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Über die Bedeutsamkeit dieser Inseln waren bereits einige Mitteilungen zu uns gedrungen. Wir hatten Ursache, uns auf gewisse moralische Erlebnisse vorzubereiten, denn man hatte uns gesagt, daß wir in einen Bezirk ethischer Prinzipien geraten würden. Hier, so hieß es, sollte vorwiegend die Sittlichkeit regieren mit all ihren schönen Schwestern, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Edelmut, Charaktergüte. Wenigstens wurde den Bewohnern das Streben zugeschrieben, sich in den Mannigfaltigkeiten des Lebens, wo es nur irgend anginge, recht tugendhaft zu benehmen.
Wir hatten bereits angefangen, uns in einem Gasthof auf Allalina wohnlich einzurichten, sahen uns indes schon am ersten Tage genötigt, unsere Dispositionen zu ändern. Ein peinlicher Zwischenfall verleidete uns den Aufenthalt. Unserm Herrn Mac Lintock war nämlich seine kostbare Taschenuhr abhanden gekommen. Er hatte sie nur auf wenige Minuten unbeaufsichtigt im Zimmer liegen gelassen, und es schien erwiesen, daß niemand anders den Raum betreten haben konnte, als irgendein Individuum des Hauspersonals. Der Verdacht konzentrierte sich auf den Gasthofsdiener, und der Beraubte zögerte nicht, mit hellen Worten der Entrüstung den Wirt in Anspruch zu nehmen. Der sollte das entwendete Gut sofort herbeischaffen, den Frevler dingfest machen und der verdienten Bestrafung zuführen.
Allein der Wirt teilte durchaus nicht die zornige Erregung des Gastes. Vor allem sei es seine hausväterliche Pflicht, die schützende Hand über einen Menschen zu halten, der ihm bereits durch Jahre hindurch gegen bescheidenes Entgelt seine Arbeit widme. Sollte er unter dem verführenden Zwange einer Sekunde gehandelt haben, so wäre es verwerflich, diese eine Sekunde mit einem Makel auf Lebenszeit zu kompensieren. Niemand könne mit Sicherheit behaupten, daß der Mann just in diesem Moment Herr seiner freien Willensbestimmung gewesen sei. Zudem verordne das heilige Buch des Landes, der »Trismagest«, dem Schuldigen zu vergeben, durchweg Verzeihung zu üben und den Nebenmenschen nicht als Objekt der Rache zu behandeln. Er, der Wirt, müsse sich sonach höchlich verwundern, wenn er auf Anschauungen stoße, die der Gerechtigkeit so scharf widersprächen.
»Verschonen sie mich mit Ihren Redensarten!« ereiferte sich unser Gefährte; »ich will mit Ihnen nicht Moral disputieren, sondern meine Uhr wiederhaben! Sie hat zweitausend Dollar gekostet und ist außerdem ein Erbstück schon von meinem Großvater her, das ich als teures Familienandenken nicht missen möchte.«
– In diesem Falle, – entgegnete der Wirt ruhig – wäre erst zu prüfen, ob die Uhr überhaupt noch Ihnen gehört. Nach der Einrichtung des Jubel- oder Halljahres verjährt bei uns das Eigentum in einem Zeitraum von dreißig Jahren. Darin liegt ein Ausfluß göttlicher Gerechtigkeit, die dem starren Erbbesitz eine Grenze setzt zugunsten der Allgemeinheit . . .
»Das wäre ja noch schöner!« rief Donath dazwischen; »Sie verwandeln die Kostbarkeit des Herrn einfach in herrenloses Gut, und Ihre Gerechtigkeit will dem Räuber womöglich noch ein Recht auf Raub zuschanzen!«
– Tausend Beispiele der Weltgeschichte bestätigen dieses Recht. Hiervon abgesehen lehrt unser heiliges Buch . . .
In diesem Augenblick betrat der Hausdiener das Zimmer, um in die Verhandlung einzugreifen: Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Wirt. Eine Liebe ist der andern wert. Sie sind für mich eingetreten, das war Ihre Pflicht, und jetzt ist es meine, den ganzen Handel aus der Welt zu schaffen. Dieser Herr ist offenbar fabelhaft reich, und ich bin ein armer Schlucker. Wenn er als Fremder die Tugend nicht kennt, auf Überfluß zu verzichten, so soll er an meiner Bedürftigkeit lernen, daß man sogar das Notwendige hingeben muß, um dem Nebenmenschen einen Verdruß zu ersparen. Hier haben Sie Ihr Zeug wieder!
Damit schmiß er dem Amerikaner die Uhr vor die Füße und entfernte sich mit dem Ausdruck eines Menschen, dem die Pflicht höher steht als der augenblickliche Vorteil.
Wir wollten Weiterungen vermeiden und verließen das Gasthaus, um private Unterkunft zu suchen. Nach einer Stunde waren wir ganz gut untergebracht. Bei einem Bürger namens Branisso, der zufällig über einige freistehende Räume verfügte und sich ein Vergnügen daraus machte, uns zu beherbergen. Man rückte ein wenig zusammen, man schränkte sich ein, und es ging.
Von Beruf war Branisso nach der Landessprache ein »Watongoleh«; wörtlich läßt sich das nicht übersetzen; nach unseren Begriffen ist Watongoleh etwa ein Regierungsrat oder Dezernent in einem Landesamt. Hier handelte es sich um das ausschlaggebende Ressort des Ethischen Ministeriums, und Branisso hatte die Aufgabe, einen Teil der ethischen Angelegenheiten zu sichten und zu analysieren. Zahlreiche Hilfsarbeiter stehen ihm zur Seite. In allen Amtsstuben werden die dem Leben entnommenen Tatsachen bearbeitet, zergliedert, nach Gesichtspunkten der Tugend und des Lasters zerfasert und katalogisiert. Die kommentierten Auszüge aus bergehohen Moralakten werden dem Publikum bekannt gegeben und durch Vorträge erläutert. Die Zeitungen, Theater und Lichtbildnereien stehen im Dienste derselben Sache. Dadurch wird die ethische Kultur dauernd verbreitert, die Beziehungen von Mensch zu Mensch immer mehr verfeinert.
»Gerechtigkeit« ist das Schlagwort der Insel und besonders ihrer Regierung. Die Richter sind fast ausnahmslos unbestechlich und suchen das Recht nach bestem Wissen zu finden, nach dem Prinzip der goldenen Mitte zwischen Milde und Strenge. Der Grundquell der Justiz erfließt aus dem schon erwähnten heiligen Buche »Trismagest«, dem die Strafpraxis möglichst getreu folgt. Das ist freilich nicht so einfach; denn in dieser Heilsschrift stehen die Ermahnungen zur Milde und zum drakonischen Durchgreifen vielfach dicht nebeneinander. Man soll nicht bloß den Nebenmenschen im allgemeinen lieben, sondern auch seine Feinde, so steht es da geschrieben; und auf derselben Seite heißt es: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Jedermann soll nur für seine eigene Tat verantwortlich sein, so lautet ein Grundsatz, mit dem Beisatz, daß die Sünden der Väter heimgesucht werden an den Kindern und Enkeln. Hier steht, der Mensch soll gerecht richten, darunter: er soll überhaupt nicht richten; er soll nach einer geschlagenen Wange die andere hinhalten und dabei an den Spruch denken: Gießet aus die Schale des Zorns; er soll nicht falsch Eid-Zeugnis ablegen, aber richtiges auch nicht, da er überhaupt nicht schwören soll; er soll lieber Unrecht leiden, als Unrecht tun, und allzeit »einen guten Kampf kämpfen«; er soll seine Selbstsucht überwinden, also aufhören, sich zu lieben, und dabei den Andern lieben wie sich selbst, also bis zum Übermaß. Wie findet man zwischen diesen Komponenten, in denen Ja und Nein, Verzeihung und Anathema durcheinanderwirbeln, die mittlere Linie?
Die Regierung von Allalina, beraten vom Ethischen Ministerium, hat versucht eine brauchbare Resultante zu gewinnen. Auf der Insel bestehen verschiedene Gerichtskammern, von denen die einen so mild, die anderen so drakonisch wie irgend möglich aburteilen. Damit beide Heilsprinzipe gleichmäßig gewahrt werden. Soll nun über einen Angeklagten Recht gesprochen werden, so entscheidet das Los, ob er vor eine milde oder vor eine strenge Kammer gestellt wird. Das Los hängt vom Zufall ab, der Zufall ist unparteiisch und entspricht somit allen Anforderungen parteiloser Gerechtigkeit. Für alle Klagefälle – auch in Zivilsachen – sind zwölf Instanzen vorgesehen. Über die zwölfte hinaus steht dem Beklagten wie auch dem Kläger die Berufung an die Allgemeinheit offen; dann bildet das gesamte Volk ein Obertribunal, dessen Plebiszit die Angelegenheit wiederum an die erste Instanz zurückweisen darf. Sonach kann es sich zwar ereignen, daß ein Fall nie zu Ende gelangt, aber das ethische Gewissen findet seine Beruhigung darin, daß bei einem unendlichen Prozeß ein Fehlurteil ausgeschlossen erscheint.
Unser Herbergsvater, der Watongoleh, machte uns mit diesen Gerechtigkeiten bekannt und fügte hinzu, daß seine eigene Familie zurzeit schwer an einem Rechtsfall zu leiden habe. Trotz aller Vortrefflichkeit des Prinzipes habe sich hier ein Unglück zugetragen, aus dem er selbst mit seiner hochgradigen, amtlich gewährleisteten Ethik keinen Ausweg wüßte.
Branissos Tochter Gulpana, eine anmutige Frau in den zwanziger Jahren, erzählte uns den Hergang. Sie lebte mit ihrem Mann, dem Doktor Pordogg, in glücklichster Ehe. Vor drei Jahren wurde dieser wegen schwerer Delikte angeklagt und durch das Los vor eine strenge Strafkammer gestellt. Der Prozeß durchlief alle zwölf Instanzen und endigte beim Volkstribunal, das die erste Entscheidung – Verurteilung zu lebenslänglichem Gefängnis – bestätigte. Seit fünf Monaten schmachtet er im Kerker.
