schoß klappern. Da ist der Faulpelz, sagt sie mit ihrem hinreißenden Lächeln, sicher kommst du jetzt erst aus deinem Bett. Ich erzählte ihr meinen nächtlichen Irregang durch Busch und Felsen. Sie will gut zu mir sein: Wenn du nicht zu müde bist, sollst du noch mit mir fortgehen, meine Tante in Othys besuchen. Sofort erhebt sie sich heiter, macht ihr Haar vor dem Spiegel und setzt sich den ländlichen Strohhut auf. Unschuld und Freude blinken in ihren Augen.

Wir gingen am Ufer des Flüßchens entlang, über die Wiesen besät mit Margeriten und Butterblumen, durch das Gehölz; und kürzten den Weg im Sprung über Bäche und Büsche ab. Die Amseln pfiffen in den Bäumen und die Meisen flohen lustig aus dem Laub, das wir im Gehen gestreift hatten.

Manchmal trafen wir Sinngrün an, Rousseaus Liebe, mit offenen blauen Kronen zwischen den langen gepaarten Blättern, bescheidene Lianen, die den flüchtigen Fuß meiner Freundin festhielten. Sie suchte ohne Erinnerung an jenen Weisen von Genf nach duftigen Erdbeeren, und ich sprach von der Neuen Héloïse und deklamierte einige Stellen auswendig. Ist das hübsch? fragte sie. – Herrlich ist es. – O! dann muß ich es lesen. Der Bruder muß es aus Senlis mitbringen. Und ich fuhr fort, aus der Héloïse zu rezitieren, während Sylvia Erdbeeren pflückte.

VI
Othys

Am Ausgang des Waldes standen große Büsche von purpurnem Fingerhut; sie pflückte einen gewaltigen Strauß davon. Meine Tante freut sich über diese schönen Blumen in ihrem Zimmer. Schon spitzte sich der Kirchturm des Dorfes aus den bläulichen Hügeln. Die Thève lärmte wieder hervor, rollte über ihre Kiesel, wurde schmal, weil es ihrer Quelle zuging, wo sie in den Wiesen ausruht in Gestalt eines kleinen Sees voller Schwertlilien und Iris. Bald waren die ersten Häuser da. Sylvias Tante wohnte in einem Häuschen aus ungleichem Sandstein, darüber sich ein Gitterwerk von Hopfen und wildem Wein zog. Dort lebte sie allein von ein paar Quadratmetern Erde, die die Nachbarn für sie seit dem Tode ihres Mannes bebauten. Wie Feuer kam die junge Nichte in die Hütte: Guten Tag, Tante, hier sind deine Kinder, haben Hunger! Sie küßte sie zärtlich, legte ihr den Haufen Blumen in die Arme, und stellte mich endlich vor: Das ist mein Geliebter!

Auch ich küßte die Tante, die sagte: Er ist sehr nett! Also ein Blonder ... Er hat hübsches feines Haar, rief Sylvia. Das hält nicht vor, sagte die Tante, aber ihr habt noch viel Zeit und zu deinem braunen paßt es gut! Er muß auch frühstücken, sprach Sylvia. Sie ging und suchte in den Schränken, im Mehlkasten, fand Zwieback, Milch, Zucker, und sorglos klapperten aus ihrer Hand auf den Tisch die Teller und Schüsseln aus emaillierter Fayence mit breiten Blumen und lebhaft gefiederten Hähnen. Ein Porzellannapf voll Milch, darin die Erdbeeren schwammen, wurde zum Mittelpunkt des Mahles gemacht, und aus dem Garten holte sie Kirschen und Stachelbeeren und stellte zwei Vasen voll Blumen auf beide Enden des Tischtuches.

Aber die Tante hatte die schönen Worte gesprochen: Alles dies ist nur Nachspeise. Jetzt laßt mich machen. Und sie hatte schon die Pfanne vom Haken genommen und Reisig in den hohen Ofen geworfen. Ich will nicht, daß du etwas anrührst! Sie wehrte Sylvia ab. Deine hübschen Finger verderben, die schönere Spitze machen als die Leute in Chantilly! Du hast mir viel geschenkt, und ich verstehe mich darauf. – Ach ja, Tante, hast du vielleicht noch Stücke alter Spitze, als Modelle für mich? – Wollen einmal nachsehen! vielleicht ist etwas in meiner Kommode. – Gib mir die Schlüssel, fing Sylvia wieder an. – Ei, die Schubladen sind offen. – Ist nicht wahr! eine ist immer verschlossen. Und während die gute Frau die Pfanne reinigte, nachdem sie sie ein wenig angewärmt hatte, löste Sylvia aus dem Bund an ihrem Gürtel einen kleinen verzierten Stahlschlüssel, den sie mir triumphierend zeigte.

Ich folgte ihr, die rasch die Holztreppe zur Stube hinauf eilte. O heilige Jugend, o heiliges Alter! Wer konnte planen, die Reinheit einer ersten Liebe in diesem Heiligtum der Erinnerung zu trüben! Das Bild eines jungen Mannes aus guter alter Zeit lächelte da mit schwarzen Augen und rosigem Mund zu Häupten des Bauernbetts in vergoldetem Rahmen. Er trug die Uniform der Gardejäger des Hauses Condé; seine halb kriegerische Haltung, sein gerötetes freundliches Gesicht, seine blanke Stirn unter dem gepuderten Haar steigerten das mittelmäßige Pastell in die Anmut der Jugend und der Einfachheit. Ein bescheidener Künstler, eingeladen zu den prinzlichen Jagden, hatte sich mit seinem besten Können an dies Porträt gemacht. Auch die junge Frau sah man auf einem anderen Bilde, anziehend und spöttisch, schlank im offnen mit Bändern durchzogenen Mieder, mit aufgeschürztem Mund einen kleinen Vogel neckend, der auf ihrem Finger saß. Aber es war dieselbe gute Alte, die jetzt über das Feuer gekrümmt unten kochte! Ich dachte an die Feen, die unter einer Runzelmaske ein lockendes Gesicht verbergen und es enthüllen, wenn sie erlöst werden; wenn der Tempel der Liebe und die kreisende Sonne mit magischen Strahlen erscheint. Gute Tante, rief ich, wie hübsch warst du! Und ich? sprach Sylvia, die nun beim Öffnen der berühmten Schublade war. Sie fand darin ein großes Kleid aus flammendem Taft, dessen Falten knisterten und kreischten. Ich muß versuchen, wie mir das steht. O, ich will wie eine alte Fee aussehen!

