Alexander Moszkowski
Die Inseln der Weisheit
Alexander Moszkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Balëuto.

Die Platonische Insel

Ich übergehe die Einzelheiten unserer Landung und vertraue hierin der Phantasie des Lesers, auf die Gefahr hin, daß in den von ihr entworfenen Bildern manches inkorrekt ausfallen sollte. Denn es kommt ja nicht darauf an, zu schildern, welchen Eindruck wir auf die fremden Menschen machten, als vielmehr darauf, welche Eindrücke wir davontrugen. Ich erwähne nur, daß wir selbst zwar eine gewisse Neugier, aber keineswegs ein stürmisches Aufsehen erregten. Die Seleno-Fernphotographie hatte längst vorgearbeitet, und nahe am Kai erblickten wir im Aushang eines Ladens die Bilder der Atalanta nebst den Hauptpersonen unserer Expedition mit Unterschriften in Landtypen und Antiqualettern. Ein Beamter der in sanften Terrassen ansteigenden Hafenstadt erwartete uns am Peer und stellte sich uns zur Verfügung. Er eröffnete uns in einer Art von Pidgin-Englisch, in der das Malayische überwog, daß die Gasthöfe der Stadt infolge einer großen Landesfestlichkeit überfüllt wären. Uns sei indes im Privathause eines Bürgers ausreichendes Quartier bereitgestellt. Es wurde, wie übrigens fast durchweg auf dieser Reise, vorausgesetzt, daß die Schiffsmannschaft an Bord verbliebe. Natürlich sorgten wir für ausreichenden Tagesurlaub, damit die Leute ihren Anteil an den Sehenswürdigkeiten und sonstigen Genüssen der neuen Länder schichtweise genießen konnten.

Was sich uns hier schon am ersten Tage entschleierte, war die Tatsache, daß die Insel Balëuto und ihre gleichnamige Hauptstadt ein Staatswesen nach Platonischem Muster darstellte; genauer gesagt, die Verkörperung des Modells, das Plato vornehmlich in seinem Werk »Politeia« als das Ideal des Staates hingestellt hat. Seit undenklichen Zeiten hatte unter den Intellektuellen der Insel das gedankliche Leitmotiv durchgegriffen: Die Europäer feiern Plato als einen der sublimsten Denker aller Zeiten; sie huldigen seiner Ideenlehre und haben ihm selbst den Ehrentitel »der Göttliche« verliehen; dieser nämliche göttliche Plato hat ihnen in zehn Büchern das auf Gerechtigkeit gegründete Muster eines Staates aufgebaut; aber bis zum heutigen Tage ist es noch keinem Leiter und keiner Gemeinschaft eingefallen, dieses Muster zu erproben und zu verwirklichen. Nicht in Alt-Hellas, nicht in Neu-Griechenland, nicht in irgend einem der Länder, in denen sich der zum Christentum hinüberleitende Neuplatonismus durchgesetzt hat. Hier klafft ein ungeheurer welthistorischer Widerspruch, und auf diesen zu allermeist wird es zurückzuführen sein, daß sich so viel Not und Elend über die alten Länder ergossen hat. Sie hatten das Rezept zum Idealstaat und verleugneten es in der Praxis. In der Beseitigung dieses Widerspruchs liegt die Mission der Balëuto-Menschen. Sie sollen und wollen Platoniker sein, nicht nur in der Idee, nicht nur in philosophischen Abstraktionen nach dem Vorbild europäischer Dozenten und Studiosen, sondern in Wirklichkeit: als überzeugte und werktätige Mitglieder des Platonischen Staates. So lautet das reine Grundmotiv, das zwar im Zeitenlauf gewissen Wandlungen ausgesetzt war – denn wo gäbe es ein System, dessen Schema unverbrüchlich gälte? – das sich aber in großen Zügen auf der Insel richtunggebend erhalten hat.

* * *

Die uns angewiesenen Wohnräume lagen im zweiten Stockwerk eines villenartigen, von hübschen Gartenanlagen umgebenen Privathauses, das einem Großdrogenhändler Namens Yelluon gehörte. Er empfing uns am Eingang, leitete uns hinauf, ließ uns korrekter Weise eine kurze Weile allein und meldete sich dann zu einem formellen Besuche:

»Ich begrüße Sie, Herrschaften, nicht nur mit der leeren Höflichkeit, die man Gästen im Allgemeinen schuldet, sondern mit jenem Eudämonismus, der von der Schule Platons ausgehend vornehmlich durch dessen Zeitgenossen Aristipp aus Cyrene seine deutlichste Prägung erhalten hat. Dieser Eudämonismus, – man könnte ihn auch, wiewohl philologisch nicht ganz genau, als Hedonismus ansprechen, – also das Gefühl und die Lehre von der Glückseligkeit, ist in mir lebendig, wenn ich den Wunsch äußere, es möge Ihnen in diesem Staate und in meinem Hause wohlgefallen. Wir werden es an nichts fehlen lassen, um Sie zu befriedigen, und ich bin um so sicherer, daß uns dies gelingen wird, als Sie selbst nach dem ersten Eindruck zu schließen, durchaus befähigt erscheinen, die von uns gebotene Verwirklichung der platonischen Ideen voll zu würdigen. In diesem Sinne heiße ich Sie willkommen.«

Wir sahen uns einigermaßen verblüfft an, dann erlaubte ich mir, da die anderen schwiegen, das Wort zu nehmen.

»Empfangen Sie, Herr Yelluon, unseren Dank, zugleich mit dem Ausdruck der Bewunderung für die überraschend schöne Diktion, die Ihnen zu Gebote steht. Sie erweckt in uns die Empfindung, daß wir hier tatsächlich in ein Land erhöhter Bildung gekommen sind. Die Platonischen Begriffe, die hier nach Ihren Andeutungen eine so große Rolle spielen, sind uns nicht ganz fremd, und wir freuen uns im Voraus auf die Erscheinungsformen der »Kalokagathia«, denen wir hier begegnen werden, das Wort im weitesten Sinne genommen, nach seinen Grundbestandteilen »Kalos«, schön, »agathos«, gut, also eine Einheit von Schönheit, Wahrheit und sittlicher Trefflichkeit. Hiervon abgesehen liegt uns aber auch daran, mit Ihnen als unserem Hauswirt einige sachliche Dinge zu erörtern, die uns Fremdlinge nach einer so langen Reise notwendig beschäftigen müssen.«