»Was hat er denn begangen?«
– Mein Gatte ist Chemiker und Physiologe. Als auf der Nachbarinsel eine Epidemie ausbrach, erfand er ein neues Serum, dessen Einspritzung nach seiner Überzeugung Wunder bewirkt. Er vollzog die Probe an sich selbst, indem er sich zuerst durch absichtliche Infektion mit Seuchenbazillen schwer krank machte. Als er dann durch seinen Impfstoff »Pordoggan« rasch gesundete, faßte er den Plan, die Bewohner von Allalina vorbeugend mit diesem Serum zu behandeln, um sie ein für allemal zu immunisieren.
Damit stieß er auf den Widerstand des Ministers Palinur, der eben dabei war, ein ganz allgemeines Gesetz gegen jede Impfung überhaupt auszuarbeiten und durchzusetzen. Bei dem großen Einfluß Palinurs war vorauszusehen, daß dieses Verbot demnächst in Kraft treten würde. Pordogg gab sich alle erdenkliche Mühe, durch Bitten und Sachgründe den Impfgegner umzustimmen. Der aber beharrte schroff auf seinem Vorsatz, dessen Verwirklichung den sanitären Plan meines Mannes vollkommen vereitelt hätte.
Bald darauf fand man Palinur im Ministerium als Leiche. Er saß vornübergefallen an seinem Arbeitstisch mit verkohltem Kopf und verbrannten Händen. Alle Aufklärungsversuche mißlangen . . .
»Erhob sich da etwa ein Verdacht gegen Ihren Gemahl?«
– Allerdings; denn man wußte ja, daß ihm der Minister im Wege war. Allein der Verdacht fiel zu Boden, denn ich konnte beeiden, daß Pordogg an dem fraglichen Tage unsere Wohnung nicht verlassen hatte. So blieb nichts übrig als die Annahme eines gänzlich rätselhaften Unglücksfalls. Aber das Impfverbot kam nun nicht heraus, und mein Gatte konnte sein Verfahren beginnen. Man wußte, wie wunderbar sein Serum bei ihm selbst angeschlagen hatte, und zweifelte nicht daran, daß es auch prophylaktisch seuchenfest machen würde. In den folgenden Tagen vollzog Pordogg die Einspritzungen an mehreren hundert Personen.
»Ist denn die Epidemie von der Nachbarinsel überhaupt herübergekommen?«
– Nein, keineswegs. Sie erlosch auch dort nach nicht allzu langer Zeit. Aber bei uns ereignete sich Entsetzliches. Nach zwei Wochen erkrankten sämtliche von Pordogg geimpften Menschen an grünen Geschwüren, die den ganzen Körper bedeckten und auffraßen. Nie zuvor war ein solches Krankheitsbild beobachtet worden. Und ohne Ausnahme gingen die Ärmsten unter fürchterlichen Schmerzen zugrunde, nachdem sie die Luft straßenweit mit ihrem Jammergeschrei erfüllt hatten.
»Ließ sich ermitteln, wie das zusammenhing?«
– Die Autoritäten haben lange untersucht und folgenden Entscheid gefällt: Das Serum an sich ist eine großartige Erfindung und kann dereinst vorzügliche Dienste tun. Nur fehlen genügende Erfahrungen über die Dosierung; wird die richtige Injektion auch nur um ein Milligramm überschritten, so verwandelt sie sich aus einer Wohltat in eine Todbringerin. Außerdem darf man sie nur bei akuter Erkrankung anwenden, nicht aber prophylaktisch bei Gesunden. Mithin liegen Unbedachtsamkeiten vor und Kunstfehler, welche die Anklage auf fahrlässige Tötung rechtfertigen.
»Und darauf steht in diesem Lande Lebenslänglich?«
– Doch nicht. Allein Pordogg erklärte mitten in der ersten Verhandlung, man solle ihm gleich noch eine Leiche mehr aufrechnen. Er habe den Minister Palinur mit Vorsatz und Überlegung ermordet.
»Unmöglich! Er war doch nicht aus seiner Behausung fortgekommen!«
– Das braucht ein solcher Chemiker auch nicht, wenn er jemand beseitigen will. Er hatte ihn brieflich getötet: durch ein dringliches Schreiben, dessen Umschlag bei der Öffnung explodierte, und zwar mit solcher Gewalt, daß der Empfänger im nämlichen Augenblick das Leben verlieren mußte.
»Das alles ist ja sehr tragisch, und wir haben Ursache, Sie und Ihr Haus tief zu beklagen. Allein, um gerecht zu sein muß man doch sagen: Unrecht ist Ihrem Manne nicht geschehen. Er hat doch gemordet und getötet, und auch die mildeste Strafkammer hätte ihn nicht freisprechen dürfen!«
Wir wollten uns eben darüber auseinandersetzen, als ein anderes Mitglied der Familie aus dem oberen Stockwerk mit dröhnendem Gestampf heruntergetapst kam. Das war Branissos Stiefbruder Firnaz, seines Zeichens Physikus außer Dienst, der erst kürzlich von einer Inkognitoreise durch die Welt zurückgekommen war und jetzt auf der Insel eine ähnliche Rolle spielte wie Demokrit unter den Thraziern. Nur daß er nicht eigentlich als lachender Philosoph auftrat, vielmehr als polternder. Zwischen seiner Ausdrucksweise und seinem Äußern bestand eine gewisse Kongruenz. Eine Aesopische Figur, schiefäugig, rotbrandig, blatterbenarbt und verwachsen; und doch nicht reizlos mit der Faunennase, die über der Robbenschnauze energisch in die Luft stieß.
– Also man hat Ihnen schon vorgejammert, sagte Firnaz, und da wären wir ja mitten im Kapitel von der Gerechtigkeit; wer spricht denn überhaupt auf dieser Insel von etwas anderem? Wir sind allesamt ethisch verlaust, und das Herumkratzen auf der Lausehaut ist unsere Hauptbeschäftigung.
»So sollten Sie sich nicht ausdrücken, Herr Firnaz, aus Anlaß eines so tief traurigen Falles, der ja auch Sie als Familienmitglied betrifft. Nur von den ethischen Motiven darf man sprechen, die uns angesichts dieser Tragödie bedrängen. Denn einerseits müssen wir uns vergegenwärtigen: hier hat Gerechtigkeit gewaltet, andererseits aber können wir Ihrem Verwandten Pordogg eine gewisse Sympathie nicht versagen.«
– Einerseits – Andererseits! Da haben wir schon die Formel, mit der wir Moralkrüppel uns das Phantom der Gerechtigkeit vorschwindeln. Also Pordogg mußte verurteilt werden. Warum? wegen Mordes. Wo steht das? im Strafkodex und im Trismagest. Da steht aber auch, daß nicht die Tat an sich beurteilt werden soll, sondern die Absicht. Hier war die Absicht eine edle: der Mann hatte sein ganzes Genie darangesetzt, um ein Heilmittel für die Menschheit zu bereiten. Nach seiner Überzeugung konnten Tausende gerettet werden, wenn nur ein einziger verschwand, der Palinur. Darum hat er ihn verschwinden lassen.
»Das durfte er eben nicht.«
– Durfte! so sagen wir, weil uns das Strafgesetz in den Knochen sitzt als ein Wurm, der uns jede höhere Regung aus dem Mark herausfrißt. Durfte Brutus den Cäsar ermorden, Tell den Landvogt, Charlotte Corday den Marat? Würden Sie den Tell verhaftet und eingesperrt haben? Schon biegt sich die Gerechtigkeit hin und her, und Sie wissen nicht wohin damit. Vereinfachen wir uns die Sache durch ein anderes Beispiel. Der Hochverrat ist strafbar; aber nur der Versuch, wenn er mißglückt. Glückt er, dann ist er straffrei, weil mit der alten Verfassung zugleich der alte Kodex in die Versenkung fällt. Dann existiert die Gerechtigkeit A nicht mehr, bloß noch die entgegengesetzte Gerechtigkeit B. Und zu hunderten von Malen hat die Menschheit das ganz in der Ordnung gefunden. Sie weiß es nicht, aber ihrem Unterbewußtsein ist es bekannt, daß die ganze Gerechtigkeit nur ein Konvolut von papiernen Paragraphen bedeutet, eine Papierwirtschaft, deren Scheine Zwangskurs besitzen, ohne daß eine Deckung dahinter steht.
»Immerhin, wir müssen uns doch an Normen halten.«
– Wir ersaufen in Normen. Und eine Norm widerspricht der anderen. Die Absicht soll das Entscheidende sein. Also erforschen wir die Absicht mit Virtuosität. Bei uns im Gefängnis von Allalina sitzt ein Mädchen wegen Abtreibung der Leibesfrucht. Sie hatte aber nie eine Leibesfrucht und ist noch heute Jungfer. Ganz egal. Sie redete sich Schwangerschaft ein, versuchte abzutreiben, die schlimme Absicht war erwiesen. Ins Gefängnis! In einer anderen Zelle hockt ein Mensch, der hatte mit einer Holzflinte auf eine Strohpuppe angelegt. Doppelter Sinnesirrtum: er glaubte einen geladenen Karabiner in der Hand zu haben und hielt die Puppe für einen lebendigen Menschen, für seinen Todfeind; den wollte er also erschießen. Man nennt das Versuch mit untauglichen Mitteln am untauglichen Objekt. Aber wir sind ethisch so verfeinert, daß wir uns schon gegen die verbrecherische Absicht empören, deshalb: ins Loch mit dem Kerl! Das ist die Norm. Zum Donnerwetter, so wendet sie doch an, wo es einen Sinn hat, die Absicht statt der Tat zu beurteilen. Was geschieht? Die Gegennorm schlägt uns mit einem Knüttel auf den Kopf. Im Fall Pordogg gilt die Absicht gar nichts. Er hat durch die Selbstinfektion sein eigenes Leben drangesetzt, das wird vergessen. Er wollte uns vom Übel erlösen – das gilt nicht mehr. Wir starren ethisch hypnotisiert auf die unglückselige Tat, und der glückselige Wille kann uns sonst was. Wieder ruft uns eine geheiligte Norm zu: Ne bis in idem – nie zweimal gegen dasselbe! Aber der Mann war ja schon bestraft, bevor er an die Schranken geschleppt wurde! Wenn ihm seine Geimpften in Masse wegstarben, so hat er in seiner Seele schon hundertfachen Tod erlitten. Gegennorm: wir bestrafen ihn noch einmal und diktieren ihm zu seinem Tod noch ein bißchen lebenslänglichen Kerker. Zu Hause hat er eine unschuldige Frau und zwei unschuldige Kinder. Ethische Norm: die Unschuld darf nicht gekränkt werden. Gegennorm: Frau und Kinder werden aufs schwerste mitbestraft, für ein Unglück, von dessen Anrichtung sie nicht die leiseste Ahnung besaßen. Und dann setzen sich unsere Staatsweisen zusammen und spintisieren über weitere Verfeinerungen der ethischen Kultur!
