Peter Nansen
Gottesfriede
Peter Nansen

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V.

Jeden Tag unternehme ich lange Wanderungen in der Stadt und durchstreife sie die Kreuz und die Quere. Bei jedem Schritt erwacht eine Erinnerung. Ich komme mir vor wie ein Entdeckungsreisender in meiner eigenen Seele: Stein auf Stein baut sich in mir ein Königreich von guten Erinnerungen auf, die ich seit langen Jahren habe zu Ruinen verfallen lassen. Die alte Stadt mit der Sonntagsstimmung der Kinderzeit lebt wieder in mir auf, und sie bevölkert sich mit einem Grewimmel von lieben Gestalten. Einige von ihnen treffe ich noch in den Strassen umherwandelnd. Alte Schullehrer, die schon damals, als ich noch zu ihren Schülern zählte, mit denselben bedächtigen oder eilig trippelnden Schritten zur Schule gingen, ehrwürdige Bürgersleute, deren lächelnde, gastfreundliche Gesichter ich noch aus den Kindergesellschaften ihrer Söhne kannte, und junge eifrige Geschäftsleute, in deren ernsten Familienversorger-Mienen ich plötzlich die Kinderzüge eines alten, vergessenen Spielkameraden auftauchen sehe. Ich wandle wie ein Harun al Raschid in den Strassen von Bagdad. Beobachtend, wiedererkennend, ohne selber wieder erkannt noch beobachtet zu werden. Nur hin und wieder einmal begegne ich einem verstohlenen, prüfenden Blick, der zu sagen scheint: »Da ist wohl ein Fremder in die Stadt gekommen.«

Andere Gestalten steigen vor mir auf, während ich die Namen der Ladenschilder studiere. Es will mir scheinen, wenn ich dieselben Läden, dieselben Kaufmanns-, Bäcker- und Handwerkernamen an demselben Platz finde, wo ich sie zulezt gesehen, als seien das Leben und die Entwickelung in der alten Stadt stehen geblieben seit dem Tage, an dem ich sie verliess. Ich muss mir selber sagen: »Es sind ja doch erst zehn Jahre verflossen.« Denn ich komme mir vor wie ein alter, alter Mann, der, nachdem er viele, viele Jahre im Zauberberge gelebt hat, in die Heimat zurückkehrt. Ich kann eigentlich nicht begreifen, dass nicht alles verändert ist, dass nicht alle Menschen, die ich gekannt habe, tot sind.

Viele von ihnen sind es freilich. Von einigen weiss ich es aus Erzählungen, von andern vermute ich es, weil ich sie nicht mehr in ihrem gewohnten Winkel finde. Auch diese Gestalten erstehen vor mir aus dem Pflaster, das sie einst getreten, und das ich nun trete, ohne ihnen zu begegnen.

Am deutlichsten sehe ich das Fräulein vor mir, das eine Schule für die Knaben aus den besseren Familien der alten Stadt hatte. Die dicke, gute, alte Person, der die Mütter ihre Sprösslinge so ruhig anvertrauen konnten, denn sie nahm sich ihrer nicht nur als Schullehrerin an, sondern auch als Kindermädchen und zärtliche Tante. Mit ihren rundlichen Fingern befreite sie uns von unsern Milchzähnen, wenn diese zu wackeln begannen; zu ihr wurden wir an solchen Tagen gesandt, an denen unsere Eltern infolge eines Storchenbesuchs oder anderer störender Familienangelegenheiten gern von uns befreit sein wollten. Sie schenkte uns die ersten Theaterbillets, und wenn wir den ersten jedes Monats unsere vier Mark Schulgeld bezahlten, so gab sie denen von uns, deren Eltern in bedrängten Verhältnissen lebten, zwei davon wieder, damit sie sich »etwas Nützliches« dafür kaufen sollten. Auch lag sie zum Gaudium für uns Knaben am Fastnachts-Montag bis gegen Mittag im Bett und schwitzte, damit wir sie alle mit unsern Ruten wecken und mit den Fastnachtskuchen belohnt werden konnten, die sie zu diesem Zweck in einem grossen Marktkorb unter dem Bett zu stehen hatte.

