Peter Nansen
Gottesfriede
Peter Nansen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

X.

Den 2. Juli.

Ist sie hübsch? Wie sieht sie eigentlich aus? – Ich will versuchen, mir über den Eindruck klar zu werden, den sie auf mich gemacht hat.

Die Luft wird hoch und rein, wohin sie tritt. Sie ist so frisch erschaffen in ihrer vollen Reife, strahlend von junger Schöne und unbewusster Güte. Ihre Augen sind tief und zärtlich, aber klar und offen wie die eines Kindes. Mögen sie lächeln oder sich im Ernst verdunkeln, stets sagen sie ihre Ansicht gerade heraus, es ist nichts Verschleiertes in den Winkeln. Ihr Busen ist hoch und rund, ihre Taille schlank, ihre Hüften üppig. Aber sie trägt ihre schlankgewachsene Üppigkeit so unbekümmert wie ein Baum die Fülle seiner Sommerpracht. Schritte sie durch ein Lager berauschter Kriegsknechte, so würden ihr diese, ohne selber zu wissen weshalb, einen breiten Weg öffnen. So unnahbar erscheint sie. Und doch so lockend. Von dem Haar, das in der Mitte gescheitelt, in zwei braunen Wellen um ihre weisse Stirn fällt, bis zu den Füssen, die sie leicht und doch so taktfest über die Erde dahinführen, bildet ihre Person und Wesen den Inbegriff rechtliniger Sicherheit. Sie kennt ihren Weg und ihr Ziel wie den lichten Tag. Bei ihr würde man sich sicher fühlen. Sie ist ohne Falsch- und Nebengedanken, sie bringt die Luft, die hoch über Stadt und Wald liegt, mit sich. Sie zieht an wie ein Altar. Knieend muss man sich ihr nähern. Sie ist das Weib, so wie es aus der Hand der Natur hervorging, zugleich Jungfrau und Mutter.

So ist der Eindruck, den ich unbewusst von ihr empfing, als sie im Sonnenaufgang auf dem Schiffe stand, und später, als ich sie oben an der Mühle stehen sah, gegen die ruhenden Mühlenflügel gelehnt. Und so offenbarte sie sich mir gestern.

Auf das Papier, das sie mir zurückbrachte, hatte ich geschrieben: Meine Seele schreiet aus tiefster Not nach einer Mutter. Wahrscheinlich hat sie das gelesen. Ich empfinde keine Scham darüber. Sie mag gerne die Geheimnisse meines Herzens kennen. Sie wird mich nicht verspotten, mich nicht verraten.

Vielleicht zeigt sie sich mir nicht wieder. Jedenfalls werde ich wohl kaum mehr Gelegenheit haben, mit ihr zu reden. Und doch ist es mir, als hätte ich jetzt einen verständnisvollen Freund und Mitwisser in meiner Nähe, jemand, dessen Sympathie mich sanft umschwebt, jemand, bei dem Hilfe zu suchen ich mich nicht scheuen würde, wenn ich in Not wäre. Wenn ich einsam im Walde umher wandere, sehe ich ihr Antlitz mir zwischen den Bäumen zulächeln, ich gehe so leicht und so sicher dahin, als hielt ich ihre feste, warme Hand in der meinen. Und erfassen mich zuweilen die verwirrenden Gedanken und heissen Begierden des Rückfalles, so rufe ich mir ihr Bild als Schutzwehr vor die Seele. Und ein erquickender Gristeshauch fächelt meinem Sinn Kühlung zu.

So umschwebt sie mich allzeit als Schutzgeist.

XI.

Den 4. Juli.