»Diese Notwendigkeiten sollen sofort erledigt werden,« entgegnete der Wirt. »Ich habe deshalb gleich die sieben Meldezettel mitgebracht, und bitte Sie um vorschriftsmäßige Ausfüllung.«

Wir begannen zu schreiben, gerieten indes alsbald an eine Schwierigkeit. »Sagen Sie, bitte, wie ist das zu verstehen? Auf diesen Meldezetteln befindet sich neben Geburtsort, Stand und Staatsangehörigkeit auch eine fragende Rubrik: »Philosophie«?«

»Hier haben Sie einzutragen, Person für Person, welcher philosophischen Richtung Sie besonders huldigen, mit kurzer Angabe der erkenntnistheoretischen Gründe.«

Als wir zögerten, ergänzte Jener: »Diese Verordnung besteht hier schon lange und ist neuerdings durch unser Ministerium für philosophische Angelegenheiten in Erinnerung gebracht worden. Wir verfahren dabei durchaus nicht engherzig, da den privaten Neigungen des Einzelnen jeder Spielraum gewährt wird, denn wir setzen voraus, daß bei Jedem ein platonisches Grundbewußtsein vorhanden ist. Nichtsdestoweniger wünscht die Behörde möglichst informiert zu werden über die philosophische Partei, der jeder Staatsbürger und jeder Fremdling angehört.«

– Ich sollte meinen, das wäre Privatsache und ginge die Regierung eigentlich gar nichts an.

»Sie sind im Irrtum, mein Herr, dies ist amtlich durchaus nicht belanglos. Meines Wissens werden auch bei Ihnen in Deutschland auf staatlichen Formularen ähnliche Fragen gestellt. Bei Ihnen verlangt man die Erklärung darüber, ob Katholik, Protestant, Jude oder Dissident, was uns wiederum im höchsten Grade gleichgültig erscheint, denn die Konfession ist allerdings Privatsache, nicht aber die Philosophie . . .«

– Mir ist der Zweck der Fragestellung immer noch dunkel.

»Lassen Sie sich das an Beispielen erklären. Gesetzt, wir fänden in unseren Statistiken, daß eine bestimmte Art von Vergehen oder Verbrechen mit besonderer Häufigkeit auf Personen entfällt, die sich etwa zu Spinoza bekennen, so würden wir auf theoretische Maßregeln zu sinnen haben, die dem Spinozismus entgegenwirken. Fänden wir wiederum, daß die pünktlichsten Steuerzahler unter den Anhängern des Cartesius angetroffen werden, so wäre uns das ein Wink in unseren Schulen und Akademien den Descartes zu bevorzugen. Sie dürfen nie aus den Augen verlieren, daß diese Insel durchaus nach dem Prinzip Platos eingerichtet ist, der ausdrücklich alle Staatsmacht den Philosophen zuweist und der kategorisch verlangt, daß das gesamte Getriebe des Gemeinwesens philosophisch reguliert wird.«

Wir füllten nunmehr die fragliche Rubrik aus. Herr Mac Lintock flüsterte mir zu, er wäre hier in Verlegenheit, da er sich zeitlebens noch nie um Philosophie gekümmert hätte. Ich gab ihm halblaut die Weisung, hinzuschreiben: »Pragmatismus nach William James«, denn diese neuamerikanische Denkform beruhe auf dem common sense, auf der praktischen Nützlichkeit, und stünde als philosophische Lehre sicherlich seiner eigenen kaufmännischen Praxis nahe. Seine Nichte bezeichnete sich auf dem Zettel kurzweg als Schopenhauerianerin; der Kapitän und Donath nannten sich Epikuräer; der Offizier und der Arzt bezeichneten irgendwelche andere berühmte Namen, und ich selbst schrieb kurzerhand, um uns auf alle Fälle gut Wetter zu machen »Plato«; obschon ich überzeugt war und bin, daß man sich überhaupt nicht einem einzelnen Philosophen verschreiben darf, da jeder nur eine Profillinie der Wahrheit darstellt, deren volles Gesicht erst in der Vereinigung aller Philosophien erkennbar wird.

Da es gerade Vesperzeit war, verfügten wir uns auf die Veranda zum Kaffeetisch, woselbst sich noch ein Schwager unseres Wirtes, Rektor einer Oberschule, angefunden hatte. Die Gattin des Herrn Yelluon ließ sich mit Unwohlsein entschuldigen. Sie lag zu Bett und fühlte sich so angegriffen, daß sie auf ihren sanften Kissen die gewohnten Dialoge des Plato nicht in der griechischen Urschrift, sondern nur in einer erleichternden Übersetzung zu lesen vermochte. Ich schalte ein, daß Balëuto einen Kaffee hervorbringt, gegen den die erlesensten Sorten unserer Kontinente nur als fade Substanzen zur Erzeugung von Spülichtwasser erschienen. Mir war dieser Umstand nicht ganz nebensächlich, denn zu gewissen Tagesstunden neige ich mehr zu einem exquisiten Jausegetränk in Begleitung einer duftigen Zigarette, als zu allen Offenbarungen der Eleaten und der Alexandrinischen Schule. Mit dem Rauchwerk freilich hatten wir nun wieder das Übergewicht. Denn die Insel war arm an Tabak, und auf der Atalanta steckten unerschöpfliche Vorräte Habaneser und Ägyptischer Herkunft. Ich erwähne dies, um einfließen zu lassen, daß wir schon auf Grund dieser Ladung ein vorzügliches Tausch- und Verkehrsmittel in der Hand hatten; obendrein wurde auch der Dollar späterhin als Zahlung angenommen, allerdings zu einem Valutakurs, bei dem sich selbst auf dem Haupte eines Dollarkönigs wie Mac Lintock die Haare sträuben konnten.

Eine lebhafte Unterhaltung kam in Gang, und der Rektor erzählte uns Wissenswertes aus seiner Schulpraxis. Es wäre zurzeit sehr schwierig, die Aufmerksamkeit der Schüler zusammenzuhalten, da diese mit ihren Erwartungen sich bereits in die bevorstehenden großen Festlichkeiten eingesponnen hätten.