Du gutes, altes Mädchen, in Deinem grossen Herzen pochte die ganze kindliche Unschuld der grossen Stadt. Ich errichte Dir ein Ehren-Denkmal, das Deine Knaben Dir schon längst geschuldet haben.

VI.

Den 20. Juni.

Natürlich ist das junge Mädchen, das ich neulich oben bei der Mühle sah, die Tochter des Müllers. Ich Dummkopf, dass ich das nicht sogleich begriff. Sie muss jetzt ja längst ein erwachsenes Mädchen sein.

Sie will mir nicht aus den Gedanken. So stolz, wie sie dastand, hochschwebend, weitschauend, hoch über der Stadt und dem Walde, ja selbst über dem Mühlenberg. Welche Träume mögen wohl ihre Brust geschwellt haben, welch ein Sehnen mochte es wohl sein, das ihre gekreuzten Arme zurückdrängte. Sah sie von ihrem hohen Stand mit Verachtung herab auf der Menschen erdgebundenes Streben, oder war ihr Verlangen darauf gerichtet, hinabzusteigen und teilzunehmen an dem geschäftigen Treiben?

Am liebsten vergegenwärtige ich sie mir als die Göttin des grossen Friedens, die Göttin, der ich huldige. Hier auf dem Mühlenberg ist ihr Tempel errichtet, und aus der Mühle erbaue ich ihr einen Hochaltar. Hier hinauf ruft sie zu glücklichem Frieden in dem unbefleckten Reich der Natur alle, die mühselig und beladem dem Staub und den Mühen des Alltagslebens zu entrinnen suchen. Ihr Schoss bietet dem Haupt des mühen Wanderers das duftende Kleeblatt der Wiese, ihr Auge spiegelt das Blau des Himmels wieder, und ihre Stimme singt den flüsternden Wiegegesang des Windes in den Kronen der Bäume.

Bin ich ein Narr, Du schöne Müllerstochter, dass ich den Glorienschein der Dichtung um Deine Stirn winde, Dich zur Göttin meines Glückstraumes erküre. Bist Du vielleicht ein ganz gewöhnliches kleines Bürgermädchen, das sich sittig nach einem Bräutigam, nach dem Aufgebot und dem Brautbett sehnt? Hast Du vielleicht Deinen Müllerburschen schon gefunden? Spähtest Du nach ihm aus, als Du auf dem Hochaltar standest?

Gleichviel: ich lasse Dich stehen, wie mein Traum Dich hingestellt hat. Ich kenne Dich nicht und will Dich nicht kennen lernen. Keine brutale Wirklichkeit soll Dein heiliges Bild schänden.

VII.

Den 25. Juni.

Ich erhielt heute durch meinen Verleger meine Post aus der Hauptstadt. Einen ganzen Haufen gleichgültiger Briefe und auch einen Brief von meiner Geliebten.

Sie fragt verwundert, gekränkt und betrübt, ob mich denn die Erde verschlungen hat. Sie hat mich vergeblich erwartet und mich aufgesucht. Von einem gemeinsamen Bekannten hat sie dann gehört, ich solle mit einer Dame ins Ausland gereist sein. Und nun sendet sie mir ihren Brief aufs Geratewohl unter meiner alten Adresse: »Ich weiss ja nicht, ob er Dich erreichen wird, doch war es mir, als müsste ich Dich auf irgend eine Weise fragen, ob das Gerücht wahr ist. Ich muss es ja fast glauben. Habe ich es denn aber verdient, dass Du so gegen mich handelst? Habe ich jemals Dir gegenüber gefehlt? Habe ich mich Dir nicht im Gegenteil in allem gefügt und mir Mühe gegeben, genau so zu sein, wie Du mich haben willst: Dich nicht gequält weder mit übermässiger Zärtlichkeit noch mit Eifersucht? Jetzt, wo Du mir einen so bitteren Schmerz zugefügt hast, möchte ich wünschen, dass ich Dich hassen könnte. Ich kann es nicht. Schreibe mir nur zwei Worte, dass Du bald zu mir zurückkehren willst, und ich liebe Dich jetzt wie immer.« – –