Ich habe eine Freundin im Stift. Das Stift ist ein Heim für alte Jungfern und Witwen. Meine Freundin, eine Jungfrau von ungefähr siebenzig Sommern, ist eine der jüngsten Bewohnerinnen des Stiftes, sie wird von den anderen als reines Kind angesehen. Und doch ist sie die Veteranin der Anstalt. Sie ist nämlich schon dort gewesen, als sie noch ein wirkliches Kind war; gegen jegliche Regel und Gewohnheit schlüpfte sie zusammen mit ihrer Mutter hinein, weil sie so schwächlich war, dass sie nach Ansicht der Ärzte nur noch eine kurze Spanne zu leben hatte. Und dann lag sie viele Jahre zu Bette, und als sie anfing, sich zu erholen, war die Mutter gestorben, und man behielt das jetzt dreissig- bis vierzigjährige Mädchen, das keine anderen Angehörigen hatte als das Stift.

In ihrer Zelle, die sie gemeinsam mit drei anderen Damen bewohnte, – die Inwohner des Stiftes titulieren sich untereinander ceremoniell »Damen« – verlebte ich viele der glücklichsten Tage meiner Kindheit. Sie hatte unzählige Talente. Niemand erzählte so schöne Märchen wie sie, ihr Vorrat war unerschöpflich, denn sie dichtete sie selber; und niemand verstand so viele Kartenkunststücke. Ausserdem war sie eine wahre Künstlerin mit ihren Händen, schnitt alle möglichen Figuren aus Papier, verfertigte den wunderbarsten Tannenbaumschmuck und flocht aus Stroh die niedlichsten Körbe und Schachteln. Die letztere Fertigkeit, in der sie es zu einer wirklichen Kunst brachte, hatte sie sich selber während der vielen Jahre gelehrt, die sie zu Bette lag. Die Matratze lieferte das Stroh, das übrige besorgte ihre Phantasie und ihre Geschicklichkeit.

Ein Besuch bei ihr war für uns Kinder ein Ausflug in das Märchenland. Stets waren hier wunderliche Dinge zu sehen und zu hören. Und dann bekam man obendrein die schönste Tasse Kaffee, Kaffee mit braunem Zucker-Kandis, der nicht in die Tasse gethan, sondern aufgesogen und aufgeknappert wurde, während man den Nektar genoss.

Ich war heute bei ihr. In dem langen, mit weissem Sand bestreuten Gang standen genau so wie ehedem alte Frauen, die knixten und neugierig die Köpfe zusammensteckten, auch schlug mir noch derselbe wohlbekannte Duft nach Eingeschlossenheit, Lavendel und fleckenlosem Lebenswandel entgegen. Ich klopfte an die Thüre zu der Stube, die meine Freundin seit einem halben Jahrhundert bewohnt hat, während die übrigen Insassen eine nach der anderen in den Sarg gelegt und fortgetragen wurden. In dem schmalen langen Baum mit dem einen Fenster, das nach dem Gemüsegarten des Stifts hinauslag, sassen vier alte Frauen, eine jede auf ihrem Territorium, einem Viertel des Zimmers, wo gerade Platz genug ist für ein Bett an der einen Wand, eine Kommode und einen Waschtisch an der andern Wand, und zwei Stühle dazwischen. Mein Eintritt erregte staunende Neugier bei den Bewohnerinnen des Zimmers, das Strickzeug sank ihnen in den Schoss, und mit fragender Miene warteten sie ab, wem der Besuch des fremden Herrn wohl gelten möge. Ich hatte meine Freundin sofort auf dem Primadonnen-Platz am Fenster entdeckt, ergraut und runzelig, noch magerer als ehedem, aber mit denselben klugen, pfiffigen Augen. Und das Leben, das über sie kam, als sie mich endlich erkannte! Sie war ganz rot vor Gemütsbewegung, öffnete die Arme und presste mich an ihre eingefallene Brust. »Ja, wahrhaftig, er ist's! Und er kommt hierher zu mir!«

Ich habe mir niemals im Traum einfallen lassen, dass ich solch Glück machen könne! Ich wurde gefeiert wie ein Prinz. Meine Freundin war ganz verwirrt. Nicht nur die Damen aus ihrem Zimmer wurden mir vorgestellt, überall aus den Stuben und Gängen holte sie die Alten zusammen, die meine Eltern gekannt und mich als Kind gesehen hatten. Sie strömten herbei, wackelnde Mütterchen, steife alte Jungfern, sie drückten mir die Hände, pufften sich, um in meine Nähe zu gelangen und plauderten alle durcheinander, um mir zu erzählen, wie wohl sie sich meiner noch erinnerten, wie gut sie meine Eltern gekannt hatten, und um sich nach dem Befinden der ganzen Familie zu erkundigen.

