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Kapitel V.

Fräulein Stephanie saß am Nachmittage dieses Tages allein in dem Gesellschaftszimmer, oder vielmehr nicht ganz allein, denn während sie den Sessel in der Fensternähe eingenommen hatte, schlief ein ältlicher Herr in der Sophaecke unverkennbar fest. Das junge Mädchen warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf den Herrn, als wünsche sie, daß er aufwachen möge, aber sein Kopf mit dem spärlichen Haar lag ihm schwer auf der Brust, und das dicke Gesicht mit dem Schnurrbart schien beinahe einem Todten anzugehören. Leise zog die junge Dame endlich ein Papier in Briefform aus der Tasche ihres Kleides, und eben wollte sie es öffnen, als ein Geräusch an der Thür eine blitzschnelle Bewegung ihrer Hand nach sich zog, mit welcher jenes Papier verschwand. –

Einen Augenblick darauf trat eine Dame herein, die von einem Stille heischenden Blicke Stephaniens und einem Ausstrecken des Zeigefingers nach dem Sopha empfangen wurde.

Die Dame beantwortete lächelnd diese Zeichen und ging auf den Zehen weiter, bis sie neben dem Fräulein sich niedersetzte und ihr Gespräch damit begann, daß sie ebenfalls ein Papier in Briefform aus der Tasche zog und es Stephanien entgegen hielt.

Lies das, sagte sie, ich habe es soeben erhalten.

Von der Geheimräthin Wilberg, erwiederte das Fräulein, einen Blick auf die Schriftzüge werfend.

Die Dame nickte und öffnete den Brief, den Stephanie nahm, bis nach einigen Augenblicken ihr ganzes Gesicht von einer schnellen Röthe überzogen wurde, und sie die Hand langsam fallen ließ.

Nun? sagte Frau von Grießfeld, lachend den Arm um sie legend.

Liebste Mutter! erwiederte das Fräulein, ich bin sehr erschrocken.

Wie alle Mädchen sind, wenn der entscheidende Augenblick da ist, flüsterte die Mutter, im Grunde aber mußt Du es vorher gesehen haben, denn Du weißt –

Ja, ich weiß, sagte sie leise.

Und Gustav ist wirklich ein schöner junger Mann, hübsch gewachsen, ein interessantes Gesicht, was sagst Du?

Ich habe ihn wirklich noch nicht so genau betrachtet, lispelte das Fräulein.

Nicht genau betrachtet?! Ich habe selbst gesehen, wie oft Du ihn still anschautest, wenn er es nicht sah. Grade heraus, Stephanchen, wie gefällt er Dir?

Wenn ich es sagen soll, erwiederte sie unter beständigem Erröthen, ich habe gewiß nichts Mißfälliges bemerkt, nur –

Nun, nur? flüsterte Frau von Grießfeld, als sie schwieg.

Nur fast zu hübsch kommt er mir vor, stotterte sie.

Zu hübsch! Mädchen, lachte die Mutter, das ist doch wahrhaftig kein Fehler an einem Mann.

Warum denn nicht? fragte der Herr, welcher in der Sophaecke schlief, indem er den Kopf auf die andere Seite legte.

Nun Gott steh uns bei! rief die Dame halb laut, Onkel Tobias vertheidigt Dich und sich im Schlaf. Doch höre alles Ernstes meinen Rath, Stephanie. –

Sie nahm die beiden Hände ihrer Tochter und flüsterte leise und eindringlich mit ihr, die sehr geduldig, sanft und schüchtern zuhörte, und kaum vernehmbare Antworten gab.

