Peter Nansen
Gottesfriede
Peter Nansen

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XV.

In der Nacht zwischen dem 1. und 2. August.

Zwei Tage lang zögerte ich, der Einladung Folge zu leisten. Ich dachte, sie hat sicher nicht gemeint, dass Du sofort kommen solltest. Heute Abend aber musste ich hinauf. Als ich kam, stand Grete in der Thür. »Also endlich!« sagte sie. »Vater neckte mich schon damit, dass Sie wohl am liebsten nichts mit uns zu thun haben wollten.« Da wusste ich, dass ich willkommen war, und fühlte mich gleich sicher und geborgen.

Die Wohnstube des Müllers, von deren Fenster man eine Aussicht über den Fjord hat, gleicht einer Kajüte, niedrig und tief, mit einem langen, gelbpolierten Rosshaarsofa, einem grossen Klapptisch, lederbezogenen Stühlen, einer Seekarte und Bildern von Schiffen an der Wand, in einer Ecke ein Schiffsmodell, in einer andern ein altmodisches Klavier, auf Borten und Schränken Muscheln und ausgestopfte tropische Fische, über dem Tisch eine Hängelampe.

Hier hinein wurde ich zu dem Müller geführt, dessen breite, schlanke Riesengestalt ich sofort wiedererkannte, dessen Blick unter den buschigen, grauen Brauen aber bleich und erloschen war. Er sass in der Sofaecke in einer blauen Joppe und dampfte aus einer dicken Meerschaumpfeife. Grete führte mich zu ihm und sagte: »Da ist er, der fremde Herr, siehst Du wohl, dass er doch gekommen ist!« Seine behaarte, braune Hand presste die meine herzlich, und damit fühlte ich mich zu Hause in der Stube des Müllers.

Niemals habe ich mich irgendwo so heimisch gefühlt. Ich sass da und dachte: habe ich dies früher alles im Traume gesehen, oder ist es ein Traum, den das Sehnen meiner Seele mir vorzaubert? Es war mir, als habe ich viele Jahre in dieser Umgebung gelebt, in dieser Kajüte, die wie ein Wrack auf einen gastfreien Berg an Land geworfen ist, zusammen mit diesem blinden Greis, der weise Worte redete, und mit diesem jungen Mädchen, das still waltend unser Einsiedlerleben schmückte und beglückte.

Ich lauschte den Erzählungen des Alten, und meine Seele war jubelnd erfüllt von Gretens Bild. In einem einfachen, grauen Hauskleide mit einer bunten Bauernschürze ging sie geschäftig aus und ein, brachte uns geschnittenes Butterbrot und Fruchtmus eigener Fabrikation, stopfte uns dann die Pfeifen und braute uns einen Grog von altem, ostindischem Rum. Jedesmal, wenn sie zurückkehrte, strömte der Sonnenschein ins Zimmer herein. Dass auch der Alte das empfand, sah ich an dem Schimmer von Leben, den ihr Eintritt stets in seinen Augen entzündete.

Als Grete hinausgegangen war, um das Abendbrot zu bereiten, erzählte der Müller:

»Ehe ich mich hier oben zur Ruhe setzte, bin ich weit in der Welt umhergewesen. Ich führte Schiffe auf den grossen Meeren für eigene wie für anderer Rechnung. Aber eines schönen Tages meinte ich, dass es genug sein könne. Ich hatte mehr gesehen, als ich Lust hatte, die Zeiten wurden schlecht für die Segelschiffe; ich fand, das Segeln verlohnte sich nicht mehr. Da baute ich die Mühle hier. Eine Mühle ist doch so eine Art Schiff, sie braucht Wind und Segel, um in die Säcke zu mahlen, und dann mahlt sie weit sicherer. Die andern Müller hier in der Gegend bekreuzigten sich über den neuen Müller, der seine Mühle wie eine Schute führte und sie selbst bei dem ärgsten Sturm gehen liess. Allmählich hatte meine Mühle so viel gemahlen, wie ich und meine Tochter gebrauchten. Ich war alt, der scharfe Wind und der wirbelnde Mehlstaub hatten meine Augen ruiniert. Und dann wird man so einer Mühle, die ewig lärmt und sich stets auf demselben Fleck herumdreht, so überdrüssig. Ich war müde, ich hatte das Bedürfnis, die Mühle ruhen zu lassen und Stille um mich her zu haben. Darin ist ja nichts Wunderbares. Sie, der Sie doch kein alter Mann sind, haben wohl gewissermassen dasselbe Gefühl gehabt, nach allem, was Grete mir erzählt hat.