Die ewig junge Fee der Legenden, dachte ich. Und schon hatte Sylvia ihr Kattunkleid aufgeknöpft und ließ es zu ihren Füßen niederfallen. Das schwere Kleid der alten Tante legte sich vollkommen um Sylvias schlanke Gestalt; ich machte es ihr zu. Wie lächerlich sind die flachen Ärmel, sagte sie. Aber die Spitzen machten ihre Arme reizend nackt, der Hals hob sich rein aus dem vergilbten Tüll des Mieders, das die entschwundenen Reize der Tante auch nicht sehr geschnürt haben konnte. Aber mach doch! Kannst du kein Kleid schließen? – Wir brauchen Puder, sagte ich. – Wir finden ihn schon, sagte sie und fuhr von neuem in die Schubladen. O, welche Reichtümer, wie gut roch es, wie funkelten und schillerten kräftige Farben und bescheidener Flitter. Zwei Fächer aus Perlmutter, ein wenig zerbrochen, Salbenbüchsen mit chinesischer Malerei, eine Ambrakette und tausendfacher Firlefanz! Darunter schimmerten zwei kleine Schuhe aus weißem Drogett mit Ringen, in die irländische Diamanten inkrustiert waren. – Ich will sie anziehen, wenn ich die gestickten Strümpfe finde!

Einen Augenblick später rollten wir Strümpfe aus rosenfarbener Seide mit grünen Ecken auf. Aber die Stimme der Tante begleitet vom Zischen der Pfanne rief uns in die Wirklichkeit. Geh schnell hinab, sprach Sylvia, und was ich auch sagte, sie ließ mich jetzt nicht weiter helfen. Die Tante hatte soeben den Inhalt der Pfanne in eine Schüssel getan: eine große Scheibe gerösteten Specks mit Eiern. Jetzt rief mich wieder Sylvias Stimme: – Zieh dies schnell an! Und sie zeigte mir den hochzeitlichen Anzug des Gardejägers, ausgebreitet auf der Kommode. Blitzschnell verwandelte ich mich in einen Bräutigam des vorigen Jahrhunderts. Sylvia erwartete mich auf der Treppe, und jetzt schritten wir beide uns bei der Hand haltend hinab.

Die Tante schrie auf, als sie sich umwandte: O Kinder! und sie begann zu weinen – und sie begann durch die Tränen zu lachen und sah sich das Bild ihrer Jugend an, die reizende und grausame Erscheinung! Wir setzten uns neben sie, gerührt und beinahe ernst, doch schnell wieder heiter, denn auch die gute Alte war bereits bei der Erinnerung an ihr ausgelassenes Hochzeitsfest angelangt. Sie fand in ihrem Gedächtnis sogar die Wechselgesänge wieder, die man sich damals von einem Ende der Hochzeitstafel zum andern zusang, und das naive Brautlied, das die Vermählten nach dem Tanz heimbegleitete. Wir wiederholten den einfachen Rhythmus der Strophen mit den Assonanzen und Hiaten der Zeit; sie waren verliebt und waren blühend wie geistlicher Gesang. Wir waren Mann und Frau für einen ganzen schönen Sommertag.

VII
Châalis

Es ist vier Uhr morgens. Die flandrische Straße taucht in eine Schlucht. Sie steigt wieder. – Auf dem Waldweg dort zur Linken hat mich ihr Bruder einmal in seinem zweirädrigen Wagen zu einer feierlichen Aufführung gefahren. Es war der Abend des Bartholomäustages. Quer durch die Wälder auf kaum gebahnten Wegen flog sein kleines Pferd wie zum Hexensabbat. Hierher – zur alten Abtei von Châalis! Eindringlinge!

Eine Persönlichkeit von hoher Geburt hatte auf dies ihr Besitztum einige Familien der Gegend zu einer allegorischen Aufführung geladen. Pensionärinnen vom benachbarten Kloster spielten. Diese Inszenierung ging auf die ersten lyrischen Versuche zurück, die man zur Zeit der Valois in Frankreich eingeführt hatte. Ich sah ein altes Mysterium, die langen Kleider unterschieden sich nur in den Farben, azuren, hyacinthen und auroren. Das Spiel ging zwischen den Engeln vor sich: auf den Überresten der zerstörten Welt. Jede Stimme besang eine der glanzvollen Eigenschaften des erloschenen Erdballs, und der Engel des Todes erklärte die Ursachen dieser Vernichtung. Ein Geist stieg aus dem Abgrund, in der Hand das flammende Schwert, und rief alle zusammen, um den Ruhm Christi zu bewundern, des Besiegers der Hölle. Dieser Geist war Adrienne, verklärt durch ihr Kostüm wie durch ihre Sendung, der Heiligenschein aus vergoldeter Pappe rings um ihr englisches Haupt erschien uns als ein wahrhafter Lichtkreis. Ihre Stimme hatte an Kraft und Weite gewonnen, und die endlosen Verzierungen des italienischen Sangs bestickten und bezwitscherten die ernsten schweren Sätze des Textes.

Denke ich an die Einzelheiten dieses Abends, so weiß ich kaum, ob sie wirklich gewesen oder geträumt sind. Sylvias Bruder war ein wenig betrunken. Wir hatten uns kurze Zeit im Hause des Polizeidieners aufgehalten. Dort war mir an der Tür ein Schwan mit ausgebreiteten Flügeln aufgefallen, hohe Schränke aus geschnitztem Nußbaum, eine mächtige Standuhr. Ein bizarrer Zwerg, die chinesische Mütze auf dem Kopf, hielt in der Hand eine Flasche, in der andern einen Ring und schien die Schützen aufzufordern, gut nach seiner roten und grünen Scheibe zu zielen. Der Zwerg war aus Blech geschnitten ... Aber war auch Adriennes Erscheinung so wirklich wie dies und wie das Dasein der Abtei? ... Der Sohn des Polizeidieners hatte uns in den Aufführungssaal gebracht. Wir standen nahe der Tür. Vor uns saß die große tieferregte Gesellschaft. Und sonderbar ist der Sankt Bartholomäustag mit den Medicis verbunden, mit deren Waffen diese alten Mauern geschmückt waren ... Vielleicht ist diese Erinnerung irgend eine Besessenheit ...

Aber da hält glücklicherweise mein Wagen an der Kreuzung nach Plessis, ich entschlüpfe dem Traum: Ich habe nur noch eine Viertelstunde bis Loisy.

VIII
Der Ball von Loisy

Ich bin in den Ball zu dieser melancholischen, noch sanften Stunde eingetreten, wo die Lampen erblassen und vor dem Nahen des Tages zittern. Die Linden, unten dunkel, färben sich am Wipfel bläulich. Die ländliche Flöte kämpft nicht mehr so heftig mit dem Schmettern der Nachtigall. Jedermann war blaß, und in den aufgelösten Gruppen entdeckte ich nur mit Mühe bekannte Gesichter. Endlich bemerkte ich die große Lise, eine Freundin Sylvias. Sie küßte mich: Lange her, daß man dich nicht mehr gesehn hat! – Ja, lange. – Und so spät kommst du noch? Mit der Post? – Ich wollte Sylvia sehen. Ist sie noch auf dem Ball? – Sie geht vor dem Morgen nicht fort, sie tanzt so gern.

