Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Aurelia
oder
Der Traum und das Leben.

Erster Teil

I

Der Traum ist ein zweites Leben. Jene Tore aus Elfenbein oder Horn, die uns von der unsichtbaren Welt scheiden, habe ich immer nur schaudernd durchschreiten können. Die ersten Augenblicke des Schlafs sind das Bild des Todes. Eine nebelhafte Erstarrung faßt unser Denken, und wir können nicht genau entscheiden, in welchem Augenblick das Ich unter einer anderen Gestalt sein Dasein fortsetzt. Ein unbestimmtes Unterirdisches hellt sich allmählich auf, und von Schatten und Nacht heben sich die bleichen Schemen voll ernster Unbeweglichkeit ab, die im Vorraum des Himmels wohnen. Dann festigt sich das Bild, eine neue Helligkeit beleuchtet das seltsame Spiel der Erscheinungen: – die Welt der Geister eröffnet sich uns.

Swedenborg nannte diese Visionen »Memorabilia«; er verdankte sie häufiger der Träumerei als dem Schlummer. »Der goldene Esel« des Apulejus, Dantes »Göttliche Komödie« sind die dichterischen Vorbilder dieser Erforschung der menschlichen Seele. Nach ihrem Beispiel will ich versuchen, die Eindrücke einer langen Krankheit, die sich ganz in den Mysterien meines Geistes abspielte, zu beschreiben: – Ich weiß nicht, warum ich es »Krankheit« nenne, denn niemals habe ich mich wohler gefühlt, soweit ich selbst in Frage komme. Manchmal schien meine Kraft und Lust verdoppelt, ich meinte alles zu wissen und zu begreifen, grenzenlose Wonnen trug mir die Einbildungskraft zu. Diese Freuden wieder zu verlieren und dafür das, was die Menschen Vernunft nennen, zurückzuerlangen: ist das ein Glück? ...

In zwei Wandlungen verlief meine Vita nuova. Hier sind die Aufzeichnungen über die erste.

Eine Dame, die ich lange geliebt hatte, war für mich verloren. Ich nenne sie Aurelia. Unwichtig sind die einzelnen Umstände dieses Ereignisses, das auf mein Leben tief einwirken sollte. Jeder mag in seinen Erinnerungen nach der heißesten Erregung, nach dem schrecklichsten Schlag des Schicksals gegen die Seele suchen. Da muß man sich entscheiden, ob man sterben oder leben will: – später werde ich sagen, warum ich nicht den Tod wählte. Die ich liebte, verdammte mich; schuldig war ich eines Vergehens, für das ich keine Verzeihung erhoffen konnte. Es blieb mir nur übrig, mich niedrigen Betäubungen zu überlassen. Ich gab mir den Anschein der Fröhlichkeit und Sorglosigkeit; zog in der Welt umher; verschrieb mich toll dem Wechsel und der Laune. Die sonderbaren Sitten und Trachten ferner Völker beschäftigten mich. So meinte ich, die Gesetze von Gut und Böse verschieben zu können.

Eine Frau, die dich nicht mehr liebt, platonisch zu lieben! Bist du wahnsinnig! Daran sind die Bücher schuld. Die Erfindungen der Dichter hast du ernst genommen und ein alltägliches Geschöpf unserer Zeit zu einer Beatrice gemacht. Fort, zu anderen Abenteuern, und dies wird schnell vergessen sein! So sprach ich zu mir, und ein ausgelassener Karneval in einer Stadt Italiens verjagte den Trübsinn. Ich war über meine Erleichterung so froh, daß ich sie allen Freunden mitteilte und in meinen Briefen als dauernden Seelenzustand ausgab, was nur eine fieberhafte Überspanntheit war.

Eines Tages kam eine Frau in die Stadt, die, gewohnt zu gefallen und zu blenden, mich mühelos in den Kreis ihrer Bewunderer zog. Nach einer Abendgesellschaft, auf der sie zugleich natürlich und reizvoll geglänzt hatte, fühlte ich mich so verliebt in sie, daß ich ihr sofort schreiben mußte. Ja, ich war froh, daß mein Herz zu einer neuen Liebe bereit war! Für diese künstliche Begeisterung lieh ich mir dieselben Formeln, die mir kurz vorher als Ausdruck einer echten und lang empfundenen Liebe gedient hatten. Als der Brief fort war, hätte ich ihn zurückhalten mögen; – ich überließ mich einsamen Träumereien, mir schien, ich hatte meine Erinnerungen entweiht.

Doch der Abend gab meiner neuen Liebe das glänzende Ansehn von tags zuvor wieder. Die Dame zeigte sich für meinen Brief empfänglich, wenn auch mit leichter Verwunderung über meine plötzliche Glut. Binnen eines einzigen Tages hatte ich ja mehrere Grade jener Gefühle übersprungen, die man, ohne Unaufrichtigkeit, für eine Frau fassen kann. Sie bekannte, daß ihr Erstaunen doch mit frohem Stolz verbunden sei; und so versuchte ich, sie tiefer zu überzeugen. Aber was ich auch sagen mochte, den Ton meines Briefes wußte ich in unseren Gesprächen nicht wiederzufinden. Und endlich kam es so weit, daß ich ihr unter Tränen eingestehen mußte, ich hätte mich selbst betrogen. Dieses gerührte Bekenntnis enthielt jedenfalls auch manchen Reiz: und so schloß sich eine Freundschaft an, deren Zartheit stärker war als die leeren Liebesbeteuerungen.

II

Später traf ich sie in einer anderen Stadt wieder, und ebendort hielt sich die Dame auf, die ich noch immer ohne Hoffnung liebte. Ein Zufall machte beide miteinander bekannt, und meine Freundin hatte Gelegenheit, in jener, die mich aus ihrem Herzen verbannt hatte, Rührung und Teilnahme für mich zu erwecken. Sie kam inmitten einer Gesellschaft auf mich zu, reichte mir die Hand –: Wie sollte ich diese Gebärde deuten und den tiefen traurigen Blick, der ihren Gruß begleitete? Ich glaubte Verzeihung für die Vergangenheit darin zu sehen. Der göttliche Klang des Mitgefühls gab ihren einfachen Worten unsagbaren Wert, als mischte sich etwas wie Religion in die Süßigkeit einer bisher irdischen Liebe, um sie in die Ewigkeit zu rücken.

Irgendeine Pflicht rief mich nach Paris. Aber ich wollte nur wenige Tage dort bleiben und unverzüglich zu meinen beiden Freundinnen zurückkehren. Freude und Ungeduld versetzten mich in eine Art von Betäubung, mit der sich die Wirklichkeitssorge für meine Angelegenheiten wunderlich vermengte.

Einmal gegen Mitternacht ging ich durch die Vorstadt, in der ich wohnte, und bemerkte, als ich zufällig die Augen erhob, die Nummer eines Hauses, von der Straßenlaterne beschienen. Es war die Zahl meines Alters. Als ich sofort die Augen wieder senkte, sah ich vor mir eine Frau von bleicher Farbe mit hohlen Augen stehn. Sie hatte die Züge Aurelias. Ich dachte: Dies verkündet mir ihren oder meinen Tod. Aber stärker war der Glaube, es werde der meine sein. Und mir schien, daß es am gleichen Tage um die gleiche Stunde geschehen werde.

Ein Traum bestärkte mich in meiner Ahnung. Ich irrte durch einen weiten Bau; seine Säle schienen für Studien, andere für Unterhaltung und philosophisches Gespräch gemacht zu sein. Ich stand in dem einen still und glaubte meine alten Lehrer und Mitschüler zu erkennen. Mit eintönigem Summen, wie ein endloses Gebet zur Göttin Mnemosyne, folgten sich dort noch immer die griechischen und lateinischen Stunden. Ich ging in einen anderen Saal und hörte eine Weile dem Vortrag des Philosophen zu. Dann schritt ich hinaus, um mein Zimmer zu suchen. Ich wanderte über ungeheure Treppen. Der Bau war jetzt eine Art Gasthaus voller geschäftiger Reisender. Mehrmals verirrte ich mich in langen Korridoren, bis ich in einer der mittleren Galerien von einem seltsamen Schauspiel überrascht wurde.