»Ja, das sind eben Gewissenskonflikte, die uns vielleicht um so mehr bestürmen, je weiter wir auf der Bahn der Menschlichkeit vorschreiten.«
– Woraus ich schließe, daß wir uns dieses Vorschreiten nur einreden, und daß Menschlichkeit mit allen Annexen nur Phantome sind. Ihr Hauptsymbol ist die Frau Justitia, vor der wir besonders, wir Insulaner, platt auf dem Bauch liegen. Eine großartige Figur! mit einer Augenbinde, wodurch sie ausdrückt, daß sie niemals ein Einsehen haben will, niemals Vernunft annimmt, denn Einsicht, Vernunft und Erkenntnis des Rechts sind dasselbe; mit einem Schwert, womit sie die verknoteten Fäden der Rechtsbeziehungen nicht löst, sondern entzweisäbelt; und mit einer Wage, auf der sie Imponderabilien wägen will wie Käse und Aufschnitt. Sie brauchte bloß noch wie Brennus das Schwert auf die Wage zu werfen, dann wäre das Sinnbild der Barbarei fertig. Auf dem Sockel müßte entsprechend stehen: Vae victis!
Und liebenswürdige Manieren hat die Dame Themis. Sie kommt uns mit Unparteilichkeit und Gleichheit aller vor dem Gesetz; etwa wie ein Palmbaum, der alle seine Früchte in gleicher Höhe aufgehängt hat; mit dem Effekt, daß die große Giraffe sie abfressen kann, während die kleine Antilope unten verhungert. Das sind ihre unparteilichen Rechtswohltaten. Als Strafgöttin schwingt sie ihr Schwert immer mit der gleichen Stärke in der gleichen Richtung. Daß ihr das eine Individuum nackt gegenübersteht, das andere gepanzert, das bemerkt sie nicht, denn sie ist ja blind. Ihr Streich geht an dem einen vorbei, der andere wird geritzt, der dritte mittendurch gespalten, – ganz egal, sie hat mit Gleichheit operiert – –
– Firnaz, hör auf! rief Branisso dazwischen. Diese Fremden sind hierher gekommen, um die Eigenheiten unseres Landes kennen zu lernen, aber nicht um die Heiligtümer der Menschheit verlästern zu hören. Und zu uns gewendet ergänzte er: Tatsächlich sind wir ein Justizvolk und wir streben danach, uns in diesem Betracht so zu vervollkommnen, daß wir dereinst als Muster für die ganze Erde hinausleuchten können. Unsere Abschließung von der Welt wird ja in absehbarer Zeit aufhören, und dann soll die Welt bei uns die wahre Blüte der Sittlichkeit studieren. Mit der Gerechtigkeit fangen wir an, und mit ihr hören wir auf, mit der höchsten Gerechtigkeit, die aus aller Gemeinschaft ein Volk von Brüdern machen soll. Unser Ideal ist der Pazifismus, das Wort im weitesten Sinne genommen; die Auslöschung der egoistischen Triebe durch das Prinzip des gerechten Denkens und Handelns. Die Gerechtigkeit ist gewissermaßen der Destillierkolben, aus dem wir die feinste Essenz gewinnen. Der mit dieser Essenz durchtränkte Mensch wird das wahre Völkerrecht in sich tragen, den ewigen Frieden jenseits aller Anfechtungen durch Gier und Neid.
»Dieses Programm verdient alle Hochachtung. Wenn wir Sie recht verstehen, so versuchen Sie aus allen Sittenlehren die gerechteste Substanz herauszuholen zum Zwecke eines allgemein anerkannten kategorischen Imperativs, der dann natürlich den Frieden von Mensch zu Mensch und von Volk zu Volk gewährleistet. Aber die Sittenlehren unter sich bieten doch Differenzpunkte!«
– Bis auf eine auffallende Übereinstimmung – polterte Firnaz; weil nämlich eine immer so blöde ist wie die andre. Hier auf den zwei Inseln schmarutzen sie alle Kurse durch, und keinem fällt es ein zu untersuchen, ob denn die Ethik überhaupt einen Sinn hat! ob nicht bei genauer Prüfung ihr Inhalt in Wortgewäsche sich auflöst. Das Meisterwerk Mensch wollen sie vollenden. Mit einer bevorstehenden Offenbarung durch innere Hochkultur des Seins besabbern sie ihr bißchen Intellekt. Aus der Physik wissen sie – oder sollten sie wissen – daß wir eine Verschrumpfung, Verbiegung, Deformation des gesamten materiellen Universums gar nicht bemerken könnten, weil all unsere Organe und Meßapparate im gleichen Grade mitdeformiert würden. Na dann zieht doch gefälligst die Folgerung auf moralisch verschrumpfte, verkrümmte Welten, deren Verbiegung wir als mitverbogene Kreaturen nicht wahrnehmen können. Die Wahrscheinlichkeit von Unendlich zu Eins spricht dafür, daß wir uns in einer solchen Welt befinden; daß wir sie als Moralkrüppel bevölkern; und daß es der blanke Blödsinn ist, in dieser Krummwelt von der Sitte und Gerechtigkeit etwas anderes zu erwarten als Krummheit und Mißgestalt. Menschentum! Menschlichkeit! so dröhnt es aus den zottigen Hochbrüsten der Männer, die sich für aufrecht halten, und es soll etwas Hohes, Erhabenes bedeuten, im Gegensatz zu Niedrigkeiten wie Eseltum, Ochsigkeit oder Bestialität. Du lieber Himmel, wo liegt der Koordinaten-Anfangspunkt, von dem aus gemessen wird, was hoch und was nieder? Es gibt keinen, und wir beschwindeln uns und die Welt, wenn wir so tun, als wüßten wir was von ihm. Die Frage: wer steht sittlich höher, der Mensch oder der Pavian ist genau so gescheit und genau so albern wie die Frage: was ist edler, verständiger, gerechter, sittlich vollkommener, der Kölner Dom oder der zweite Saturnring? Wir beziehen Dinge aufeinander, für die jeder Maßstab fehlt. Tatsache ist nur eins: Wir finden uns in diese Welt hineingesetzt und haben unser Pensum abzuwickeln. Das tun wir nach dem unverbrüchlichen Prinzip des Egoismus, der bald individual auftritt, bald gattungsmäßig, wie die Sekunde es verlangt. Dem einen sitzt Lug und Betrug im Blute, der lügt und betrügt, der andere hält mehr zur Wahrheit, weil er gemerkt hat, daß er damit durchschnittlich besser fährt. Im Kulturmenschen hat sich das Gefühl organisiert, daß der Vorteil der Menge auf den einzelnen abfärbt. Folglich erstrebt er aus tiefstem Egoismus den Vorteil aller, und er kommt sich dabei edel vor, weil er imstande ist, seine Privatselbstsucht so hübsch zu verkleiden, vor andern und sogar vor sich persönlich. Diese Selbstbeschwindlung ist dann seine Güte. Dafür hat er sich schockweise Ausdrücke erfunden, flatus vocis, oratorische Seifenblasen, an deren Buntheit er sich berauscht, die aber allesamt entzweiplatzen, sobald nur der Hauch des Intellekts sie berührt: Gerechtigkeit, Ehre, Pflicht, Friedenssehnsucht, Weg der Seele, Überwindung des Selbst, neuerdings indische Yoghi-Kultur: der siderische flammenreine Mensch soll entstehen; die Durchdringung des Wesens mit der sittlichen Harmonie des Alls; Ausbrennung der letzten Erdenreste im Bauchgeschlinge durch Innenkonzentration. Ihr bengalischen Phrasenmeister! konzentriert euch doch einmal wirklich nach ganz innen und seht zu, was ihr da findet: den kategorischen Imperativ des Egoisten in Reinkultur. Da sitzen die ewigen Wahrheiten und Erkenntnisse; der Krieg ist der Vater aller Dinge, homo homini lupus, Kampf aller gegen alle, denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht . . .
»Dies soll doch eben überwunden werden!«
– Von wem? vom Träger dieser Gemeinheit, der sich vortäuscht, er könne eine Gemeinheit durch eine andere neutralisieren. Denn andre Substanzen findet er ja nicht in sich. Es ist so, als faßte die Schwefelsäure den Entschluß, sich durch Innenkonzentration in Lawendelwasser zu verwandeln.
»Dein Gleichnis hinkt, Firnaz. Die Schwefelsäure kann nicht überlegen wie der Mensch, der sich selbst zu untersuchen und zu prüfen vermag.«
– Das heißt, der Geist nimmt den Geist unter die Lupe, die Seele seziert sich selbst. Das ist zwar unmöglich, aber nehmen wir an, es ginge. Da findet also die Seele bei der Selbstsektion eine üble Gewohnheit, die sie herausreißen und durch eine bessere ersetzen will. Wodurch und wie erkennt sie das Übel?
»Doch sehr einfach! sie nimmt es als Symptom einer seelischen Krankheit und will gesunden.«
– O diese selbstlose Seele! ihr ist das Leiden verhaßt, sie will ihre Schwären und Ekzeme abschütteln, sie sehnt sich nach den Freuden der Heilung. Und die Kur bewirkt sie durch eine neue Gewohnheit, ohne von der alten Gewohnheit loszukommen, nach welcher sie ihren Vorteil erstrebt.