Sie kann mich nicht hassen, sie bildet sich ein, dass Liebe und Hass einander notwendig ergänzen müssen. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, dass die grösste Liebe niemals, wie schändlich sie auch gemartert wird, in den Gegensatz des Hasses umschlagen kann. Sie aber, die mir diesen Turteltaubenbrief sendet, ist nur insofern eine Taube, als sie liebeskrank zu kurren versteht, sie kann niemals ein Habicht werden, denn sie ermangelt jenes Gefühls-Fanatismus, der Klauen und Schnabel wetzt. Sie wählte mich zum Liebhaber, weil es ihrer Eitelkeit schmeichelte, von mir vorgezogen zu werden. Jetzt, wo ich fort bin, fühlt sie eine gewisse Leere. Sie wünscht mich zurück; denn es kränkt sie, dass ich aus eigenem Antrieb von ihr gegangen bin. Aber in geraumer Zeit wird das Glück, das sie begehrt, wieder für sie blühen. Der leere Platz wird von einem neuen Geliebten eingenommen werden, der, wenn auch andere, so doch ebenso grosse Vorzüge besitzt wie ich. Ihr Groll gegen mich wird schwinden, und wenn wir uns nach Jahren wiedersehen, werden wir uns heiter begrüssen wie zwei Freunde, die keinen Lebensernst miteinander gemeinsam haben, kaum ein denk- oder vergessenswürdiges Erlebnis.

Das ist der Knotenpunkt. Und das ist die Erklärung, dass ich fortreisen konnte, ohne es als eine Notwendigkeit zu empfinden, Abschied von ihr zu nehmen. Hier war keine Rede von einem Bruch. Was hätte ich ihr anders sagen können, als: Hab' Dank für die Zeit, die wir uns gekannt. Hier war kein Knoten, der hätte durchschlagen werden müssen, nur eine lose zusammengeheftete Kotillonschleife, die in ihre beiden Bänder zu trennen war, in das weisse und das rote. Ich konnte mich nicht überwinden, die landläufigen flauen Trostes- und Dankesworte bei diesem Scheingrab zu sprechen. Ich schämte mich, in einer Scene von so offenbarer Leere mitzuspielen, ihr, die sich sicher nicht das Vergnügen versagt haben würde, sich nach den besten Mustern im grossen Drama zu versuchen, die fälligen Antworten zu geben.

»Wenn ich den Entschluss fasste, von der Hauptstadt aufzubrechen, so war in meinem innersten Innern vielleicht das der stärkste Beweggrund, dass ich nicht gerade ihr, meiner letzten Geliebten, sondern dem ganzen Liebes-Sport entrinnen wollte, der in der Oberflächen-Gesellschaft der grossen Stadt betrieben wird, und dem ich mit so grossem Eifer gehuldigt hatte. Hauptsächlich gehuldigt hatte, weil ich dadurch einer Lust frönte, die Liebe zu verhöhnen, sie herabzureissen von dem schwindelnd hohen Piedestal, das der blinde Glaube meiner Jugend ihr errichtete; – mit dem Resultat, dass ich selber eines schönen Tages, an allen Gliedern zerschlagen, am Boden lag.