Nach einer Weile dehnte sich der Herr im Sopha, und plötzlich warf er ein paar verwunderte Blicke auf die beiden Damen, die seine Auferstehung einige Minuten lang nicht bemerkten. Erst als er sich räusperte, sah die Directorin sich nach ihm um, und im Augenblick war Onkel Tobias auf den Beinen. Als er kerzengrade stand, war er von ansehnlicher Leibeslänge, und Niemand konnte zweifeln, daß ein ehemaliger Soldat in ihm steckte, der noch immer den blauen Rock bis an den Hals zuknöpfen muß, und Sporen an den Stiefeln trägt, obwohl er seit vielen Jahren kein Pferd mehr besteigt. – Eine hohe schwarze Halsbinde hielt seinen Kopf steif in die Höhe, und dieser Kopf selbst war ein Gemisch von Zügen, die nicht zu einander paßten. Es lag viel Stolzes und Herausforderndes in den harten Mienen, und doch auch eben so viel Lächerliches in der heftigen raschen Beweglichkeit derselben, wie in der Häßlichkeit seines Gesichts und in der ganzen eckigen Gestalt, bei der ein breiter Obertheil auf einem dünnen Untergestell stand.

Heimlichkeiten? rief er, sich Rock und Weste straff ziehend, indem er sich noch steifer aufrichtete.

Es wird Kriegsrath gehalten, Onkel Tobias, erwiederte die Dame lachend, und fast möcht' ich Sie als ehemaligen Major, Bruder meines Mannes und nahes Familienmitglied mit hinein ziehen.

Viel Ehre! sagte der Major sich verneigend. Wie lautet die Parole?

Heirath, versetzte sie.

Wer? Die! er deutete auf Stephanie.

Ja, Die. –

Mit wem? fragte er den Schnurrbart streichend.

Mit dem Doctor Wilberg.

Pfui Teufel! aber ich hab's gedacht, rief Onkel Tobias, indem er mit dem Fuß aufstampfend wie ein echter Soldat Kehrt machte und das Zimmer hinunter marschirte. Dann drehte er im Geschwindschritt um und stand vor den beiden Damen still.

Will Sie? fragte er auf seine Nichte zeigend.

Warum sollte sie denn nicht wollen?

Sie will nicht, ich seh's, aber sie soll! sagte der Major, langsam seinen Kopf auf dem langen Halse drehend.

Sie haben Visionen, Onkel Tobias, versetzte die Directorin lachend und geärgert. Wer sollte Stephanien zwingen?

Sie! erwiederte er militairisch ernsthaft.

Ich? Seien Sie nicht thöricht.

Sie haben die Parole längst gegeben, rief der Major.

Nun meinetwegen, sagte die Dame. Wenn Sie fragen, was ich wünsche, so antworte ich: allerdings sehe ich diese Verbindung gern, die in so vieler Beziehung passend ist.

Mesalliance! murmelte der Major zwischen den Zähnen, indem er einen grimmigen Blick auf seine Schwägerin schleuderte.

Diese erröthete und schwieg, allein nach einer kleinen Pause war sie wieder sicher und fuhr mit stärkerer Stimme fort: Ich habe das Wohl meines Kindes zu bedenken. Was haben Sie denn gegen den jungen Wilberg?

Parfümirter Mensch! rief der Major mit verächtlichem Ausdruck, indem er heftig mit dem Kopfe nickte; Schreibersohn, Bursche, der Alles weiß und nichts!

Wie soll er denn aussehen? erwiederte die Dame boshaft, den alten Herrn betrachtend.

Wie ein Mann! sagte Onkel Tobias, indem er abermals mit dem Fuße heftig auftretend Kehrt machte und durch das Zimmer schritt.

Nun da hörst Du, Stephanie, wie unser lieber Onkel Deinen Erkornen beurtheilt, lachte Frau von Grießfeld; er würde Dir sicher einen ganzen Mann verschaffen.

Sicher! sagte der Major zurückkehrend. Aber liebst Du ihn?

Stephanie schwieg.

Willst Du ihn? fuhr er fort.

Aber ich bitte Sie, Onkel Tobias, Sie machen mich ernstlich böse, rief die Directorin.

Der Major sah sie starr an, steckte die Hand zwischen die Knöpfe und nickte mit feierlicher Langsamkeit. – Sehr wohl, sagte er; wenn ich aber meine Nichte wäre, ich nähme ihn nicht. Verstanden?

Verstanden, bis auf die letzte Sylbe, erwiederte Frau von Grießfeld; mir ist es daher ungemein lieb, Onkel Tobias, daß Sie nicht Ihre Nichte sind.