»Ja, wir haben von dem Fest schon gehört, als wir landeten; was hat es damit für eine Bewandtnis?«

»Es ist das Hundertjahrjubiläum unserer Platonischen Akademie, aus der alle unsere Regenten und Minister hervorgegangen sind. Damals, bei der Stiftung, wurde auf unsere Stadt der Titel »Über-Athen« geprägt, und diese Bezeichnung ist ihr bis zur Stunde erhalten geblieben. Stünden Perikles und Phidias heut auf und wandelten sie unter uns, so müßten sie bekennen, daß ihr Alt-Athen, einst die Quelle aller Kultur, mit dem unsrigen verglichen das reine Banausendorf gewesen ist. Wie gut haben Sie es getroffen, daß Sie beim ersten Einblick in unseren Archipelagus ein solches Fest erleben! Sie werden natürlich an dem Aktus in der Aula teilnehmen und vom Balkon der Akademie aus den großen Festzug bewundern, bei dem auch die Fröhlichkeit zu ihrem Recht gelangen soll . . . Ja, wie gesagt, auch unsere Schüler sind bei den Proben beschäftigt und mit solcher Leidenschaft dabei, daß ich einen Teil der lateinischen und griechischen Unterrichtsstunden ausfallen lassen mußte.«

»Eine Zwischenfrage, Herr Rektor,« warf Eva ein, »was betreiben Sie eigentlich sonst in diesen Lektionen? Lesen Sie mit ihren Schülern auch die Klassiker?«

»Selbstverständlich. Ich traktiere besonders den Horaz und den Homer.«

»Verzeihung, das ist mir nicht ganz verständlich. Ich empfinde hier einen Widerspruch: denn nach Plato dürfen Sie das gar nicht. Plato hat meines Wissens für seinen Idealstaat die Verbannung aller Dichter ausdrücklich verordnet!«

»Wie Sie Bescheid wissen, mein Fräulein! Ja, so steht es allerdings in Platons Staatsbuch. Und ich kann nicht verhehlen, daß uns dieser Befehl viele Jahrzehnte lang die peinlichste Beklemmung auferlegt hat. Es möge dahingestellt bleiben, ob der göttliche Plato seine Bestimmung ganz wörtlich verstanden wissen wollte . . .«

»O nein, Herr Rektor,« sagte ich, »darüber ist gar kein Zweifel erlaubt. Ich habe erst gestern auf unserem Schiff, das eine stattliche Bibliothek mitführt, in Platos grundlegendem Werk geblättert und entsinne mich der Stellen ganz genau. Plato, vertreten durch seinen Sprecher Sokrates, polemisiert auf das heftigste gegen alle bloß der Eitelkeit und der Wollust dienenden Personen, Künste und Lebensarten, die eine verdammenswerte Üppigkeit befördern und deshalb in seinem Idealstaat nicht geduldet werden dürfen. Scharf eifert er gegen die Maler und Bildner, gegen die Tonkünstler und ganz besonders gegen die Poeten, mit ihren Dienern, den Schauspielern, Rhapsoden und Tänzern, welche in einem gesunden Gemeinwesen nichts zu schaffen hätten. Diese Schädlinge stellt er auf eine Stufe mit den verderblichen Gilden der Putzmacherinnen, Haarkräuslerinnen, Bartscherer, Garköche und Schweinehirten . . .«

»Daraus ersehen Sie schon,« unterbrach der Rektor, »daß Plato nicht unerbittlich auf seinem Schein steht, denn er selbst, der Mann der Symposien, ließ sich ja wohlschmecken, was aus dem Gehege der Schweinehirten entstammte und durch athenische Garköche lecker zubereitet wurde.«

– Mit Verlaub, Herr Rektor: Sie kopieren auf Ihrer vortrefflichen Insel nicht Alt-Athen in concreto, sondern Sie wollen das Wunder leisten, ein Ideal-Athen aus der Abstraktion in die Wirklichkeit zu heben. Und da können Sie doch an den klaren Anweisungen Platos gar nicht vorbei: Kein Erbarmen mit den Dichtern! so lehrt er. Homer und Hesiod müssen vertilgt werden! Ihre Gesänge sind nicht, wie man vordem glaubte, als heilige, von den Musen erflossene Eingebungen anzusehen, sondern als mit rohen, pöbelhaften Begriffen und Gesinnungen durchsetzte, abgeschmackte Märchen, in denen die höchst unsittlichen Reden und Taten der Götter eine entsetzliche Moralfäulnis ausstrahlen. Und daraus folgt, streng nach Plato: Fort mit Homer und Hesiod, fort überhaupt mit aller Poesie und sämtlichen verdammten Künsten!

Der Schulmann entgegnete: »Wir beugen uns selbstverständlich der Autorität unseres erhabenen Meisters – soweit es eben möglich ist. Allein wir gelangen an den Punkt, wo die Unmöglichkeit beginnt. Denn um Plato und die übrigen großen Philosophen zu verstehen, bedürfen wir des Griechisch-Lateinischen, und dieses Studium würde blöde und stümperhaft ausfallen ohne die klassischen Dichter. Wir lesen sie deshalb aus sprachlichen, das heißt grammatischen Gründen. Wir erziehen unsere Jünglinge und Mädchen zur Verachtung dieser Klassizitäten, aber wir lesen sie mit ihnen aus gymnasialen Gründen. Ich will Ihnen eine Probe dieser Methode mitteilen. Vor einigen Tagen begann ich mit den Zöglingen die Ode des Horaz

Exegi monumentum aere perennius . .
(Dauerhafter als Erz schuf ich mein Ehrenmal);

Ich nahm die Gelegenheit wahr, um generell meinen Abscheu vor Horaz und seiner skandierenden Gilde auszusprechen, und wandte mich dem ersten Worte zu: »Exegi«; ich erläuterte ausführlich die Herkunft des Ausdrucks aus ex und einer griechischen Wurzel ago, betrachtete dann die Präsensform exigo mit dem kurzen i, das sich im Praeteritum exegi mit elastischer Phonetik zu einem langvokalisierten e verzaubert, und erörterte dann ausführlich alle Autoren, die außer Horaz das nämliche Verbum in zahlreichen Abstufungen der Bedeutung angewandt haben; so Cicero, Livius und Varro, welche mit exigo den Begriff des Hinausjagens verbinden, während es bei Ovid als Inschwungsetzen, und bei Terenz als Durchfallen im Bühnensinne auftritt. Das exigo bei Quintilian und Tacitus bedarf noch einer besonderen Analogie, allein ich hoffe, daß ich in einer der nächsten Lektionen bis zum zweiten Wort der Horazischen Ode vordringen werde, also bis zu »Monumentum«, dessen grammatische Verwandtschaft mit moneo, als dem Factitivum von memini, auf den Stamm mens, mentis und damit auf die Grundwurzel aller Geistigkeit überhaupt hinleitet, insofern – – –«