»Was redest du immer von Gewohnheit, Firnaz. Wir veredeln doch das Ethische mit Verleugnung der Gewohnheiten.«
– Ja, das ist eures Amtes in eurem ethischen Ministerium. Schade, daß ihr nicht einen Sprachkritiker unter euch habt. Der würde euch sagen, daß beides ein und dasselbe ist. Ethos, mit langem E ausgesprochen, ist die Moral, Ethos mit kurzem E die Gewohnheit. Und es steht sprachlich fest, daß jenes von diesem herstammt. Dadurch wird bekundet, daß einzig die Gewohnheit den Kommentar zur Moral liefert. Gewohnheitsmäßig schwärmen wir für die kleinen Kinder als für Unschuldsengel. Weil das Kind wiederum in unerschütterlicher Gewohnheit von Sekunde zu Sekunde seinen unbedingten Egoismus klar zu erkennen gibt. Die Gewohnheit des egoistischen Versteckspiels und des altruistischen Getues ist ihm völlig fremd. Was ist also unsere Verzückung vor den vermeintlichen Unschuldslämmern? Nichts anderes als die bewundernde Anerkennung der ehrlichen Selbstverständlichkeit. Wir, die wir unseren Egoismus fälschen, überschminken und vermummen, empfinden eine himmlische Freude vor einem Wesen, das von dieser Heuchelei gar nichts weiß. Wir erblicken also eine Engelstugend im offen zur Schau getragenen Egoismus. Ferner: wir sind gewohnt zwischen normalen und verrückten Menschen zu unterscheiden. Welchen Gewohnheitsmaßstab legen wir an? Den des Interesses. Wenn einer gegen sich wütet, seinen Besitz zertrümmert, oder Stecknadeln schluckt, oder sich die Augen aussticht, oder sich ein Schlaflager von Brennesseln bereitet, so sagen wir: dieser Mann ist nicht imstande, seine Interessen wahrzunehmen, wir stecken ihn ins Gefängnis, das wir Irrenhaus nennen, und hoffen, daß er dort zu normalem Egoismus kuriert wird. Überall vollziehen wir die identische Gleichung: Selbstsucht gleich Gesundheit, und da mögt ihr noch hundert ethische Ämter einrichten und darin analysieren so viel ihr wollt, niemals werdet ihr auf einen anderen Grundbestand stoßen.
»Das ist nicht wahr, Firnaz; wir stoßen auch auf kategorische Imperative!«
– Deren Grundbestand lautet: handle immer nach derjenige Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. Das ist die Hauptformel Kants, die ihr unausgesetzt und in allen Tonarten nachbetet.
»Weil wir in ihr das Mittel erkannt haben, unsere Genossen zu idealen Menschen zu erziehen.«
– Aber auf die nämliche Formel kann sich ja jeder Schlemmer und Wüstling berufen! Wünscht denn der Wüstling nicht, daß sein wüstes Genießen allgemeines Gesetz würde? Hat der Säufer etwas dagegen einzuwenden, wenn die andern sich auch besaufen? Und solches professorales Moralgefasel behauptet Weltkurs! Ich stelle mir vor, Kant lebte und nähme teil an unserer Unterhaltung. Dann frage ich ihn: Verehrter Moralfex, ist es wahr, daß Ihr kategorischer Imperativ das unbedingte Verbot der Lüge enthält? – Jawohl, sagt Kant, das steht bei mir in klaren, unverrückbaren Worten: denn die Lüge, sagt Kant, schadet jederzeit einem andern, wenngleich nicht einem anderen Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.
»Und so verordnen wir die Lehre für alle Schulen und Kanzeln; denn die Reinheit der Rechtsquelle geht über alles.«
– Gut, dann frage ich weiter: Ihr Freund, Herr Kant, wird von einem Mörder verfolgt und flüchtet sich in Ihr Haus. Der Mörder mit gezückter Waffe will wissen, ob der Verfolgte sich bei Ihnen befindet. Was antwortet Ihr kategorischer Imperativ? Jawohl! sagt der, denn er darf nach Ihrer eigenen Erklärung die Wahrheit nicht verleugnen, »es mag ihm oder einem anderen daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen.« Also wird der Freund ans Messer geliefert, ein Verbrechen wird ermöglicht, und Sie selbst werden dadurch zum Verbrecher, weil Sie im Interesse der Menschheit dieses abscheuliche Wahrheitsbekenntnis nicht unterdrücken können!
»Ich glaube aber nicht, daß Kant dem Mörder so geantwortet hätte.«
– Ich eigentlich auch nicht. Er hätte vielmehr die Magna Charta seiner Imperative durchlöchert. Und bei Lichte besehen zeigt sie auch wirklich in aller Praxis Loch um Loch. Da habe ich gerade ein interessantes Beispiel in meiner eigenen Tätigkeit. Sie müssen nämlich wissen, ich bin Stadtphysikus außer Dienst, behandle aber noch einige Menschen in privatem Medizinalberuf. Im Nebenhaus liegt eine Patientin meiner Kundschaft, – kommen Sie, meine Herrschaften, sehen Sie sich die Frau an und geben Sie mir dort einen weisen Rat nach Kantischer Moral!
Wir folgten ihm und gerieten an folgende Sachlage.Der Fall wurde theoretisch konstruiert in »Grenzen der Philosophie« von W. Tobias, 1875.
Die Frau war gleichzeitig mit ihrem einzigen Kinde an den Pocken erkrankt. Firnaz hatte veranlaßt, daß die beiden Personen nicht in demselben Zimmer verblieben, und der Mutter versprochen, ihr stets wahrheitsgetreuen Bericht über das Kind zu geben. Es war ihm bekannt, daß das Leben dieses Kindes einen höheren Wert für die Mutter besaß, als irgend etwas auf der Welt und daß sie der trostlosesten Verzweiflung anheimfiele, wenn sie sich jemals des für sie höchsten Gutes beraubt wüßte. Die Krankheit nahm nun bei der Mutter einen so fatalen Verlauf, daß der Arzt jede Hoffnung aufgeben mußte; das Bewußtsein der Kranken aber, die jetzt ihrer Auflösung entgegenging, war noch erhalten.
Wir schritten zuerst in das kleine Nebenzimmer, wo Firnaz gerade noch die letzte Todeszuckung des Kindes konstatierte. Und nun begehrte er von uns zu erfahren, welchen Bericht er der Mutter in nächster Minute zu erstatten habe.
»Wahrheitsgetreu!« meinte Branisso, noch unerschütterlich auf Kant fußend.
»Unmöglich,« erklärte ich; »lieber schweigen Sie und geben gar keine Antwort. Aber das geht doch auch nicht! Jede Verschweigung oder jeder Vorbehalt wäre für den Scharfsinn der Zärtlichkeit gleichbedeutend mit der schonungslosen, krassen Wahrheit.«
»Also müssen Sie lügen, bewußt lügen!« flüsterte Eva.
– Branisso, besinne dich! Mit der Wahrheit töte ich die Mutter in der Sekunde; mit der Lüge verlängere ich ihr Leben noch um eine kurze Spanne, und in dieser Spanne beseligt sie eine matte Hoffnung!
Der Bruder wurde schwankend. Es rüttelte in ihm wie mit Zangen, um ihm den Glauben an die Kantische Unfehlbarkeit herauszureißen. Endlich gab er sich einen Ruck und sagte: »Geh hinein, Firnaz, und lüge!«
Zwei Stunden darauf verschied die Mutter. Firnaz' Unwahrheit hatte ihr den letzten Trostbalsam eingeträufelt. Als wir am Abend wieder beim Ethiker zusammensaßen, meinte der mißgestaltete Stiefbruder: Hoffentlich hat eure Pazifistenwirtschaft noch bessere Stützen als Kant mit seinem ewigen Frieden. Denn bei dem ruht alles auf derselben Imperativtafel, und die ist heute vor deinen Augen entzweigebrochen.
»Das war nur ein Ausnahmefall,« entgegnete der Watongoleh. »Hier mag sich die Rechtsquelle allerdings getrübt haben. Aber sie wird wieder rein sprudeln, wenn uns das ethische Hochgefühl drängt, uns mit vollen Zügen an ihr zu tränken. Wir bedürfen ihrer zu der großen Aufgabe, die wir gerade jetzt im Verfolg unserer Prinzipien in Angriff nehmen.«
* * *
Diese große Aufgabe bestand, wie schon erwähnt, auf den beiden Inseln in der Begründung eines Regulativs für den Frieden der Menschheit, welcher nur auf der Grundlage des Rechtes und der geläuterten Ethik denkbar ist. Nicht als ob die Bewohner das Drohen irgendwelcher Zwistigkeiten unter sich befürchtet hätten. Aber gerade weil sie in diesem Betracht gesichert waren, fühlten sie sich berufen, die Normen eines allgemein gültigen Pazifismus auszuarbeiten; mit aller Unparteilichkeit und Gerechtigkeit, deren nur ein von Natur friedliches und stets über sittliche Probleme grübelndes Volk fähig ist.
Während über das Prinzip im ganzen allseitige Übereinstimmung herrschte, gab es über den Verfolg im einzelnen verschieden abgetönte Meinungen. Zwei Richtungen wurden erkennbar: die idealistische und die utilitarische, und demzufolge zwei Formen der Strebung: die linkspazifistische und die rechtspazifistische. Auf Allalina überwogen die idealen Linkser, auf O-Blaha die etwas praktischer gerichteten Rechtser. Im Grunde wollte man natürlich auf beiden Seiten dasselbe: die in Grundsätzen, Richtschnüren und Paragraphen festgelegte oberste Sittenregel für die Menschheit.
Gerade in der Zeit unseres Besuches sollte zu diesem Zweck eine große Konferenz tagen, beschickt von den Hauptsprechern beider Inseln. Eigentlich war dieser Kongreß schon seit Jahren in der Schwebe, allein es hatten sich insofern Schwierigkeiten ergeben, als man sich über den Ort der Zusammenkunft nicht so schnell zu einigen vermochte. Die O-Blaha-Leute bestanden auf ihrer Insel, und die anderen betonten es als conditio sine qua non, daß die Tagung auf Allalina stattfinden müßte. Denn die ideale Ethik hätte früher existiert als die empirisch-utilitarische. Sie beriefen sich dabei auf Sokrates, Aristides, Confucius und gaben zu verstehen, daß sie nicht im Traume daran dächten, von ihren Grundsätzen abzuweichen. Aber die Rechtser führten ebenso gewichtige Gründe ins Treffen, und so war die Konferenz nahe daran, zwischen beiden Inseln ins Wasser zu fallen.
Schließlich verfiel man auf das bereits mehrfach bewährte Mittel, den Zufall anzurufen. Das Los entschied für Allalina.
