Alexander Moszkowski
Die Inseln der Weisheit
Alexander Moszkowski

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Die Heimfahrt

Was folgt daraus? – Das Prinzip der Prinzipe. – Insel-Weisheit und Weisheits-Inseln. – Haec fabula docet.

Und wiederum Honolulu und die übrigen Etappen unserer Herfahrt in umgekehrter Reihenfolge. Unsere Beschreibung ist zu Ende. Aufzuarbeiten bleiben nunmehr einige gedankliche Rückstände; Dinge, die aus dem Unterbewußtsein emportauchen, um im Oberbewußtsein einen Platz zu suchen. Wir haben das Fazit zu ziehen, das bedeutsamer werden kann als die erlebten Tatsachen.

Ethische Betrachtungen lagen uns zunächst, da wir ja zuletzt Bezirke mit starkbetonten sittlichen Prinzipien verlassen hatten. Recht und Gerechtigkeit waren die Leit-Worte und Leit-Motive gewesen. Aber im Grunde hatten die Insulaner mit diesen Begriffen nur dasselbe Spiel getrieben, das wir selbst mit ihnen treiben. Spiel? Der Ausdruck ist noch zu schmeichlerisch. Denn ein Spiel, als an Regel gebunden, offenbart einen Sinn, und noch im kindlichen Spiel steckt bekanntlich ein tiefer Sinn. Aber im Gerechtigkeitsspiel der Erwachsenen verflüchtigt sich der Sinn zu einem gedanklichen Chaos.

Wo ein Staatsmann, ein Volksredner den Mund auftut, wo ein Leitartikler zu schreiben anhebt, da ergießt sich »Gerechtigkeit« in Strömen. Und Millionen von Hörern und Lesern verschlucken sie milliardenfach, ohne sich zu fragen, ob sich dabei etwas Denkbares denken lasse. Sie ereifern und entrüsten sich um einen Begriff, der findbar sein müßte, um seinen Weltkurs zu verdienen. Er läßt sich aber ebensowenig finden, wie die Körperlichkeit eines Spiegelbildes hinter dem Spiegel. Man greift ins Leere, und nur ein kompletter Narr könnte es dort suchen. Aber der Verstand zahlloser Verständiger ergeht sich in der nämlichen Narretei.

»Immerhin,« – so meinte einer unserer Fahrtteilnehmer, »immerhin erfassen wir doch den Begriff der Gerechtigkeit etwas genauer als jene Insulaner von Allalina und O-Blaha.«

– Das eben leugne ich. Und ich finde weder unser Gerede noch die praktischen Folgerungen, die wir daraus ziehen, auch nur um eine Spur sinnvoller. Weil man etwas nicht Existierendes überhaupt nicht erfassen kann, weder genau noch ungenau. Allenfalls ließe ich mich zu dem Zugeständnis herbei, daß die ethischen Inselmenschen etwas konsequenter verfahren als wir. In ihrem abenteuerlichen Schlußerlebnis steckt wenigstens die Methode der Abkürzung. Sie geben uns in übersichtlicher Gedrängtheit das Bild unserer eigenen Geschehnisse. Wäre ein Europäer imstande, die Jahrtausende seiner Weltgeschichte mit einem Blick zu überfliegen, so würde sie ihm ebenso grotesk vorkommen, wie die soeben von uns beobachtete Katzbalgerei mit ihren Gerechtigkeitsmotiven.

»Sie wollen offenbar darauf hinaus, daß das Fazit unserer Entdeckungsreise überhaupt unter diesen Gesichtspunkt gebracht werden kann?«

– Ich werde mich damit nicht begnügen. Gewiß, es verlohnte sich, die verlebendigte Abkürzung unserer eigenen Schicksalsläufe hier wie in kinematographischer Beschleunigung durchzumachen. Aber darüber hinaus ergeben sich noch andere Orientierungen, wie man sie eben nur in diesen Gebieten gewinnen kann. Denn wir alle leben in und von Prinzipien, und deren Beschaffenheit wird uns am klarsten im Verkehr mit Menschen, die ihre eigenen Prinzipe offensichtlich und eigensinnig übertreiben. Oder zu übertreiben scheinen.