Schon war ich an ihrer Seite. In ihrem ermüdeten Gesicht blitzte doch immer noch ihr schwarzes Auge mit dem athenischen Lächeln. Ein junger Mensch stand bei ihr, sie machte ihm ein Zeichen, daß er auf den nächsten Contretanz verzichte. Er zog sich mit einer Verbeugung zurück.

Der Tag begann; wir verließen den Ball, uns bei der Hand haltend. Die Blumen hingen aus Sylvias aufgelöstem Haar herab, der Strauß im Mieder entblätterte sich über den zerknitterten Spitzen, dem geschickten Werk ihrer Hand. Jetzt war es voller Tag, aber das Wetter war düster. Die Thève schäumte, an ihren Biegungen ließ sie stille kleine Teiche stehen, wo gelbe und weiße Seerosen aufblühten und die gebrechliche Stickerei der Wassersternchen blinkte. Die Ebenen waren mit Strohbündeln und Heuhaufen bedeckt, deren Duft mir in den Kopf stieg, ohne mich zu berauschen, wie einst der frische Duft der Wälder und blühenden Dornbüsche.

Wir dachten diesmal nicht daran, sie wieder zu durchqueren. Sylvia, sagte ich, du liebst mich nicht mehr! Sie seufzte. Mein Freund, man muß vernünftig sein, es geht im Leben nicht wie man will. Damals sprachst du zu mir von der Neuen Héloïse, ich las sie und zitterte, als ich am Anfang auf den Satz stieß: »Jedes junge Mädchen, das dieses Buch liest, ist verloren.« Aber ich habe doch weiter gelesen, ich verließ mich auf meine Vernunft. Du erinnerst dich noch an den Tag, an dem wir die Hochzeitskleider anzogen: Auch die Gravüren dieses Buches stellten Verliebte unter Kostümen alter Zeit dar. Ach, was kamst du nicht zurück! Aber du warst in Italien, sagt man, und dort hast du Hübschere als mich gesehn. – Keine, Sylvia, die deinen reinen Blick hat. Auch die Wälder hier sind so schön wie die römische Campagna. Hier gibts nicht weniger erhabene Granite und eine Kaskade, die hoch vom Felsen stürzt wie die zu Terni. Ich habe dort unten nichts gesehen, was ich hier vermisse. – Und in Paris? – In Paris ... Ich schüttelte den Kopf.

Plötzlich dachte ich an das Bild, das mich so lange verwirrt hatte. Sylvia, sagte ich, bleiben wir ein wenig hier. Ich warf mich zu ihren Füßen hin, ich gestand unter warmen Tränen meine Unentschiedenheit, meine Launen. Ich beschwor die heillose Erscheinung, die mein Leben durchkreuzte. Rette mich! ich komme für immer zu dir. Und sie wandte mir ihre gerührten Augen zu ...

Da schlug ein schallendes Gelächter unser Gespräch entzwei. Mit bäuerlicher Lustigkeit, die von zahllosen Getränken der Festnacht über alle Grenzen gesteigert war, begrüßte uns der Bruder Sylvias, und er rief den Verehrer von heut Nacht herbei, der verloren in den Gesträuchern stand, nun aber unverzüglich herbei kam. Der Bursche war nicht fester auf seinen Füßen als der andere. Er schien von der Anwesenheit eines Parisers noch verlegener zu sein als über die Sylvias. Sein redliches Gesicht und die scheue Ehrerbietung erschwerten mir einigermaßen den Zorn gegen den beharrlichen Tänzer. Gefährlich konnte er mir nicht werden.

Nach Haus! sprach Sylvia zum Bruder. Auf bald! sprach sie zu mir, und hielt mir die Wange hin. Der Liebhaber blieb ruhig.

IX
Ermenonville

Ich hatte keine Lust zu schlafen. Ich ging nach Montagny, um das Haus meines Onkels wiederzusehen. Tiefe Traurigkeit erfaßte mich beim Anblick der gelben Fassade mit den grünen Fensterladen. Alles schien im gleichen Zustand wie früher; ich brauchte nur den Pächter zu suchen, um den Schlüssel zur Tür zu erhalten. Dann stieß ich die Ladenflügel auf und sah lächelnd die alten Möbel an, die man von Zeit zu Zeit gut abrieb, zwei flämische Bilder, angeblich Werke eines unserer Ahnen, eine Reihe Gravüren von Moreau nach dem Émile, auf dem Tisch einen ausgestopften Hund, der einst mit mir durch die Wälder lief, vielleicht der letzte einer ausgestorbenen Mopsrasse. Den Papagei, sagte der Pächter, habe ich zu mir genommen.

Der Garten bot ein herrliches Bild von wildem Wachstum. In einer Ecke erkannte ich einen kleinen Garten für sich, den ich mir als Kind gezogen hatte. Ich trat erschauernd in das Kabinet, wo noch die schmale Bibliothek gewählter Bücher stand, alter Freunde des Verstorbenen. Auf dem Schreibtisch lagen ein paar antike Fundstücke aus dem Garten, Vasen, römische Medaillen, – diese Lokalsammlung machte ihn glücklich.

Jetzt will ich den Papagei sehn! – Der Papagei verlangte sein Frühstück wie in seinen schönsten Tagen und sah mich mit seinem runden Auge an, das eine runzlige Haut umgibt wie den erfahrenen Blick der Greise.