Auch das Aufstellen einer Geschäftsordnung war nicht so einfach. Es erhoben sich Stimmen für unbedingte, andere für beschränkte Öffentlichkeit. Wer sollte Zutritt haben? Alle, oder nur bevorzugte Karteninhaber? Aber kein vorhandener Saal wäre dem Andrang aller gewachsen gewesen, und welcher Behörde hätte man die Kompetenz zur Auslese zuzuweisen? Die Schwierigkeit komplizierte sich durch die Frage, ob nur die delegierten Sprecher reden dürften, oder ob jedem Zuhörer das Recht zustände, in die Debatte einzugreifen und seine Meinung zu äußern. Sollte ferner der einzelne unbegrenzte Rededauer beanspruchen, oder an eine maximale Redefrist gebunden sein? Schließlich aber nahm der Plan in einem Spiel sehr verwickelter Kompromisse Gestaltung an. Man entschied sich für möglichst weite Zulassung der Hörer, der Redefreiheit und der Sprechfrist; und man baute eine Konferenz-Arena, deren Umfang zwischen Aula von Toledo und dem römischen Circus Maximus etwa die Mitte hielt. Es war ein rasch konstruierter, ungedeckter Holzbau, dessen Kosten auf beide Inseln gleichmäßig repartiert wurden.
Durch unsere Beziehungen zum Watongoleh, der als ethische Amtsperson zum provisorischen Büro des Hauses gehörte, erlangten wir Fremdlinge leicht Zutritt zu den Verhandlungen. Schon in der vorbereitenden Sitzung waren wir zugegen. Und da einer von uns, Donath Flohr, dreist und unlegitimiert einen Stimmzettel mitabgab, so wurde Branisso mit einer Stimme Mehrheit zum leitenden Präses gewählt. Er erteilte das Wort, und nunmehr begann die Debatte, in der vor allen die zwei deputierten Hauptsprecher hervortraten: für Allalina der Linkspazifist Purpu, für O-Blaha der Rechtspazifist Kostrubaal.
Purpu begann mit einer rhetorisch prachtvollen Ansprache, in der er die Bedeutung der Konferenz ins hellste Licht setzte. Sie würde eine Fülle von Entschlüssen und Motionen gebären, die man auf Pergament festhalten wolle: Wir werden sie, so denke und heische ich, in einer silbernen Kapsel aufbewahren für eine ferne Folgezeit, um sie dereinst zu öffnen, wenn die leidende Menschheit in der weiten Welt reif geworden sein wird zum Empfang unserer Heilswahrheiten.
Dem widersprach aber Kostrubaal ganz energisch: Unsere Tagung hat nicht den leisesten Sinn, wenn wir auf die Zukunftsbank schieben, was der lebendigen Gegenwart angehört. Wir auf O-Blaha empfinden schon lange, daß wir viel zu viel in der Theorie machen, uns mit ethischem Wortdunst besäuseln, anstatt uns auf die Pragmatik zu besinnen. Heraus aus der pontifikalen Salbaderei, hinein in die Wirklichkeit! Wenn wir jetzt das ethische Weltrezept ermitteln, – und wir werden es finden! – so wäre es geradezu ein Verbrechen, es zu verkapseln und einzupökeln. Wir wissen ja, wie es draußen in den großen Kontinenten zugeht, in Krieg, Kriegsmöglichkeit, Kriegsdrohung und in Zuständen eines Friedens, dem die Kriegspestilenz aus allen Poren dampft. Können die Völker der alten Kulturwelt nicht kraft eigenen Vermögens aus ihrer Hölle heraus, so sind wir berufen, wir ethisch Geschulten, ihnen die Erlösung zu bringen; und zwar dadurch, daß wir ihnen ohne jeden Aufschub das Programm mitteilen, das wir jetzt aufstellen werden. Jetzt ist die Stunde gekommen, da wir unsere polynesische Abgeschiedenheit im pazifischen Weltwinkel aufzugeben haben. Bei uns ankert ein Schiff, die »Atalanta«, die unsere Heilsbotschaft hinaustragen kann. Ich frage den hier anwesenden Kapitän, ob er bereit ist, sich dieser Mission zu unterziehen.
Unser Herr Ralph Kreyher erhob sich und machte eine nicht ganz diplomatische Verbeugung, die soviel bedeuten sollte: Selbstverständlich; wird uns eine Ehre sein.
Aber Purpu stand eisenfest auf der Geschäftsordnung: Der Herr Vorredner besitzt nicht den Schimmer eines Rechtes, hier Missionen auszuteilen. Ich betrachte es als einen unerhörten Übergriff, wenn er sich kaltlächelnd über die Tatsache hinwegsetzt, daß von mir ein formulierter Antrag vorliegt. Herr Präses, was steht im Protokoll?
Branisso war in Verlegenheit. Ich muß allerdings konstatieren, daß Purpu die Verschließung unserer pazifistischen Ergebnisse in eine silberne Kapsel beantragt hat, während der Gegenredner deren sofortige Bekanntgabe für die ganze Menschheit befürwortet . . .
Abstimmen! Abstimmen! wurde dazwischengerufen.
– Meine Damen und Herren, erklärte der Vorsitzende, es wäre verfehlt . . . er kam nicht weiter, denn ein Deputierter von O-Blaha protestierte mit durchdringendem Organ gegen die Anrede: Mit welchem Rechte setzt der Vorsitzende die Damen voran?! Sind wir ethische Inseln oder galante Inseln?!
– Also: meine Herren und Damen, – oder vielmehr, um die volle Parität zu wahren: Verehrte Genossen beider Geschlechter . . .
– Ich wollte sagen: es wäre verfehlt, durch Abstimmung festzustellen, was mit Ergebnissen geschehen soll, von denen noch nicht eine einzige Silbe vorhanden ist. Ich möchte deshalb, wenn kein Widerspruch erfolgt, diesen Aktus bis zum Schluß aller Debatten vertagen. Ich bitte demnach, zunächst vorzutragen, wie Sie sich überhaupt die Begründung unseres schönen Programms im einzelnen vorstellen. Herr Kostrubaal hat das Wort.
Der Aufgerufene begann: Wenn ich es recht überlege, so wollen wir hier alle die einfachste Sache von der Welt. Und eine einfache Sache muß sich auch in klaren, nicht mißzuverstehenden Worten ausdrücken lassen. Seit Kreaturen existieren, bekämpfen sie einander, und seit der homo sapiens auf Erden wandelt, ist der Kampf von Mensch gegen Mensch über alle Begriffe der Scheußlichkeit hinausgewachsen. Noch nie ward es in der Weltgeschichte erlebt, daß der Janustempel auch nur auf eine Stunde geschlossen werden konnte. Was sich in den Wassertropfen begibt, deren Kleinwesen einander verschlingen, was im großen Tierreich mit seinem Gewimmel von Raubbestien, Schlangen, Skorpionen und Würgern, ist alles zusammengenommen nur ein Kinderspiel, nur ein Idyll gegen das Vertilgungsbild, das uns der Mensch bietet. Denn ganz vereinzelt lebt unter diesen ein Numa, ein Solon, ein Epaminondas, ein Epiktet, und zu vielen Millionen wüten sie umher, die Teufel in Menschengestalt, die ihre Intelligenz nur darum immer höher schrauben, um ihre Grausamkeit zu verschärfen. Beinahe sind sie soweit, mit einem Druck auf den Knopf ganze Städte zu pulverisieren und mit einem Sprengguß ihrer Luftflotten blühende Provinzen in stinkende Leichenfelder zu verwandeln. Und aus diesem Grunde sind wir verpflichtet, hier als erstes Prinzip eine Forderung niederzulegen: Der auf Allalina tagende Kongreß verlangt kategorisch: das gesamte Menschengeschlecht muß eine einzige Familie guter, glücklicher und friedfertiger Geschöpfe werden.
Der Redner machte eine Kunstpause, die von beifälligen Zurufen ausgefüllt wurde. Es war ersichtlich, daß dieses Prinzip alle Aussicht hatte, mit überwältigender Mehrheit angenommen zu werden. Und damit war das Hauptproblem eigentlich schon überm Berg. Ermutigt fuhr der Sprecher fort:
– Gewiß, liebe Genossen, wenn diese soeben aufgestellte Formel schon vor dem trojanischen und peloponnesischen Kriege gefunden worden wäre, so hätte sich die Menschheit viel Trübsal erspart. Immerhin wollen wir es mit Freude begrüßen, daß sie nun endlich gesichert dasteht, prädestiniert, eine niemals endende Glückseligkeitsära einzuleiten. Sie ist kein Ausfluß eleusinischer Mystagogie, kein Destillat aus verzwickten philosophischen Systemen, sie bietet keine juristische Verschnörkelung, sondern – und darin liegt ihr oberster Vorzug – sie gibt sich mit offensichtlicher Einfachheit und wird eben darum, kraft ihrer einleuchtenden Simplizität eine ungeheure Gewalt ausüben. Ja ich gebe mich bestimmt keiner Illusion hin, wenn ich behaupte, daß sie allein imstande sein wird, neun Zehntel aller jemals möglichen Kriege zu verhüten . . .
»Das ist zu wenig!« unterbrach Purpu mit Leidenschaft, »wenn wir nicht mit zehn Zehntel fertig werden, dann können wir überhaupt einpacken!«
Kostrubaal lächelte ironisch: – der Herr von Allalina verbeißt sich schon wieder in die Theorie einer weiten Zukunft, und wahrscheinlich hat er dafür ein phantastisches Rezept in Bereitschaft, während ich das Prinzip so forme, daß es schon heute von aller Welt mit Begeisterung akzeptiert werden kann. Ich habe daher das Prinzip als Generalformel ausgesprochen und gehe nunmehr dazu über, sie im Speziellen zu festigen. Sonach lautet meine zweite Resolution: Der hier versammelte Kongreß fordert von der Menschheit kategorisch die rücksichtslose Unterdrückung aller Angriffskriege!
»Na, da haben wir's ja!« schäumte Purpu auf, indem er zur Tribüne stürzte und sich unbekümmert um die Rednerliste zu einem Rededuell anschickte. »Er verklausuliert sich schon im ersten Anlauf, der Praktiker! Begreift er denn nicht, daß er mit seiner zweiten Resolution ein Hinterpförtchen aufsperrt, durch das der vorn herausgeschmissene Krieg wieder lustig hereinspazieren wird? Klipp und klar will ich Antwort: Hält er den Verteidigungskrieg für zulässig?«
– Sie fragen wie ein Unzurechnungsfähiger. Selbstverständlich wird man in Abwehr ungerechten Angriffs an seine eigene Stärke appellieren müssen. Soll man etwa mit verschränkten Armen dasitzen und sich ruhig abschlachten lassen, wenn es dem bösen Nachbar so gefällt?