»Warum sagen Sie ›scheinen‹?«

– Weil ein Prinzip, wenn es wirklich vorhanden wäre, gar nicht übertrieben werden könnte. Es müßte sein wie ein physikalischer Satz. – Ein Planet verfolgt in seiner Bahn die Linie eines Kegelschnitts, das ist sein Prinzip. Der Planet ist davon völlig durchdrungen und kann darin nicht zu viel oder zu wenig tun. Wenn aber der Mensch seinem Handeln ein Prinzip vorsetzt, so verfolgt er gar keine angebbare Linie. Von Punkt zu Punkt wird er durch Zufälligkeiten des Urteils abgedrängt, von Sekunde zu Sekunde ändert sich das Wesen seines Vorsatzes, das heißt, sein sogenanntes Prinzip ist in sich prinziplos. Was ihm als ein stählerner Strang erscheint, wird im Gang der Geschehnisse ein Zwirnsfaden, der fortwährend abreißt und fortwährend neu angeknüpft werden muß. Wer sehr eifrig knüpft, den nennen wir konsequent, prinzipientreu, das ist alles. Aber in Wirklichkeit hat er doch nur einen wirr verknoteten Zwirnsknäuel in der Hand, und er unterliegt einer fixen Idee, wenn er sich einredet, aus solchem Knäuel eine Richtung ablesen zu können.

»Da hätten wir also nicht bloß Inseln der Prinzipe entdeckt, sondern noch obendrein ein Grundprinzip: das der allgemeinen Täuschung.«

– Damit kommen wir der Hauptsache schon näher. Und das Erstaunlichste ist, daß dieses einzig sonnenklare Menschenprinzip noch immer nicht zum Hauptsatz aller Philosophie erhoben worden ist. Ich kenne kein größeres Weltwunder. Selbst diejenigen Denker, die sich bis zu ansehnlichem Grade vom Landläufigen befreit haben, selbst solche, die imstande wären, die Peripherie zu durchstoßen, verfallen doch auf jeder Seite der Täuschung, als könnten sie ermitteln, feststellen, beweisen, sie reden von höheren und niederen Lebewesen, von Fortschritt, Rückschritt, Stillstand, Kultur . . .

»Das tun Sie doch auch!«

– Leider bin ich dazu gezwungen, durch den Dämon der Sprache, der mich in den fehlerhaften Zirkel einspannt und darin festhält. Aber ich spüre doch wenigstens den Zwang und rede mir nicht ein, daß das sprachlich Unvermeidliche sich mit den Dingen an sich deckt. Und mehr als das. Ich traue es mir zu, in jenem Zirkel hier und da eine Luke zu öffnen; zu eng, um hindurchzukönnen, aber weit genug, um hinauszuschauen. Und ich glaube, daß Sie jetzt imstande sein werden, mit mir hindurchzublicken; nachdem die Erfahrung auf diesen Inseln Ihre Aufmerksamkeit für das Absonderliche geschärft hat.

»Sie werden doch nicht am Ende hier ein Lehrgebäude errichten wollen?«

– Bewahre. Alles Systematische ist mir zuwider. Es handelt sich, wie gesagt, nur um einzelne Blicke, die Sie zur Ergänzung Ihres Weltbildes benutzen mögen. Also versuchen wir einmal eine Luke aufzusperren. Fragen wir uns, ob es möglich ist, ein Menschenprinzip und ein Naturprinzip in Vergleich zu setzen. Denken Sie zum Beispiel an das Prinzip der mechanisierten Inseln, welches auf bestimmte praktische Zwecke losging, auf Kraftausnützung, Zeitersparnis und derlei schöne Dinge. Was meinen Sie nun: Läßt sich das, was in dem trefflichen Ingenieur Forsankar vorgeht, mit einem Naturprinzip vergleichen?