Ein Wesen von unnatürlicher Größe, ich wußte nicht, ob Mann oder Frau, hielt sich mühsam über dem Raum in der Schwebe und kämpfte und flatterte zwischen dicken Wolken. Atemlos und geschwächt stürzte es endlich, mit den Flügeln an Dächern und Balustraden entlang scharrend, vergebens sich einhakend, mitten in den dunklen Hof herab. Ich konnte es einen Augenblick ansehn. Es war grellrot, und die Schwingen blinkten von tausend schillernden Lichtern. Es trug ein langes, antik gefaltetes Kleid und glich dem Engel der Melancholie. Ich schrie entsetzt, und wachte plötzlich auf.

Am folgenden Tage machte ich hastig Besuche bei allen meinen Freunden. Ich sagte ihnen innerlich Lebewohl. Ohne eine Erwähnung dessen, was meine Seele bewegte, erörterte ich voll Eifer mancherlei mystische Probleme. Meine ungewöhnliche Sprechkunst setzte sie in Erstaunen, und ich selbst verwunderte mich, wie offen in diesen letzten Stunden die Geheimnisse des Lebens vor mir lagen.

Abends, als die verhängnisvolle Stunde nahte, sprach ich bei Tisch im Klub mit zwei Freunden über Malerei, über Musik, und setzte meine Ansicht über die Entstehung der Farben und den Sinn der Zahlen auseinander. Der eine wollte mich begleiten, ich aber sagte, ich ginge nicht nach Haus. Wohin sonst? fragte er. Nach dem Orient. Und während er neben mir schritt, suchte ich am Himmel einen Stern, den ich zu kennen glaubte, als habe er Einfluß auf mein Geschick. Sobald ich ihn gefunden hatte, folgte ich den Straßen, in deren Richtung er sichtbar blieb. So ging ich meinem Schicksal entgegen. Ich wollte bis zu dem Augenblick, da der Tod mich treffen würde, den Stern erblicken.

Als ich indessen an eine Kreuzung dreier Straßen gelangte, mochte ich nicht weiter gehen. Mir schien, als entfalte mein Begleiter eine übermenschliche Kraft, um mich von der Stelle zu bringen. Er wuchs vor meinen Augen empor, er bekam die Züge eines Apostels. Der Ort, wo wir standen, schien sich zu erhöhen und seine städtische Gestaltung zu verlieren. Ein Hügel hob sich, von wüster Einsamkeit umringt, und der Kampf zweier Geister spielte sich hier ab, gleich einer biblischen Versuchung.

Nein! sprach ich, nicht dem Erdhimmel gehöre ich an. Auf jenem Stern wohnen die, die mich jetzt erwarten. Sie waren schon vor der Offenbarung, die hier verkündigt wurde. Laß mich hin, denn die, die ich liebe, gehört zu ihnen. Dort sollen wir uns wiederfinden.

III

Hier hat für mich begonnen, was ich die Ergießung des Traumes in die Wirklichkeit nenne. Von diesem Augenblick ab gewann alles für mich ein doppeltes Aussehen: und zwar ohne dem Denken jemals die Logik zu nehmen und ohne die Erinnerung um das geringste Geschehnis zu betrügen. Nur meine Handlungen, scheinbar sinnlos, waren dem unterworfen, was die menschliche Vernunft Täuschung nennt ...

Oft ist mir der Gedanke gekommen, daß sich in gewissen ernsten Augenblicken ein Geist des jenseitigen Lebens in einer gewöhnlichen Menschengestalt verkörpere und auf uns wirke oder zu wirken suche, ohne daß jener Mensch davon etwas wüßte.

Mein Freund hatte mich verlassen, da er die Nutzlosigkeit seiner Bemühungen sah. Sicher glaubte er mich irgendeiner fixen Idee verfallen, von der ich mich im Gehen erholen würde. Als ich allein war, erhob ich mich mit Anstrengung und schritt in der Richtung des Sternes weiter, den ich immer im Auge behielt. Ich sang im Gehen eine geheimnisvolle Hymne, an deren Klang ich mich aus einem früheren Leben zu erinnern schien. Sie erfüllte mich mit unsagbarer Freude. Ich legte meine irdischen Kleider ab, ich streute sie um mich aus. Immer schien der Weg anzusteigen, der Stern zu wachsen. Dann blieb ich mit ausgebreiteten Armen stehn. Ich wartete auf den Augenblick, der die Seele vom Körper scheiden würde, magnetisch in den himmlischen Strahl hineingezogen. Einen Schauer fühlte ich da. Die Sehnsucht nach der Erde und allen Geliebten dieser Welt griff in mein Herz: und ich betete zu dem Geist, der mich anzog, so flehentlich, daß mir bald war, als sänke ich zu den Menschen wieder zurück –: Als ich aufblickte, waren es Wächter, die mich umringten; eine Nachtrunde.

Da hatte ich den Gedanken, ich sei plötzlich sehr groß geworden. Und mit einer Flut von elektrischen Kräften könne ich alles niederwerfen, was sich mir nahe. Ich müsse mich also beherrschen, um nicht allzu gefährlich zu werden. Daher war etwas Komisches in meinem Verhalten gegen die Wächter. Mit Sorgfalt hielt ich meine Kräfte an mich und schonte gnädig das Leben der Leute, die mich hier aufgefunden hatten.

Ein Schriftsteller hat die Aufgabe, die Empfindungen der ernsten Epochen seines Daseins offen mitzuteilen. Wäre das nicht meine Überzeugung, und hätte ich mir nicht ein nützliches Ziel hierbei gesteckt, so würde ich an dieser Stelle aufhören. Ich würde dann nicht mehr den Versuch machen, die nun folgende Reihe scheinbar sinnloser Visionen darzustellen ...

Ich lag auf einem Feldbett ausgestreckt. Da sah ich, wie der Himmel sich entschleierte und in tausend Sichten unerhörte Herrlichkeiten offenbarte. Das Geschick der Seele, wenn sie sich befreit, schien sich mir zu enthüllen. Sie wollte mir Reue einflößen, daß ich vorhin wiederum auf der Erde hatte Fuß fassen wollen, die ich schon zu verlassen fähig war. Ungeheure Kreise zogen sich durch die Unendlichkeit, gleich Ringen, die in einem erschütterten Gewässer entstehen. Und jede Region war mit strahlenden Gestalten bevölkert und färbte sich, regte sich, löste sich abwechselnd auf: Göttlichkeit, immer gleich, warf lächelnd die heimlichen Masken ihrer verschiedenen Verkörperungen ab. Endlich ungreifbar floh sie in die dunkle Helligkeit von Asiens Himmeln.

Dieses Gesicht entzog mich aber nicht der Wirklichkeit, die um mich her vorging; wie auch Träume nicht nur Träume sind. Auf dem Feldbett liegend hörte ich die Soldaten von einem Unbekannten sprechen, den man gleich mir aufgegriffen habe. Seine Stimme war soeben in diesem gleichen Raum erklungen. Durch die Wirkung sonderbarer Tonschwingungen geschah es, daß ich diese Stimme in meiner eigenen Brust zu vernehmen glaubte. Meine verdoppelte Seele unterschied indessen deutlich zwischen der Erscheinung und der Wirklichkeit. Schon wollte ich mich mit Anspannung aller Kräfte nach jenem herumdrehen, von dem die Rede war.

Aber mit Schaudern dachte ich an den Glauben, der zumal in Deutschland sehr verbreitet ist: daß jeder Mensch einen Doppelgänger habe. Erblickt man ihn, so ist der Tod nahe. Da schloß ich die Augen. Verworrenheit überkam mich, und die eingebildeten oder wirklichen Personen rings zerbrachen in zahllose flüchtige Formen. Dann wieder sah ich in meiner Nähe zwei Freunde, die nach mir forschten, und die Soldaten zeigten auf mich. Die Tür ging auf, jemand von meiner Größe und Haltung, dessen Gesicht ich nicht sah, verließ mit den Freunden die Stube. Umsonst schrie ich ihnen nach: Das ist ein Irrtum! Mich haben sie gesucht und ein anderer geht mit ihnen fort! Ich lärmte so entsetzlich, daß man mich in die Haftzelle warf.