Kaffee bekam ich im Überfluss, aber mit dem Zucker-Kandis hatte es seine Schwierigkeiten. Die alten Damen konnten sich nicht mit dem Gedanken befreunden, dass ich keinen weissen Zucker haben wollte.

Als ich endlich ging, gab mir das halbe Stift das Geleite bis an die Thür. Aber mit meiner Freundin verabredete ich, dass wir, wenn ich einmal wiederkam, etwas mehr für uns bleiben wollten.

XII.

Den 9. Juli.

Ich fand neulich in der Bibliothek einige Familienaufzeichnungen, und es wandelte mich die Lust an, diese genauer zu erforschen. Deswegen war ich heute bei dem Pfarrer und bat ihn um Erlaubnis, in den alten Kirchenbüchern nachschlagen zu dürfen.

Es war ein hochgewachsener, jüngerer Mann mit scharfen Zügen und starken, hellen Augen. Mit der grössten Zuvorkommenheit ging er mir zur Hand und legte überhaupt ein angenehmes weltmännisches Wesen an den Tag. Aber wir hatten uns kaum einige Minuten unterhalten, als er sich schon als eifrigster Vorkämpfer des strengen Christentums entpuppte. Er führte das Wort; ich sass da und lauschte ihm halb geistesabwesend. Ich verstand aber so viel, dass er im Begriff war, mit dem alten Schlendrian, in dem seine Vorgänger die kirchlichen Verhältnisse der Stadt zurückgelassen hatten, gründlich aufzuräumen. Er schilderte die alte Stadt wie ein Sodom an Gottlosigkeit und Ruchlosigkeit. Alle Laster herrschten hier: Trunksucht, Unsittlichkeit, Kartenspiel, Vereinsbälle. Wer die alte Stadt lobe, kenne sie nicht oder lasse sich von ihrer scheinbaren Biederkeit und Liebenswürdigkeit bethören. Aber mit Gottes Hilfe sollen die Pfeifen einen ganz anderen Klang erhalten. Schon jetzt spüre er die Früchte von seiner Erweckungsarbeit, und doch habe er erst ganz kürzlich begonnen. Es war so lange her, seit ich die Worte des Fanatismus gehört hatte. Sie rollten wie ein leerer Donner über mein Haupt dahin. Wie hässlich sah er aus in seinem erbitterten Zorn, wie wahnsinnig klang es, dass dieser junge, rasende Mann die guten Bürgersleute Gottesfurcht lehren wollte. Ich dachte ein paarmal daran, ihm zu widersprechen, gab es aber auf. Ich fühlte mich so ausserhalb des Streites, und niemals habe ich tieferes Empfinden für das Glück gehabt, nicht mehr dabei zu sein. Wenn man sich vorstellt, dass dieser Mann sich einbildet, im Dienste des allgütigen Gottes zu handeln, und vor Wut schäumt, während doch die Welt des Friedens und der Milde bedarf. Wahrlich, die Wölfe reissen sich um die Lämmer.

Als ich mich erhebe, um zu gehen, wird der Pfarrer wieder plötzlich der gewandte Weltmann. Er drückt mir warm die Hand, lächelt freundlich und macht eine scherzhafte Bemerkung über die eigene Heftigkeit.