»Einen hübschen Pazifismus vertritt der Mensch da! Noch nicht einmal die Grundidee hat er begriffen. Zuerst wettert er gegen den Krieg, und bei der ersten Querfrage klappt er um. Begreift er denn nicht, daß der Raub ganzer Länder weniger schwer wiegt, als der Tod eines einzigen Menschen, der leben will und leben könnte? Daß der Angreifer niemals den Tod des Angegriffenen will, sondern nur seine Güter, Territorien, Bodenschätze, Bergwerke, Fabriken, Eisenbahnen? Erst durch die Verteidigung kommt der Mord herauf, den wir überzeugten Linkspazifisten unter allen Umständen ächten und verwerfen. Es gibt keinen Fall gerechten Defensivkrieges, vielmehr ist er stets ungerecht wie jede blutige Handlung.
– Also lieber Versklavung als blutige Abwehr? Gipfel des Blödsinns!
»Gipfel der ethischen Weisheit! Der Sklave bleibt am Leben, und nichts Kostbareres können wir ihm erhalten als eben dieses. Wir bekämpfen also jeden Krieg, restlos, radikal, und ich verlange eine Resolution, die diese Forderung ohne Winkelzüge zum Ausdruck bringt.«
Im Publikum wogte Stimmung. Die Konsequenz Purpu's imponierte dem ethischen Bewußtsein der Allalina-Leute, die sich als Partei zu fühlen anfingen. Um so vehementer regte sich der Widerstand der Gegenpartei. Durch die Konferenz ging es wie ein Wechselstrom, der zur Entladung drängte. Funken sprangen über, als Vorboten einer Explosion, die gewiß bei einer Abstimmung eingetreten wäre. Denn dann gab es Sieger und Geschlagene, ein Ideal wäre durch Mehrheit erdrosselt worden, und das hätten die Träger dieser Idee bestimmt sich nicht gefallen lassen.
In dieser Situation entschloß sich der Präsident, die Spannung lieber noch hinzuhalten, anstatt die Entscheidung zu provozieren. Er ersuchte die beiden Kämpen um eine Pause in ihrem rethorischen Waffengange: Lassen wir doch auch andere Stimmen zu Gehör kommen, damit sich die Angelegenheit genügend kläre. Im Grunde wollen und meinen wir ja alle dasselbe.
– Mit kleinen Unterschieden, bemerkte Firnaz vom Platze aus. Ich zum Beispiel meine, daß hier nicht ein ideales Motiv den Endsieg erstreiten wird, sondern der Biceps. Und wir kämen wahrscheinlich eher zum Resultat, wenn die beiden Sprecher von vorherein die Sache glatt und ehrlich durch Boxen erledigten.
Ein Echo von Pfui's erhob sich.
– Warum Pfui, lieben Brüder? Noch nie hat der Verfolg einer Völker bestimmenden Idee zu etwas anderem geführt, als zu einer Boxerei: Gottglaube, Götterglaube, ewige Seligkeit, Sakrament, Rassengefühl, irdische Wohlfahrt, sublime Menschenziele, – ganz egal, immer ging's aufs knock out los, und aus jedem Match wuchsen schon wieder zehn frische Idealmotive zu neuem Geboxe. Das Register dieser Püffe nennen wir die Weltgeschichte. Denn die Waffe in jeder Form ist doch nichts anderes als die verlängerte Faust. Wohl den Gegnern, wenn sich einmal das Feld der Hiebe verengte, wie einst zwischen Rom und Alba Longa: ein paar Horatier gegen ein paar Curiatier, das vereinfacht die Sache und erspart viel Gemetzel. Also los aufeinander, Horatius Purpu und Curiatius Kostrubaal! Wie, ihr zögert noch, obschon es euch bereits in allen Gelenken kribbelt? Weil's nicht recht pazifistisch ist?
Der Präsident rief Firnaz zur Ordnung: Du darfst hier weder zur rohen Gewalt auffordern, noch den beiden Delegierten ein brutales Gewaltgelüste unterschieben. Vergiß nicht, daß wir alle uns hier im Zeichen der großen Ethiker befinden!
– Und diese, – so meinst du, Bruder – haben sich nie auf die Faust verlassen? Geh' in die Klippschule, Branisso, und lerne was! Da habt Ihr den Friedensidealisten Sokrates, der persönlich ein vorzüglicher Krieger war, der im Peloponnesischen Krieg kämpfte, und nach dem Treffen bei Potidäa den Tapferkeitspreis bekommen sollte. Der paßt also nicht zu unseren Resolutionen. Da habt ihr den großen Aristides, den Gerechten. Sein Idealismus hat ihn nicht verhindert, bei Marathon, Salamis und Platäa kriegerische Lorbeern zu ernten. Und nun gar der Apostel Solon! der war ein prachtvoller Haudegen, Held im Heiligen Kriege, und geradezu Kriegsherold; er hat den Krieg gegen Megara direkt entfesselt, obschon die Regierung bei Todesstrafe die Aufforderung zum Krieg gegen Megara verboten hatte! Der paßt also auch nicht ins Schema. Wer sonst? Holt euch ein Modell aus den Urwäldern!
– Zur Sache! schallte es ihm entgegen; schweifen Sie nicht ab, bleiben Sie beim Thema Angriff und Abwehr.
– Bin schon dabei, geliebte Friedensbolde. Also ich gehe im Walde, bemerke einen Jaguar, der sich grade zum Sprunge duckt und schieße. Da bin ich in der Notwehr. Hätte ich aber geschossen, bevor er sich zum Sprunge duckte, dann war ich der Angreifer. Denn das gute Tierchen hatte mir ja gar nicht gedroht. Daß ich seine bloße Existenz in meiner Nähe als eine Drohung auffaßte, daß ich dem Angriff zuvorkommen mußte, um mich zu retten, das zählt nicht mit. Die einzige Frage bleibt: wer hat in dieser Sekunde angefangen, wer hat den Naturfrieden gebrochen. Ich! Die Bestie will ja überhaupt nicht meinen Tod, ihr ist es ganz gleichgültig, ob ich lebe oder sterbe, bloß satt werden will sie an meinem Blute; während ich, wenn ich schieße, ganz ausdrücklich ihren Tod herbeiwünsche. Immer kommt es nur auf die Anfangssekunde an, und besonders die Politik leistet ihre schönste Trottelei darin, daß sie den einen Moment aus den Begebenheiten heraussticht, um danach die Schuldfrage zu formen: Angreifer oder Abwehrer. Wie die Sache vorher aussah, wie sie nachher ausgesehen hätte, was kümmert das den Trottel, der nicht begreift, daß beide Elemente zusammengehören wie das Konkav und Konvex einer Kurve. Du hast zuerst geschossen, du hast angegriffen, in diesem kurzdärmigen Schluß erschöpft sich die Weisheit dieser Gerechtigkeitspinsel. Modell: der Trojanische Krieg. Wer hat ihn angefangen? Die Achäer natürlich, die Ilion überfielen und umzingelten. Aber zuvor war der Trojaner Paris in den griechischen Ehefrieden eingebrochen, der war also der Angreifer. Wieder falsch. Der Trojaner hatte nur ein göttliches Recht verteidigt, das ihm auf dem Berge Ida zugesprochen war. Und schließlich waren sie alle zusammen nur Werkzeuge eines olympischen Ratschlusses, welcher der Welt einen wohltätigen Aderlaß verordnete. Nun kommt der moderne Pazifist, runzelt die Denkerfalten über der Nase, tüftelt und findet die Erlösung vom Übel: Schiedsgericht, Völkerbund . . .
Zuruf: »Sehr richtig!«
– Zweifellos. Wenn die erst einige Jahrzehnte gewaltet haben, wird man keine Arsenale mehr bauen, bloß noch Museen. Schön. Also stellen wir uns vor, zu jener Zeit wäre ein völkerbündliches Schiedsgericht angerufen worden. Resultat: der Friede muß unter allen Umständen erhalten werden, der Trojanische Krieg darf nicht stattfinden. Welch ein Segen für die Menschheit! Keine Ilias, keine Odysee, keine Homerischen Klänge, kein Achill, Diomedes, Hektor, Odysseus; und genau so wären auch alle andern Kriege verboten worden. Nur möchte ich wissen, was für Museen die Menschheit danach gebaut hätte. Keine Tempel des Heldentums, sondern Leichenkammern der Langeweile. Und gesteinigt wäre der worden, der sich zu dem Glauben bekannt hätte, der eigentliche Führer der Museen sei Mars, nicht Apollo!
Vielfaches Murren. Auch wir Fremdlinge waren mit diesen Ausführungen nicht einverstanden, und besonders Fräulein Eva gab lebhaften Unwillen zu erkennen. Firnaz sprach weiter.
– Sollte ich soeben den Apollo beleidigt haben, so bitte ich ihn um Entschuldigung. Übrigens war er ja auch ein Kriegsgott, der Fernhintreffer, der mit seinen silbernen Pfeilen die Kinder der Niobe erschoß, und dessen Name, Apollo, wörtlich übersetzt, Verderber bedeutet. Und was die Apollinischen Gesänge betrifft, so behandeln sie kaum etwas anderes als Kampf, Sieg und Heroentum. Jetzt rühren sich die pazifistischen Bilderstürmer nicht etwa zum ersten Male. Unsere Thesen von heute sind Wiederholungen uralter Beschlüsse. Als Theodosius der Große zu Rom regierete, wurde durch eine imperatorische Motion im Senat das ganze göttliche Heldengesindel abgesetzt; Ziel der brausenden Stürmer war es, die Tempel und Bildsäulen der Heroenzeit zu vernichten, die ganze Apotheose der antiken Tapferkeit, der virtus, der andreia, auszuräuchern. Tausend Jahre später grub die Renaissance all das Verschüttete aus Staub und Moder wieder heraus, und die alten Wahrzeichen feierten frohe Auferstehung. Der Turnus geht weiter, und wir erleben es aufs Neue, daß der Olymp verfehmt wird. Man stürmt Bilder, revidiert die Geschichtsbücher und reißt die Seiten heraus, die den Kriegshelden feiern.