»Genug!« rief Donath; »es soll uns als erwiesen gelten, daß Sie Ihr Programm, die Jungen mit Haß und Abscheu gegen klassische Verse zu sättigen, vollkommen erfüllen, zweifellos gründlicher und gediegener als irgend ein Magister meiner deutschen Heimat. Aber wir dürfen unseren Hauptzweck nicht aus den Augen verlieren, ich schlage deshalb einen Spaziergang vor zu einer ersten Orientierung in Ihrer platonischen Stadt, die uns neben ihrem antipoetischen Grundzug hoffentlich recht viel Schönes und Erbauliches bieten wird.«

Wir erhoben uns, von Erwartung geschwellt, und begaben uns auf die Wanderung. Vor uns lag das vorausgeahnte polynesische Neuland, in erster Probe als ein Staat, der ausschließlich von Philosophen regiert wird. Also sicher ein starker Kontrast zu allem Erlebten. Ich entsann mich, daß in unseren heimischen Ländern der körperliche Schwerarbeiter höher rangiert als der Denker, und daß bei uns nur derjenige die Anwartschaft auf staatliche Macht gewinnt, der von Philosophie keine Ahnung hat.

Das erste, was uns auffiel, war die Menge schlechtgepflegter Kinder, die sich in den Straßen tummelten, und ich gab der Verwunderung Ausdruck, daß sich deren Eltern anscheinend so wenig um sie kümmerten. Yelluon erläuterte, der Begriff »Eltern« passe eigentlich nicht recht hierher, denn es herrsche ja in den meisten Schichten des philosophischen Staates Weiber- und Kindergemeinschaft, und infolgedessen eine Komplexität der sexuellen Verhältnisse, bei der von einer Elternschaft im gewöhnlichen Sinne gar nicht mehr die Rede sein könne. Ganz recht! hier lag ja ein Hauptpunkt der platonischen Verordnungen vor, und wenn irgendwo, so hatte sich hier die Philosophie des Musterstaates zu betätigen. Es kommt wesentlich auf die Menge der erzeugten Kinder an, nicht aber darauf, daß das einzelne Kind seine Herkunft von einem bestimmten Papa und einer bestimmten Mama herleitet. Denn auch der Mutterbegriff verflüchtigt sich in einer Gemeinschaft, in der die Mutterpflicht und die Mutterliebe vom philosophischen Standpunkt als unwesentlich, ja als störend erkannt worden sind.

»Aber Herr Yelluon,« rief ich, »Sie leben doch nicht in Weibergemeinschaft, Sie haben doch eine Gattin! und wenn sie auch einer Unpäßlichkeit wegen bei Tisch nicht erschien, so existiert sie doch zweifellos!«

»Als weibliches Wesen allerdings, als meine Frau nur in sehr beschränktem Grade. Ich bin mit Upanischa – so heißt sie – nur so nebenbei, ganz oberflächlich verheiratet. Augenblicklich wohnt sie bei mir, was nicht ausschließt, daß sie übermorgen die Bettgenossin eines anderen wird, was nicht weiter verwunderlich, da sie ja schon durch viele Dutzende von Händen ging; sie war auch schon mit dreitägiger Gültigkeit mit dem Rektor und mit mehreren Ministern verheiratet, und ich nehme an, daß unter den uns auf der Straße begegnenden Männern sich zahlreiche befinden, deren Lager sie als Gemahlin bereits erheitert hat, oder demnächst erheitern wird.«

»Und das sagen Sie so leichthin! Sie als Bürger eines Staates, der auf absolute Moral gegründet sein soll! Der Staat ist doch auf die Ehe basiert und diese auf die Liebe? Wen lieben Sie denn eigentlich? und wen liebt die Dame Upanischa?«

»So viele Fragen, so viel Denkfehler, um nicht zu sagen Sinnlosigkeiten. Sie übersehen gänzlich das Grundprinzip, die Philosophie, und Sie sind noch nicht imstande, diese Linie zu verfolgen, da Sie aus unlogischen Ländern herkommen. Ihnen schwebte bei Ihrer Expedition vor: Sie wollten eine Entdeckung machen. Nun denn, Sie besitzen Grund zum Jubeln, Sie haben wirklich entdeckt! Sie stehen in diesem Polynes zum erstenmal auf dem festen Grund der Logik. Der Staat und die Ehe, so wie sie Ihnen bekannt sind, setzen allerdings die Liebe voraus, das heißt, Sie etablieren eine auf Dauer berechnete Einrichtung und stützen sie auf einen nach Minuten abzählbaren Zustand. Sie bauen die Staatspyramide derart, daß sie mit der Spitze nach unten steht, mit der Grundseite nach oben, und wundern sich dann, wenn sie umfällt. Wie kann man etwas Festes, Stetiges aus einem bloßen Gefühl entwickeln wollen, das nach aller Erfahrung unstetig ist, flackernd und abrupt? Plato hat diesen Widersinn erkannt, nicht euer Plato, auf den Ihr als einen europäischen Philosophen pocht, sondern unser Plato, der von uns begriffene und realisierte . . .«

– Eine Zwischenbemerkung, Herr Yelluon: Sie mögen ja diesen Weltmeister gründlicher erforscht haben, aber auch wir besitzen treffliche Interpretationen, von Schleiermacher, von Zeller, Überweg . . .

»Jawohl, und von Wieland, den ich Ihnen besonders empfehle. Wie steht es nun mit der Liebe bei dem richtig verstandenen Plato? Ist sie etwa ›platonisch‹ im europäischen Sinne des Wortes? Da haben Sie schon den Nonsens, in den ihr euch dauernd verstrickt, denn das genaue Gegenteil ist der Fall. Die Liebe in der eigentlichen platonischen Bedeutung des Wortes ist ein Zeugungsgeschäft, muß als eine rein physische, tierische Sache behandelt werden und darf deshalb im Idealstaat keine Stätte finden. Da nun aber die Weiber für das Zeugungsgeschäft leider unentbehrlich sind, so kommt es darauf an, den Schaden, den die Weiblichkeit im Staat anrichtet, nach Möglichkeit auszurotten; so zu verstehen, daß der Mann, der einzig dem Staate verpflichtet wird, nicht obendrein in Lockungen fällt, die ihn dem Staatsinteresse abspenstig machen. In erster Linie dürfen die Krieger, dann weiterhin alle starken Repräsentanten des Staates, nicht durch den dauernden Umgang mit den Zauberinnen geschwächt, nicht durch Ausübung monotoner Ehepflichten verelendet werden. Das von dem Genius Platos gefundene Hauptmittel, den reizenden Schlangen ihr Gift zu benehmen, besteht eben – abgesehen vom Kommunismus in Gütern, der sich in weiterer Folge einstellt – in der Weibergemeinschaft, durch welche die Ehe überflüssig gemacht wird, wenn sie auch in vereinzelten Exemplaren ein bescheidenes Dasein weiterfristen mag; durch das Los, in einer von den Archonten geleiteten Ehelotterie, oder auf Zeit, wenn uns einmal die Laune kitzelt, mit dieser oder jener einige Tage und Nächte zu verbringen . . . Einen Augenblick Pause, mein Herr, ich will nur der hübschen Person, die dort drüben spaziert, etwas sagen.«