Aber während ich heimwärts wandere, beklage ich meine alte Stadt. Sie hat ihre guten Tage mit den alten Geistlichen gehabt. Die verstanden sie, die richteten ihre Verkündigtingen nach ihrem Bedarf ein. Sie sassen selber gern am L'hombretisch, sie verschmähten einen guten Tropfen nicht, sie freuten sich, wenn sich die Jugend im Tanze schwang, und sie weinten nicht, wenn sie eine reichlich rundliche Maid myrtengeschmückt vor den Traualtar treten sahen.

Ich habe ein Gefühl, als sei die Luft drückend geworden; es liegt keine rechte Freude im Sonnenschein, der Wind ist kalt und rauh, du alte, gesunde, lebenslustige Stadt, jetzt kommt die böse Stunde deiner Heimsuchung.

– – Erst im Sonnenschein des Mühlenbergs schüttelte ich die Missstimmung ab. Und dort harrt meiner eine Freude, die mich mit den thörichtsten Phantasien erfüllt und mein Herz einen ganz jugendlichen Sturmmarsch schlagen lässt.

Auf meinem Arbeitstisch steht ein Rosenstrauss, ein Bote habe ihn gebracht, ohne andern Bescheid, als dass er auf den Tisch des fremden Herrn gestellt werden solle.

Von wem sollte er wohl sein, wenn nicht von ihr? Sie hat mich also nicht vergessen; sie denkt an mich; sie sendet mir sogar einen Gruss. Einen Augenblick verdunkelt der Gedanke, dass der Strauss möglicherweise von meiner Freundin im Stift sein könne, mein Entzücken. Aber das ist unmöglich. So schöne Blumen wachsen nicht in der alten Stadt, die werden nur auf dem Mühlenberg, im Garten des Müllers gepflückt.

XIII.

Den 20. Juli.

Die Nachtigall schlägt in den Büschen des Mühlenbergs. Ich bin heute Abend mit meiner Müllertochter, die Grete heisst, im Walde gelustwandelt.

Wie wenig das im Grunde ist, wie wenig merkwürdig. Und doch ist es mir, als sei mir niemals etwas Grösseres begegnet.

Ich wandere im Walde und begegne ihr. Wir sind Nachbarn, folglich ist nichts Wunderbares dabei. Wir kennen einander, also wäre es das Natürlichste von der Welt gewesen, wenn ich sie angehalten, wenn ich mit ihr gesprochen hätte. Hingegen war sie es, die mich anhielt, worin auch nicht das geringste Naturwidrige war.

Sie fragte: Wie geht es Ihnen? Haben Sie viel Verkehr? Entbehren Sie die Hauptstadt nicht?

Ich antwortete: Ich werde mit jedem Tage glücklicher. Ich verkehre mit niemand, entbehre nichts. Vorgestern erhielt ich obendrein einen Strauss der herrlichsten Rosen.

Und dann sagte sie, dass die Rosen von ihr seien, und ich freue mich, dass sie kein Geheimnis daraus macht. Sie sagt, sie hätte so grosse Lust gehabt, mir einige ihrer Blumen zu senden. »Ich dachte, es würde Ihnen Freude machen, weil sie so schön und so selten sind. Und ich wollte Ihnen gerne eine Freude machen.«

Ich fragte sie, warum sie so freundliche Gefühle für mich hege, ich sei doch fast ein Fremder für sie. Sie erwiderte: »Weil ich fühlte, dass Sie nicht glücklich gewesen sind. Und ich, – ich habe es immer so gut gehabt.«

Ich bitte sie, mir ein wenig von ihrem Leben droben mit dem Vater in der Einsamkeit bei der Mühle zu erzählen. Sie schüttelt den Kopf: »Davon ist nicht viel zu erzählen. Ich pflege meine Blumen, meine Bienen, mein Obst, und ich lese meinem Vater vor. Wollen Sie mehr wissen, so kommen Sie zu uns und sehen Sie selber. Wir verkehren, ebenso wie Sie, mit niemand. Deshalb werden wir zusammenpassen.« Und sie fügt hinzu: »Sie brauchen weder ja, noch nein zu antworten. Fühlen Sie sich glücklich in Ihrer Einsamkeit, so würde es keinen Sinn haben, wenn Sie Gesellschaft suchten, meinen Sie aber eines Tages, dass Sie unser bedürfen, so sind Sie uns willkommen.«