»Wohl kaum. Der Techniker muß sich doch besinnen, greift oft fehl. Während ein Naturprinzip unerschütterliche Geltung hat.«

– Und dennoch ist eins wie das andere. Ich behaupte nämlich – jetzt passen Sie auf: in uns allen arbeitet das Bewußtsein Forsankars, und wir haben gar kein anderes Mittel, um die strengsten und allgemeinsten Naturgesetze zu begreifen, als eben dieses Bewußtsein. Nehmen Sie zum Beispiel das berühmte »Prinzip des geringsten Kraftaufwandes«.In der Physik gewöhnlich bezeichnet als das »Prinzip der kleinsten Wirkung«. Der Ausdruck ist miserabel und irreführend, er beruht auf einer fehlerhaften Uebersetzung von Maupertuis' Benennung »principe de la moindre quantité d'action«. Denn action ist nicht die Wirkung, nicht das Erwirkte, sondern der Aufwand, der das Erwirkte erzielt. Newton sagt klar: »Maximus effectus minimo sumptu«. Dieses Prinzip begreift den Satz von der Erhaltung der Kraft (Energie) in sich, reicht aber noch weiter als dieser und kann tatsächlich als das Fundament alles Naturerkennens angesehen werden.

Es ist die Grundlage unserer gesamten Naturkunde und damit aller Menschenweisheit überhaupt. Hier wird die Natur als große, verständige Arbeiterin vorgestellt, die durchweg so verfährt, wie ein Ingenieur von unendlicher Genialität. Wir können dies Prinzip gar nicht aussprechen, gar nicht denken, ohne die Natur in stärkstem Grade zu personifizieren, als ein geschäftiges Wesen, das technisch so wirkt, wie wir gern wirken möchten. Somit steckt in den Naturgesetzen, wie wir sie verstehen, der menschliche Willensdrang, und ihre ganze Kette wird zusammengehalten durch Ringe unserer eigenen Wünsche und Triebe. Aber jede Kette ist genau so stark wie das schwächste ihrer Glieder. Zerreißt nur ein einziger Willensring, Wunschring, Triebring, so fällt die ganze Kette der Naturkunde auseinander, sie wird unhaltbar, wertlos, und wir müssen bekennen, daß wir von allen Welterscheinungen auch nicht das geringste begreifen.

»Das sind ja schöne Aussichten! Wie war es denn auf den technischen Inseln? Dort hat uns doch der Meister Algabbi die Unhaltbarkeit und Torheit der technischen Wünsche bewiesen? Da wäre also doch schon ein Ring zerplatzt?« . . .

– Und wenn er richtig bewiesen hat, so wäre zu folgern, daß die Großmeisterin Natur uns nicht nur beständig foppt, sondern daß sie selbst nicht weise, sondern höchst törichte Prinzipien befolgt.

»Undenkbar! Mit einem so entsetzlichen Zeugnis dürfen wir weder die Natur noch uns aus dieser Expedition entlassen. Wir müssen versuchen, einen Ausweg zu finden. Wie wäre es denn, wenn jener Ring nicht platzte? Wenn ein Menschenprinzip so unzerbrechlich sein könnte wie ein Naturprinzip?«

– Dann würde noch Schlimmeres herauskommen. Denn Ihre Annahme würde bedeuten, daß wir alle mit unzerbrechlichem Zwange der Mechanisierung verfallen müßten. Sollte der technische Trieb wirklich so stark sein, wie jenes oberste Naturgesetz vom ersparten Kraftaufwand, so führt Ihr Ausweg sofort auf den Punkt, wo jede Hoffnung erdrosselt wird. Die Physik hat hierfür einen besonders lieblichen Ausdruck: »den Entropietod«, der das Ziel aller Weltmechanik darstellt. Dieser Tod umfaßt alle Bewegungen, alle Erscheinungen, körperliche wie geistige. Die Bewohner der Insel Allalina sind ihm schon beträchtlich näher als Sie und ich. Aber wenn Ihre Voraussetzung zutrifft, so werden wir sie bestimmt einholen und wir können uns mit ihnen auf ein Stelldichein im Nullpunkt des Daseins verabreden.