Wieder traurig von dieser Rückkehr in eine geliebte Vergangenheit fühlte ich Sehnsucht nach dem einzigen lebendigen Gesicht, das mich mit diesem Orte noch verband. Es war Mittag; alle Welt schlief, müde vom Fest. Mir kam der Gedanke, einen Spaziergang nach Ermenonville zu machen. Die Frische des Waldweges entzückte mich, der wie die Allee eines Parkes war. Zwischen den großen Eichen in gleichförmigem Grün tanzten die weißen Stämme der zitternden Birken. Die Vögel schwiegen. Ich hörte nur das Hämmern des Spechts im Holz. Ich konnte mich verirren. Auf dem Wegweiser standen viele Wege verzeichnet, aber die Buchstaben waren verwischt. Als endlich das Wasser des Sees durch die Zweige der Weiden und Haselstauden blitzte, sah ich auch den wohlbekannten Bau vor mir liegen: den »Tempel der Philosophie«, den sein Stifter nicht mehr hatte beenden dürfen. Er hat die Form des Tempels der Sybille von Tibur, und im Schutze einer mächtigen Gruppe von Kiefern bewahrt er auf seinem Stein alle großen Namen des Gedankens: von Montaigne und Descartes bis Rousseau. Der Epheu klettert anmutig über die Ruine, die Brombeere verzweigt sich zwischen den durcheinander geworfenen Stufen. Dort sah ich als Kind die festlichen Verteilungen der Preise für gute Leistungen und gutes Verhalten an die weiß gekleideten jungen Mädchen. Wo sind die Rosenbüsche, die den Hügel umstanden? Himbeersträucher ersticken die letzten Zweige, die nur noch wilde Rosen tragen werden. Sind die Lorbeerbäume abgehauen worden, wie das Lied der jungen Mädchen, die nicht mehr zum Wald gehen wollen, singt? Nein, diese Pflanzen des süßen Italiens sind unserem Nebelhimmel zum Opfer gefallen. Schön ist es, daß Virgils Liguster noch blüht, wie um das Wort des Meisters über der Tür zu bejahen: Rerum cognoscere causas! Ach, dieser Tempel fällt wie viele andere, die vergeßlichen oder ermüdeten Menschen wenden sich von seiner Schwelle, die gleichmütige Natur erobert den Boden, den ihr die Kunst streitig machte, zurück. Aber der Durst nach Erkenntnis bleibt ewig, und jede Tat und jede Kraft hält ihn wach. Und dort ragen die Pappeln der Insel, darunter steht das Grabmal Rousseaus ohne seine Asche. Weiser, du gabst uns die Milch der Starken, und wir waren zu schwach, als daß sie uns helfen konnte. Wir haben deine Lehren vergessen, die unsere Väter kannten; wir haben den Sinn deines Wortes verloren, das letzte Echo antiker Weisheit. Wir wollen dennoch nicht verzweifeln und, wie du in deinem letzten Augenblick tatest, unsere Augen zur Sonne wenden!

Ich sah das Schloß wieder, seine friedlichen Gräben, den Wasserfall, der im Gestein seufzt, die Straße, verbindend die beiden Teile des Dorfes, dessen Ecken vier Taubenschläge bezeichnen. Die Wiese, die sich jenseits wie eine Savanne dehnt, wird von Anhöhen beschattet, der Turm von Gabrielle spiegelt sich fern im künstlichen See voller Eintagsblumen. Der Sommertag kocht, schäumt, stürmt von Insekten. Man muß der greulichen Luft entfliehen, die aus den sandigen Strecken der »Wüste« und aus der Heide steigt, wo die rötliche Erika das Grün der Farrenkräuter aufhebt. Es wird einsam und traurig hier. Sylvias entzückter Blick, toller Lauf, fröhlicher Ruf verzauberten mir einst jeden Ort. Ihre wilden Kinderfüße waren nackt, ihre Haut bräunte sich trotz dem Strohhut, dessen breites Band zwischen den schwarzen Locken flog. In der Schweizer Farm tranken wir Milch, jemand sagte zu mir: Hübsch ist deine Liebste, kleiner Pariser! Damals hätte kein Landmann mit ihr getanzt! damals tanzte sie nur mit mir, einmal im Jahr, beim Schützenfest.

X
Das Gigerl

Loisy war nun aufgewacht. Sylvia hatte sich fast wie ein städtisches Fräulein angezogen. Mit alter Unbefangenheit lud sie mich in ihre Stube. Ihr Auge funkelte immer in zaubervollem Lächeln, aber der ausdrucksvolle Bogen darüber mischte Ernst hinein. Die Stube war mit Einfachheit geschmückt, doch die Möbel waren neu, ein Spiegel mit vergoldetem Rahmen hatte den alten Pfeilerspiegel ersetzt; ein idyllischer Schäfer bot da einst einer blauen und rosigen Schäferin ein Nest an. Statt des Säulenbettes, keusch mit alter bemalter Leinwand verhängt, stand eine nussbaumene Bettstelle hinter einem Vorhang. Am Fenster hüpften im Käfig nicht mehr Grasmücken sondern Kanarienvögel. Ich hatte es eilig, dies Zimmer zu verlassen, wo ich gar keine Vergangenheit mehr antraf ... Arbeitest du heut nicht an deiner Spitze? – O, ich mache keine mehr, man verlangt sie nirgends, selbst die Fabrik in Chantilly ist geschlossen. – Was machst du denn sonst? – Sie holte aus einer Ecke ein eisernes Werkzeug, gleich einer langen Zange. – Was ist das? – Damit hält man die Haut von Handschuhen, um sie zu nähen. – Ach, du bist Handschuhmacherin. – Ja, wir arbeiten hier für Dammartine, das bringt jetzt viel ein; heut aber tue ich nichts, wir können gehn, wohin du willst. – Ich sah durchs Fenster zum Wege nach Othys hin. Sie schüttelte den Kopf und ich begriff, daß die Tante nicht mehr lebte. Sylvia rief einen kleinen Jungen und hieß ihn einen Esel satteln. Ich bin noch müde von gestern, sagte sie, aber der Ausflug wird mir gut tun; wir wollen nach Châalis reiten.

So zogen wir durch den Wald; der kleine Junge hinter uns war mit einem Zweig bewaffnet. Bald stieg Sylvia ab und ich küßte sie, als ich ihr beim Niedersitzen half. Die Unterhaltung zwischen uns konnte nicht sehr vertraulich sein. Ich muß dir von meinen Reisen erzählen. – Wie kann man soweit fortgehn! – Ich wundere mich selbst darüber, wenn ich dich wiedersehe. – O, das sagt man so. – Ist es nicht wahr, daß du früher nicht so hübsch warst? – Weiß nicht. – Erinnerst du dich noch, wie du die Größte warst als Kind! – Und du der Artigste! – O Sylvia! – Man setzte uns wieder auf den Esel, jeden in einen Korb. – Weißt du noch, wie du mich Krebse fangen lehrtest unter den Brücken der Nonette? – Du, und wie dein Milchbruder dich eines Tages aus dem Wasser gezogen hat! – Das Gigerl! er sagte mir, man könne durchs Wasser gehn ...

Ich beeilte mich auf einen andern Gegenstand zu kommen. Diese Erinnerung stammte aus einer Zeit, da ich im kurzen englischen Jakett aufs Land gekommen war und die Bauern mich auslachten. Nur Sylvia fand mich schön angezogen. Aber an diese gute Meinung aus einer so fernen Zeit wagte ich nicht mehr zu rühren. Aus irgend einem Grunde kam ich auf die alten Hochzeitskleider, ich fragte, was aus ihnen geworden sei. – Ach die gute Tante hat mir ihr Kleid für den Karneval in Dammartine geliehen, das Jahr darauf ist sie gestorben. Sie seufzte so sehr, daß ich nicht fragen konnte, aus welchem Grunde sie zu einem Maskenball gegangen wäre. Aber ich sah wohl, daß Sylvia als so begabte Arbeiterin keine Bäuerin mehr war. Wie eine geschäftige Fee lebte sie im Dorfe und breitete Reichtum um sich aus.