»Nieder mit den Eroberern!«
– Ach, lieben Brüder, ihr wißt gar nicht, wie sehr sie euch im Grunde verwandt sind. Hätte nur ein einziger großer Eroberer seinen Kriegswillen vollständig durchgesetzt, so hätte er praktisch geleistet, was ihr theoretisch niemals ausführen könnt. Seid ihr imstande, den Plan eines Alexanders des Großen in eure Engbrust aufzunehmen? Er sah den Erdboden als eine Einheit an; ihm schwebte vor, die Welt zu erobern, ihr einerlei Sprache und die Gemeinsamkeit aller Gesetzlichkeit, aller Wissenschaften und Künste zu geben. Ausgehend von Mazedonien und Epirus, hinweg über Armenien, Syrien, Medien, Indien, über den Erdkreis hinweg, wollte er die große Völkerfamilie schaffen mit einem Zentralpunkte, der die Residenz der Amphiktyonen und die friedliche Akademie des Weltalls werden sollte. Ja, durch Blutozeane mußte er hindurch, aber diese Meere wären abgelaufen, und ihr Grund hätte sich mit Blüten bedeckt. Ein bißchen großzügiger als ihr war er schon, der Pazifist Alexander!
»Keine Lobgesänge hier auf das Schwert! Das verbitten wir uns! Die Tugend soll in der Welt regieren!«
– Es gibt zwei Tugenden, die etwas taugen: die der Einsicht und die des Willens. Beide besitzt ihr nicht. Eure Tugend ist das Geplärr. Euch hat Demokritos gemeint, als er verkündete: Wehe dem Volke, wenn seine Tugend ein gravitätisches und aufgedunsenes Ansehen gewinnt; ein feindseliger Dämon schwebt mit unglückbeladenen Flügeln über ihm; ich weissage solchem Tugendvolke mit der zuversichtlichsten Überzeugung: dumm und barbarisch wirst du werden, armes Volk! Trebern und Distelköpfe wirst du fressen und Dinge leiden müssen, vor denen Natur und Vernunft sich entsetzen – – sagt Demokrit. So, und jetzt könnt ihr ja über eure eminenten Thesen abstimmen lassen.
Zur Geschäftsordnung! rief Purpu; ich verlange, daß zuerst über meinen Antrag mit der silbernen Kapsel abgestimmt wird!
Zur persönlichen Bemerkung! schrie Kostrubaal; ich wollte dem Delegierten Purpu nur sagen, daß mir jeder parlamentarische Ausdruck fehlt, um seine krasse Ignoranz zu kennzeichnen. In unseren Statuten steht ausdrücklich, daß der sachlich wichtigere Antrag zuerst erledigt werden muß, woraus hervorgeht, daß er entweder ein kompletter Hornochse ist, wenn er das nicht weiß, oder ein Lümmel, wenn er wider besseres Wissen . . .
Jetzt schien tatsächlich der kritische Moment für den Biceps anzubrechen. Purpu streifte bereits den Ärmel hoch, als auf einen Wink des Vorsitzenden Saaldiener eingriffen und zwischen den Erbitterten einen Zwischenraum legten.
– Silentium! kommandierte Branisso. Welch einen beklagenswerten Zwischenfall haben wir erlebt, mitten in unseren Arbeiten für die höchsten Güter des Universums! Wehe, wenn sich dergleichen wiederholt! – Was nun die Geschäftsordnung anlangt, so lege ich sie dahin aus . . .
»Hier wird nicht ausgelegt, sondern buchstäblich befolgt!«
– Das tue ich ja auch, zum Donnerwetter! Und demgemäß formuliere ich die Hauptthese: »Sämtliche Kriege mit Einschluß der Verteidigungskriege, sind abzuschaffen,« – – – wer dafür ist, erhebe die Hand! – – Ich konstatiere: das ist die Mehrheit.
»Gegenprobe! Gegenprobe!«
– Die soll erfolgen. Die Hand möge erheben, wer zwar den Krieg an sich verbieten, den Verteidigungskrieg indes erlauben will; – – das ist die Minderheit.
»Unerhört!« schrien die von O-Blaha. »Jetzt war's doch die Majorität! Ein sauberer Präsident, der nicht sehen kann, oder nicht sehen will! Außerdem ist ja da drüben gemogelt worden! Mehrere von Allalina haben beide Hände hochgehoben!«
»Infame Verleumdung!«
»Nein, blanke Wahrheit! Wir sind in eine Falle gelockt! Man vergewaltigt uns! Wir haben die Mehrheit und sollen uns ducken? Und die da drüben mit ihrem niedergestimmten Blödsinnspazifismus sollen triumphieren?«
Der Präsis schwang die Glocke: Ich nehme alle meine Geduld und Friedlichkeit zusammen, um diesen empörenden Äußerungen gegenüber die Haltung zu bewahren. Das Resultat der Abstimmung ist von mir verkündet und bleibt bestehen. Wir schreiten also zur weiteren Probe, betreffs des Antrags mit der silbernen Kapsel . . .
»Aber nicht mit uns, Sie Karikatur von einem Vorsitzenden! Sie können sich selber verkapseln lassen, in Spiritus! Wir haben genug von dieser Komödie! Auf, Brüder und Schwestern von O-Blaha, hinaus, zurück auf unsere Insel! Luft wollen wir schöpfen nach diesen Miasmen der Unmoral, die uns hier umstänkern!«
Und in wirrem Tumult löste sich die Konferenz auf, indes die Häupter von Allalina in tiefster Depression nach dem Ethischen Ministerium eilten, um über die entsetzliche Sachlage zu irgend einem Ergebnis zu gelangen.
Also jetzt offnes Bekenntnis zu dem Hauptgrundsatz unserer dreifach rektifizierten Ethik: Liebe deine Feinde! Wir werden uns die moralischen Ohrfeigen sokratisch einstecken und mit Duldermine selig lächeln, – spottete Firnaz.
Das ist unmöglich, meinte ein bekümmerter Ratsherr.
– Warum unmöglich? Wir selbst haben soeben per majora das Prinzip der Nichtverteidigung zum Beschluß erhoben. Oder solltest du dich doch beim Ausmaß der Händezahl geirrt haben?
– Ganz bestimmt nicht; es war wirklich die Mehrheit. Und dennoch, dennoch – – – ich ersticke förmlich! Schließlich gibt es doch auch eine Ethik der Ehre, und wenn wir uns nicht rühren, bleibt unsere Ehre besudelt!
So kann man die Sache auch auffassen. Also, rühre dich, Bruder! Hast du bereits mit dem Katekiro gesprochen? – Er meinte die höchste Amtsperson des Landes, die unter diesem Titel fungierte und als Träger der Exekutive unbedingtes Ansehen genoß.
Gleich beim Verlassen der Konferenzaula, sagte Branisso. Nie in meinem Leben habe ich ihn so aufgeregt gesehen. Aber auf seine Weisheit können wir uns verlassen. Wir müssen auf ihn warten.
Die Anwesenden versanken in unheilverkündendes Schweigen. Es war wirklich, als flatterte der Demokritische Dämon über dem Komplex ihrer Tugend. Nach einer Viertelstunde betrat der Katekiro den Raum, mit wallendem Pulse, hochrot im Gesicht: »Ich habe mich bereits zu einer Amtshandlung entschlossen, gestützt auf den Paragraph vier der Verfassung, der mich in dringenden Fällen des bedrohten Staatswohls hierzu ermächtigt, vorbehaltlich Ihrer am selben Tage einzuholenden Zustimmung.«
»Diese erteilen wir in blindem Vertrauen; ein Widerspruch wird nicht vernommen; also was hat der Katekiro veranlaßt?«
»Ich habe sofort an die Regierung der Schwesterinsel depeschiert: Wir verlangen rückhaltlosen Widerruf der Schmähungen mit dem reuevollen Ausdruck des tiefsten Bedauerns. Wir verlangen ferner das schriftliche Bekenntnis der einseitigen und ausschließlichen Schuld an dem Scheitern der Pazifisten-Konferenz, ausgefertigt von sämtlichen Notabeln der Insel O-Blaha. Wir fordern schließlich die Entsendung einer Sühne-Deputation, die uns das Dokument der Abbitte zur Reparation des Unrechts zu überbringen hat.«
– Und wenn sie sich weigern? Oder wenn sie Ausflüchte suchen?
»Ausflüchte bei Ethikern? So gut wie ausgeschlossen. Nein, sie werden sich erklären. Meine Depesche setzt ihnen eine Frist von fünf Stunden.«
– Aber das ist ja ein Ultimatum!
»So nennt man das wohl völkerrechtlich. Ich befürchte übrigens keine Ablehnung. Denn unsere Forderung ist gerecht, und wer Gerechtes ruft, der weckt das Echo der Gerechtigkeit. Binnen vier Stunden und fünfzehn Minuten werden wir die volle Befriedigung unseres sakrosankten Anspruchs in Händen haben.«
Das Echo kam herüber, klang aber etwas anders, als erwartet. Es war ein Schuß, der die Fahnenstange des Ministeriums fortriß, zugleich die mit dem Bilde der Themis gezierte Flagge. Ein Beweis, daß die von drüben gesonnen waren, das Ultimatum mit einem drastischen Ultimatissimum zu beantworten.
Die sprachlose Geisterstarre wurde zuerst von Firnaz durchbrochen: Es wäre interessant, genau festzustellen, wer hier angreift, ob wir mit unserer gepfefferten Depesche, oder jene mit ihrem Geböller.
Aber auf solche spintisierende, wenn auch völkerrechtlich äußerst wichtige Erörterungen konnte man sich nicht einlassen. Es galt zu handeln. Denn der Krieg war erklärt, wenn man auch nicht recht wußte, von wem.
Um den ethischen Gepflogenheiten des Staates die Ehre zu geben, muß bemerkt werden, daß man auf Allalina wirklich nicht recht auf ein solches Vorkommnis eingerichtet war. Die militärischen Tugenden der Bevölkerung waren begreiflicherweise höchst unentwickelt, und die Waffenmacht beschränkte sich auf eine bescheidene Polizeitruppe. Von Alters her ruhten irgendwo etliche historisch sehr merkwürdige Geschütze, über deren momentane Verwendbarkeit die Ansichten auseinandergingen. Die auf der Schwesterinsel waren um eine Idee besser gerüstet. Wie man später erfuhr, besaßen sie eine Batterie kleinkalibriger Kanonen, mit der Metallgravierung »Ultima ratio pacis«. Wenn die hielten, was sie versprachen, so konnte man damit schon etwas anfangen.