Ich hatte geliebt und war getäuscht worden. Ich zwang meinen Kummer in mich hinein, ich schwur einen stillen Eid, dass ich mich zum ersten und zum letzten Mal von der Liebe hatte zum Narren halten lassen. War ich erobert worden, so wollte ich jetzt erobern. Hatte man mit mir gespielt, so wollte ich jetzt mit andern spielen. Ich hatte keine Lust, wehe zu thun, wie man mir wehe gethan hatte. Ich wollte nur die Liebe von oben herab nehmen, so wie sie mich einstmals beim Nacken gepackt hatte. Und ich wollte andere lehren, dasselbe zu thun. Wollte sie lehren, dass die Liebe nicht wert ist, für etwas anderes als für einen Scherz angesehen zu werden! Dass es sich am allerwenigsten verlohne, das Leben dafür einzusetzen. Ich lehrte, dass man bei der Liebe stets das Leben einsetzt, auch wenn man es gar nicht will. Ich fühlte, dass ich mein Leben vergeudete, während ich mich auf dem besten Wege glaubte, mich zum Herrn der Liebe zu machen. Ich erwachte eines Morgens in grosser Angst: Siehe, die Jahre schwinden. Wo sind sie geblieben, alle, mit denen Du spieltest? Was hast Du in die Scheuer gesammelt von den Gefühlen, die Du in Wind und Wetter aussäetest? Tropfenweise liessest Du Dein Herz verbluten und sich zu Grunde richten, Du gabst wenig und empfingest nichts, gabst so oft, dass Du bald nichts mehr übrig haben wirst. – –

Ich werde meiner erzürnten Geliebten antworten: Ich wünsche Dir, die Du meine allzu gelehrige Schülerin warst, dass Du einst einen treffen mögest, der Dich lieben lehrt.

Vielleicht werde ich sie dann allenfalls lehren, zu hassen.

Denn dumm ist sie nicht.

VIII.

In den letzten Tagen des Juni.

Ich will ein Buch über die alte Stadt schreiben. Nicht, wie sie ist, – ich mache mir nichts daraus, mit der kritischen, psychologischen Methode, die mir sehr wohl zu Gebote steht, die Sonde in sie hinein zu bohren und ihre Eingeweide auszukehren, – auch nicht, wie sie war, sondern so, wie ich sie sehe und sie wiedersehe unter dem blauen Glase der Kindheitserinnerung; – – – – in einem Sonnennebel stiller Freude und Wehmut ohne Bitterkeit. Es soll ein Buch für alle die sein, die gleich mir das Bedürfnis haben, sich in eine warme, trauliche Ecke zu setzen, die von der Umwelt abgeschlossen ist, und wo die Seele für eine Weile ihr Blumenleben in einem Klostergarten leben kann. Es wird ein Buch sein ohne aufregend Neues, ohne blendende Farben; es wird keine Spannung, kaum Handlung darin sein. Mein Zweck wird erreicht sein, wenn diejenigen, die es lesen, eine Empfindung dabei haben, als hätte ich einen Strauss einfach gefärbter, einfach duftender Feldblumen in ihr Zimmer getragen. – – –