Dort lag ich mehrere Stunden dumpf und stumm. Endlich kamen zwei Freunde. Jene waren es, die ich schon gesehen hatte. Sie brachten mich in einem Wagen fort. Ich erzählte ihnen, was sich ereignet hatte. Aber sie sagten, sie seien noch nicht dagewesen ...

Ich aß ziemlich ruhig mit ihnen; je näher aber die Nacht kam, desto stärker wurde ein Gefühl, als hätte ich wieder jene Stunde zu fürchten, die mir am Abend zuvor fast verhängnisvoll geworden war. Ich bat den einen um den orientalischen Ring, den er am Finger trug. Er schien mir ein alter Talisman, und ich knüpfte ihn in ein seidenes Tuch, das ich um den Hals schlang. Dann drehte ich den Stein, einen Türkis, nach dem Nacken, auf den Punkt, wo ich einen Schmerz empfand. Irgendeine Kombination zwang mich, diesen Punkt für wichtig zu halten: dort würde die Seele entfliehen müssen, wenn ein gewisser Strahl aus dem erblickten Sterne in Beziehung auf mich mit dem Zenith zusammenträfe.

Und dann, mochte es Zufall oder eine starke Voreingenommenheit sein: es geschah wirklich, daß ich zu jener gleichen Stunde wie vom Blitz erschlagen niederstürzte. Man legte mich auf ein Bett, lange blieben mir alle Bilder ohne Zusammenhang. Nach einigen Tagen brachte man mich in eine Heilanstalt. Verwandte und Freunde besuchten mich, ohne daß ich es spürte. Der einzige Unterschied zwischen Wachen und Schlafen war, daß sich im Wachen alles vor meinen Augen umformte, jede Person sich veränderte und jedes Ding im Halbdunkel lag und sein Aussehen wechselte. Die Spiele des Lichts, die Farbenverbindungen lösten sich auf, eine beharrliche Folge wandelnder Eindrücke zog mich mit sich. Der Traum aber machte sie freier von äußeren Elementen und machte sie wahrer.

IV

Eines Abends meinte ich an die Ufer des Rheins versetzt zu sein. Mir gegenüber umrissen sich düstere Felsen, im Schatten. Ich trat in ein freundliches Haus. Durch die grünen Fensterladen, vom Weine überrankt, schimmerte weich die Sonne. Es war, als kehrte ich in eine mir bekannte Wohnung zurück, in die Wohnung eines Verwandten, eines flämischen Malers, der seit länger als einem Jahrhundert tot war. Angefangene Bilder hingen an den Wänden; eines stellte die berühmte Nixe dieses Ufers dar. Eine alte Magd, die ich Margarete nannte, vertraut wie seit meiner Kindheit, sagte zu mir: Wollt Ihr Euch nicht auf das Bett legen? Ihr kommt von weither, der Onkel kehrt spät zurück. Zum Abendessen will ich Euch wecken.

Da streckte ich mich auf dem Bette aus, das Säulen und Vorhänge aus persischem Tuch mit großen roten Blumen hatte. Mir gegenüber hing eine bäurische Uhr an der Wand, ein Vogel saß darauf und begann mit mir wie ein Mensch zu reden. Ich kannte seine Stimme, die Seele meines Vorfahren war in dem Vogel. Aber dies schien nicht wunderbarer, als in ein Jahrhundert früher versetzt zu sein. Der Vogel sprach von Verwandten, die zu allen möglichen Zeiten gelebt hatten, gestorben waren, und immer so, als sei es gegenwärtig geschehen. Du siehst, rief er, der Onkel hat noch ihr Bild gemalt ...! jetzt lebt sie bei uns ...! Ich wandte die Augen nach einem Gemälde, das eine Frau in alter deutscher Tracht zeigte, über das Flußufer geneigt, mit einem Strauß Vergißmeinnicht.

Die Nacht verdichtete sich um mich. Das Aussehen, die Töne, die Stimmungen der Dinge verwischten sich in meinem schläfrigen Geiste. Ich sank in einen Abgrund, der die Welt spaltete. Schmerzlos trug mich darin ein Strom geschmolzenen Metalles fort. Und tausend gleiche Ströme, deren Farben die chemischen Unterschiede ihrer fließenden Stoffe zeigten, furchten das Innere der Erde wie die Gefäße und die Adern, die sich durch die Gehirnlappen schlängeln. Sie liefen, kreisten, zitterten; ihr Fluß schien aus lebendigen Seelen zu bestehen, und nur die Geschwindigkeit der Reise hinderte mich, sie zu erkennen. Eine bleiche Helligkeit tropfte leise in die Kanäle: bis endlich der Schädel einer mächtigen Kuppel sich weitete und unter einem neuen Horizont Inseln in leuchtenden Wogen ruhten. Ich war an eine von sonnenlosem Tag erglänzende Küste gelangt.

Da sah ich einen Greis, der das Land bestellte. An seiner Stimme, oder weil ich es im eigenen Innern begriff, erkannte ich in ihm den, der aus dem Vogel zu mir gesprochen hatte. Ja, ich wußte nun: unsere Verwandten besuchen uns nach ihrem Tode in der Gestalt mancher Tiere, um der Entwicklung unsres Lebens noch zuzuschauen. Der Greis verließ seine Arbeit und begleitete mich. Wir gingen zu seinem Hause, das sich in der Nähe erhob. Die Landschaft glich dem französischen Flandern, jenem Ort, wo meine Eltern gelebt hatten, und wo ihre Gräber sind. Das am buschigen Waldrand liegende Feld, der benachbarte See, Fluß und Waschplatz, das Dorf mit seiner ansteigenden Straße, die Hügel aus dunklem Sandstein, voller Büschel Ginster und Heidekraut: das verjüngte mir alle geliebten Orte von einst.

Aber dieses Haus, in das ich trat, war mir fremd. Es bestand in einer unbekannten Zeit. Ich fühlte, in der Welt, die ich besuchte, ging das Gespenst der Dinge mit dem des Leibes mit. In einen weiten Saal, darin viele Menschen versammelt waren, trat ich ein. Überall entdeckte ich da bekannte Gesichter. Die Züge toter Verwandter, die ich beweint hatte, fand ich in vielen anderen wieder. In Kleidern eines älteren Stils bereiteten mir alle den gleichen väterlichen Empfang. Sie schienen sich zu einem Familienbankett vereinigt zu haben. Einer kam auf mich zu und umarmte mich. Die Farben seines Gewandes waren verblichen, sein lächelndes Antlitz unter dem gepuderten Haar ähnelte dem meinen. Er war gewissermaßen klarer lebendig als die andern und stand freiwilliger in Beziehungen zu mir. Mein Onkel war es wieder. Er gab mir den Platz neben sich und eine seltsame Verbindung schaltete sich zwischen uns ein. Denn ich kann nicht sagen, daß ich seine Stimme hörte. Nur in dem Grade, in dem ich meine Gedanken auf einen Punkt richtete, wurde ihr Ausdruck deutlich, und vor meinen Augen entrollten sich die Geschehnisse wie belebte Bilder.

Es ist also wahr, sprach ich mit Entzücken, wir sind unsterblich und bewahren hier die Bilder der Welt, die wir bewohnten. Wie schön, daß alles, was wir liebten, uns immer treu bleibt! ... Ich war sehr müde des Lebens!

Nicht zu früh freue dich, entgegnete er. Denn du gehörst noch der oberen Welt an und hast noch harte Jahre der Prüfung zu bestehen. Der Ort, der dich begeistert, hat gleichfalls seine Schmerzen, Kämpfe und Gefahren. Die Erde unseres Lebens ist die Szene der Verstrickung und Lösung unsres Schicksals ... Wir sind die Strahlen jenes Feuers in der Mitte, das die Erde belebt und schon schwächer geworden ist ...