Weit wunderbarer ist es mit Grete. Sie ist gleichsam ein Kind der Stille hier oben, sie kann sich nicht davon trennen, so jung sie ist. Wenn Sie glauben, dass ich daran schuld bin, dass sie hier sitzt und gemeinsam mit mir Grillen fängt, so irren Sie. Ich habe ihr oft genug vorgeschlagen, dass sie sich ein wenig in der Welt umsehen soll. Ich habe ihr sogar angeboten, auf ein Jahr mit ihr in die Hauptstadt zu ziehen, Sie will nicht fort von hier. Sie meint, dass sie hier alles hat, was ihr Herz erfreut. Vor dem da draussen empfindet sie nur Furcht und Unwillen. Es ist nicht mit den Jahren gekommen durch die Lektüre aller der unzufriedenen modernen Bücher, wie man wohl vermuten könnte. Sie ist damit geboren. Als sie noch ein kleines Mädchen war, dachte ich, ich könnte ihr ein Vergnügen machen, wenn ich sie auf Besuch nach der Hauptstadt zu den Verwandten ihrer Mutter schickte. Sie blieb artig ihre Zeit über dort; als sie aber zurückkam, nahm sie mir das Versprechen ab, dass ich sie nie wieder fortschicken wolle. Man war in der Stadt gut gegen sie gewesen und hatte alles gethan, um sie zu zerstreuen. Sie aber hatte nur Heimweh nach dem Mühlenberg gehabt, sie war bleich vor Sehnsucht geworden und hatte sich so allein gefühlt.«

Der Alte hielt inne und sass eine Weile in Gedanken versunken da. Dann fügte er hinzu: »Nun, einmal wird sie wohl von hier fort müssen, – wenn ich tot bin. Es sei denn, dass sie einen Mann bekommt, der sich darin finden kann, hier bei ihr zu bleiben. Aber der Mühlenberg ist gerade nicht fruchtbar an jungen Männern, und soweit ich es beurteilen kann, hat sich Grete auch noch nicht mit Heiratsgedanken abgegeben. Auch in diesem Punkt ist sie anders als die meisten jungen Mädchen, obwohl sie genug Romane, die von Liebe und Schwärmerei handeln, gelesen hat.«

– – Ich blieb lange in der Stube des Müllers sitzen. Als die Dunkelheit hereinbrach, zündete Grete eine Lampe an und setzte sich ans Klavier. In dem offenen Fenster zeichnete sich der Umriss der ruhenden Mühle auf dem Hintergrunde des bleichen Sommerhimmels ab. Und in die Stille hinaus tönte zu den dünnen, spröden Tönen des Klaviers Gretes einfacher, rührender Gesang.

In der Sofaecke aber schlummerte der alte Müller. Auf das mild lächelnde Gesicht fiel der bleiche Schein des Lampenlichts.

XVI.

Den 15. August.

Was wohl augenblicklich in der Welt vor sich gehen mag? Wäre der grosse Krieg oder die grosse Revolution ausgebrochen, so würde wohl das Gerücht so laut gewesen sein, dass es mich erreicht hätte. Jetzt, wo keinerlei Gerüchte mein zeitungsloses Dasein stören, glaube ich sicher annehmen zu dürfen, dass die Ereignisse nicht überwältigend sind. Auf dem heimischen Markt beschränken sich die Notierungen wahrscheinlich auf die gewöhnliche Anzahl Verlobungen und Skandale, die gewöhnliche politische Suppe, die kaum nach Fleisch riecht, auf allerlei Theatergerüchte in Veranlassung der beginnenden Saison und die Anmeldung von ein paar Dutzend neuer Bücher, von denen drei Viertel am selben Tage, an dem sie erscheinen, auch schon wieder vergessen sein werden, – weil sie von allem möglichen anderen als gerade von dem handeln, was dem Verfasser und seinen Lesern am meisten am Herzen liegt, oder weil der Verfasser gar nichts auf dem Herzen hat, was andre als ihn selber und seine nächsten Angehörigen interessieren kann.