Auf Ehre! mir auch, sagte der Major kalt, indem er sich umdrehte und aus dem Zimmer ging. Als er die Thür öffnen wollte, that sich diese auf, und der Gegenstand seiner Abneigung trat mit einem höflichen Gruße gegen ihn und die Damen herein. Der Major schob sich zur Seite und richtete sich stolz auf, indem er ihn vorüber ließ ohne ein Wort zu sagen. Dann blieb er noch einen Augenblick an der Thür stehen, betrachtete den jungen Herrn von oben bis unten mit einem bedenklichen Kopfschütteln und entfernte sich.

Ich habe, wie es scheint, Ihre Unterhaltung gestört, sagte Wilberg, nachdem er Platz genommen hatte, indem er den Blick auf das verlegene Gesicht Stephaniens richtete.

Im Gegentheil, lieber Gustav, wir haben Sie erwartet, erwiederte Frau von Grießfeld. Ihre Mutter schrieb uns ein Billet, das uns Ihren Besuch anzeigte. Sie wollen heut bei uns bleiben und sind immer willkommen. Gehen Sie mit Stephanien in den Garten. Sind die Bäume auch kahl, die Sonne scheint noch freundlich. Ich lasse den Thee bereiten und rufe Euch. Ihr habt ja beide noch gar nicht Zeit gehabt Euch auszusprechen, und Jugendfreunde haben gewiß allerlei auf dem Herzen, was sie sich vertrauen möchten.

Lächelnd nahm sie die zitternde Hand des jungen Mädchens, das mit ungewissem Schritt dem leisen Drucke folgte. Du mußt ihn führen, Stephanie, sagte die Directorin, er findet sonst den Weg nicht durch den dunklen Corridor.

Wenn Stephanie nur will, erwiederte Gustav, so ist der Weg nicht schwer zu finden.

Nun so geht und helfe der Eine dem Andern, rief Frau von Grießfeld lachend. Ihr sollt ein ganzes Stündchen haben, um Euch auszuplaudern.

Durch mehrere Zimmer und durch einen langen dunklen Gang führte Stephanie den Jugendfreund in einen Salon, aus welchem man auf breiten Stufen in den Garten hinabstieg. – Fast schweigend hatten sie den Weg zurückgelegt, und wenige alltägliche Worte wurden gewechselt, die eher ihre Verlegenheit vermehrten, als auflösten. – Erst als die kühle Herbstluft Ihnen erfrischend entgegenwehte, und der heitre tiefblaue Himmel sonnig glänzte, kam der Lebenstrieb der Natur den Willenstrieben des schwankenden jungen Mannes zu Hülfe und verscheuchte die ungewissen Blicke, welche er dann und wann auf seine Begleiterin warf.

Er ergriff ihre Hand, und sprach lebhaft von den Tagen der Vergangenheit, von ihren frohen Kinderzeiten, von zahlreichen kleinen Erinnerungen, und nach und nach kam ein Gespräch in Fluß, das bald auch einen weitern Austausch über Erlebnisse späterer Zeiten zur Folge hatte. Wilberg erzählte von seinen Studien, seinen Reisen und feiner Rückkehr, die Fragen kreuzten sich, und endlich schien die fremde und schüchterne Haltung schmelzen zu wollen, welche Stephanie bewahrt hatte. – Wenn Gustav eine luftige Erinnerung auffrischte, lachte sie und half ihm ein, ihre blassen Wangen rötheten sich, ihr ursprünglich mattes Auge erhielt Leben, und die feinen Züge ihres Gesichts drückten eine Theilnahme aus, welche Wilberg erfreut zum ersten Male bemerkte. Er betrachtete sie, indem er mit ihr durch den Baumweg hoher alter Linden ging, welcher die Mitte des Gartens durchschnitt, und er sagte sich leise, daß sie schön sei. Der zarte Hauch des Bluts, der schimmernd durch diese weißen, scharf und edelgeformten Züge drang, gab ihr heut einen besondern Reiz, und ihre hohe Gestalt, die den Beifall des Herrn Frese so wenig finden konnte, schien dem erfreuten Beobachter durchaus stolz und herrlich.