Wie? sagte ich, die Erde könnte sterben und wir würden aufgesogen vom Nichts?

Das Nichts ... ist nicht in dem Sinne, in dem man davon spricht ... Die Erde hat einen Leib und alle Geister sind immer irgendwie die ihren. Nichts kann vergehen, doch der Leib wandelt sich nach Gut und Böse. Unsere Vergangenheit, unsere Zukunft sind gleich. Wir und unser Geschlecht leben in einander.

Als öffneten sich die Mauern vor mir zu grenzenlosen Ausblicken, sah ich nach seinen Worten eine ununterbrochene Kette von Männern und von Frauen sich entrollen, und ich war in ihnen und sie in mir. Trachten aller Völker, Formen aller Länder erschienen mir deutlich, alle im gleichen Augenblick. Meine Fähigkeiten waren vervielfacht und verwirrten sich nicht: es war ein Wunder des Raums gleich dem der Zeit, wenn ein Jahrhundert voll Taten sich in eine Traumminute verdichtet. Staunend sah ich, daß die unendliche Reihe nur aus Gestalten bestand, die im Saal zugegen waren und sich schieden und sich zusammensetzten, flüchtig und dauernd.

Wir sind sieben, sagte ich.

Ja, das ist die Zahl jeder menschlichen Familie. Und im Falle der Ausdehnung sieben mal sieben und so fort.

Ich kann dies Gespräch nicht verständlich machen, denn es ist nichts für den Verstand. Die Metaphysik verweigert jeden Ausdruck für die ahnungsvollen Beziehungen zwischen jener Personenzahl und der Harmonie der Welt. Man begreift wohl in Vater und Mutter die Analogie der Naturkräfte. Aber wie soll man die individuellen Mitten bezeichnen, die von ihnen geschaffen werden und von denen sie geschaffen wurden ...: sodaß eine animische Gesamtfigur, zugleich vielfältig und begrenzt, entsteht? Fordert Rechenschaft von der Blume, wieviel Blütenblätter sie hat, und wie ihre Krone sich einteilt; vom Erdboden für die Formen, die er bildet, von der Sonne für die Farben, die sie schafft ...!

V

Alles verwandelte sich um mich herum. Der Geist, mit dem ich sprach, wechselte sein Aussehen. Er war ein junger Mann, der von nun an die Gedanken mehr von mir empfing als sie mir mitteilte ... War ich zu weit in die Höhe gedrungen, wo der Schwindel alles verkehrt? Diese Fragen schienen gefährlich und dunkel selbst für die Geister, die ich dort wahrnahm. Vielleicht auch schnitt mir eine höchste Macht mein Suchen ab.

Ich sah mich in den Straßen einer bevölkerten fremden Stadt umherirren. Sie war von großen Hügeln gebuckelt, und ein Berg voller Häuser überragte sie. Unter den Leuten der Stadt bemerkte ich manche, die einem besonderen Volk angehören mußten. Ihr lebhafter Ausdruck, ihr entschlossenes Gesicht erinnerte an die kriegerische Unabhängigkeit von Bergbewohnern oder von Inselmenschen, die kaum Fremde kennen. Wie erhielten sie sich inmitten der großen gemischten nüchternen Stadt ihr wildes Wesen? Wer waren sie?

Ein Führer ging an meiner Seite und ließ mich abschüssige lärmende Straßen erklettern. Die Geräusche der Gewerbe hallten darin. Wir stiegen noch über lange Treppenreihen: darüber öffnete sich der Ausblick. Umgitterte Terrassen, in geebneten Zwischenräumen angelegte Gärten, Dächer und leichte Pavillons, mit geduldiger Laune bemalt Fernsichten, durch langhinsteigendes Grün verbunden, freuten das Auge. Es war eine obere Oase, eine unbekannte Einsamkeit über dem Tumult. Das Geschrei war ein sanftes Murmeln geworden. Man erzählt von geächteten Völkern, die im Schatten der Totenstädte, in Katakomben dunkel lebten. Hier mußte ein entgegengesetztes Geschlecht wohnen. Die Heiterkeit selbst hatte sich eine solche von den Vögeln geliebte Zuflucht geschaffen, wo Blumen und reine Lüfte die Nachbarn waren.

Hier leben die alten Bewohner des Gebirges, sprach mein Führer. Lange bewahrten sie sich die kindliche Einfachheit und waren voll Liebe und Gerechtigkeit, wie die Menschen der ersten Tage. Das Volk rings im Lande ehrte sie und erzog sich nach ihnen.

Ich stieg hinter ihm hinab und gelangte in eine der hohen Behausungen, deren miteinander vereinte Dächer den seltsamsten Anblick boten. Mir war, als ob meine Füße sich in Schichten von Bauten verschiedenster Zeitalter eingruben. Diese Mauern umhüllten immer neue, in denen ein neues altes Jahrhundert seine Formen zeigte. Aber ungleich den ausgegrabenen Städten des Altertums war hier alles luftig und lebendig und von tausend Lichtern umspielt. Ich befand mich endlich in einem großen Gemach, in dem ein Greis vor einem Tisch arbeitete. Im Augenblick, als ich die Tür durchschritt, hob drohend ein weißgekleideter Mann, dessen Gesicht ich nicht erkannte, eine Waffe gegen mich. Aber der, der mich führte, machte ihm ein Zeichen, und er entfernte sich. Ich fühlte, daß diese Höhen und Tiefen Zufluchtsorte der früheren Bewohner waren. Sie trotzten wohl noch immer der sich häufenden Flut neuer Rassen. Sie versuchten wohl noch immer in Einfachheit, in Liebe und Gerechtigkeit zu leben und friedlich die blinden Völker zu besiegen, die ihr Erbe oft überfielen. Wie? nicht verdorben, nicht zerstört und nicht versklavt? rein, obwohl sie nicht unwissend mehr waren? arm und gut?

Ein Kind spielte am Boden mit Kristallen und Muscheln. Eine schöne alte Frau bestellte die Wirtschaft. Junge Leute traten laut wie von der Arbeit herein. Sie waren weiß gekleidet. Vielleicht täuschten mich meine Augen. Mein Führer jedenfalls begann mir ihre Tracht als sehr farbig zu beschreiben und gab mir zu verstehen, daß sie in Wirklichkeit so sei. Das Weiß, das mich befremdete, kam vom besonderen Glanz über ihnen, von einem Lichterspiel, das die Farben des Prismas rein verschmolz.

Ich verließ das Zimmer und stand auf einer Terrasse mit Blumenanlagen. Junge Mädchen und Kinder spielten dort. Auch ihre Kleider erschienen mir weiß, mit rosigen Stickereien. Diese Wesen waren so schön, ihre Züge so lieblich und die Seele glänzte so klar durch ihre zarten Formen, daß sie eine Liebe ohne Begierde und Bevorzugung einflößten. Der unbegrenzte Hauch ihrer Jugend entzückte mich so sehr, daß ich die reizenden Geschöpfe nicht genug betrachten konnte. Dies war eine primitive und himmlische Familie, und ihre Augen lächelten in die meinen voll zarten Mitgefühls.

Ich aber weinte heiße Tränen; ein verlorenes Paradies berührte mich. Bitter fühlte ich, daß ich nur ein Wanderer durch diese fremde und teure Welt war. Ich zitterte bei dem Gedanken, in das Leben zurückkehren zu müssen. Doch umsonst drängten sich die Frauen und die Kinder um mich, als wollten sie mich halten. Schon zerflossen mir ihre bezaubernden Mienen zu bleichen Nebeln. Die Schönheit der Gesichter entschwand, die feste Gestalt, der schimmernde Blick sank in den Schatten zurück, aus dem noch ein letzter Strahl ihres Lächelns herausflog ...

Dies blieb mir aus der Vision im Gedächtnis zurück. Als Starrkrampf, in dem ich tagelang lag, ist es mir dann wissenschaftlich erklärt worden. Die Berichte der Leute, die mich in diesem Zustand gesehen hatten, verursachten mir eine heftige Gereiztheit. Denn der Geistesverwirrung schrieb man die Bewegungen und Worte zu, die mir ganz zusammenhängend erschienen waren.