XI
Rückkehr

Die Sicht öffnete sich, wir standen am Ufer der Teiche. Die Galerien des Klosters, die schlanken Spitzbogen der Kapelle, das kleine Schloß, in dem sich die Liebe zwischen Heinrich IV. und Gabriele verbarg, lagen rot von der untergehenden Sonne vor dem Waldesgrün. – Das ist eine Landschaft von Walter Scott, sprach Sylvia. – Und woher kennst du Walter Scott? fragte ich. Du hast in den drei Jahren also viel Bücher gelesen? loh aber versuche die Bücher zu vergessen und mich lockt es, mit dir die alte Abtei wiederzusehen, in deren Ruinen wir uns als Kinder versteckten. Wie hast du dich gefürchtet, als uns der Wächter die Geschichte von den roten Mönchen erzählte. Sing mir das Lied von dem schönen Mädchen, das aus dem Garten ihres Vaters entführt wurde unter den weißen Rosenstrauch. – Das singt man nicht mehr. – Bist du denn Musikerin geworden? – Ein wenig. – Sylvia, Sylvia, ich glaube du singst Opernarien? – Warum mißfällt dir das? – Weil ich die alten Lieder liebe, und weil du sie nicht mehr singen kannst. – Sylvia begann eine Melodie aus einer großen neuen Oper. Sie phrasierte!

Und die grüne Wiese, auf der wir getanzt hatten lag vor uns. Ich war so eitel, die Wappen des Hauses Este entziffern zu wollen. Siehst du, wieviel mehr als ich du gelesen hast! sagte Sylvia, du bist also ein Gelehrter? Ihre spöttische und tadelnde Anspielung verletzte mich. Ich hatte bis jetzt nach einer anständigen Möglichkeit gesucht, um den Augenblick der Aussprache von heut morgen zu erneuern. Aber was konnte man mit ihr sprechen in Begleitung eines Esels und eines kleinen schlauen Jungen, dem es Freude machte, sich andauernd zu nähern, um einen Pariser sprechen zu hören? Ich führte Sylvia hinein in den Schloßsaal, wo ich die Erscheinung Adriennes hatte singen hören. O, wie ich dich höre, wie deine liebe Stimme unter dem Gewölbe hallt und den Geist verjagt, der mich quält, mag er himmlisch oder verhängnisvoll sein! – Sylvia wiederholte, was ich sang:

Engel, fliege ohne Zaudern
Hin zum Grund des Fegefeuers!

Das ist traurig, sagte sie. – Erhaben! Ich glaube, vom alten Musiker Porpora, mit Versen aus dem sechzehnten Jahrhundert. – Ich weiß es nicht, antwortete Sylvia. Sie lehnte sich, vom Eselritt ermüdet, auf meinen Arm. Der Weg war verlassen, ich versuchte von den Dingen in meinem Herzen zu sprechen, aber ich weiß nicht, warum ich nur so gewöhnliche Ausdrücke fand oder irgend eine hochtrabende Wendung aus Romanen, die Sylvia gelesen haben konnte. Dann wieder hielt ich mit plötzlich klassischem Geschmack an mich und sie erstaunte über diese unterbrochenen Ergüsse. Wir mußten auf den Weg achten, er ging durch eine feuchte Au, wo sich die Bäche schlängelten.

Was ist aus der Nonne geworden? fragte ich mit einem Mal. – Ach, du bist entsetzlich mit deiner Nonne. Also – das hat schlecht geendet. Sie wollte kein Wort weiter darüber sagen.

Wissen die Frauen wirklich, daß manches Wort auf die Lippen tritt, ohne aus dem Herzen zu kommen? Man möchte es kaum glauben, wenn man sie so leicht mißbraucht sieht. Viele Männer sind gute Spieler der Liebeskomödie. Ich nicht, obwohl ich weiß, daß manche gern solche Täuschung hinnähme. Aber eine Liebe, die auf die Kindheit zurückgeht, ist etwas Heiliges. Eine Schwester war für mich Sylvia, die ich hatte groß werden sehn. Ich konnte sie nicht verführen ... Im gleichen Augenblick dachte ich: Das ist die Stunde, zu der ich sonst im Theater bin ... Was spielt Aurelia heut Abend? Die Prinzessin im neuen Drama. O, wie rührend ist sie in diesem dritten Akt! Und in der Liebesszene mit dem jungen runzligen Liebhaber ... Du denkst nach, sagte Sylvia und sang:

Zu Dammartin waren drei Mägdelein:
Die eine schöner als Sonnenschein ...

Du Böse, rief ich, du kennst also doch noch alte Lieder. – Kämst du öfter hierher, würde ich alle wiederfinden. Aber ich muß an den Alltag denken. Du hast deine Pariser Abenteuer, ich habe meine Arbeit ... Wir dürfen nicht zu spät nach Haus kommen, ich muß morgen mit der Sonne aufstehen.

XII
Der Vater Wanst

Ich wollte antworten, ich wollte ihr zu Füßen fallen, ich wollte ihr das Haus meines Onkels anbieten, das ich zurückkaufen konnte, weil es in der Erbschaft ungeteilt geblieben war: da kamen wir schon in Loisy an. Man erwartete uns zum Abendessen. Die Zwiebelsuppe verbreitete weit ihren patriarchalischen Duft. Einige Nachbarn waren zu dieser Nachfeier eingeladen. Ich erkannte sogleich einen alten Holzhauer, den Vater Wanst, der an den Abenden so komische und so schreckliche Geschichten zu erzählen wußte. Der Reihe nach war er Schäfer, Bote, Jagdaufseher, Fischer, Wilddieb gewesen, nun machte er in seinen freien Stunden Kuckuckuhren und Bratenwender. Lange hatte er sich der Aufgabe geweiht, die Engländer in Ermenonville an den Orten, an denen Rousseau gedacht hatte, herumzuführen und ihnen seine letzten Augenblicke zu erzählen. Denn er war der kleine Junge gewesen, den der Philosoph zum Ordnen seiner Pflanzen angestellt hatte; er mußte auch den Schierling suchen, dessen Saft er in seinen Milchkaffee auspreßte. Der Wirt zum Goldenen Kreuz bestritt die Wahrheit dieses Umstandes; von da schrieb sich ihre lange Feindschaft her. Man grollte dem Vater Wanst, weil er ein paar unschuldige Geheimnisse besaß; etwa die Kühe mit einem rückwärts hergesagten Bibelvers zu heilen, indem er mit dem linken Fuß das Zeichen des Kreuzes machte. Aber er hatte bereits auf diese abergläubischen Handlungen verzichtet, dank der Erinnerung, wie er sagte, an die Unterhaltungen mit Jean-Jacques.