Nachdem sie lange hin und her gesprochen, und das wärmere Gefühl in Beiden geweckt war, sagte Gustav plötzlich stille stehend:

Da bin ich also wieder, Stephanie, von wo ich ausgegangen war. Jedes Menschenleben soll eine Pilgerfahrt sein, eine Art Odyssee, die uns nach langem Irren und mancherlei Schiffbruch endlich zurück zur Heimath führt. Ich hasse die Schiffbrüche und habe vor den Abentheuern Furcht, nachdem ich erkannte, daß sie mir nicht zusagen. Aus diesen Gründen und vielen andern habe ich mir vorgenommen, den Wünschen meiner Mutter zu folgen, zu bleiben, mein Haus mir zu bauen, und ein ehrbares und nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden.

Ich sollte meinen, erwiederte Stephanie lächelnd, daß Sie das eigentlich längst waren, denn schon seit Jahren ist der Ruf Ihrer Weisheit, Gelehrsamkeit und Besonnenheit zu uns gedrungen.

Ich könnte Ihnen einige starke Gegenproben liefern, rief er lachend aus, doch ich möchte Ihr Vertrauen nicht zu Schanden machen. Der beste Beweiß aber, daß es mir ernst ist, meine Rechte an der Gesellschaft geltend zu machen und deren Pflichten zu übernehmen, ist wohl der, daß ich in jungen Jahren mich ansäßig machen und Alles thun will, um wenigstens den Spruch jenes Greises auf meinem Grabstein zu sehen: »Er lebte, nahm ein Weib und starb!«

Eine höhere Röthe lief durch Stephaniens Züge, aber Gustav gab ihr keine Zeit, zu der alten Verlegenheit zurückzukehren. Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest.

Ich muß zu Ihnen reden, liebe Stephanie, sagte er, damit es Tag zwischen uns wird, und warum sollen wir uns denn nicht über die Art verständigen, wie wir uns gegenseitig künftig betrachten und behandeln wollen? – O! fürchten Sie nicht von mir, fuhr er mit sanfter Stimme fort, daß ich fordern könnte, was Sie mir nicht gern geben; schenken Sie mir Vertrauen, Stephanie, ich glaube, wir sind beide in dem Falle, uns dies zu beweisen, und was könnte ich verschuldet haben, daß Sie mich mit Mißtrauen, Furcht oder Haß anblickten? –

Ich hasse Sie nicht, ich hasse Niemand, sagte sie leise.

Aber – was er hinzufügen wollte, verschwieg er, das eine kleine Wort klang jedoch so bedeutungsvoll, daß Stephanie den Blick zu Boden schlug und eine Bewegung machte, als ob sie ihn verlassen wollte.

Wenn Sie gehen wollen, sagte er traurig, so mag es geschehen; oder wenn Sie mir befehlen, daß ich schweigen soll, so verspreche ich Ihnen nie wieder von dem zu reden, was ich Ihnen mitzutheilen dachte.

Ich weiß es nicht, erwiederte sie, ermuthigter ihn anblickend, aber ich glaube, daß ich Sie hören muß.

Darin liegt, was uns drückt, rief er lebhaft. Sie glauben mich hören zu müssen, das ist ein Bekenntniß; aber aufrichtig, Stephanie, Sie wissen, was ich Ihnen sagen will. Das ängstigt Sie, doch ich will Sie von dieser Last befreien.

Sind wir nicht selbständig, fuhr er dann fort, indem er vertraulich ihren Arm nahm, sind wir denn nicht groß genug, um über uns zu entscheiden? – Man hat Sie willenlos gemacht, ich werde Ihren Willen schützen. Was andre Leute wünschen und hoffen, geht uns nichts an, wir stehen uns gleichberechtigt gegenüber, und eines einzigen Wortes bedarf es von Ihnen, um mich für immer zu verbannen. –

Er strich sich das Haar von der heißen Stirn, und sah sie mit klaren Augen an. –

Meine Mutter hat ein Billet geschrieben, sagte er; wissen Sie, was darin stand?

Ja, erwiederte sie leise.