»Aber wie verträgt sich das mit Ihrer Aussage, daß wir uns die Natur als unendlich genial vorstellen?«

– Beides ist wahr, beides richtig nach Menschenlogik, die uns unausgesetzt den Widersprüchen ausliefert. Befragen wir doch die Geschichte der Wissenschaft. Die ersten Entdecker und Verkünder jener Sätze waren von der Genialität der Natur geradezu erschüttert und warfen sich wie berauscht in den Schoß der Gläubigkeit; mit flammenden Worten erklärten sie solches Prinzip für die herrlichste Offenbarung der Weisheit Gottes. Sie beteten zu einem Schöpfer, der ihnen als ein göttlicher Ingenieur erschien. Wie steht es nun mit seinem Weltwerk physikalisch genommen? Es beginnt mit einem Nullpunkt und muß beim Entropietod, also wiederum bei einem Nullpunkt enden. Großer Newton! Dein berühmter »Maximal-Effekt« ist das blanke Nichts! Und um den Weg von Null zu Null mit dem »geringsten Kraftaufwand« zu bewältigen, mußte der ganze Mechanismus des Universums mit der ganzen Arbeit von Jahrmillionen in Kraft treten?? Aber das ist ja der größte unter allen denkbaren Kraftaufwänden! Mithin führt das Prinzip sich selbst ad absurdum, die physikalische Logik erstickt an ihrem eigenen Widerspruch. War's denn überhaupt physikalische Logik? War's nicht vielmehr ein Gewebe von Theologie, Theosophie und Dämonologie? Gleichviel. Wenn hier eine Offenbarung auftritt, so offenbart sich nur eins: der ungeheure, unentrinnbare Fehlerzirkel! Denn das Naturprinzip zeigt sich von der einen Seite gesehen als unzerbrechlich, von der andern Seite als unmöglich.

»Sagen Sie doch, Herr, wozu dienen diese unheimlichen Betrachtungen?«

– Sie dienen zur Zerstörung alter Schulweisheit, und das scheint mir beträchtlich genug. Wenn wir von unserer Entdeckungsreise Destruktivstoffe des Denkens heimbringen, so schaffen wir neue Möglichkeiten des Wissens, indem wir altes Denkgestrüpp entwurzeln und verbrennen. Wir schlagen Lichtungen, und wir hätten sie nicht schlagen können, ohne mit diesen Inseln Bekanntschaft zu machen. Die Lebensprinzipe, die uns entgegentraten, zwingen uns, dem Wesen aller Prinzipe nachzuspüren, und aus dem Reiseabenteuer gestaltet sich das Gedankenabenteuer, ja ich möchte sagen: erst jetzt, da wir glauben, unsere Reise durch fröhliche Heimkehr abzuschließen, erst jetzt beginnt sie. Vor uns tauchen neue Inseln der Erkenntnis auf, apokalyptische Inseln, die man nur mit stillem Schauder betreten darf.

»Wenn es nach uns ginge, führen wir am liebsten daran vorbei.«

– Das ist sehr erklärlich. Denn wir lieben die Irrtümer, die an uns festgewachsen sind, wie die Haut am Leibe, und es tut weh, wenn unsichtbare Fangarme nach uns greifen, um sie abzureißen. Aber an diese Prozedur haben wir uns ja schon ein bißchen gewöhnt: durch die Seltsamkeiten, die wir bemerkten, und die uns allesamt der Ansicht näherbrachten: die Seltsamkeit steckt in uns, nicht in den Dingen selbst. Wir haben uns gewundert über Gestaltungen und Denkweisen, wie ein Kirgise sich wundert, der nach Rom gerät, oder ein Eskimo, der nach Kairo versetzt wird. Jetzt wird Herr Mac Lintock nach Chicago zurückkehren, mein Freund Flohr und ich nach Berlin, Fräulein Eva nach irgendeiner Universitätsstadt, und wir werden aufhören, uns zu wundern, in einer gewohnten Umwelt, auf die unser Maßstab so ziemlich paßt. Aber wir dürften auch dort nicht eine Sekunde aus dem Erstaunen herauskommen, nämlich über uns selbst und unseren Maßstab. Dieser ist das größte aller vorhandenen Welträtsel, und wenn wir eine Insel auf dem Monde entdeckt hätten, so wäre das nicht entfernt so wunderbar, als die Tatsache, daß wir unausgesetzt mit diesem Maßstabe operieren und daß die ganze Menschheit ihre Existenz danach eingerichtet hat.