Meine Blicke folgten. Ich bemerkte eine nicht mehr ganz junge Dame, die durchaus nicht den Eindruck einer Halbweltlerin machte, vielmehr den besseren Kreisen anzugehören schien, und die mit züchtig gesenktem Blick dahinschritt. Sie trug ein Gewand in schön gebrochenen Falten aus feuerfarbenem, byssusartigem Webstoff, das unter ihrem Busen von einem seltsam gestickten mit einer Agraffe aus bläulichen Steinen geschlossenen Gürtel zusammengehalten wurde; dazu Schnüre von feinen Perlen, die sich um Hals und Arme, wie zwischen den Locken in anmutigem Linienspiel bewegten.

»Eine Freundin Ihres Hauses?« fragte ich, als er nach zwei Minuten zurückkehrte.

»Nein, keineswegs. Es ist möglich, daß ich vor Jahren einmal flüchtig mit ihr verheiratet war, ich kann mich im Moment nicht genau darauf besinnen. Jedenfalls habe ich sie eingeladen, mit mir im nächsten Monat auf unserer schönen Nachbarinsel Wrohlih eine halbe Flitterwoche zu verleben.«

»Und sie hat zugesagt?«

»Bedingungsweise. Für den Fall nämlich, daß sie nicht zur selben Zeit Nummer in einer Lotterie-Serie werden muß und dadurch nach Verfügung Platos als Ehegewinnst einem Dritten zufällt. Sollte die Dame inzwischen verlost werden, so müßte ich mich noch kurze Zeit gedulden.«

»Was Ihnen nach Ihrer Auffassung von der Liebe wohl nicht allzu schmerzlich sein wird.«

»Sie fangen an zu begreifen; und Sie werden allmählich auch einsehen, daß der bei Ihnen gültige Liebesbegriff nichts ist als Trug und Blenderei. Sie unterliegen hierbei einer Täuschung, welche die schöngeistige Literatur und das Theater über Sie verhängt. Sie übernehmen eine Empfindung, die allenfalls für eine Romanze und höchstens für einen Operettenschlager ausreicht, in das Leben, wofür es gar nicht paßt. Sie übernehmen es mit all seinen traurigen Begleiterscheinungen des Sehnens, Schmachtens, der Eifersucht und schleppen sich dauernd mit Kümmernissen, deren Summe Sie sich zur Erfreulichkeit umlügen. Die Eifersucht, das Alleinhabenwollen, bedeutet in logischem Betracht einen Horror für sich. Ich liebe zum Beispiel die Insel Wrohlih mit ihren landschaftlichen Schönheiten, allein ich müßte doch hirnverbrannt sein, wenn ich verlangte, daß diese Insel mich wiederliebt, mich ausschließlich, und wenn ich zu toben anfinge, sobald die Insel ihre Reize auch anderen spendet. Und genau so wie ich bei der entzückenden Landschaft die allgemeine Reizgemeinschaft anerkenne, so gilt mir auch die Weibergemeinschaft als das natürlich Gegebene. Wie wohl wäre den Menschen in Ihren Kontinenten, wenn sie sich zu dieser platonischen Natürlichkeit durchzuringen vermöchten! Aber Ihr denkt nie einen Gedanken bis zu Ende und limitiert unablässig das bißchen Vernunft, das Eure durch tausend Fehlschläge gekennzeichnete politische Denkweise noch übrig gelassen hat. So stellt Ihr den Grundsatz auf ›dem Tüchtigen die freie Bahn‹! Das Wort ist gut, denn es stammt aus Platos Ideenkreis. Aber sobald der Tüchtige die freie Bahn zu einer Dame fordert, mit der er sich nicht lebenslänglich, sakramental und behördlich verkuppelt, verfehmt Ihr die Tüchtigen. Euer monogames Prinzip nagelt ihn also auf einen Einzelfall fest und verhindert ihn mit aller Gewalt seine Tüchtigkeit in höherem Sinn zu beweisen.«

»Das geschieht doch mit Rücksicht auf die Erhaltung und den reinen Bestand der Familie. Was wird denn bei Euch mit den Kindern? Haben Sie selbst welche?«

»Ich glaube ja, ich nehme sogar an, eine ganze Anzahl. Ohne daß ich mich verpflichtet fühle, hierüber Buch zu führen, da ich meine Arbeitszeit für notwendigere Bilanzen brauche. Unter den Straßen-Kindern, die dort drüben Haschemann spielen und Kreisel treiben, befinden sich möglicherweise auch welche von mir.«

»Das wäre zu beklagen, denn die Kinder machen in ihrer verwahrlosten Kleidung keinen guten Eindruck.«

»Und außerdem« – damit meldete sich Doktor Melchior Wehner zum Wort, wobei Donath flüchtig dolmetschte – »außerdem bemerke ich schon auf Entfernung, daß die Kinder sich in gesundheitlicher Hinsicht nicht zum besten befinden.«

Er lockte den erstbesten Buben durch eine vorgehaltene Leckerei heran und beschäftigte sich einige Sekunden mit ihm. Dann erklärte er mit dem Ausdruck starker Mißbilligung: »Der Befund ist übel, und um so übler, als ich mir das Kerlchen rein auf's Geratewohl herausgeholt habe. Mir ist es unbegreiflich, daß man da nicht für Absonderung und sachgemäße Behandlung sorgt. Der Knabe leidet ja an Skorbut in höchst unangenehmer Komplikation mit Krätze.«

Der Rektor, der mit den anderen hinter uns ging, leuchtete philologisch und schaltete ein: »Skorbut, wörtlich genommen: Knochenspalt, hängt wahrscheinlich auch mit scorpio zusammen, wie Carcinom mit Cancer, Krebs, während scabies, die Krätze, aus dem Griechischen skapto, nachweislich zuerst bei Juvenal vorkommt.«