Und dann stehen wir da und wollen uns voneinander verabschieden. Plötzlich aber fällt mir ein, dass ich gern Auskunft über etwas haben möchte, und ich sage: »Ich sah Sie eines Tages oben bei der Mühle. Sie lehnten sich gegen den einen Flügel. Den Fall gesetzt, dass die Mühle angefangen hätte, zu gehen?«

»Ach nein,« antwortet sie, »das hat keine Gefahr. Die Mühle steht schon seit einigen Jahren still. Vater ist alt und fast blind. Er hat den Betrieb der Mühle aufgegeben.«

Sie nickt mir zum Abschied zu und geht. Ich aber bleibe stehen und flüstere ihr tausend Segenswünsche nach, die ganze stille Musik des Dankes und des Glückes, mit der sie mein Herz erfüllt hat.

Liebe ich sie? Ich glaube es nicht; denn ich begehre sie nicht. Es ist nichts zwischen uns, was ich anders oder mehr wünschte. Meine Sinne liegen gleich glücklich lächelnden Wiegenkindern und lauschen den Liebkosungen ihrer Stimme. Die grosse, milde Wärme ihrer Augen hüllt mich ein. Ihr Händedruck ist die Engelwache des Abendgebets. Wäre das Unmögliche denkbar, dass sie heute Abend an meine Thür käme und um Einlass bäte, so würde ich wie vor einer Entheiligung fliehen, ich würde mir vorkommen wie ein Verfluchter auf Erden. Wie jemand, der an der Quelle der Reinigung gestanden und gesehen hat, wie sie trübe ward, als sie sein Bild widerspiegelte.

Als ich wieder in meinem Zimmer sitze mit ihren Rosen vor mir, erfasst mich das Bedürfnis, ihr zu erkennen zu geben, wie viel ihre Freundschaft für mich bedeutet. Durch ein Papier stecke ich eine der Rosen und schreibe darunter: »Von einem, der durch sie genas.« Ich durcheile den Wald bis ans Müllerhaus und befestige die Rose über der Thür. Ich weiss ja, dass sie in die rechten Hände fallen wird, da ihr Vater blind ist.

Und langsam wandere ich heimwärts, während die Nachtigallen in meiner Brust schlagen.

XIV.

Den 29. Juli.

Ich sitze heute Morgen unten auf dem Bollwerk am Hafen, um den Dampfer von der Hauptstadt ankommen zu sehen. Um etwaigen Bekannten unter den Passagieren zu entgehen, habe ich mich ein wenig abseits in die Nähe des Stapelplatzes für ankommende Waren hingesetzt. Ich belustigte mich damit, ins Wasser hinabzusehen, zu den grünschleimigen Pfählen des Bollwerks, wo die Taschenkrebse zwischen festgewachsenen Muscheln umherkrabbeln, und ich denke an alte Zeiten, wo es ein Fest war, wenn der Dampfer, die damalige einzige Verbindung mit der Hauptstadt, Gäste zu Besuch brachte. Das Fest begann mit dem frühen Morgengrauen. Damals, ebenso wie heute, war die Zeit der Ankunft sehr wechselnd. Unter normalen Verhältnissen sollte das Schiff um 5 Uhr im Hafen anlegen, und von dem Glockenschlag an galt es, bereit zu sein: stellte sich aber einer jener Nebel ein, wie sie sich im Fjord so häufig bemerkbar machen, ihn im Laufe weniger Sekunden mit einem undurchsichtigen baumwollenen Schleier von einem Ufer zum andern überspannend, so kann die Wartezeit sich auch auf mehrere Stunden erstrecken. Oft liefen wir Kinder fünf- bis sechsmal hin und her, um unsern Eltern den jeweiligen Zustand zu melden. Endlich wird der Korb auf der Signalstange des Fjordhügels aufgewogen, die Nebel lichten sich, jetzt kommt es, das Schiff, das sehnlichst erwartete, das Tanten und Geschenke bringt und eine Unmenge seiner Speisen und eine Reihe von in Aussicht stehenden Vergnügungen im Gefolge hat.