»Ach, Sie übertreiben! Dieser Maßstab, das Meßwerkzeug unseres Denkens, paßt doch auf viele Dinge, und wenn auch Fehlschlüsse unterlaufen mögen, so dürfen wir doch behaupten: wir gelangen an manches erweislich Wahre, Richtige, Stimmende.«

– Nichts paßt, nichts stimmt, alles bleibt im Anthropomorphismus stecken, in unserer unheilbaren Grundnatur, die uns zwingt, alles zu vermenschen, und anderseits aus dem Anthropos, aus dem Menschen, Dinge in die Welt hineinzudenken, die an sich dort gar nicht vorhanden sind. Der Anthropomorphismus ist die Kette am Fuße alles Betrachtens und Denkens, das Höchste, was wir leisten können, besteht darin, daß wir uns diese Kette ein wenig verlängern, daß wir sie wenigstens klirren hören und uns unserer Gebundenheit bewußt werden.

»Das heißt, Sie wollen einen offenbaren Vorteil gegen einen offenbaren Nachteil eintauschen. Frommt's, den Schleier aufzuheben? Frommt's, die Kette klirren zu hören?«

– Auch diese Frage ist anthropomorphisch, denn unsere Wünsche sind bedeutungslos gegen die Notwendigkeiten, die sich in uns vollstrecken. Eine solche Notwendigkeit trieb uns auf unsere Entdeckungsfahrt, wo wir Menschen sahen, die gewissen vermeintlichen Idealen nachjagten. Eine zweite Notwendigkeit treibt uns zu dem Bekenntnis, daß diese Menschen anthropomorphisch verfahren, aber nicht um ein Haar anthropomorpher als wir selbst, wenn wir die Ideale Wahrheit, Gerechtigkeit, Moral, Fortschritt, Erkenntnis ausrufen. Die letzte Notwendigkeit zwingt uns zur Landung an den geheimnisvollen Inseln, auf denen die unfaßbaren, kaum noch in Worten ausdrückbaren Weisheiten wachsen. Der Boden ist mit Verzicht gedüngt. Und wenn wir trotzdem anzusagen versuchen, was wir dort vorfinden, so behelfen wir uns mit andeutenden Umschreibungen.

»Immerhin, wir finden doch Weisheiten.«

– Negative, die sich mit den längst erworbenen positiven zu Null addieren. Das ist der Kernpunkt. Schon auf der Algabbi-Insel haben wir gemerkt, daß der Kulturbegriff nicht standhält. Jetzt gehen wir weiter. Es ist gesagt worden: die alte Wissenschaft ist ein Trümmerhaufen, die neue Wissenschaft ein Prachtbau, von dem niemand weiß, worauf er steht. Wir fangen jetzt an, es zu wissen: er steht auf der anthropomorphen Illusion; in ihr löst sich alles auf, die Wahrheit, die Wirklichkeit, die Geometrie, ja, alle elementaren Denkmittel bis zu den Begriffen Raum, Zeit, Größe, Körper, Lage, Beziehung, Zustandsänderung, Prozeß, Ursächlichkeit, Naturgesetz, die allesamt nichts anderes sind als Wunsch-Ausdrücke. Ach, glaubet nur, liebe Gefährten, das, was ich hier wie im Fluge andeute, wird einmal der Inhalt aller wissenschaftlichen Philosophie werden! Und wenn sich der Bericht über unsere Reise in einem Bande niederlegen läßt, so werden Bibliotheken notwendig sein, um das zu bewältigen, was aus ihr erfließt. Genug vorläufig des Transzendenten. Schrauben wir unsere Betrachtungen auf das Einfachere zurück. Sagen Sie aufrichtig: Kommen Sie heute noch mit der Vorstellung der Sittlichkeit so glatt zurecht wie damals, als wir auszogen, um Inseln mit fremden Kulturen zu entdecken?

»Offen gestanden, die Selbstverständlichkeit hat gelitten. Aber es bleibt doch die Hoffnung, daß wir das Verwirrende und Fragwürdige überwinden, und zu einer Klärung der Moralität gelangen können. Sie natürlich mit Ihrer nihilistischen Denkweise . . .«

– O, ich kann mich auch umstellen und ganz real werden. Für mich objektiviert sich das Bild der Gerechtigkeit ganz einfach in einem Hahnenkampf, und nach den Vorgängen, die Sie auf den ethischen Inseln erlebt haben, werden Sie verstehen, wie ich das meine. Wenn der Hahn seinen Gegner anspringt, so hat er in seinem Bewußtsein offenkundig die Vorstellung: er kämpft für eine »gerechte Sache«. Für sich, für seine eigne Sache, durchaus egozentrisch, selbstgerecht, – die Gerechtigkeit selbst . . .