Unser Medikus hörte an diesem Exkurs vorbei und gab seinem Unwillen weiteren Nachdruck: »Sie müssen doch in Ihrem Musterstaat eine amtlich organisierte Hygiene besitzen!«

»Sie ist tatsächlich vorhanden,« versetzte Yelluon, »und sie hat ermittelt, daß gewisse Krankheiten einen höchst wohltätigen Einfluß auf den Bestand des Staates ausüben. Sie beugen nämlich der Übervölkerung vor und fügen sich somit vorzüglich in das System des Plato, der zwar einerseits reichlichen Nachwuchs verlangt, andererseits aber die Verhinderung einer Überzahl. Die Hygiene, wie wir sie verstehen, erhält somit die Aufgabe, die Mortalität nicht unter eine gewisse Grenze sinken zu lassen, das heißt, den Seuchen einen merklichen Spielraum zu gewähren und beileibe nicht alle kurabeln Krankheitsfälle wirklich zu heilen.«

»Ich hätte Lust, mich mit eurem Oberhygieniker einmal zu unterhalten!« rief der Arzt in sichtlicher Empörung.

»Sie meinen den Minister der medizinischen Philosophie. Wir stehen gerade vor seiner Behausung, allein wir dürfen ihn nicht stören, da er seit Monaten unausgesetzt an einem großen Werk arbeitet, das den Titel führt: Welche sittlichen Pflichten besitzt der Mensch gegenüber den Kokken, die den Milzbrand hervorrufen, mit besonderer Berücksichtigung der Leitsätze aus de officiis von Cicero. Sie ersehen hieraus die Vielseitigkeit unserer Behörden, die nur dadurch ermöglicht wird, daß sie die Nebensächlichkeiten vernachlässigen. Wir haben übrigens noch ein weiteres Mittel in der Hand, um der Übervölkerung entgegenzuwirken, nämlich die künstliche Abtreibung, die von Plato direkt angeordnet, durch unsere Ärzte zu einem unglaublich hohen Grade technischer Vollendung gediehen ist. Interessant ist dabei, daß Plato persönlich sich noch höchst abfällig über die Hippokratischen Ärzte äußerte und ihnen in seinem Staatswerk ihre damalige lebenverlängernde Routine zum Vorwurf machte, ja geradezu zum Verbrechen stempelte. Wir haben Ursache zu der Annahme, daß Plato die Ärzte unserer Insel weit beifälliger beurteilen würde, da diese, wie gesagt, im Abortus quantitativ wie qualitativ Epochales leisten.«

»Ich hoffe doch,« bemerkte ich, »daß diese Prozedur nur dann vorgenommen wird, wenn die regelrechte Entbindung für die Mutter eine Lebensgefahr darstellt? Sicherlich haben Sie doch in Ihrem Strafgesetzbuch einen Paragraphen, der für alle anderen Fälle die Vernichtung keimenden Lebens mit harter Strafe bedroht?«

»Dieser Paragraph lautet bei uns anders. Er verbietet nicht, sondern er befiehlt den künstlichen Abortus, und er bestraft strengstens diejenigen, die ihn unterlassen; wenn nämlich nach Lage der Dinge Platos Wille in Kraft zu treten hat. Denn genau so klar wie er anordnet, daß kein Vater und keine Mutter ihre leiblichen Kinder unterscheiden noch von diesen unterschieden werden können, genau so klar setzt er für Vater- und Mutterschaft die Altersgrenze fest, jenseits deren abgetrieben werden muß.«

»Und bei aller Verehrung für Plato erkläre ich das für eine Barbarei! Es widerspricht den elementaren Sittenforderungen und den heiligsten Empfindungen, die wir für das Leben der jungen Generation zu hegen haben.«

»Dann müßten Sie auch Lykurg verdammen, der vielleicht noch radikaler als Plato auftrat und auf dessen Rechnung doch die Ertüchtigung der Spartaner zu setzen ist. Außerdem überlegen Sie einmal, wieviel Menschenopfer an Kinderleben wir bringen, und wieviel ihr Europäer ohne Plato-Staat, mit eurem humanen Bewußtsein. Vergleichen Sie numerisch die Liste unserer Keimtötung mit der euren, die sich unter dem Motto einer Hungerblockade vollzog. Hier sind es wenige Tausende, dort Millionen. Hier wird mit raschem Eingriff operiert, dort geschah das raffiniert langsame Morden. Hier besteht ein Zweck, der letzten Endes auf das Beste der Überlebenden hinauswill, dort waltete eine vom kalten Egoismus ersonnene Methode. Oder lassen Sie lieber die Vergleiche zwischen Euren Ländern und der von Ihnen entdeckten Insel, Sie hätten dabei nichts zu gewinnen!«

* * *

Bettler umschwärmten uns, und ich hielt es für angezeigt, hier und da eine kleine Gabe auszuteilen. Wir waren dazu imstande, da wir uns auf unserer Promenade, was ich vorher zu erwähnen unterließ, in einem großen Bankhause mit ausreichender Münze versehen hatten. Es berührte uns zunächst recht sympathisch, daß der Dollar überhaupt angenommen wurde, wiewohl wir zweifellos die ersten waren, die diese Einheit hereinbrachten. Mac Lintock hatte also recht behalten: die überzeugende Kraft des Dollars kann wie die Lichtgeschwindigkeit und wie die Gravitation als eine Weltkonstante erachtet werden.

Die für alle Inseln des von uns entdeckten Archipelagos gültige Münzeinheit ist die Dragoma, die in je hundert Dragominda zerfällt. Nach ihrer Kaufkraft gemessen würde die Dragoma etwa einem Vierteldollar entsprechen. Wir mußten trotzdem bei der Umrechnung zehn Dollar für den Gegenwert je einer Dragoma bezahlen, was den Amerikaner zu lebhaft gestikulierten, wiewohl vergeblichen Protesten veranlaßte. So eine Valuta-Schneiderei hätte er doch für undenkbar gehalten, und es wäre ein Glück für die Leute, daß auf Balëuto noch keine amerikanische Gesandtschaft existiere, sonst könnten diese Währungsschieber etwas erleben!