Und während ich hier heute sitze und diese Erinnerungen auffrische, geschieht es, dass sich der Nebel über den Fjord senkt, gerade in dem Augenblick, als das Schiff um die letzte Landzunge biegt. Eine graue Mauer senkt sich vor mir herab, ich muss mich einen Augenblick besinnen, um zu verstehen, was denn geschehen ist. Aus weiter Ferne ertönt das Nebelhorn des Dampfers, jammervoll klagend, ängstlich warnend. Aber es ist klar, dass der Kapitän jetzt, wo er seinem Ziel so nahe ist, versucht, vorwärts zu dringen. Langsam nähert sich das Brüllen des Nebelhornes, jetzt kann man die Mastspitzen über die Wolken emporragen sehen. Da, ebenso plötzlich, wie er gekommen ist, verschwindet der Nebel wieder. Ein Blendwerk: in glitzernder Morgensonne liegt das Schiff ein paar hundert Ellen vom Lande entfernt, und vorn auf dem Verdeck steht ein junges Mädchen in einem langen, dunklen Regenmantel. Täuscht mein Auge mich? Ist sie's wirklich? – Ohne mich um die Menschen zu kümmern, eile ich auf die Landungsbrücke zu. Jetzt hat die junge Dame mich erblickt, sie fächelt mit ihrem Taschentuch. Sie ist's!

Gott sei gelobt für das Lächeln, das mir entgegenstrahlt. Sie freut sich also, mich zu sehen, freut sich, mir hier so unerwartet zu begegnen.

Wir gehen zusammen durch die Stadt. Ich bin so überwältigt von Glück, dass ich nicht sprechen kann. Ich schreite durch meine Stadt an ihrer Seite, und ich höre sie erzählen, wie es mit ihrer Reise zusammenhängt. Sie kommt von demselben Ort wie an jenem Morgen, als ich sie auf dem Schiffe erblickte, von einem kleinen Handelsplatze an der Mündung des Fjords. Dahin fährt sie alle vierzehn Tage, um die Erzeugnisse des Gartens: Obst, Honig, eingemachte Früchte und Gemüse zu verkaufen. Ihr Vater hat dort einen Geschäftsfreund, mit dem er lieber handelt als mit den Kaufleuten der alten Stadt.

Als sie mir dies alles erzählt hat, und ich noch immer schweige, fragt sie: »Aber was wollten Sie denn eigentlich am Schiffe? Erwarteten Sie jemand?« »Ja,« antwortete ich, »das that ich wohl. Seit meiner frühesten Kindheit hat mir das Schiff stets jemand gebracht, der mir teuer war, und auch heute hat mich das Schiff nicht betrogen.« Und als ich sehe, dass meine Worte sie nicht erschrecken oder verstimmen, fahre ich fort: »Aber Sie? Dachten Sie, als Sie auf das Ufer hinstarrten, dass Sie von jemand empfangen werden würden?«

Sie sagt: »Ich stand mitten im Nebel und dachte an Sie, so wie Sie das erste Mal waren, als ich Sie sah. Und da erblickte ich Sie plötzlich jenseits des Nebels.« Unwillkürlich ergreife ich ihre Hand, und sie entzieht sie mir nicht: »Ja, jetzt bin ich jenseits des Nebels.«

Aber nach einer Weile, als wir uns trennen, sagt sie: »Werden Sie jetzt nach der Mühle hinaufkommen? Wir erwarten Sie.«


 << zurück weiter >>