Sieh, der kleine Pariser, rief er. Du kommst, um unsere Töchter zu verführen? Du bringst sie in den Wald, wenn der Wolf nicht darin ist? – Vater Wanst, du bist der Wolf. – Ich bin es gewesen, solang ich Lämmer gefunden habe! Gegenwärtig treffe ich nur noch Ziegen, und die verstehen sich zu verteidigen. Aber ihr in Paris seid ordentliche Schlingel; mit Recht sagte Jean-Jacques: »Der Mensch verdirbt in der vergifteten Luft der Städte.« – Vater, ihr wißt recht gut, daß der Mensch überall verdirbt!

Vater Wanst begann ein Trinklied anzustimmen. Umsonst versuchte man ihn bei einer gewissen heiklen Strophe anzuhalten, die jeder auswendig konnte. Sylvia wollte nicht singen, trotz unserer Bitten, sie sagte, man singe nicht bei Tisch. Schon hatte ich bemerkt, daß der Verehrer an ihrer linken Seite saß. In seinem runden Gesicht, und zerzausten Haar war irgend etwas, das ich kennen mußte. Er stand auf und kam hinter meinen Stuhl: Erkennst du mich nicht, Pariser? – Eine gute Frau, die uns bedient hatte und sich nun zum Nachtisch zu uns setzte, sagte mir ins Ohr: Es ist doch Euer Milchbruder! – Einen Augenblick später wäre ich dem allgemeinen Gelächter verfallen. Ach, du bist es, Gigerl! der mich aus dem Wasser zog! – Sylvia lachte hell auf über dies Wiedererkennen. Und dabei, sagte der Bursche und küßte mich, warst du ängstlicher wegen deiner schönen Silberuhr als deinetwegen, sie ging nicht mehr und du schriest: Das Tier ist ersoffen, was wird mein Onkel sagen, wenn sie nicht mehr Tick-Tack macht! – Ein Tier in einer Uhr! brummte Vater Wanst, das ist der Glaube, den man den Kindern in der Stadt beibringt.

Sylvia war schläfrig, ich sah, ich hatte in ihrer Seele verloren. Sie ging in ihr Zimmer und als ich sie küßte, sagte sie: Auf morgen, komm heran!

Vater Wanst war mit Sylvain und meinem Milchbruder sitzengeblieben, wir plauderten noch lange bei einer Flasche Branntwein. Die Menschen sind gleich, sagte er zwischen zwei Strophen, ich trinke mit einem Bäcker wie ichs mit einem Prinzen tun würde. – Wo ist der Bäcker? fragte ich. – Sieh neben dich! ein junger Mann, der den Ehrgeiz hat, sich selbständig zu machen. Jener schien verlegen, ich hatte alles begriffen. Es war ein verhängnisvolles Zusammentreffen, das mir einen Milchbruder beschert hatte in einer Gegend – berühmt durch Rousseau, der die Abschaffung der Ammen predigt ... Vater Wanst erklärte, man rede schon stark von der Heirat Sylvias mit dem »Gigerl«, der in Dammartin eine Pastetenbäckerei eröffnen wolle ...

Der Wagen von Nanteuil-le-Haudoin fuhr mich nächsten Tages nach Paris zurück.

XIII
Aurelia

Nach Paris! Der Wagen brauchte fünf Stunden. Mir aber lag nichts daran, vor dem Abend anzukommen. Um acht Uhr saß ich in meiner gewohnten Loge. Aurelia schenkte all ihre Eingebung und Anmut den schwachen, von Schiller beeinflußten Versen eines Zeittalents. In der Gartenszene wurde sie erhaben. Während des vierten Aktes, in dem sie nicht spielte, kaufte ich einen Blumenstrauß und steckte einen Brief hinein, den ich zart zeichnete: Ein Unbekannter. So hatte ich für die Zukunft etwas vorbereitet, – und am nächsten Tage war ich auf dem Wege nach Deutschland.

Was hatte ich vor? Klarheit in meine Gefühle zu bringen. Sylvia war durch meine Schuld verloren; aber das Wiedersehen mit ihr hatte meine Seele aufgerichtet. Ich stellte sie künftig als lächelndes Bild in meinem Tempel der Weisheit auf. Noch stärker verwarf ich den Gedanken, mich Aurelia zu nähern, – einen Augenblick lang mit so viel gewöhnlichen Liebhabern zu kämpfen, die einen Augenblick lang bei ihr glänzten und versanken. Einstmals werde ich sehen, ob diese Frau ein Herz hat.

Dann las ich in einer Zeitung, Aurelia sei erkrankt. Ich schrieb ihr aus den Bergen um Salzburg. Der Brief war gefärbt von deutschem Mystizismus, sodaß ich von ihm keinen großen Erfolg erwarten durfte, aber ich erbat auch nicht einmal eine Antwort. Ich rechnete auf den Zufall – und auf die Unbekanntheit.

Nach Monaten kehrte ich zurück, und meine Geschichte wurde die aller andern. Ich machte alle Stufen dieser Prüfungsorte durch, die man Theater nennt. »Ich habe von der Trommel gegessen und aus der Zymbel getrunken,« wie der scheinbar sinnlose Satz der Eingeweihten von Eleusis sagt. Er bedeutet, daß die Not auch die Grenzen des Nichtsinns überschreiten muß: Von mir forderte die Vernunft, mein Ideal zu gewinnen und festzuhalten.

Aurelia hatte die Hauptrolle in einem Schauspiel übernommen, das ich in Deutschland geschrieben hatte. Unvergeßlich bleibt mir der Tag, an dem ich ihr das Stück vorlesen durfte. Die Liebesszenen waren ja für ihre Seele geschrieben. Ich glaube, daß ich sie mit Gefühl, mit Begeisterung sprach. In der Unterhaltung, die sich daran anschloß, entdeckte ich mich als den Unbekannten der beiden Briefe. Sie sagte: Sie sind wahnsinnig. Doch kommen Sie wieder. Ich habe noch keinen getroffen, der mich zu lieben verstand.

O Frau! du suchst die Liebe ... Und ich?

In den nächsten Tagen schrieb ich die zärtlichsten Briefe, sie kann niemals schönere empfangen haben. Die ich von ihr erhielt, waren voll Vernunft. Ich rührte sie einen Augenblick lang, sodaß sie mich zu sich rief und mir gestand, es werde ihr schwer, ein älteres Verhältnis zu lösen. Lieben Sie mich um meinetwillen, so werden Sie verstehen, daß ich nicht einem allein gehören kann.

Zwei Monate später kam ein Brief voll Hingebung. Ich eilte zu ihr –: Diese Veränderung war eingetreten: Der schöne junge Mann aus jener Nacht im Klub hatte Dienst bei den Spahis genommen.