»Aber das ist doch nur eine Vermutung, und außer Ihnen wird noch niemand auf die Idee verfallen sein, in der Leidenschaft der Hähne etwas derartiges zu wittern.«

– Sie sind im Irrtum. Das ist schon vorgedacht worden, sogar klassisch vorgedacht. Themistokles ließ im Theater zu Athen Hahnenkämpfe aufführen als Symbol des gerechten Griechenkrieges gegen die Perser. Das Volk identifizierte sich mit einem der gefiederten Kämpen und fand in dessen Erbitterung das Sinnbild seiner eigenen Erregung für Ehre und Freiheit. Und so ähnlich starrten auch unsere Insulaner auf ihre beiden Streithähne, deren Sache subjektiv um so gerechter wurde, je stärker ihnen die Zornesadern schwollen. Nicht das erklärte Motiv war das Ursprüngliche, sondern der Kampfeswille und der Siegeswunsch. Dort waren wir die Fremden, wir standen außerhalb der Interessen, behielten Distanz, und wir verstanden sonach die ganze Tragikomödie. Aber sobald wir in unseren eigenen Interessen stehen, verläßt uns das Urteil, wir glauben an die Gerechtigkeitssubstanz unserer Kämpfe; und nur ein aus fremder Welt hereingeschneiter Beobachter vermöchte zu erkennen, daß wir subjektiv noch immer als Recht werten, was objektiv gesehen Hahnenkampf bleibt.

»Sie können doch gar nicht beurteilen, was im Bewußtsein eines Hahnes vorgeht!«

– Kommt Ihnen der Verdacht so nebenbei? Halten Sie daran fest. Denn damit lüften Sie wieder ein Zipfelchen des Isisschleiers, der all unser Wissen bedeckt. Also wirklich, wir wissen nichts von der Tierseele, aber wir besitzen zu Tausenden Bücher von Autoren, die so tun, als wüßten sie. Hier feiert der Anthropomorphismus wahre Orgien, indem er aus spärlichen Analogien Unerschließbares erschließen will und sich in diesem Wollen berauscht. Und wenn ich soeben von einem Gerechtigkeitsgefühl im Hahnenkampf sprach, so war auch das nur eine Analogie, die mir ein Gleichnis ermöglichen sollte. Der Verdacht gegen seine Gültigkeit ist nicht nur berechtigt, sondern er muß zum Verdacht gegen alle Seelenkunde überhaupt erweitert werden. Was wir Psychologie nennen, ist die Summe der Versuche, mit einem einzigen Schlüssel an unzähligen Schlössern herumzuschließen, zu denen er absolut nicht paßt. Stellen wir uns vor, ein Mensch könnte für die Dauer einer Stunde Vogel werden; er würde später zurückverwandelt und hätte die Erinnerung an seine Vogelexistenz bewahrt; was uns dieser Mensch zu erzählen hätte, wäre der Anfang einer wahren Psychologie. Bis zur Erfüllung dieser Unmöglichkeiten behelfen wir uns mit einem Schulsurrogat, das sich für Lehre ausgibt, aus dem aber nichts Anderes gelernt werden kann, als eine docta ignorantia.

»Schließlich bleibt uns doch der gesunde Menschenverstand, der uns Auskunft gibt, wo uns eine akademische Lehre im Stich läßt.«