Glauben Sie dem nicht, was Sie lasen, rief er. Ich bin nicht gekommen, Ihnen zu sagen: geben Sie mir Ihre Hand, Stephanie, die mir seit vielen Jahren versprochen wurde; nein, ich kam, um Ihnen zu erklären, daß ich keine Ansprüche darauf mache, wenn Ihr Herz mich nicht willkommen heißt.

Sie sind gut, Gustav, Sie sind sehr gut, erwiederte sie, und ihre Augen richteten sich glänzend auf ihn.

Das war der alte, liebe Ton Ihrer Stimme, sagte er freundlich. Wie tief hat es mich geschmerzt, wenn ich Sie erschrecken und vor mir fliehen sah. Lassen Sie uns die alte schöne Freundschaft aufrichten, Stephanie. Ich weiß, daß ich Sie als Knabe oft tapfer vertheidigte, und immer Ihr Ritter war, warum soll ich jetzt das nicht sein?

Ich habe nie aufgehört, Ihre Freundin zu bleiben, versetzte sie, und öfter an Sie gedacht, als Sie glauben mögen.

Haben Sie wirklich! rief er, nun so bin ich dankbar und ergeben dafür, und will diese Freundschaft hegen und tragen, bis ich wagen darf – er hielt inne und blickte sie mit seinen freundlichen Augen an, dann nahm er plötzlich ihre Hand und bedeckte sie mit seinen Küssen, während er den Arm um sie legte und leise flüsterte: bis diese Freundschaft mir den schönsten Lohn verheißt.

In diesem Augenblick hörten sie plötzlich die laute Stimme der Frau von Grießfeld, die auf einem Seitenwege trat und ganz unbemerkt bis auf einige Schritt sich genähert hatte. – Die Hände der beiden Ueberraschten trennten sich schnell, aber ihre Verlegenheit wuchs, als sie bemerkten, daß die Directorin nicht allein war. Dicht hinter ihr stand derselbe Herr, welcher vor wenigen Stunden neben Wilberg im Gasthause gesessen und ihn so finster messend angestarrt hatte. Ehe er jedoch begreifen konnte, wie dieser Unbekannte hierher gekommen, sagte die Directorin lachend: Da finden wir ja das Pärchen im vertraulichen Beieinander. Erlauben Sie, daß ich Sie bekannt mache: Herr Doctor Wilberg, der Bräutigam meiner Tochter; Herr Assessor von Baben, ein Freund unsres guten Onkels und unser Freund.

Die Verwirrung und Ueberraschung der beiden Betheiligten wurde nach dieser plötzlichen Erklärung noch größer. Stephanie lehnte sich an Gustav und preßte heftig seine Hand in der ihrigen, als wollte sie sich fest halten und Schutz suchen, dann verneigte sie sich langsam, als der Fremde mit tiefer klangvoller Stimme ihr Glück wünschte, indem er zugleich sich an den bestürzten Bräutigam wandte, der in eine Art Betäubung versunken zu sein schien.

Der Name Baben hatte sein Blut ihm ins Gesicht getrieben, und ihn in eine Aufregung versetzt, die er vergebens zu beherrschen strebte. Ein paar höflich kalte Fragen, welche der Assessor that, wurden von ihm kaum verstanden und falsch beantwortet. In einem unerwarteten Augenblick sah er sich plötzlich zum Bräutigam gemacht durch das rasche Wort einer Frau, der er unmöglich widersprechen konnte; und zu gleicher Zeit trat noch unerwarteter ein Mann vor ihn hin, der, wie sein böses Gewissen ihm zuflüsterte, sein Gegner und sein Feind war von der Stunde an, wo er ihn zuerst erblickte.

Stephaniens Mutter machte dieser peinlichen Minute ein Ende, indem sie ihren erwählten Schwiegersohn und ihre Tochter an den Armen ergriff, und beide fortführte. Gehen wir in den Gartensaal, sagte sie, es wird kühl, ich habe den Thee dorthin bestellt. Ihre Mutter ist gekommen, lieber Gustav, mein Mann wird auch bald erscheinen, der Onkel unterhält sich schon seit einer halben Stunde mit Auf- und Abmarschiren, und Herr von Baben fand dies endlich mit allem Recht nicht interessant genug und suchte Euch im Garten auf, wo ich in derselben Absicht mit ihm zusammentraf.