Im nächsten Sommer gab Aurelias Theatertruppe zur Zeit der Rennen in Chantilly eine Vorstellung. Drei Tage Freiheit zu einem Landausflug waren zu erhalten, wenn man sich mit dem Regisseur in Verbindung setzte. Ich hatte mich mit dem braven Mann angefreundet, es war der einstige »Höfling« in Marivaux' Komödien, lange erster Liebhaber im Drama; sein letzter Erfolg war die Rolle in jener Schillernachahmung gewesen, wo mein Glas mir seine Runzeln gezeigt hatte. Aus der Nähe schien er jünger, er war mager geblieben und gefiel noch in der Provinz. Er hatte Feuer. Ich begleitete die Truppe in meiner Eigenschaft als Dichter und überredete ihn, in Senlis und Dammartin Vorstellungen zu geben.

Am folgenden Tage, während man mit Behörden und Saalbesitzern verhandelte, mietete ich Pferde, und wir nahmen den Weg längs der Teiche von Commelle, um im Schloß der Königin Blanche zu speisen. Aurelia amazonenhaft mit fliegenden blonden Haaren durchstürmte den Forst wie eine Königin der Vorzeit, daß die Landleute geblendet stehen blieben. Wir ritten durch die Dörfer, wo die Sägen kreischten von den Bächen getrieben. Der Anblick dieser Orte, meiner Erinnerung so teuer, interessierte Aurelia, ohne sie lange zu halten. Ich wollte sie dorthin führen, wo ich Adrienne zum ersten Mal gesehen hatte. Ich erzählte ihr alles, von der Quelle dieser Liebe an, geschaut in den Nächten, dann geträumt, dann verwirklicht in ihr. Ernst hörte sie mir zu und sagte: Sie lieben mich nicht. Sie erwarten, daß ich sage, die Schauspielerin sei die Nonne. Ein Drama suchen Sie, das ist alles, – und die Lösung entzieht sich Ihnen. Ich glaube Ihnen nicht mehr.

Ein Blitz durchfuhr mich ganz innen. Die wunderliche Begeisterung, die ich solange empfand, diese Träume, Tränen, Verzweiflungen, Zärtlichkeiten ... waren alle nicht Liebe? Worin aber ist sie sonst?

Aurelia spielte an diesem Abend in Senlis. Ich meinte zu sehen, daß sie für den Regisseur etwas übrig habe, den ersten Liebhaber mit den Runzeln. Er hatte ja einen ausgezeichneten Charakter und leistete ihr manchen Dienst. Aurelia hat mir eines Tages gesagt: Dieser Mann, der liebt mich!

XIV
Letztes Blatt

Das sind die Chimären, die uns am Morgen des Lebens bezaubern und verwirren. Ich habe ohne viel Ordnung von ihnen gesprochen, aber manche Herzen werden mich verstehen. Unsere Vorstellungen vom Leben fallen eine nach der andern, wie die Schalen einer Frucht, und die Frucht ist die Erfahrung. Ihr Geschmack ist bitter, doch eine Schärfe ist auch darin, die stärkt, – man verzeihe die veraltete Ausdrucksweise. Rousseau sagt, das Schauspiel der Natur tröste uns über alles. Manchmal versuche ich meine verlorenen Wäldchen von Clarens im rauchigen Pariser Norden wiederzufinden. Wie hat sich alles verändert!

Ermenonville, o Land, wo noch die antike Idylle blühte, du hast den einzigen Stern verloren, der mir mit zwiefachem Glanz schillerte. Bald blau, bald rosig, gleich dem trügerischen Stern Aldebaran, bald Adrienne, bald Sylvia: die beiden Hälften einer einzigen Liebe ... Was bedeuten mir jetzt deine Laubschatten, deine Seen und selbst deine einsame Wüste? Othys, Loisy, ihr armen Nachbardörfer, Châalis, das man restauriert: die Vergangenheit ist aus euch entschwunden.

Manchmal möchte ich noch diese Orte der Einsamkeit und Träumerei wiedersehen. Ich ziehe traurig die flüchtigen Linien einer Epoche voll erkünstelter Natürlichkeit in mir nach. Ich lächle, wenn ich auf dem Leib der Granite manche Verse lese, die mir einst herrlich schienen, oder Lehrsätze des Wohltuns über einer Quelle, in einer Grotte, Pan geweiht. Die Teiche, mit so großen Kosten gegraben, stellen vergebens ihr totes Wasser zur Schau, das der Schwan verschmäht. Sie ist nicht mehr, die Zeit der brausenden Jagden Condés mit ihren stolzen Amazonen, da die Hörner sich in der Ferne antworteten und im Echo vervielfachten.

In Dammartin kommt man nie vor dem Abend an. Ich übernachte dann im Gasthof zum heiligen »Jean«. Dort habe ich ein sauberes Zimmer mit alter Tapete und einem Trumeau über dem Spiegel. Es ist meine letzte Rückkehr zum alten Kram, auf den ich seit langem verzichtet habe. Man schläft behaglich auf Eiderdaunen; wenn ich am Morgen das Fenster öffne, sehe ich mit Entzücken den zehn Meilen weit grünen Horizont, und Pappeln stehen da wie Armeen. Hier und dort ducken sich Dörfer um ihre Kirchtürme spitz wie Gebeine. Auch Ermenonville würde man darunter erkennen, wenn es einen Turm hätte, – aber am Orte des Philosophen hat man die Kirche vernachlässigt ... Wenn ich meine Lungen mit der reinen Luft erfüllt habe, gehe ich fröhlich hinab zum Kuchenbäcker. Wir schütteln uns die Hand als Jugendfreunde, dann klettere ich eine Treppe hinauf, wo zwei Kinder mir lustig entgegenschreien. Sylvias athenisches Lächeln leuchtet, – ich denke: – Vielleicht das Glück –? doch – –

Während das »Gigerl« frühstückt, gehen wir mit den Kindern unter den Linden spazieren. Die Kleinen üben sich für das Scheibenschießen und flitzen die väterlichen Pfeile ins Stroh. Wir lesen ein paar Seiten in einem der kurzen Bücher, die man kaum noch schreibt.

– Damals, als Aurelias Truppe hier ihre Vorstellung gab, hatte ich auch Sylvia eingeladen. Ich fragte sie, ob Aurelia nicht einer anderen gliche? – Wem? – Adrienne! – Sie lachte laut auf, dann, als bereue sie es, sagte sie seufzend: Die Arme! sie starb im Kloster im Jahre achtzehnhundertundzweiunddreißig.

*

Jedesmal, wenn ich an das Valois denke, erinnere ich mich mit Entzücken an die Lieder, die meine Kindheit wiegten. Sie sind kaum wiederzugeben, kaum nachzufühlen ohne die Musik des Ortes, die das Volkslied unauslöschlich in die Seele einsenkt. Da gehen die guten Gesellen vorbei mit Bändern an langen Stöcken; da fahren die Schiffer den Fluß hinab und singen, und die Trinker von einst (die von heute singen nicht mehr), und die Wäscherinnen und die Heumacherinnen werfen immer ein paar Stückchen alter Lieder in die Luft. Leider hört man sie immer häufiger die neuen Straßenlieder nachplärren, deren Geist so platt und deren Freiheit so farblos ist. Wenn doch die Dichter von heute aus den naiven Eingebungen der Vorzeit uns die Fülle der kleinen Meisterwerke retten würden, die von Tag zu Tag verschwinden – mit dem Leben der guten alten Leute.