– Der gesunde Menschenverstand ist als letzte Instanz der Einsicht ungefähr ebenso brauchbar, wie die Kanonen von O-Blaha als ultima ratio des Friedens. Denn es besteht ein Widerspruch zwischen ihm und der vollen Einsicht. Er sagt vielfach Richtiges an, allein diese Richtigkeiten sind in der Regel nicht viel wert. Denken Sie an die Insel der Perversionen mit ihren Denkgetrieben, in denen sich der gesunde Menschenverstand nicht mehr zurechtfand. Die Erinnerung hieran wird Ihnen das Verständnis für Kant's schönes Wort schärfen: Meißel und Schlägel können ganz wohl dazu dienen, ein Stück Zimmerholz zu bearbeiten, aber zum Kupferstechen muß man die Radiernadel brauchen! Damit will Kant sagen: der gemeine, gesunde Menschenverstand ist zu feinerer Denkarbeit unfähig. Ja Erasmus bezeichnet ihn geradezu als das Werkzeug der Narrheit. Wir hatten Gelegenheit, den höheren, den spekulativen Verstand zu üben, in den zahllosen Widersprüchen, die uns auf unserer Reise in den Weg traten. Und zwei Dinge sind uns besonders klar geworden: erstens: jener Verstand läuft mit einem ungültigen Zeugnis durch die Welt, denn er selbst, nur er, hat sich sein Gesundheitsattest geschrieben und gesiegelt; zweitens: wenn irgendwo eine Wissenschaft existiert, so kann sie nur die Kenntnis von dem sein, was gegen die Selbstverständlichkeiten des gesunden Menschenverstandes erkämpft werden mußte.

Und diese Wissenschaft lebt. So großmächtig sie dasteht, wird sie doch das Scherflein nicht verschmähen, das wir ihr in Form versprengter Kristalle zutragen. Wir fanden sie auf den Inseln und entdeckten dabei, daß sie in Struktur und Stellung der Facetten Besonderheiten aufweisen. Anders als sonst bei Kristallen bricht sich der Lichtstrahl auf ihnen: Er erzeugt ein Farbband, dessen Buntheit von der Fahrt erzählt, dessen dunkle Linien aber spektralanalytisch gedeutet werden können. Dann ergeben sie folgenden Sinn:

Manche Denkpfade erscheinen sehr abwegig, führen aber zu Aussichten, die sich in der Wanderung auf gebahnten Heerstraßen nicht erreichen lassen.

Es ist ein Vorurteil, zu glauben, die Wahrheit müsse mit der Richtigkeit zusammenfallen. Es gibt im Denken zahllose Unrichtigkeiten, die der Wahrheit viel näher liegen, als die exakten Ergebnisse.

Der Verstand kann hypertrophisch entarten und wird vor dieser Gefahr nur durch eine besondere Diät geschützt. Die grobe Nahrung der Tatsachen und starren Folgerungen verdickt ihn; er muß sie durch die Feinkost der Symbole, Bilder, Visionen, mystischer Ahnungen unterbrechen. Nicht nur der Maler, auch der Philosoph soll inwendig sein »voller Figur«. Er muß wahrsagen können in Formeln und weissagen in sibyllinischer, orphischer, eleusinischer Sprache.

Die Berufung auf eine vermeintliche Wirklichkeit darf niemals den Ausschlag geben, denn sie ist nur die Außenprojektion einer inneren Vorstellung und würde, wenn sie mehr wäre, aller Norm widerstreiten. Eine gedachte Wirklichkeit kann sich mit dem Gesetz vertragen, eine reale Wirklichkeit besitzt die Wahrscheinlichkeit Null, das heißt, sie ist unmöglich. Hiermit hängt innig zusammen: kein Prinzip ist durchführbar, jedes muß irgendwo abbrechen oder bei erzwungenem Fortlauf zur Karikatur umschlagen.

Dies vor allem ist der Sinn unserer Atalanta-Fahrt auf der Tuscarora-Tiefe zwischen Hawai und Aleuten. Sie hat uns zahlreiche lebendige Proben dafür geliefert, und dem Leser dieses Berichtes bleibt es überlassen, nach weiteren Proben in seiner eigenen Umwelt auszuspähen.

Dafür, daß er sie finden wird, liegt noch eine besondere Garantie vor: in einer Strophe des nämlichen Nostradamus, dessen Verheißung uns wie erinnerlich zur Entdeckung der Inseln leitete. War seine Ansage richtig, so wird man auch wohl seinem Nachspruch ein gewisses Vertrauen nicht vorenthalten. Ich habe mir diesen Quatrain aufgespart und bringe ihn hier, getreu übersetzt, als Fazit der Expedition:

»Durch diese Fahrt wird dir die Wahrheit hell,
Daß irgendein Prinzip uns stets gebannt hält;
Und du entdeckst – nur eins gilt prinzipiell:
Daß kein Prinzip lebend'ger Probe standhält.«

 


 


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