Allein, Not lehrt rüsten, und die Kräfte wachsen mit der Notwendigkeit. Plötzlich erhöhte sich auf Allalina ein neues Prinzip: die Organisation erhob ihr Haupt, in dessen Augen Pflicht und Opferfreudigkeit funkelten. Branisso sträubte sich zwar zuerst mit Händen und Füßen, als ihn der Katekiro zum Kriegsminister ernannte. Aber gerade die Prinzipe, denen er zeitlebens gedient hatte, drängten ihn schließlich zur Annahme der schweren und ungewohnten Amtsbürde. Denn hier war nicht nur das Vaterland in Gefahr, sondern die Gerechtigkeit an sich, und namentlich das Statut des radikalen Pazifismus. Dies konnte nur dadurch gerettet werden, daß die Talmipazifisten der Gegenseite gründlich niedergeworfen wurden. Jetzt erhielt die Justitia Gelegenheit, mit ihrem Schwert vernichtend dreinzuschlagen.
Eins war von vornherein klar. Man durfte den Austrag der Affäre nicht von heute auf morgen erwarten. Das konnte Monate dauern, wenn nicht Jahre, denn man schien auf beiden Seiten entschlossen, ganze Arbeit zu machen. Ein frischer, fröhlicher, lebendiger Haß flutete durch die Gemüter, der sich ganz gewiß nicht bei einem kompromißlichen Scheinfrieden beruhigen würde. Hier hieß es: Rom contra Carthago, und nur ein Diktatfrieden, dem die Erschöpfung aller Möglichkeiten vorangehen mußte, konnte zum Heile führen. Es sollte daher höchstens als ein Vorspiel gelten, daß sämtliche Fischkutter mit Bombardiergerät ausgerüstet wurden. Auf Allalina betrachtete man es als einen zustimmenden Wink des Himmels, daß die historischen Geschütze bei den ersten Proben, bis auf 75 Prozent Versager, tatsächlich losgingen. Und in den Kirchen wurden Dankeshymnen angestimmt, als der Ausguck meldete: Drüben mehrere Hausmauern umgefallen. Daß analoge Vorfälle auch hier zu beobachten waren, störte die Freude nur wenig.
Branisso bewährte sich ausgezeichnet als Organisator, und weitausblickende Bürger sahen schon im Geiste sein zukünftiges Erzmonument neben der Gerechtigkeitsstatue auf dem Eintrachtsplatz. Er hatte sich in seiner überströmenden Weisheit mit der technischen Insel Sarragalla in Verbindung gesetzt und sechs Ingenieure von dorther verschrieben. Die waren auch schon unterwegs, und man versprach sich von ihnen enorme Kulturwunder an Lambda-Strahlen, Giftgasen, telekinetischen Perkussionen und Lufttorpedos. Jetzt zum erstenmal seit Kriegsbeginn konnte eine gewisse Übereinstimmung beider Parteien wahrgenommen werden in Rückbesinnung auf verflossene Gefühlsgemeinschaft. Denn die O-Blahenser hatten gleichfalls sechs vorzügliche Ingenieure von der technischen Insel engagiert. Aber bis deren Mirakel beiderseitig durchgreifen konnten, hätte man sich doch noch wochenlang mit dem Kleinkrieg behelfen müssen, der die Menschen auf niederem Niveau festhielt. Der Schaden war vorläufig relativ unbeträchtlich und entsprach schon nach drei Tagen nicht mehr den hohen Erwartungen, die sich auf einen großartigen Feuerzauber gerichtet hatten. Deshalb näherte sich Branisso mir und meinen Gefährten mit einem Anliegen.
– Sie begreifen unsere Lage, sagte er, wir sind in dieses abwegige Abenteuer hineingeraten, ohne es zu wünschen, ja, ohne zu wissen, wie . . .
»Wie die Jungfer zum Kind,« schaltete Firnaz ein.
– Aber da wir nun einmal drin sind, müssen wir siegen. Ich würde Verrat am Vaterland begehen, wenn ich anders dächte und wenn ich nicht bis aufs äußerste darauf bedacht wäre, durch unsern Sieg die friedliche Durchdringung unserer Ideen zu ermöglichen. Da aber, die Kräfte vorläufig balancieren, so muß alles versucht werden, um der guten Sache einen Vorsprung, ein Übergewicht zu verschaffen. Sie sind im Besitz eines Schiffes, dessen Stärke unsere gesamte Fischerflottille um das Vielfache übertrifft. Ihre Atalanta ist mit modernen Waffen ausgestattet, und wenn Sie sich entschlössen, auch nur einen Tag . . .
»Davon kann gar keine Rede sein, Verehrter,« versetzte Mac Lintock. »Wir sind hier Gäste und dürfen aus unserer Neutralität nicht heraustreten. Ich, der Besitzer des Schiffes, bin Amerikaner, und Sie wissen zweifellos, daß Amerika es aufs Strengste vermeidet, sich auch nur mit einem Schuß an den Händeln anderer Völker zu beteiligen.«
»Gewiß, das haben Sie niemals getan,« meinte Firnaz; »und dies ist ja auch der Grund, weshalb ihre Oberhäupter Wilson und Roosevelt zweimal den großen Friedenspreis der Nobel-Stiftung bekommen haben. Nur meint mein Bruder, daß jedes Prinzip Ausnahmen verträgt.«
– Und diese Ausnahmepflicht ist hier gegeben. Sie waren Zeuge der Vergewaltigung, die über uns hereinbrach; und Sie müßten nicht fühlende Menschen sein, wenn Sie nicht das zornige Bedürfnis verspürten, der beleidigten Unschuld zum Recht zu verhelfen. Ihre Atalanta lagert vorläufig an der sicheren Westseite der Insel und befindet sich außer Schußbereich. Aber wer verbürgt Ihnen, daß nicht Ihre eigenen Interessen verletzt werden, wenn erst die bewußten Ingenieure eintreffen und zu operieren anfangen? Wenn Sie dem zuvorkommen und morgen zu schießen beginnen, kann der Krieg in zwölf Stunden beendet sein, und Sie würden das erhebende Bewußtsein davontragen, den Triumph der heiligen Sache bewirkt zu haben.
Unser Offizier Geo Rottek schien nicht ganz abgeneigt, der Lockung Gehör zu geben. Es war unverkennbar, daß sich der eingelullte Tatendrang in ihm zu regen begann. Auf eine Demonstration zum mindesten könnte man es ankommen lassen, und wenn dabei einige Kernschüsse mit unterliefen, so wäre das auch kein Unglück. Im Gegenteil, wenn diese Kernschüsse säßen, – und dafür garantierte er – so wären sie nur das Salutgedonner eines raschen Friedens, und unabsehbares Blutvergießen könnte dadurch verhindert werden.
Der Kapitän Kreyher fand, daß in diesen Erwägungen ein berechtigter Kern stecke. Die Atalanta hätte doch im Ganzen wenig zu riskieren, wenn sie die Affäre stoppte, die zwar heute noch ein Froschmäusekrieg sei, aber binnen wenigen Tagen ein Vernichtungskampf werden könnte. Unser Doktor Wehner verriet Zeichen innerer Schwankung. Eva fragte:
»Gesetzt, unsere Atalanta leistet das Gewünschte, wie wäre dann der Fortgang? Ich meine, werden Sie dann einen großen Strich unter das Vergangene machen und dem Gegner unbedingt verzeihen? Nicht das Geringste von ihm verlangen?«
– Aber, mein Fräulein, bedenken Sie! Das wäre doch ethisch das Allerschlimmste! Wenn wir nach gewonnenem Krieg Gleich auf Gleich proklamieren, so hätten wir doch gerade den Status quo ante, und wohin dieser Status führt, das haben wir doch eben schaudernd erlebt. Nein, mein Fräulein, Sie lassen sich von einer Utopie umgaukeln, die ganz unmittelbar in einen neuen Krieg hineintreiben würde, und eben weil wir diesen als überzeugte Pazifisten vermeiden wollen, müssen wir den Gegner so schwächen, daß er nie wieder am ewigen Frieden zu rütteln vermag. Wir wünschen die Mitwirkung Ihres starken Schiffes, aber wir wünschen sie nicht um den Preis einer flagranten Ungerechtigkeit!
»Und ich werde dir sagen, Bruder Branisso, was die Mehrheit unserer Gäste wünscht. Ganz einfach, sie wünscht uns alle miteinander zum Geier! Und ich wette mit dir um die ganze Kriegsbuße, die wir bekommen oder bezahlen werden, daß ihr Schiff noch heute verduften wird.«
Er hätte die Wette gewonnen.
Zwei Stunden nach unserer Abfahrt bemerkten wir hoch in der Luft einige bewegte dunkle Punkte, über deren Bedeutung uns das Teleskop nicht im Zweifel ließ. Es waren die fliegenden Ingenieure aus Sarragalla, die sich ihren Bestimmungsorten näherten, um mit technischer Großzügigkeit die Katzbalgerei der Inseln zu einem menschenwürdigen Unternehmen zu erhöhen. Ihre weitere Tätigkeit entzog sich unserer Beobachtung, denn wir bewegten uns rasch nach Süden, und die Flieger brauchten doch gewiß einige Zeit, um ihre Wunder zu montieren. Nach dem, was wir früher erfahren hatten, waren sie politisch ganz indifferent und verfolgten lediglich mechanische Effekte. Rottek vermutete, daß die Ingenieure die beiden Eilande als Versuchskarnickel für ihre neuen Erfindungen ausprobieren würden; mit all der Unparteilichkeit, die zu den schönsten Kennzeichen derartiger Technik gehört. Wahrscheinlich würden sie die Gelände ebenso behandeln, wie man in rückständiger Kultur mit Schiffen verfuhr, das heißt also, beide Inseln radikal auf den Meeresgrund versenken. Eine zukünftige Expedition wird festzustellen vermögen, ob diese Vermutung durch die Tatsachen gerechtfertigt worden ist. Unser Tagebuch reicht nicht soweit. Sollten aber spätere Geographen das Verschwinden von Allalina und O-Blaha feststellen, so wäre damit erwiesen, daß das Problem des Pazifismus hier durch den ewigen Frieden aller Beteiligten restlos gelöst worden ist.