Ich bitte um Entschuldigung, erwiederte der junge Mann, wenn ich es wagte hier einzutreten. Ich suchte den Herrn Major in seinem Zimmer auf, man sagte mir, daß er im Garten sei, die Thür stand offen –

Und statt des Onkels fanden Sie unerwartete Gesellschaft, fiel die Directorin ein.

In der That, ja.

So geht es, fuhr sie lächelnd fort, aber ich sehe einen Florstreifen um Ihren Hut. Sie haben Trauer.

Ich habe meinen Vater verloren.

Mein Gott! ich beklage Sie von Herzen, und Onkel Tobias, der alte Freund Ihres Vaters, er wird auf's Aeußerste betrübt sein.

Er muß es seit wenigstens einer Woche wissen, da ich ihm schriftlich die Anzeige machte, sagte der Assessor.

Er hat uns keine Sylbe davon mitgetheilt, rief Frau von Grießfeld; sicher hat er Ihren Brief nicht erhalten.

Oder er hat davon aus dem Grunde geschwiegen, erwiederte der junge Mann, weil manche Umstände stattfanden, die mich bewogen ihn zu bitten, vorläufig über die näheren Ergebnisse des Unfalls, der den Tod meines Vaters veranlaßte, nicht zu sprechen.

Also ein Unfall zog seinen Tod herbei? fragte die Dame.

Er stürzte mit dem Pferde und ward sterbend nach Haus gebracht.

Das ist ja entsetzlich! rief die Directorin. Höre doch, Stephanie, was unserm armen Baben begegnet ist. Darum also haben Sie sich so lange nicht bei uns sehen lassen. Sie sind sogleich nach Haus gereist?

Ja, gnädige Frau, ich hatte eine Mutter und drei jüngere Geschwister zu trösten.

Es ist entsetzlich, was ein Todesfall für Unglück anrichten kann. Allein wer kann gegen das unabänderliche! Sie sind seit längerer Zeit selten zu uns gekommen, Herr von Baben; ich hoffe, daß Sie uns jetzt entschädigen. Wir wollen versuchen, Ihren Gram zu mildern und durch unsre Theilnahme Ihnen Trost zu gewähren.

Der Assessor verbeugte sich schweigend und folgte den Damen in den Salon, wo die Geheimräthin mit dem Director sich leise und eifrig unterhielt, während der Major mit großen Schritten quer vom Fenster zum Kamine schritt, in welchem ein lustiges Feuer brannte, das er regelmäßig einige Augenblick betrachtete, den Kopf schüttelte, und dann in seiner militairischen Weise Kehrt machte.

Der Eintritt der Anlangenden machte das Gespräch allgemein. Der Director, ein kleiner starker Herr mit büreaukratisch strengem, klugem Amtsgesicht, an dessen Seiten zwei weitabstehende Backenbärte saßen, lächelte dem jungen Wilberg zu und richtete auf seine blasse verlegene Tochter einen gütig ermunternden Blick, während er dem Assessor von Baben die Hand reichte.

Ehe er jedoch eine Frage thun konnte, zu der er den Mund öffnete, hatte der Major sich vor den Assessor gestellt und ihn bei beiden Rockklappen ergriffen, indem er ihn ernsthaft anblickte. Ihr Gespräch war kurz.

Todt! sagte der Major mit tiefer Stimme.

Leider ja, war die Antwort.

– Keine Rettung möglich?

– Keine!

– Lange Schmerzen?

– Ich glaube nicht.

– Rasch abgemacht, gut. – Reine Spur?

– Ich schrieb Ihnen davon.

– Ja, aber nichts weiter?

– Bis jetzt, nein.

Wilberg holte tief Athem, und zum ersten Male lief ein Lächeln durch sein Gesicht, als der Major sagte:

Schade! hätte einen andern Rapport gewünscht. Schlechte Justiz!