Bedenken der letzteren Art veranlassen mich, mit meinem Buch von der alten Stadt zu zögern. Den einen Tag finde ich den Stoff zu gering und unbedeutend, ich fürchte, dass sich die Leute voll Verachtung von meinem Buch abwenden und sagen werden: Was geht denn uns das an? Den nächsten Tag, wenn ich in schwellendem Glück über alle die Schönheit an alten Erinnerungen und neuen Eindrücken, in denen ich lebe, erwache, so wird in mir wieder die Überzeugung geboren, dass mein Herz auch anderen Herzen, die dasselbe Sehnen wie das meine empfunden und geträumt haben, eine Botschaft muss bringen können. So schreitet die Arbeit nur langsam und ruckweise unter den wechselnden Stimmungen fort. Oder zögere ich, weil die neuen Erlebnisse in die alten Erinnerungen einen Roman hineinweben, der nur erst in seinem Entstehen ist, dessen Abschluss ich jedenfalls nicht kenne?

Hemmt mich auch vielleicht eine gewisse feige Angst vor den Freunden und Freundinnen, die ich verlassen habe? Bewirkt das skeptische Lächeln, mit dem sie – das fühle ich im voraus – über meine Pilgerfahrt nach dem gelobten Lande der Kindheit lesen werden, dass meine Hand zuweilen zaudert? Stehe ich selbst hier in meiner sicheren Einsamkeit, fern von allem Klatsch und allen Randglossen, unter dem Sklavenbann der Gesellschaft?

Heute Abend, während wir unsern Abendspaziergang auf dem Mühlenberg machten, vertraute ich mich Grete an. Als ich meine Beichte beendet hatte, sagte sie schonend und mit gesenktem Haupte, gleichsam, als wolle sie um Verzeihung bitten, dass sie ihre Ansicht aussprach: »Nach allem, was ich von der Litteratur kenne, – ich habe früher ziemlich viel gelesen – und so weit ich darüber urteilen kann, ist die Furcht, sich offen auszusprechen, die Furcht, sich völlig hinzugeben, der Fehler, an dem fast alle Schriftsteller leiden. Ich habe, wenn ich ein Buch lese, das Gefühl, als ob der Verfasser, selbst wo er Offenheit vorsieht, stets nach dem Richterstuhl des Lesers hinüberschielt, stets auf seine Würde bedacht ist, sich stets ein wenig putzt und schmückt, damit er nur niemand Anlass zu Ärgernis oder Spott geben möge. Machen Sie sich etwas aus meinem Rat, der vielleicht anmassend klingt, so schreiben Sie, als hätten Sie kein anderes Publikum als mich, ein unwissendes Mädchen, dass nicht klug genug ist, um zu verspotten oder um ein Ärgernis zu nehmen.«

»Wir hemmten die Schritte, wir sahen den Fjord und die Stadt tief unter uns liegen.«

»Oder,« sagte sie, »schreiben Sie wie jemand, der auf dem Mühlenberg wohnt.«

XVII.

Den 23. August.

Ich habe die Entdeckung gemacht, dass Grete die alte Stadt im Grunde gar nicht kennt, und ich habe sie gebeten, sie ihr zeigen zu dürfen. Ich möchte so gern, dass sie sie lieben lernte, so wie ich sie liebe. Weil sie fühlte, dass es mir eine Freude sein würde, nahm sie mein Anerbieten an. Sie scheint sich auch für das zu interessieren, was ich ihr zeige und ihr erzähle, hauptsächlich aber belustigt es sie wohl, meinen Eifer als Vorzeiger der alten Stadt zu sehen.