Diese Legende, die ich von Korbmachern erzählen hörte, setze ich an den Schluß:

Die Königin der Fische

Es lebte in der Provinz Valois mitten in den Wäldern von Villers-Cotterets ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen, die sich häufig an den Ufern der kleinen Bäche trafen. Der Junge hatte einen Onkel, einen Holzhauer, genannt Zwingeich. Der ließ ihn im Forst das abgestorbene Holz sammeln. Das Mädchen aber wurde von ihren Eltern ausgeschickt, um die kleinen Aale zu fangen, die zu mancher Jahreszeit im seichten Wasser zu sehen waren. Gab es keine, so mußte sie zwischen den Steinen Krebse hervorziehen.

Aber wenn die arme Kleine gebückt mit den Füßen im Wasser stand, fühlte sie so viel Mitleid mit den Leiden der Tiere, die sie aus dem Bach zog, und zuckend in der Hand hielt, daß sie die Fischchen wieder hinein tat. Und so brachte sie kaum etwas anderes heim als Krebse, die sie bis aufs Blut in die Finger kniffen, weshalb sie für Krebse weniger Nachsicht hatte. Auch der kleine Junge mit seinen Bündeln aus totem Holz und Heidekraut wurde oft von Zwingeich gescholten, weil er zu lange mit der kleinen Fischerin geplaudert und zuwenig nach Haus gebracht hatte.

Aber einen Tag gab es in der Woche, an dem die beiden Kinder sich niemals trafen. Welcher Tag war das? Sicher der gleiche, an dem die Fee Melusine sich in einen Fisch und die Eddaprinzessin in einen Schwan verwandelte.

Tags darauf sagte immer der kleine Holzsammler zur Fischerin: Erinnerst du dich? gestern sah ich dich im Gewässer von Challepont mit all den Fischen, die dein Gefolge bilden ... bis zu den Karpfen und den Hechten, und du warst selbst ein schöner roter Fisch, und dein Leib glänzte von deinen Goldschuppen.

Ja, ich erinnere mich, da ich auch dich sah, du standst am Ufer, als eine schöne grüne Eiche, deren Zweige oben aus Gold waren, und alle Waldbäume verneigten sich vor dir bis auf die Erde.

Ganz recht, sagte der Junge, das habe ich geträumt. Und ich, antwortete sie, habe auch geträumt, was du mir erzähltest. Wie kommt es aber, daß wir uns beide im Traum getroffen haben? In diesem Augenblick ward ihr Gespräch fürchterlich unterbrochen von der Erscheinung Zwingeichs. Er schlug mit einem Knüppel auf den Jungen ein und schimpfte, weil er noch kein einziges Bündel beisammen habe. Und befahl ich dir nicht, schrie er, auch Zweige abzubrechen, die sich leicht knicken lassen?

Aber der Waldwächter würde mich ins Gefängnis sperren, wenn er in meinem Bündel auch lebendes Holz fände! Und dann – als ich tun wollte, was ihr mich hießet, hörte ich deutlich, wie der Baum klagte!

Ganz wie bei mir, sagte das Mädchen, wenn ich die Fische in meinem Eimer forttragen will, höre ich sie so traurig singen, daß ich sie wieder ins Wasser werfe! Und man schlägt auch mich, bei uns.

Halt den Mund, kleine Larve! brüllte Zwingeich wie betrunken, du störst meinen Neffen bei der Arbeit! Ich kenne dich schon mit deinen spitzen Perlenzähnen! Du bist die Fischkönigin. Aber warte, ich fange dich an einem gewissen Tage! und du stirbst im Weidennetz ... im Weidennetz ...

Diese Drohungen erfüllten sich schnell, und ein rotes Fischchen war gefangen. Glücklicherweise ließ sich Zwingeich beim Herausziehn des Netzes von seinem Neffen helfen und der erkannte den schönen roten Fisch mit den Goldschuppen, den er im Traum gesehn hatte. Da verteidigte er ihn tapfer und schlug den Wüterich sogar mit seinem Holzschuh. Aber der Feind ergriff ihn bei den Haaren und wollte ihn hinwerfen. Zu seiner Verwunderung fand er kräftigen Widerstand; denn das Kind stand mit den Füßen auf der Erde wie ein kräftiger Baum, und der Onkel konnte ihn nicht von der Stelle bringen.

Aber als das Kind endlich schwächer wurde, da begannen die Waldbäume dunkel zu rauschen, die erregten Zweige holten die Winde herbei, und der Sturm nötigte Zwingeich zum Rückzug in seine Holzhütte. Bald stürzte er drohend wieder heraus, schrecklich verwandelt, in der Hand die Axt, die die Bäume schreckt. Aber auch der junge König der Wälder kannte nun seinen Rang, den man ihm verheimlicht hatte! Die Bäume beschützten ihn mit ihrer Masse und ihrem leidenden Widerstand. Vergebens freilich suchten Gestrüpp und Wurzelwerk den Anmarsch Zwingeichs zu verwickeln und aufzuhalten. Er hatte seine Holzfäller herbeigerufen und bahnte sich einen Weg quer durch alle Hindernisse. Schon sind alte heilige Bäume unter den wilden Äxten gefallen –

Glücklicherweise hatte auch die Königin der Fische ihre Zeit nicht verloren. Sie war davongeeilt und warf sich zu Füßen der Marne, der Oise und der Aisne, der drei großen Nachbarflüsse. Sie machte ihnen klar, wenn man den Plan der Wilden nicht vereitle, so würden die gelichteten Wälder die Dämpfe nicht mehr sammeln, die den Regen bringen und den Bächen und Strömen das Wasser liefern. Die Quellen selbst würden vertrocknen, und kein Wasser spränge mehr hervor und mündete in die Flüsse. Und die Fische würden sterben und die wilden Tiere und Vögel verdursten.

Da stellten es die drei großen Flüsse an, daß über den Boden, wo Zwingeich und seine Gefährten ihre fürchterliche Arbeit taten, ohne noch den jungen Waldprinzen erreicht zu haben, – eine ungeheure Überschwemmung wogte. Sie zog sich nicht eher zurück, als bis alle Angreifer vernichtet waren.

Dann nahmen der König der Wälder und die Königin der Fische ihre unschuldigen Unterhaltungen wieder auf. Und sie waren kein kleiner Holzsammler und keine kleine Fischerin mehr, sondern ein Sylphe und eine Undine, die sich später vermählt haben.


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