Weitere Enttäuschungen folgten. Einer der Bettler, dem ich einige Dragominda geschenkt hatte, warf mir die Münzen vor die Füße mit der Motivierung, das sei falsches Geld. Ich nahm sie auf, ging nach der Bank zurück und stellte den Beamten zur Rede. Der erklärte, das hätte sofort moniert werden müssen, auf nachträgliche Reklamationen könnte sich die Bank nicht einlassen. Erst ein Geschäft perfekt machen und es nachher bemängeln, das sei unphilosophisch und verstoße gegen Treu und Glauben. Übrigens stellte es sich alsbald heraus, daß mindestens 75 Prozent des Geldes echt war, so daß eine ernstliche Verlegenheit für uns nicht entstehen konnte. –

Ich beobachtete eine Szene, die im ersten Moment wie ein hübsches Genrebild anmuten konnte. Etliche Lazzaroni hatten auf Grund der von mir ausgeteilten Münzen an der Straßenecke ein fliegendes Hasard mit Spielkarten etabliert, eine Art von Proleten-Baccarat, das leider sofort in Streit und Handgemenge ausartete. Messer wurden gezückt, Gliedmaßen getroffen, Schreie gellten durch die Luft, und blutig färbte sich der Boden. Gegenüber stand ein behelmtes und bewaffnetes Individuum, offenbar ein Polizist, der von diesen Vorgängen nicht die leiseste Notiz nahm. Er dachte vielmehr tief nach, und es mußte wohl etwas Philosophisches sein, worüber er grübelte. Ich erfuhr später, daß auf der Insel zahlreiche und gutexerzierte Wachmannschaften vorhanden waren, die aber an diesem Tage den Sicherheitsdienst auf der Straße nicht wahrnehmen konnten, denn der Chef der platonischen Gendarmerie hatte sie zu einer Razzia auf die Epiker und Lyriker kommandiert, die der Verfassung zum Trotz in gewissen Spelunken in der Stadt hausten und dichteten. Es war also noch immer nicht gelungen, das versifizierende Gesindel gänzlich auszurotten.

Wir überschritten eine Brücke und bemerkten darunter ein träge schleichendes Mittelding zwischen Bach und Fluß, das zwar mit grünlichem Farbenspiel optisch ganz interessant wirkte, aber aromatisch stark und nicht erfreulich auf die Nase fiel. Als ich unvorsichtig genug auf diesen pestilenzialischen Übelstand hinwies, empfing ich die Belehrung, daß ich die Wichtigkeit der Geruchsorgane wesentlich überschätze. Nach der Meinung der bedeutendsten Philosophen von Thales bis Kant sei die Nase ein ganz untergeordneter Sinn, auf den praktisch Rücksicht zu nehmen denkender Menschen absolut unwürdig wäre. Von dieser Maxime ausgehend lehne es die Platonische Republik grundsätzlich ab, etwas für die Stromreinigung zu tun, zumal es sich gezeigt habe, daß die Flußpestilenz gewisse Krankheiten begünstige, auf deren Erhaltung die Apotheker der Republik und die Leichenbalsamierer großen Wert legten. –

Ebensowenig wie dieses fließende, gefielen mir die festen, monumentalen Gebilde, die sich auf den Plätzen der Stadt sehen ließen. Historisch genommen befanden sich ja die Bildhauer und Baumeister von jeher in schlimmer Lage, da sie ursprünglich in die allgemeine Verurteilung aller Künste einbegriffen waren. Und unter dem Druck dieser Verachtung litten sie natürlich in geistiger Hinsicht, selbst als man schon angefangen hatte, sie als leidige Unentbehrlichkeiten im Staatswesen zu erachten. Phidiasse und Michelangelos können sich nicht entwickeln, wo man ihresgleichen nicht verehrt, sondern eben nur duldet.

Wir standen vor einem Werk, das ein Doppelmonument vorstellte und dem Genius des Musterstaates entsprechend einen philosophischen Gedanken in bronzener Massigkeit verkörperte. Es waren zwei riesige Gestalten, die hier als Dioskuren auftraten, so wie Goethe und Schiller in der Rietschel'schen Kolossalgruppe von Weimar. Nur daß die beiden Figuren sich hier in anderer, und zwar symbolisch gemeinter Anordnung präsentierten. Die eine war, wie zu erwarten, Plato, der erhabene Schutzpatron, der andere, wie aus der Inschrift hervorging: Immanuel Kant. Zum Ausdruck sollte gebracht werden, daß Kant's Philosophie des transzendentalen Idealismus sich aus der Platonischen Ideenlehre entwickelt habe, oder anders gesagt, daß Kant auf den Schultern Platos stünde. Das wäre nun in Erz schwer auszudrücken gewesen, wenn nicht der Bildner auf den genialen Einfall geraten wäre, die Allegorie ganz wörtlich zu nehmen, das heißt, den Königsberger Denker tatsächlich dem Athener über die Schultern zu hängen und darauf reiten zu lassen. Dergestalt kam die Idee »Plato als Träger Kants« ganz klar heraus. Freilich blieben noch störende Einwände, so die anatomisch ganz falsche Gestaltung beider Männer, die schief eingeschraubten Beine und die unmöglichen Proportionen zwischen Kopf, Brust, Rücken und Extremitäten, Einwände, die indes in uns auch heimatliche Erinnerungen weckten, da wir ähnliche Skulpturen in unseren eigenen futuristischen Ausstellungen gesehen hatten.

Die Philosophie fand in diesem Doppeldenkmal noch ein weiteres Symbolbereich, nämlich dadurch, daß der geräumige Sockel zu einer Bedürfnisanstalt ausgebaut war. Hierin lag der Absicht nach eine Ovation für Kant und seine berühmten Antinomien, da die reale Bestimmung des Sockels einen antinomischen Gegensatz zu der idealen Transzendenz des Oberbaues ausdrücken sollte. Außerdem barg die genannte profane Anstalt noch eine besondere philosophische Pointe: sie trug die Umschrift »Herakliteion«, zeigte im Innern das Relief Heraklits und darunter in griechischer Schrift dessen Hauptsatz παντα ῥει (panta rhei, alles fließt), wonach nicht zu zweifeln, daß das Gesamtwerk sich sehr wohl in einen durchaus von Philosophen regierten Staatsorganismus einfügte. –

Was die Baumeister anlangt, so lag für sie die Schwierigkeit einerseits in dem Mangel einer Tradition, andererseits an dem Platonischen Grundgesetz, welches die Schönheit als unsittliche Üppigkeit befehdet. Einige Architekten hatten sich dadurch geholfen, daß sie das Verhältnis zwischen Vorderfront und Rückseite umkehrten, indem sie den Privathäusern garstige Fassaden gaben, wie Kalkscheunen, während sie ganz hübsche architektonische Gliederungen in die von der Straße aus unsichtbaren Hinterfronten versteckten. Bei anderen hatte die Aufsichtsbehörde ein Auge nachsichtig zugedrückt. Wir sahen einige Barbierläden, Pfandleihen, Schlachthäuser und Abdeckereien, die ihre baulichen Modelle, wiewohl nur in schüchterner Anlehnung, von der Akropolis und vom Parthenon herholten; wogegen allerdings die Museen und überhaupt alle Staatsgebäude die strengste platonische Kunstfeindlichkeit anstrebten, so daß man sie beim ersten Anblick für Kornspeicher, Trödelschuppen oder Ochsenställe halten konnte.