Weit mehr liebte ich diejenigen meiner Freunde, die aus Geduld und Gefälligkeit oder aus Übereinstimmung mit meinen Gedanken mich veranlaßten, ihnen die geschauten Dinge ausführlich zu erzählen. Einer brach gar in Tränen aus und fragte: Also gibt es einen Gott? Ja! erwiderte ich begeistert. Und wir umarmten uns – wie zwei Brüder aus jenem gleichen Vaterland meines Traums. Wie glücklich war ich zuerst in diesem Glauben. Also war der ewige Zweifel an der Unsterblichkeit, der die besten Geister quält, von mir gelöst worden? Kein Tod, keine Trauer, keine Unruhe mehr. Die ich liebte, Freunde und Verwandte, gaben mir sichere Zeichen ihres währenden Daseins. Nur noch die Stunden des Tags trennten mich von ihnen. Aber die Nacht durfte ich in seliger Schwermut erwarten.

VI

Ein anderer Traum bestärkte mich noch. Alte Möbel eines großen Zimmers leuchteten um mich in einem wunderbaren Glanz. Licht, dreimal heller als gewöhnlicher Tag, drang durch Vorhänge und Türen. In der Luft schwebte ein frischer Hauch wie an den ersten milden Frühlingsmorgen. Drei Frauen arbeiteten in dem Raume und waren, ohne ihnen vollkommen zu gleichen, Verwandte und Freundinnen meiner Jugend. Es schien mir, als ob jede die Züge mehrerer solcher Freundinnen vereinte. Die Linien ihrer Gesichter änderten sich wie die Flamme einer Lampe. Jeden Augenblick ging die eine in die andere über: Lächeln, Stimme, Farbe von Augen und Haaren, Gebärde und Wuchs: in allem vertauschten sie sich, als lebten sie von einem gleichen Leben. Und so war jede eine Mischung von allen, wie die, welche die Maler aus mehreren Modellen malen, um eine vollkommene Schönheit zu erreichen.

Die älteste sprach zu mir mit schwingender Stimme, deren Musik ich in der Kindheit gehört habe. Aber es war auch so richtig und gut, was sie sagte, daß ich gebannt war – und nichts behielt. Sie lenkte meine Gedanken auf mich selbst; und ich sah mich in einem braunen altertümlichen Anzug, ganz gewebt, mit feinen Fäden gleich Spinnweben. Er war kokett und duftete süß. Ich fühlte mich verjüngt im Putz dieser Kleidung, die aus ihren Feenhänden hervorgegangen war. Errötend dankte ich, als sei ich ein kleines Kind vor großen schönen Damen. Und die eine erhob sich und wandte sich zum Garten.

Ihr wißt, daß man im Traume nie die Sonne sieht, obwohl man oft eine viel stärkere Helligkeit empfindet. Die Gegenstände und Körper leuchten dann aus sich selbst. Ich trat in einen kleinen Park hinaus, wo Bogengänge, hängend voll schwerer weißer und dunkler Weintrauben, sich hinzogen. Als die Dame, die mich führte, darunter hinging, verwandelte vielfältig der Schatten der Laube ihre Mienen und ihr Kleid. Endlich trat sie hinaus, und wir standen an einem offenen Platz. Man sah kaum noch Spuren von alten Alleen, die sich hier gekreuzt hatten. Der Garten war wild geworden, ein dichter Wuchs von Klematis, Geißblatt, Efeu, Jasmin, Lianen schlang sich in langen Windungen um die kräftigen Stämme der Bäume. Zweige bogen sich unter lastenden Früchten bis auf die Erde nieder. Unter den wuchernden Gräsern blühten auch Gartenblumen, aber sie waren in ihre wilden Arten zurückverwandelt. In Abständen erhoben sich Gruppen von Akazien, Pappeln und Tannen. In ihrem Schoß sah man Statuen dunkeln, geschwärzt von der Zeit. Felsen, mit Efeu bedeckt, stiegen auf und ließen eine lebendige Quelle aus dem Gestein hervorspringen. Sie klang mit fließender Harmonie in ein unbewegliches Gewässer hinab, in ein Bassin, halb verhüllt unter breiten Seerosenblättern.

Die Dame, der ich folgte, machte eine Bewegung, die ihre Gestalt zeigte und die spiegelnden Falten ihres Taftkleides erglänzen ließ. Anmutig mit ihrem nackten Arm umfing sie den langen Stock einer Rose im Garten. Dann begann sie unter seinem klaren Lichtschein zu wachsen, und so, daß nach und nach der Garten ihre Gestalt annahm. Blumenbeete und Bäume wurden zu den Rosetten und Girlanden ihres Kleides. Das Gesicht und die Arme verliehen den purpurnen Wolken des Himmels ihre Gestalt. Je mehr sie sich wandelte, umso weiter verlor ich sie aus den Augen; sie schien sich in ihrer Größe zu verflüchtigen.

O! fliehe nicht! rief ich, die Natur stirbt mit dir!

Indem ich so schrie, ging ich mühselig zwischen Dornen hin, als wollte ich nach dem großen mir entschwebenden Schatten greifen. Da stieß ich an eine zertrümmerte Mauerecke; die Büste einer Frau lag dort am Boden. Ich hob sie auf ... und mir schien, sie sei es ... Ja, ich erkannte sie, die geliebten Züge.

Ich ließ die Augen rings um mich gehen. Siehe, der Garten hatte das Aussehen eines Friedhofs. Stimmen sprachen: Das Weltall ist in der Nacht.

VII

Dieser Traum, so glücklich am Beginn, warf mich in tiefe Bestürzung. Was verkündete er mir? Erst später wußte ich es. Aurelia war tot.

Zunächst kam die Nachricht, daß sie erkrankt sei. Mein Zustand ließ mich nur einen unbestimmten, mit Hoffnung gemischten Kummer empfinden. Ich meinte selbst nur noch kurze Zeit leben zu können und war jetzt des Daseins in einer anderen Welt sicher, wo Liebende sich wiederfinden. Sie gehörte mir vielleicht im Tode mehr als im Leben. Das war ein selbstsüchtiger Gedanke, den ich einmal mit bitterer Reue bezahlen mußte.

Ich möchte mit Ahnungen nicht Mißbrauch treiben. Der Zufall bringt die Dinge sonderbar zusammen. Aber ich war damals sehr von Erinnerungen an unsere zu rasche Verbindung erfüllt. Ich hatte ihr einen alten Ring geschenkt, mit einem Opalstein, in Herzform geschnitten. Da der Ring für ihren Finger zu groß war, ließ ich ihn durchschneiden, um den Reif verkleinern zu lassen. Aber als ich das Schreien der Säge hörte, war mir, als ob Blut fließe ...

Sorgfältige Pflege machte mich wieder gesund, ohne daß der geregelte Gang menschlicher Vernunft schon in mich zurückkehrte. Das Haus, in dem ich untergebracht war, lag auf einer Anhöhe; es hatte einen weiten Garten voll kostbarer Bäume. Die reine Luft dieses Hügels, der erste Atem des Frühlings, die sehr angenehme, sehr sympathische Gesellschaft im Hause brachten mir lange Tage der Ruhe.

Die ersten Blätter der Sykomoren entzückten mich mit ihren lebensvollen Farben, die dem Federbusch des Pharaohahns gleichen. Der gedehnte Blick über die Ebene flog vom Morgen bis zum Abend auf bezaubernde Horizonte zu. Ihre gestuften Färbungen gefielen meiner Phantasie. Die Hügel und die Wolken bevölkerte ich mit göttlichen Gestalten, deren Linien ich genau unterschied.

Aber ich wollte meine Lieblingsgedanken noch schärfer festhalten. Mit Kohle und mit Ziegelstückchen, die ich fand, bedeckte ich die Wände ... eine Reihe von Fresken, meine Träume. Ein Gesicht herrschte über die andern: Aurelias. Sie trug die göttlichen Züge, unter denen sie mir im Traume erschienen war. Unter ihren Füßen drehte sich ein Rad, und Götter waren ihr Gefolge. Ich preßte den Saft von Gräsern und Blumen aus und kolorierte damit diese Gruppe.