Dreimal wöchentlich ist die Stiftsbibliothek geöffnet. Da sitze ich im Lesezimmer und blättere in den vergilbten Folianten, in denen in zierlich geschnörkelter Schrift das Leben und die Begebenheiten der alten Stadt verzeichnet sind. Ich werde wohl kaum Verwendung haben für die Studien, die ich mache. Aber ich sauge durch das Versenken in entschwundene Zeiten die Stimmung milder Ferne ein, mit der ich mein Buch gern füllen möchte. Auch nicht allein der alten Folianten wegen besuche ich die Bibliothek, der Ort selber zieht mich an. Oft vergesse ich die Bücher, die vor mir liegen, ganz, lehne mich in den breiten, verschlissenen Schweinsleder-Armstuhl zurück und verliere mich in träumendes Beschauen. Die Bibliothek ist in dem alten Brüderhaus eingerichtet, wo in der katholischen Zeit die Mönche wohnten, und wo in den ersten Jahrhunderten nach der Reformation die Lateinschule gehalten wurde. Das Zimmer, in dem ich sitze, war das Refektorium des Klosters. Ein ziemlich langer Raum mit dicken, weissgekalkten Mauern und drei niedrigen, spitzigen Deckenbogen. Der Thürbogen in der einen Längswand ist so niedrig, dass ein erwachsener Mann sich beugen muss, um hindurch zu kommen. Hier öffnet sich die Aussicht zu den Bibliothekszimmern, mit ihren Borten voll verblasster gelber und blauer Bücherrücken. An der andern Längswand befinden sich drei Fenster, je eins für einen Deckenbogen. Fenster, die in tiefen, bogenförmigen Ausschnitten sitzen und winzig kleine, bleigefasste Fensterscheiben haben, die von der Sonne grün und rauchgelb gebrannt sind. Die Fenster reichen fast bis an den Fussboden, und draussen liegt der Bibliotheksgarten, eine Ecke des alten Klostergartens und des Friedhofes. Es ist ein fruchtbarer Boden mit schwellendem Buschwerk und einem prangenden Blumenflor in fetten, schimmernden Rasenflächen. Zwischen einer Gruppe unter der Last der Früchte gebeugter Obstbäume erhebt sich ein hoher, flacher, halb verwitterter Grrabstein mit einer fast verwischten Inschrift. Am häufigsten aber verweilt doch mein Blick bei der hohen, gelben Mauer, die den Garten umschliesst und nach einer schmalen Gasse hinaus liegt. Da ist eine Stelle, wo diese Mauer doppelt wird und einen kleinen viereckigen Raum umschliesst. An der Innenmauer erblickt man Spuren roh ausgehauener Stufen, und zwischen den Mauern fristet ein Baum, von dem sich jetzt nur noch einzelne Zweige belauben, sein kümmerliches Dasein. Ich betrachte die Stufen in der Mauer und den verkrüppelten Baum, und ich träume von dem jungen Mönch, der hier, wo ich jetzt sitze, gesessen und dem Plaudern der alten Brüder beim Abendbrot gelauscht hat. Seine Gedanken aber weilen anderwärts, er folgt dem goldenen Spiel des Sonnenunterganges im Laubwerk vor den niederen Fenstern, und sein Herz pocht unruhig. Und dann sind die Brüder zur Ruhe gegangen, die Nacht hat sich auf den Klostergarten herabgesenkt. Vorsichtig aber wird die Thür zum Refektorium geöffnet, der junge Mönch schleicht sich an eines der Fenster, löst die Hängen und schwingt sich in den Garten hinaus; im Dunkel der Nacht tastet er sich bis an die Mauer, steht jetzt auf der obersten Stufe, biegt einen der Zweige des Baumes bis zu sich herab, lässt ihn zurückschnellen und befindet sich nun in dem Raum zwischen den beiden Mauern, wo seine Geliebte, in Männerkleider vermummt, ihn erwartet und bei ihm bleibt, während die Nachtigallen in dem Gebüsch des Klostergartens schlagen.


Ich will ein Buch schreiben von der alten Stadt und von ihrem Klosterfrieden. Ich will auch gern die Nachtigallen über dem jungen Mönch und seinem verborgenen Liebesglück singen lassen.

IX.

Den 1. Juli.

Mir ist ein Stück Märchen begegnet. Heute Morgen sitze ich, wie gewöhnlich, vor dem Pavillon und füttere meine Spatzen. Es waren viele Spatzen auf dem Mühlenberg, als ich hierher kam. Es sind von Tag zu Tage mehr geworden, und sie nehmen beständig zu an Dreistigkeit. Allmählich kommen sie buchstäblich in mein Wohnzimmer herein, um zu sehen, ob ich nichts für sie habe, und wenn ich eines Morgens mit der Fütterung auf mich warten lasse, melden sie sich, indem sie an mein Fenster picken und ungeduldig auf dem Fensterbrett schreien.