Heute habe ich ihr das Schloss gezeigt. Das Schloss, das unten am Fjord liegt und als Landratswohnung dient, ist ein langes, graues, speicherähnliches Gebäude mit einer Unzahl von kleinscheibigen Fenstern in zwei Stockwerken. Nur die Reihe alter Pappeln, die davor paradiert, und die Schildwache in ihrem roten Mantel, die zwischen den Pappeln auf- und niederschreitet, kennzeichnen es als ein besonderes Haus. So wie es jetzt erscheint, ist das Schloss weder sonderlich alt, noch in irgend einer Weise bemerkenswert. Es sind nur noch spärliche Reste übrig geblieben aus jener Zeit, als es ein wirkliches Schloss und Sitz des Lehnsmannes des Königs war.

Es beginnt bereits zu dämmern, als ich mit Grete durch das tiefe, finstere Portal des Vorhauses in den grossen, viereckigen Schlosshof eintrete, der von niedrigen, weissen Flügeln umschlossen ist. Das Gras wuchert üppig zwischen den Pflastersteinen des Hofes, und an den Mauern entlang stehen auf vornehme Schlossweise kleine kuppelförmig beschnittene Linden. Am Fuss der Bäume läuft um den ganzen Hof herum ein Rinnstein, der so tief und so breit ist wie ein kleiner Bach und über den zahllose Stege führen. Wir sitzen auf einer Bank unter den Linden dem Portal gegenüber, wo sich das Wasser aus den Rinnsteinen sammelt und in einem unterirdischen Ablaufskanal nach dem Fjord hinabfliesst. Und während die Sonne hinter den Hügeln nordwestlich von der Stadt versinkt und ihre letzten Strahlen schräger durch das Portal auf das Gras des Hofes herabsendet, erzähle ich Grete von dem gestrengen Herrn Esben, der vor vielen Jahrhunderten hier auf dem Schlosse herrschte, namkundig als Frauenbethörer und als Krieger. Zur Sicherheit in Zeiten des Unfriedens war von seinen Vorgängern ein Geheimgang aus dem Keller des Schlosses bis an den Wall auf der andern Seite des Fjords erbaut worden. Herr Esben benutzte aber den Geheimgang hauptsächlich zu seinen galanten Abenteuern. Er hatte ein leutseliges, herablassendes Wesen, selbiger Herr Esben. Oft lud er einen Bürger mit seiner jungen Frau oder seiner Braut zu einem Schmaus auf das Schloss ein. Wenn aber der Bürgersmann ganz sinnlos betrunken war, lockte er die junge Frau aus dem Saal heraus, liess sie, wenn sie Widerstand leistete, knebeln und führte sie durch den Geheimgang unter den Fjord nach einem kleinen Hause mit wollüstigen Kemenaten, wo das Fest seinen Fortgang nahm, in der Regel nicht zum Verdruss der Entführten, denn Herr Esben war gar schön und freigiebig, dem hintergangenen Gatten oder Bräutigam aber zu viel Verdruss, wenn er aus seinem Rausch erwachte und merkte, dass der Vogel davongeflogen war. Doch hielt er es für geratener, zu schweigen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und die ihm angethane Schmach hinunterzuschlucken. Denn Herr Esben war als gestrenger Herr mit harter Hand bekannt. Auch lag ja kein Grund vor, den Streich, der der Herzliebsten mitgespielt worden war, in die ganze Stadt hinauszuposaunen, um so mehr, als man nicht ganz sicher sein konnte, wie weit ihre Bereitwilligkeit in dieser Sache gegangen war. Dies und jenes sickerte aber doch durch verblümte Worte hindurch, dies und jenes ahnte man auf Grund plötzlich aufgehobener Verlobungen oder Zwistigkeiten zwischen Eheleuten, die bisher in bestem Einverständnis gelebt hatten. Eine aus heimlicher Angst und flüsterndem Hass bestehende Wolke lagerte sich allmählich zwischen Stadt und Schloss.