Wie oft träumte ich dann vor dem geliebten Bilde! Aber ich begann von neuem und versuchte, den Körper, den ich liebte, aus Erde zu formen. Jeden Morgen mußte ich meine Arbeit wieder neu machen. Denn die Wahnsinnigen, die auf mein Glück eifersüchtig waren, schlichen sich zu dem Werke und zerstörten es.

Man gab mir Papier, und lange bemühte ich mich, in tausend Figuren, von Versen, Erzählungen, Inschriften begleitet, eine Art Geschichte der Welt zu schreiben. Erinnerungen an alle meine Studien und Bruchstücke meiner Träume, die in meinem befangenen Zustande sich noch dichter verschleierten: meine Wissenschaft und meine Verwirrung mischten sich hinein. Mit den modernen Überlieferungen der Schöpfungsgeschichte hielt ich mich nicht auf. Mein Gedanke stieg darüber hinweg ... weiter zurück. Ich sah in der Erinnerung den ersten Bund, den die Genien mit Hilfe von Talismanen schlossen.

Ich versuchte, die Steine der Heiligen Runde zusammenzustellen und um ihren Tisch die ersten sieben Elohim abzubilden, die sich in die Welt geteilt haben. Dies System der Geschichte, orientalischer Überlieferung entlehnt, begann mit der glücklichen Einigung der Naturmächte, die das All gestalteten. In der Nacht, die meiner Arbeit voranging, meinte ich auf einen finsteren Planeten versetzt zu sein, durch den die ersten Schöpfungskeime wehten. Aus dem Schoße des noch weichen Tons erhoben sich gigantische Palmen, giftige Euphorbien, um Kakteen gewundene Akanthusstauden. Die trockenen Gesichter der Felsen starrten wie Skelette aus diesem Schöpfungsentwurf. Scheußliche Reptile schlängelten sich hervor und machten sich breit oder rund im unentwirrbaren Netz der wilden Pflanzen. Bleiches Sternenlicht allein beleuchtete die bläulichen Horizonte.

VIII

Dann veränderten die Ungeheuer ihre Gestalt. Sie erhoben sich gewaltiger auf schwellenden Tatzen. Die Masse ihres Körpers brach Zweige und Büsche nieder. Im Chaos der Natur stürzten sie gegeneinander, in Schlachten, an denen auch ich teilnahm. Denn ich hatte einen ebenso seltsamen Leib wie sie.

Plötzlich klang eine fremde Harmonie in unsre Einsamkeit herein. Da war es, als ob die Schreie und Gebelle, das Heulen und Pfeifen, die wirren Mißtöne der Urwesen sich regelten und langsam in jene himmlische Weise übergingen. Variationen folgten einander ins Unendliche, und der Planet wurde heller. Vom wachsenden Grün, von den Tiefen der Gebüsche hoben sich göttliche Formen ab. Die Ungetüme wurden zahm und gewannen schlankere Gestalt: und waren Männer und Frauen. Andere kamen auf dem Wege ihrer Umwandlungen in die Körper der wilden Tiere, Fische und Vögel. Wer hatte dies Wunder vollbracht?

Von den Vögeln aus begann jetzt die vierfache Unterscheidung, die auf die wilden Tiere, Fische und Reptile übergriff: in Devas, Peris, Undinen und Salamander. Jedesmal wenn eins dieser Wesen starb, wurde es sogleich unter schönerer Form wiedergeboren und sang den Ruhm der Gottheiten.

Doch einer der Elohim hatte den Gedanken, eine fünfte zu jenen Geisterrassen hinzuzufügen, gebildet aus den Elementen der Erde: die Afriten. Das war das Zeichen zur gewaltigsten Umwälzung unter den Geistern, die die neuen Weltbesieger nicht anerkennen wollten. Tausende von Jahren dauerten die Kämpfe, die den Erdball mit Blut durchtränkten. Endlich wurden drei der Elohim mit den Geistern ihrer Geschlechter in den Süden der Welt verbannt. Dort gründeten sie mächtige Reiche. Sie hatten die Geheimnisse der göttlichen Kabbala mit sich genommen, welche die Welten verschmilzt. Ihre Kraft empfingen sie aus der Anbetung gewisser Sterne, mit denen sie immer in Verbindung waren. An die äußersten Grenzen der Erde verbannt halfen die Nekromanten einander in der Übertragung und Mehrung ihrer Macht. Sie hatten sich der Fähigkeit versichert, unter der Form eines ihrer Kinder wiedergeboren zu werden –: Von Frauen und Sklaven umwimmelt lebten sie tausend Jahre; Zauberer schlossen sie dann beim Nahen des Todes in wohlbewachte Grabmäler ein und ernährten sie mit Elixieren, mit erhaltenden Stoffen; lange noch bewahrten sie den Anschein des Lebens; dann schliefen sie vierzig Tage, gleich der schimmernden Schmetterlingspuppe; und dann erstanden sie wieder im Leib eines kleinen Kindes, das später zur Herrschaft berufen wurde.

Jedoch die Erde erschöpfte sich, sie nährte diese Familien aus immer gleichem Blute. In weiten unterirdischen Gewölben, ausgehöhlt unter den Grüften und Pyramiden, häuften sich die Schätze aller vergangenen Geschlechter an. Besonders hüteten sie dort die Talismane, die sie vor dem Zorne der Götter beschützten. Das Volk aber, für immer in Kasten geteilt und gefesselt, fühlte kaum, daß es lebte. Auch ich seufzte dort lange in der Gefangenschaft, in der Mitte Afrikas, jenseits der Sandgebirge und des alten Äthiopien. Die Wälder, die ich einst grünen gesehen hatte, trugen nur noch welke Blätter und blasse Knospen. Eine unversöhnliche Sonne verzehrte das Land. Am Fuße der vom Tode getroffenen Bäume, unter den Ästen der Unfruchtbarkeit, auf dem verbrannten Gras wanden sich schmerzhaft die farblosen Kinder und die jungen siechen Frauen. Auch die schwächlichen Söhne der ewigen Dynastien sanken hin unter dem Gewicht ihres Daseins. Die erhabene eintönige Größe, von hieratischen Gebräuchen geregelt, bedrückte jeden, doch keiner entzog sich der tödlichen Etikette. Die Greise verschmachteten unter den strahlenden Kronen, in ihrer kaiserlichen Sonne, zwischen Ärzten und Priestern, deren Wissen ihnen Unsterblichkeit sicherte. Die Pracht der Gemächer und Kleider umhüllte die Ewigkeit der Langenweile.

Dann brachen entvölkernde Krankheiten aus, und auch Tiere und Pflanzen starben. Die Unsterblichen selbst verfielen unter den üppigen Gewändern. Bis eine Geißel, größer als alle anderen, kam und plötzlich die Welt verjüngte, die Welt rettete. Das Steinbild des Orion tat die Katarakte der himmlischen Gewässer auf. Zugleich vollführte die Erde, die vom Eis des nördlichen Pols zu schwer belastet war, eine halbe Drehung um sich selbst ...: Und die Meere stürzten über ihre Ufer und fluteten in die Ebenen Afrikas und Asiens. Die Wasser drangen durch den Sand hinab in die Gräber und füllten die Pyramiden an.

Drei der Elohim hatten sich auf Afrikas höchsten Gipfel geflüchtet. Ein Kampf entbrannte zwischen ihnen. Hier verwischt sich mein Gedächtnis, ich kenne den Ausgang des hohen Streites nicht mehr. Ich sehe nur noch aufgerichtet auf einer von den Wassern umflossenen Spitze ein Weib stehen, das sie verlassen haben. Mit aufgelösten Haaren steht sie und schreit und wehrt sich gegen den Tod. Ihre klagenden Laute übertönen die Brandung. Die Götter, ihre Brüder, hatten sie verraten: doch über ihrem Haupt glänzte der Abendstern und richtete seinen rettenden Strahl auf ihre Stirn. Und eine geheimnisvolle Arche schwamm vierzig Tage lang über die Meere. Sie trug die Hoffnung auf eine neue Schöpfung der Welt.