Wir sind eben bis zur Schlussnummer gekommen: dem grossen Stück Weissbrot, das ich mitten auf den Tisch lege und über das die ganze Bande herstürzt, in das sie hineinhackt und mit dem sie herumreisst und zerrt, bis ein dreistes Paar nach einem geschickten Einhieb mit vereinten Kräften diesen letzten Riesenbissen davonschleppt.

Im selben Augenblick gewahre ich ein junges Mädchen in hellem Kleide, das auf der Treppe zu dem oberen Hügelabsatz steht, und das offenbar Zeuge meines Spiels mit den Spatzen gewesen ist. Sie errötet, als mein Blick dem ihren begegnet, sie scheint verwirrt, dass ich sie überrasche, wie sie mich belauscht, sie macht eine Bewegung, als wolle sie umwenden und fliehen, dann besinnt sie sich, steigt mit ruhigen Schritten die Treppe hinab und geht geradeswegs auf mich zu.

Ich erhebe mich und begrüsse sie, sie macht eine schwache Neigung mit dem Kopf, sagt dann mit einer Sicherheit, die vielleicht erkämpft ist, die aber natürlich erscheint: »Ich habe etwas für Sie.« Und sie zieht ein zusammengefaltetes Blatt aus der Tasche und reicht es mir. Erstaunt sehe ich sie an und öffne das Papier. »Nicht wahr,« fragt sie, »das ist das Ihre? Ich kannte Sie wieder, als ich Sie vorhin sah.« Was sie mir giebt, ist ein Blatt, das mir während der Überfahrt auf dem Schiffe fortgeflogen ist, und auf das ich einige sehr offenherzige Zeilen geschrieben habe. »Ja, das ist meins,« erwidere ich. »Woher aber kennen Sie mich, und woher wussten Sie, dass das Papier mir gehört?«

Sie lächelt munter. »Kennen Sie mich denn gar nicht? – – Ach nein, natürlich, es war dumm von mir, zu fragen; Sie sahen mich gewiss kaum.«

Jetzt hab' ich's. Und triumphierend rufe ich aus: »Sie waren es, die bei Sonnenaufgang an Bord plötzlich an meiner Seite standen.« – »Ganz recht, nur mit der Ausnahme, dass ich nicht plötzlich dort stand. Ich bin keine Hexe oder sonst irgend eine Zauberin, wenn ich auch auf einem Berge wohne.«

Dass ich das nicht sogleich sah! Das ist ja die Tochter des Müllers. Das Mädchen oben vom Hochaltar.

Dann reicht sie mir die Hand. »Leben Sie wohl und verzeihen Sie, dass ich Sie gestört habe. Aber ich dachte,« – und sie sah mich ernsthaft an – »dass Ihnen daran läge, das Papier wieder zu haben. Und als ich es beim Landen auf dem Schiff fand, waren Sie bereits fort.«

Ich stand da und schaute ihr nach, während sie mit ihrem festen, ruhigen Gang von mir weg und an die Treppe ging. Leicht und schnell lief sie hinauf und war wie eine weisse Erscheinung zwischen den dunklen Tannen verschwunden.

Ich hatte einen Aufschrei auf den Lippen, der sie zurückrufen sollte; ich war auf dem Sprunge, ihr nachzueilen. Es war, als müsste ich sie noch nach so mancherlei fragen, über so vieles mit ihr reden, ihr alles Mögliche erklären. Im selben Augenblick aber dachte ich: Nein, es ist am schönsten so, wie es ist. Die Worte, die zwischen uns fielen, bringen keinen Missklang in die Stimmung. Meine Gröttin ist vom Berge herabgestiegen, hat sich mir in einem flüchtigen Augenblick offenbart und ist wieder verschwunden.

Ich stehe aber noch lange da und starre mit grossen Augen auf den Fleck, wo sie verschwand.


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