Der Director lachte. Ich habe so eben erst von Ihrem Familienunglück gehört, sagte er, und beklage Sie, lieber Baben, aber den Vorwurf schlechter Justiz müssen wir beide zurückweisen. Schafft uns nur die Missethäter, und es soll an der Strafe nicht fehlen.

Mein Himmel! rief die Geheimräthin, Gustav, das ist die traurige Geschichte aus der Zeitung, welche wir heut mit so vielem Antheil lasen. Die entsetzliche Mordgeschichte.

Nun, ich sollte meinen, erwiederte Wilberg, daß ein Mord nicht stattfand. –

Aber der Vater des Herrn von Baben ist um sein Leben gekommen, durch die Bosheit der Räuber, rief die Directorin.

Es waren keine Räuber, sondern fliehende, verfolgte Pascher.

Also doch Verbrecher.

Ich weiß nicht, ob man ihnen diesen Namen geben kann, sagte der junge Mann lebhaft. Sie verübten allerdings eine von den Gesetzen mit Strafe belegte Handlung, allein das ist für mich kein Maaßstab, sie Verbrecher zu nennen!

Diese Aeußerung zog einen langen Streit nach sich, an welchem Alle Theil nahmen, bis auf den Assessor, der still zuhörte, und seine dunklen Augen dann und wann nachsinnend auf Wilberg richtete.

Je mehr dieser seine Ansichten vertheidigte, um so mehr brachte er die Gründe dafür an, welche er damals von dem Kapitain und Anna gehört hatte, Gründe, die hier aber meist mit Mißbilligung aufgenommen wurden, den Vertheidiger jedoch um so mehr zu ihrer hartnäckigen Behauptung herausforderten. – Seiner inneren Ueberzeugung nach war der junge Mann keineswegs selbst damit einverstanden, und in jedem andern Falle würde er dagegen gestritten haben; allein er bedurfte des Selbstschutzes und konnte es nicht gestatten, daß der Stab über ihn gebrochen würde.

Ich muß mich wundern, sagte der Director endlich mit scherzendem Ernst, daß Sie, den ich von früh an als ernst, besonnen und wohl überlegend kenne, die Gesetze lästern und so unzufrieden mit den Staatsanordnungen sind: Eigenschaften, die freilich Mode werden unter den jungen Herren und uns dahin bringen können, wie in Frankreich vor der Revolution, wo es zum guten Ton gehörte, die Regierung zu verspotten. Was aber diesen Fall betrifft, so haben Sie darin Recht, daß es kein Mord ist, allein mit allen Nebenumständen ist es wenigstens ein Verbrechen, das schwere Ahndung finden würde, wenn der Thäter entdeckt würde, denn ein Menschenleben ging dabei verloren.

Aufgehängt! sagte der Major, vom Kamin umkehrend.

Ich sehe keinen Thäter! erwiederte Wilberg. Das Unglück wurde vom Zufall herbeigeführt. – Sollten denn die Flüchtlinge sich ruhig ergreifen lassen? Und was können sie dafür, wenn der Knall eines Schusses das Pferd des Verfolgers scheu macht?

Darf ich fragen, woher Sie wissen, daß dies die Ursache des Scheuwerdens war? fragte der Assessor.

Woher? Ich denke es mir, erwiederte Wilberg. Ich glaube es gelesen zu haben, und indem ich mich in die Lage der Fliehenden versetze, kann ich nicht finden, daß sie ein Unrecht begingen, wenn sie sich zu retten suchten.

Die Untersuchung hat ergeben, sagte der Assessor, daß allerdings ein Schuß fiel, und zwar auf meinen Vater, dessen Pistolen geladen in den Halftern steckten, ohne daß er sie gebraucht hatte.

So ist es also auf jeden Fall ein Mordversuch, der dabei in Betracht kommt, fiel der Director ein, der Zuchthausstrafe, bis zehn Jahre, zur Folge hat. Ich bürge dafür, daß der Thäter, wenn er entdeckt wird, nicht mit weniger fort kommt.