Die unterbrochene Hymne der Erde und des Himmels stieg wieder harmonisch hallend auf und weihte die Eintracht der neuen Geschlechter. Mühselig arbeiteten die Söhne Noahs in den Strahlen einer jungen Sonne. Unter der Erde aber, geduckt in ihren Gewölben, bewachten noch immer die Nekromanten ihre Schätze und gefielen sich in Nacht und Schweigen. Manchmal krochen sie scheu aus ihren Höhlen und schreckten die Lebenden und unterrichten die Bösen in ihren tödlichen Wissenschaften.

Als ich so, schaudernd in unbestimmter Intuition, die Züge verfluchter Vergangenheit zeichnete, schien mir überall das Leidensbild der Ewigen Mutter seufzend entgegenzustehen. Quer durch die wirren Zivilisationen Afrikas und Asiens erneuerte sich immer die gleiche Orgie, von denselben Geistern in immer neuer Form der Gemetzel begangen. Die letzte fand zu Granada statt, wo der heilige Talisman zwischen den feindlichen Händen der Christen und Mauren zerbrach.

Wie lange wird die Welt noch leiden! Auch unter jedem anderen Himmel kommt die Rache der ewigen Feinde wieder. Jedes der zerschnittenen Stücke der Schlange, welche den Erdkreis umschlingt, bleibt ein ewiger Krieg. Das Eisen hat sie zerhauen, doch sie vereinigen sich wieder in einem scheußlich mit dem Blut der Menschen verklebten Kuß.

IX

Ich konnte dies gute Haus endlich verlassen. Aber verhängnisvolle Umstände brachten mir lange danach einen Rückfall. Und die Folge dieser Träume setzte sich fort.

Ich ging auf dem Lande spazieren und dachte an eine Arbeit, die an religiöse Dinge anknüpfte. Als ich vor einem Hause vorbeiging, hörte ich drinnen einen Vogel Worte auf eingelernte Weise sprechen, aber das Geschwätz hatte doch einen Sinn. Ich erschrak, mir kam die Erinnerung an jenen frühen Traum.

Ein paar Schritte weiter traf ich einen Freund, den ich lange nicht gesehen hatte; er wohnte in der Nachbarschaft. Ich ging auf seine Einladung mit ihm. Er führte mich zu einer hohen Terrasse, von der man einen weiten Ausblick hatte. Es war bei Sonnenuntergang. Als ich die Stufen einer ländlichen Treppe hinabging, trat ich falsch und stieß mit der Brust an eine Möbelkante. Ich erhob mich und stürzte in die Mitte des Gartens; mir war, als sei ich zu Tode getroffen. Aber ich hatte blitzschnell den Gedanken: noch ein Mal die sinkende Sonne zu sehen. Voll Trauer und zugleich voller Glück war ich: in dieser Stunde zu sterben, unter den Bäumen, unter den Herbstblumen!

Es war nur eine Ohnmacht, nach der ich fortgehen und daheim mich zu Bett legen konnte. Doch ich fieberte. Als ich an die Stelle dachte, wo ich gefallen war, erinnerte ich mich, daß jene bewunderte Aussicht auf den Friedhof ging. Es war derselbe, auf dem Aurelias Grab lag. Ich dachte wirklich jetzt erst daran, mein Sturz war also nicht etwa vom Anblick des Friedhofs verursacht worden.

Dies erweckte mir das Gefühl eines bestimmten Verhängnisses. Und ich bedauerte, daß mich der Tod nicht zu ihr gebracht hatte. Dann meinte ich wieder, ich sei dessen nicht würdig. Mit bitterem Vorwurf hielt ich mir das Leben vor Augen, das ich seit ihrem Tode geführt hatte. Ich hatte sie nicht vergessen. Aber war ihr Gedächtnis nicht in vielen leichten Liebschaften beleidigt worden? Ich dachte, den Schlaf zu befragen. Aber ihr Bild, das mir oft erschienen war, blieb nun in den Träumen aus. Sie waren trübe, mit blutigen Szenen erfüllt.

Ein ganzes unglückseliges Geschlecht schien jetzt in jener reinen Welt, deren Königin sie war, schrecklich entfesselt zu sein. Der Geist, der die Waffe gegen mich erhoben hatte, als ich in die geheimnisvolle Stadt trat, eilte an mir vorüber. Doch er trug nicht mehr gleich den Seinen das weiße Gewand, sondern war wie ein Fürst des Orients gekleidet. Ich stürzte auf ihn zu, ich drohte ihm, er kehrte sich ruhig nach mir um. O Schrecken! o Zorn! mein Gesicht war es und meine mächtiger gewordene Gestalt!

Ich erinnerte mich an jenen Mann, der sich in der gleichen Nacht wie ich auf der Wache befand, und den man unter meinem Namen zur Tür hinausgehen ließ, mit den beiden Freunden. Dieser hier trug eine Waffe in der Hand, deren Art ich nicht kannte, und einer seiner Begleiter sagte: Damit traf er ihn.

Ich kann immer wieder schwer verständlich machen, auf welche Weise in meinem Innern die irdischen mit den übernatürlichen Geschehnissen zusammenschmolzen. Das ist leichter zu fühlen als zu erklären.

Seine Worte: Damit traf er ihn – klangen wie eine Anspielung auf den Stoß, den ich scheinbar von der Möbelkante erhalten hatte. Wer war dieser Geist, – der ich war – außerhalb von mir? Der Doppelgänger der Legenden oder der mystische Bruder, den die Orientalen »Ferwer« nennen? Hatte ich nicht voller Erregung die Geschichte des Ritters gelesen, der eine Nacht lang mit einem Unbekannten kämpfte, welcher er war ... Die menschliche Einbildungskraft kann nichts erfunden haben, das nicht wahr ist, in dieser oder anderer Welt. Und ich selbst konnte an dem nicht zweifeln, was ich gesehen hatte. Erschrocken sprach es in mir: Der Mensch ist doppelt.

Ich fühle in mir zwei Menschen, hat ein Kirchenvater geschrieben. Der Wettlauf zweier Seelen hat den gemischten Keim in einen Körper gelegt, der auch selbst einen doppelten Anblick bietet: Zwei einander ähnliche Teilungen kehren in all seinen Organen wieder. In jedem Menschen ist ein Spieler und ein Zuschauer. Einer spricht, einer antwortet. Der Orientale sieht darin zwei Feinde, den guten und den bösen Geist.

Bin ich der gute? bin ich der böse? fragte ich mich. In jedem Fall ist der andere mir feindlich. Wer weiß, ob es nicht ein Alter oder ein Ereignis gibt, bei dem die beiden sich trennen? Während sie durch stoffliche Verwandtschaft an denselben Körper gebunden sind, ist der eine vielleicht für Ruhm und Glück bestimmt, aber der andere zur Vernichtung oder zu ewigem Leiden ...

Ein Blitz zuckte herab: – Aurelia gehörte mir nicht mehr! Was geschah dort? Ich glaubte Worte zu vernehmen, die von einer fern vor sich gehenden Zeremonie sprachen, von den Zurüstungen zu einer mystischen Hochzeit, anderswo ...: Aber es war die meine ... und der andere benutzte den Irrtum der Freunde, den Irrtum Aurelias. Es kamen viele gute Menschen und wollten mich trösten. Aber da wurden sie gleichfalls ein Raub der Unsicherheit: die beiden Teile auch ihrer Seele schieden sich in Beziehung auf mich. Die eine war voll Liebe und Vertrauen, die andere war zu Tode erschrocken über mich. Es lebte in allem, was sie sagten, ein zwiefacher Sinn. Doch sie wußten es nicht, denn sie waren nicht im Geiste gleich mir. Einmal wandte ich diese Lage sogar ins Komische und dachte an Amphitryon und Sosias. Aber vielleicht bedeutet auch diese Groteske etwas anderes: vielleicht verbirgt sich, wie in anderen antiken Mythen, unter der tollen Maske das Verhängnis?