Da geschah es, dass Herr Esben sein Auge auf die wunderschöne, siebzehnjährige Tochter des Bürgermeisters warf, die sich ganz kürzlich mit einem der flottesten, tüchtigsten jungen Handwerker der Stadt, Klaus Bryde, vermählt hatte. Herr Esben schmachtete die junge Frau eine Weile an, verfolgte sie mit dreisten Blicken und machte ihr heimliche Zeichen, wenn er an ihrem Fenster vorüberritt. Und als er merkte, dass sie seine Huldigung nicht übel aufnahm, ergriff er die erste beste Gelegenheit und lud Klaus Bryde und seine junge Frau zu sich aufs Schloss. Klaus Bryde aber hatte Lunte gerochen. Er betrank sich nur scheinbar. Und während sein Kopf ihm tiefer und tiefer auf die Brust herabsank, beobachtete er die zärtlichen Blicke, die zwischen seiner Frau und dem Lehnsmann ausgetauscht wurden. Kaum waren die beiden aus dem Saal verschwunden, wo sie den Ehegatten in seligem Rausche schlummernd zurückgelassen zu haben glaubten, als sich Klaus Bryde erhob, an eins der Fenster des Schlosses trat und einer draussen harrenden Schar von Freunden das verabredete Zeichen gab. Mit der Waffe in der Hand drangen sie in das Schloss ein, übermannten und knebelten die nichts ahnende Wache, fanden, von Klaus Bryde geführt, die offene Thür zum Geheimgang, er blickten in der Ferne das bleiche Licht der erlöschenden Fackeln und eilten in die Finsternis hinein. – – –

Über das Drama, das sich auf der Tiefe des Fjords abgespielt hat, berichtet die Sage folgendermassen: Als die Bewohner des Schlosses am nächsten Morgen, durch die Erzählungen der endlich befreiten Wache aufgeschreckt, herbeikamen, war die Thür des Geheimganges ins Schloss gefallen. Es währte eine ganze Weile, bis man die schwere eiserne Thür gesprengt hatte, und im selben Augenblick, als sich die Thür aufthat, erblickte man die unbeschädigten Leichen von drei von Klaus Brydes Freunden. Nach einem hoffnungslosen Kampf, die Thür zu sprengen, waren sie erstickt. Weiter unten im Gang fand man noch mehrere Leichen, die scheinbar erstickt waren. Auf halbem Wege zum Ausgang lagen der Lehnsmann, die junge Frau, Klaus und ein paar andere, alle schrecklich verstümmelt. – Später hiess es dann, ein Fischer, der in jener Nacht auf Aalfang gewesen sei, glaubte aus der Tiefe heraus Waffengerassel vernommen zu haben.

Die Sonne ist untergegangen. Die graue Dämmerung hat sich auf den stillen Schlosshof hinabgesenkt. Da ertönt ein dumpfes Plätschern im Wasser gerade hinter uns, und Grete ergreift meinen Arm. »Was war das?« fragt sie. »Sehen Sie selber!« erwidere ich und zeige auf den Steg.

»Die Stunde der alten Schlossratten ist gekommen. Sie ziehen ihren Gespensterweg vom Schlosse an den Fjord hinab. Sehen Sie, bald schwimmen sie und bald entern sie das Brett. Sitzen Sie nur ganz ruhig, sie verfolgen ihren gewohnten Weg, hier herauf kommen sie nicht. Es ist eine ganze Karawane, sie wollen hinab und sich nach dem alten Geheimgang umsehen, sie wachen darüber, dass niemand seine geheimnisvolle Ruhe im dunklen Schatten der Sage stört.«

»Was haben denn die Ratten mit dem Geheimgang zu thun?« fragt Grete.

»Kommen Sie hierher, dann werden Sie es hören!«

Ich führe sie an eine Kellerluke in einer Ecke des Hofes. Durch die Luke, die ich öffne, schauen wir hinab in einige dunkle, ausgemauerte Gewölbe, aus denen uns eine nasskalte, eingeschlossene Grabesluft entgegenschlägt.