Streckt's Gewehr! rief der Major, indem er Wilberg zunickte. Schlechtes Gesindel! Schade, daß es nicht fest sitzt.

Sie haben Recht, erwiederte der junge Mann lächelnd, denn wenn ich auch anführen könnte, daß der Schuß vielleicht blind geladen, oder in die Luft abgedrückt worden sei, was hülfe es mir?

Das Gespräch nahm eine andre Wendung, und bald vermehrte sich die Gesellschaft um einige Freunde, die in der gewöhnlichen Art der Geselligkeit die Stunden verkürzen halfen. –

Endlich empfahl sich der Assessor, der großentheils wortkarg geblieben war. Dann und wann ließ er seine dunklen, stillen Augen über die Gesellschaft schweifen, und eine gewisse Eifersucht oder Besorgniß trieb den jungen Wilberg an, ihn fortgesetzt genau zu beobachten. Allein er entdeckte nichts, was seine innere Unruhe vermehren konnte. Herr von Baben schien Stephanie kaum zu bemerken, und nur ein einziges Mal ruhte sein Blick forschend oder nachdenkend, entweder auf ihr, oder auf Wilberg selbst; aber er wendete sich sogleich ab und sprach ruhig mit dem Major weiter, der sich neben ihn gesetzt hatte.

Als er fort war, hielt der Director ihm eine Lobrede.

Das ist ein junger Mann von besondern Fähigkeiten und unermüdlicher Arbeitskraft, sagte er, dazu ein tüchtiger Jurist. Wenn der Fall mit seinem Vater ans Licht gebracht werden kann, so ist er der Mann dazu.

Frau von Grießfeld deutete auf Wilberg und Stephanie. Hier gibt es einen andern Fall von noch größerer Wichtigkeit, sagte sie. Das ist ein junges Paar, das nichts mit Mordgeschichten zu thun hat, auch nicht schmuggeln will, sondern in bester Form Rechtens um Deinen Segen bittet.

Aha! erwiederte der Director, ich habe von der Sache gehört, die eigentlich nicht zu meinen Angelegenheiten, sondern ins Hausdepartement gehört, aber ich stimme mit Vergnügen bei. Liebt Euch, Kinder, heirathet Euch und werdet glücklich, ohne je Acten darüber anzulegen.

Dieser Augenblick war der entscheidende. Der Director schloß den Schwiegersohn in die Arme und sagte lachend, er hoffe, daß er sich künftig gegen keine Regierung, am wenigsten gegen die seiner Frau auflehnen werde, was die gefährlichsten Revolutionen hervorrufe.

Die anwesenden Freunde gratulirten nach allen Seiten, die Damen küßten die schweigsame Braut, und endlich fand sich diese in den Armen des Bräutigams wieder, der maschinenmäßig annahm und hinnahm, was er zu ändern nicht den Muth hatte.

In noch viel höherem Grabe schien dies bei Stephanien der Fall zu sein. Mit der Resignation eines Opfers duldete sie alle diese Glückwünsche, und indem sie sich dem zwingenden Willen und den Verhältnissen unterwarf, behielt sie Kraft genug, ihre Gefühle zu unterdrücken. –

In der Schule des Lebens, unter den Formen sogenannten Anstandes erzogen, lernt man heucheln, lernt man lächeln und sich schicken; so war es auch mit Stephanien, und erst als sie allein in ihrem Zimmer war, sank sie erschöpft auf den Stuhl und starrte mit tobten Augen vor sich hin.

Nach einer langen Stille zog sie das Briefchen hervor, das sie am Nachmittage allein gelesen hatte. Sie hielt es gegen die kleine Flamme des Nachtlichts, es standen wenige Worte darin. –

»Ich bin zurückgekehrt,« flüsterte sie, »heut Nachmittag komme ich; ich habe Ihnen viel zu sagen, Stephanie.«

Mit einem tiefen Seufzer deckte sie beide Hände vor ihr Gesicht, ein krampfhaftes Seufzen rang sich darunter hervor. Niemand hörte es, Niemand sah es, das Nachtlicht knisterte endlich und erlosch, und noch saß die Braut unbeweglich am Rande ihres Bette.



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