Wohlan, dachte ich, ich will es bekämpfen, ich will gegen den Gott selbst mit meinen Waffen streiten. Was immer er im Schatten tun mag: ich lebe; und mir bleibt, um ihn zu überwinden, die ganze Zeit, die ich noch auf der Erde sein darf.

X

Aber diese Gedanken trieben mich allmählich in eine unsagbare Verzweiflung hinein. Ich war nun sicher, daß ein böser Genius meinen Platz in der Welt der Seelen eingenommen hatte und daß er für Aurelia ... ich war. Der trostlose Geist, der noch in meinem eigenen Körper wohnte, geschwächt, verachtet, von ihr verkannt: er sah sich für immer dem Nichts geweiht. Ich bedurfte all meiner Willenskraft, um das Geheimnis weiter zu durchdringen, nachdem ich die ersten Schleier gehoben hatte.

Einige Male spottete der befragte Traum meiner Bemühungen und führte mir nur flüchtige fratzenschneidende Gestalten vor. Dann ... ich kann nur eine bizarre Ahnung von dem geben, was mein Suchen mir brachte. Ich glitt an einem gespannten Faden von unendlicher Länge hin. Die Erde erhellte sich bald vom Aufglühen eines Feuers in ihrer Mitte, dessen Weiße mit den kirschroten Farben der inneren Erdflanken verschmolz. Von Zeit zu Zeit traf ich auf große Wasserfetzen, die im Raume hingen wie Wolken in der Luft und so dicht waren, daß sich Flocken ablösten. Es mußte eine vom irdischen Wasser verschiedene Flüssigkeit sein, die Verdampfung dessen, was der Welt des Geistes gleich Meer und Flüssen war.

Ein weiter bergiger Strand kam in Sicht. Er war mit grünlichem Schilfrohr bedeckt, das an der Spitze ins Gelbliche ging, als hätte Sonnenglut sie ausgedörrt. Jedoch ich habe wie die anderen Male auch hier keine Sonne gesehen. Ein Schloß stand über der Küste, und ich kletterte hinauf. Auf der anderen Seite sah ich eine unermeßliche Stadt liegen.

Während ich den Berg überschritten hatte, war die Nacht hereingebrochen. Ich sah Lichter in den Wohnungen und Straßen. Ich ging hinunter und befand mich auf einem Marktplatz. Dort wurden Früchte verkauft, ähnlich denen des Südens. Über eine finstere Treppe hinab drang ich in die Straßen. Ein Zettelanschlag kündigte da die Eröffnung eines Kasinos an. Seine Einrichtung war genau beschrieben; Blumengirlanden umrahmten das Plakat. Dahinter stand das Gebäude selbst, noch unvollendet.

Ich trat in ein Atelier, wo Handwerker ein ungeheures Tier, gleich einem Lama, aus Ton modellierten. Es war dauernd wie von einem Feuerstrahl durchschossen, der es nach und nach belebte. Es begann sich zu winden, tausend Purpurfasern durchzogen es, wurden Adern, befruchteten gewissermaßen den trägen Stoff. Er bekleidete sich mit einer schnell wachsenden Masse von fasrigen Anhängseln, Flügelchen, wolligen Büscheln.

Ich blieb stehen und betrachtete das Werk, für das man der göttlichen Schöpfung die Geheimnisse abgesehen hatte. Wir haben das Urfeuer hier, sagte einer, das die ersten Wesen belebte. Einst schlug es bis zur Oberfläche der Erde hindurch, aber die Quellen sind ausgetrocknet.

Ich sah auch Schmiedearbeit, aus zwei Metallen, die wir nicht kennen. Eins war rot, ähnlich dem Zinnober, das andere azurblau. Die Ornamente waren nicht gehämmert und nicht ziseliert; sie formten, färbten und öffneten sich wie metallische Pflanzen, die aus chemischen Mischungen entspringen. Macht man auch Menschen? fragte ich. Aber ich erhielt die Antwort: Die Menschen kommen von oben, nicht von unten. Können wir uns denn selbst schaffen? Aber wir formen hier in langsamem Fortschritt unserer Kunst einen Stoff, feiner als der, aus dem die Erdrinde gemacht ist. Die gemalten Blumen, die dir natürlich scheinen, dies Tier, das zu leben scheint, sind Erzeugnisse unserer auf die Spitze getriebenen Kunst, und so wird sie jeder einschätzen.

Dies sind ungefähr die Worte, die mir entweder gesagt wurden, oder deren Sinn ich so erriet. Ich ging durch die Säle des Kasinos und sah eine Menge Menschen versammelt. Ich erkannte darunter Lebende und vor verschiedenen Zeiten Gestorbene. Jene schienen mich nicht zu sehen; diese aber antworteten mir, ohne daß sie mich erkannten. Der größte Saal war ganz mit mohnrotem Samt ausgeschlagen, der mit goldenen vielfach gemusterten Bändern durchzogen war. In der Mitte thronte ein Ruhebett. Manche Vorbeigehende setzten sich nieder, um die Elastizität zu prüfen. Dann gingen sie weiter, denn alles war noch unvollendet.

Rings um mich sprach man von einer Hochzeit und von dem Gatten, der kommen müsse, um den Beginn des Festes zu verkünden. Eine unsinnige Vorstellung bemächtigte sich meiner. Ich dachte, der, den man erwarte, sei mein Doppelgänger, und er wolle sich mit Aurelia vermählen.

Ich brach in ein wüstes Geschrei aus und machte solchen Lärm, daß die Versammlung entsetzt schien. Ich hielt eine heftige Rede und schilderte meinen Kummer und forderte meine Bekannten unter ihnen auf, mir sogleich zu helfen. Ein Alter sagte: Aber so beträgt man sich nicht; du erschreckst alle. Ich aber schrie: Ich weiß! er hat mich schon mit seiner Waffe getroffen! aber ich erwarte ihn furchtlos und kenne das Zeichen, das ihn besiegt!

In diesem Augenblick erschien ein Arbeiter aus der Werkstatt, die ich schon besucht hatte. Er hielt eine lange Stange in den Händen, deren Ende aus einer im Feuer geglühten Kugel bestand. Ich wollte mich auf ihn stürzen, aber die Kugel, die er hochhielt, bedrohte immer meinen Kopf. Rings schien man über meine Ohnmacht zu spotten.

Da zog ich mich bis zu dem Thronbett zurück, die Seele von seltsamem Stolz und Hochmut erfüllt. Ich hob, um ein Zeichen zu machen, die Arme, die eine magische Kraft ausstrahlten ...

Der deutliche zitternde Schrei einer Frau, die in herzzerreißender Qual schrie, ließ mich zusammenfahren. Und die Silben eines unbestimmten Wortes, das ich aussprechen wollte, verhauchten auf meinen Lippen. Ich warf mich zu Boden und betete inbrünstig und weinte heiße Tränen.

Was für eine Stimme war das, die so schmerzlich durch die Nacht hallte? Sie gehörte keinem Traum. Es war die Stimme einer Lebenden und doch vernahm ich Aurelias Stimme ...

Ich war wach. Ich öffnete mein Fenster. Alles war still, und der Schrei kam nicht wieder.

Als ich draußen fragte, hatte niemand etwas gehört Und doch weiß ich, daß der Schrei wirklich war und daß der Ton einer Lebenden darin lag.

Vielleicht nimmt man einen Zufall an; etwa daß in jenem Augenblicke eine leidende Frau in der Nähe geschrien habe. Aber für mich sind die irdischen Geschehnisse mit den unsichtbaren verbunden. Das ist nur anzudeuten und nicht zu erklären.

... Was hatte ich getan? Die Harmonie der magischen Welt getrübt. Ich war verflucht. Ich hatte über ein göttliches Gesetz hinweg das furchtbare Geheimnis betreten wollen. Nun erwartete mich nur noch Zorn und Verwerfung. Die erregten Schatten flüchteten schreiend und zogen unheilvolle Kreise durch die Luft wie Vögel vor dem Sturm.


 << zurück weiter >>