Und ich erzähle: »Als diese Krypten-Wölbungen – wir gehen nicht hinab, denn zu dieser Stunde ist es dort nicht so ganz geheuer – im vorigen Jahrhundert ausgegraben wurden, behauptet man, dass der Geheimgang, den man längst verschwunden glaubte, falls er überhaupt jemals existiert hat, wiedergefunden wurde. Einer der Arbeiter erbot sich, hineinzugehen; gespannt erwartete man das Ergebnis: man hörte, wie sein Schritt und sein munterer Gesang sich mehr und mehr entfernten, es war klar, dass er vordrang. Dann wurde alles still. Man wartete und wartete, aber er kehrte nicht wieder. Da gelobte die Obrigkeit der Stadt einem Strafgefangenen die Freiheit, wenn er den Versuch erneuem wolle. Er willigte ein. Man band ihm ein Tau um den Leib; sobald Gefahr im Anzuge sei, solle er daran ziehen. Der Bursche ging schnell hinab und verschwand. Am Tau, das er hinter sich herzog, konnte man erkennen, dass er mehrere Klafter tief offenen Weg fand. Plötzlich stockte die Bewegung des Taues, ohne dass daran gezogen wurde. Man meinte, er sei auf irgend ein Hindernis gestossen, das er wegzuräumen im Begriff sei. Die Pause wurde aber unheimlich lang. Vielleicht war der Mann ohnmächtig geworden? Wenn man das Tau einzog? Es kam ohne Last zurück; es war durchgenagt von den Ratten, die den Burschen zurückbehalten hatten. – Aber noch heute erblickt man im Gewölbe eine verrostete eiserne Thür, und hinter derselben ein paar gemauerte Stufen, die abwärts führen.«

Wir standen wieder draussen, wo die alten Pappeln und die Schildwachen in ihrem roten Mantel paradieren.

Lächelnd schaute Grete zu dem Schloss hinüber und sagte: »Wer sollte wohl glauben, dass das hässliche, langweilige Gebäude jemand bange machen kann! Und doch war mir vorher gar nicht so ganz geheuer.«

»Ja,« erwiderte ich, »so ist es mit der ganzen alten Stadt. Für denjenigen, der gleichgültig hindurcheilt, ist es nur eine gewöhnliche, alltägliche Provinzstadt. Wer ihr aber sein Herz erschliesst, dem offenbart sie einen Schatz seiner Poesie und eigenartiger Sagen.«

XVIII.

Den 3. September.

Diese Nacht haben wir den ersten Herbststurm gehabt. Ich lag im Bett und lauschte.

Oben vom Walde herab kommt ein Windstoss dahergebraust, rüttelt an dem Holzwerk des Pavillons, so dass es in allen Fugen kracht, und stürmt weiter, den Hügel hinab bis zur Stadt. Stoss auf Stoss folgt, wieder dasselbe Spiel, immer wilder, immer gewaltsamer. Die Bäume seufzen und stöhnen. Der Sturm giebt keinen Pardon. Was keine Kraft, zu stehen hat, muss fallen.

Der Sturm, der grosse Aufwiegler und Erschrecker, rast um mich her. Ich kenne keine Angst, ich lache ihm ins Gesicht: du machst mir keine Furcht, du erreichst mich nicht, du schlägst deine Kralle in mich, ich aber entwische dir.

Und in glücklichem Übermut segne ich den Sturm. Er ist der Vorläufer des Herbstes, der herrlichen Zeit, wo es noch stiller auf dem Mühlenberg wird; der Zeit, wo der Mühlenberg uns, Grete und mir, gehört.

Heute Abend, als ich das Müllerhaus verliess und sie mir das Geleite bis an die Thür gab, sagte sie: »Sehen Sie, jetzt ist der Himmel voll vom Herbst. Jetzt ziehen die Zugvögel gen Süden, jetzt sehnen die Hauptstädter sich fort von den stillen Städten. Fangen auch Sie an, sich zu sehnen?«

»Und wenn auch ich reiste,« fragte ich, »würde das für Sie eine Entbehrung sein?«

Ihre Augen betauten sich, während sie in die meinen schaute, und sie erwidert: »Ich glaube, es muss entsetzlieh sein, Lebewohl zu sagen. Wenn Sie fortgehen, so versprechen Sie mir, dass Sie es ohne Abschied thun wollen.«

»Ich gehe nicht, ehe Sie mir Lebewohl sagen.«

Und ich eile davon in dem heraufziehenden Unwetter; als ich mich aber, am Walde angelangt, umwandte, stand sie noch in der Thür und schaute mir nach.


Den 7. September.

Weshalb sage ich ihr nicht, dass ich sie liebe? Geschieht es denn aus Furcht, dass es sie betrüben oder ihr missfallen könnte? Sicherlich nicht. Aus tausend Kleinigkeiten hat sie es gefühlt, wie teuer sie mir ist; mit jedem Tage sieht sie, ohne dass ich es zu sagen brauche, wie meine Liebe an Wachstum zunimmt. Sie sieht es mit einem Lächeln in ihrem Blick, mit holden Rosen auf den Wangen.

Ich rede nicht, weil ich es nicht wage, das Begegnen unserer Seelen in dem sicheren Schweigen der Erwartung zu stören. Weil mir zu Mute ist, als sässen wir Hand in Hand und lauschten einem gedämpften Gesang, der in einer lieblichen Hochsommernacht über das Wasser dahinschallt.

XIX.

Ende September.

Es ist die Zeit der Obsternte. In des Müllers Garten geht die Arbeit munter und geschäftig von statten.

Auf dem kleinen Rasenplatz zwischen allen den schwerbeladenen Bäumen sitzt der Müller in einem Lehnstuhl und leitet trotz seiner Blindheit die Arbeit. Er kennt alle Bäume im Garten und weist die Reihenfolge an, in der sie gepflückt werden sollen; er erteilt Befehle, wie das Pflücken jedes einzelnen Baumes vor sich gehen soll, und er nimmt die Körbe, sobald sie gefüllt sind, zur kundigen Untersuchung und Prüfung an.

Grete führt die Aufsicht über das Pflücken, das von ein paar zu diesem Zweck gedungenen Mägden und Knechten ausgeführt wird; sie nimmt selber teil an der Arbeit, und sie stellt auch mich dabei an. Sie und ich besorgen die feinen Früchte, die an glasüberdachten Spaliers wachsen, und die mit besonderer Vorsicht behandelt werden müssen. Ich stehe auf einer Leiter und pflücke sie, sie steht unten mit ausgebreiteter Schürze. Oft aber muss sie mich ob meiner Trägheit schelten; denn es geschieht jeden Augenblick, wenn ich ihr die Frucht reichen soll, dass ich mich im Beschauen ihres vor Eifer glühenden Antlitzes verliere, das schöner ist als irgend eine Frucht. Und was hilft es, dass sie schilt? Sie wird nur doppelt schön in ihrer erheuchelten Ungeduld.

– – – Wenn der Tau zu fallen beginnt, halten wir mit dem Pflücken inne, und die Körbe werden in die Obstkammer getragen, die vom Boden bis zur Decke mit Borten versehen ist, und wo Grete der wichtigen und schwierigen Arbeit des Sortierens vorsteht: was man in die Hauptstadt an die wählerischen, aber hochbezahlenden Obsthändler senden darf, was dem Aufkäufer zu einem billigen Preis überlassen werden kann, was sich zum Einkochen eignet und was für den Winterbedarf des Hauses zurückbehalten werden soll.

Wie es hier in dieser Obstkammer duftet! All der säuerliche und süsse Brodem aus den Borten verdichtet sich in den eingeschlossenen Räumen und vermischt sich zu einer berauschenden Essenz, die noch lange an den Kleidern haftet.

Und wie prächtig Grete aussieht, wie sie, die Kleiderärmel hoch an den starken, weissen Armen hinaufgestreift, Frucht auf Frucht in die sonnengebräunten Hände nimmt und mit schnellem Kennerblick einer jeden ihren Platz und Rang zuerteilt.

Am liebsten aber denke ich doch an sie, so wie ich sie unten an der Leiter vor dem Spalier stehen sah. Wenn ich Verse schriebe, würde ich das Bild in Poesie setzen:

»Es ist die Zeit der Obsternte. In des Müllers Garten auf dem unfruchtbaren Mühlenberg reift das schönste Obst im ganzen Lande. In des Müllers Garten steht seine Tochter, die hochbusige Maid, den Arm voll schwellender Trauben.«


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