Eines dieser Staatsgebäude wurde uns als das Oberkriminalgericht bezeichnet, und wir hatten das Glück, gerade dem Schlußakt eines aufsehenerregenden Strafprozesses beizuwohnen. Dieser spielte schon seit Wochen und empfing seine Wichtigkeit dadurch, daß er eine das Staatswohl in seinem Lebensnerv berührende Angelegenheit betraf.

Angeklagt war ein Mann, der als Führer einer zwar kleinen, aber sehr rührigen Anarchistenpartei galt. Das Programm dieser Ultra-Radikalen ging dahin, daß die Hauptnorm des Staates umgestürzt und dafür die Kunst, insonderheit die Poesie, als Herrscherin aufgerichtet werden sollte.

Jener Führer, mit Namen Sarasalgo, hatte im Verlauf seiner revoluzelnden Ideen einen wahrhaft diabolischen Kunstgriff getätigt. Er veröffentlichte ein von ihm verfaßtes hexametrisches Lehrgedicht nach dem Vorbild des Lukrez, worin er die Grundgedanken der Platonischen Dialoge dichterisch darstellte und mit künstlerischem Schwung verherrlichte. Seine grausame List lag also in folgender ideellen Zwickmühle: Da ich den Plato und die ideelle Kalokagathie anjuble, so muß mich unser Inselstaat in jeder erdenklichen Weise bevorzugen, auszeichnen und sogar zum Regenten befördern. Gibt er mir aber die Gewalt, so habe ich diese doch nur als Poet errungen, durch meine brillanten, üppigen Hexameter, und wenn diese als preiswürdig anerkannt werden, so muß in logischer Folge dieser ganze Anti-Poeten-Staat zusammenbrechen.

Der Staatsanwalt, eine Kreatur des Ministerpräsidenten, nahm die Zwickmühle genau am entgegengesetzten Ende auf. Wir hörten sein letztes Plaidoyer, das in den Worten mündete: »Der Angeklagte Sarasalgo geht durchaus fehl in der Annahme, daß wir ihm auf den schlüpfrigen Boden seiner Sophistik folgen werden. Für uns liegt der Fall evident so: er hat gedichtet, und damit ist die Voraussetzung des Strafparagraphen erfüllt. Wenn er in seinen Versen anscheinend Plato lobpreist, so erkenne ich darin nur ein Manöver, um aus dem Hinterhalt und auf Schleichwegen Straffreiheit zu ergaunern. Es liegt nicht so, daß er davonkommen darf, um den Staat zu ruinieren, sondern so, daß wir den Staat retten müssen, indem wir den Mann verurteilen. Schon haben wir uns einer Unterlassungssünde schuldig gemacht, da wir einige Exemplare seiner Dichtung hinausließen, anstatt sofort die Leibesfrucht seiner Muse abzutreiben, als sie von ihm trächtig wurde. Jetzt aber heißt es: durchgreifen!« Er beantragte die höchste zulässige Strafe und schloß mit einem an Voltaire anklingenden Kernworte, das soviel besagte als Ecrasez l'infame!

Und die Infamie des Künstlers wurde wirklich getroffen. Das Verdikt lautete auf lebenslängliche Verbannung nach der Straf-Insel Krakaturi und Vernichtung aller Exemplare und Platten. Das Prinzip der Gerechtigkeit und Sittlichkeit im Platonischen Staat hatte gesiegt.

* * *

Am nächsten Tage begaben wir uns in die Aula der Akademie, wo die Feierlichkeiten zum Hundertjahr-Jubiläum ihren Anfang nahmen. Als Einleitung gab es eine Festkantate für Soli, Chor und Orchester, deren musikalischer Sinn mir, wie ich vorausschicke, unverständlich blieb.

Plato selbst hat die Stellung der Musik in seinem Staatskörper nicht ganz unzweideutig definiert. Als zur Gesamtkunst gehörig kann sie ja seiner prinzipiellen Verurteilung nicht entgehen, nichtsdestoweniger gestattet er in beschränktem Grade deren Ausübung, vornehmlich in Verbindung mit der Gymnastik. Aus einigen Stellen seines Werkes kann man sogar die Begünstigung eines Verfahrens herauslesen, das man als ein symphonisches Turnen bezeichnen darf, und wir hatten weiterhin Gelegenheit, derartigen Übungen beizuwohnen. Auch hier in der Aula wurden im Mittelteil des Festes Sonaten am Schwebereck, Rondos an der Kletterstange und kontrapunktierte Fugen am Springbock vorgeführt. Darüber hinaus verordnet Plato wörtlich, daß alle sanften und weichlichen Tonarten aus seiner Republik zu verweisen sind, die Musik solle seinen Bürgern weder Freude noch Traurigkeit einflößen; alle jonischen, lydischen und mixolydischen Harmonien, alle Trink- und Liebeslieder sind zu verbannen; er erklärt die vielsaitigen Instrumente und gewisse Flöten als gefährliche Werkzeuge der Üppigkeit, gestattet dem Landvolk nur die Rohrpfeife, den Städtern nur die Leyer und die Zither; er beschränkt mithin die tonkünstlerischen Möglichkeiten auf das Alleräußerste und drückt die Instrumentierung auf eine Stufe, bei der kaum ein Komponist im Lande der Hottentotten sein Auskommen finden würde. Es muß festgestellt werden, daß die Musiker unserer Insel sich von dieser extremen Strenge bereits merklich emanzipiert hatten, weil sie sonst überhaupt nicht imstande gewesen wären, zu ihrem Jubelfeste eine Kantate aufzuführen. Immerhin hielten sich die Insulaner insoweit an das Platonische Programm, als ihr Chorwerk keine Freude, sondern in der Hauptsache nur eine gewaltige Ohrenpein verursachte, wenn ich als Maßstab die Empfindlichkeit unserer eigenen Ohren ansetze.

In der Zwischenpause flüsterte mir Eva zu, sie könne das überhaupt nicht mehr aushalten und müsse fliehen. Ich versuchte, sie zu beruhigen: der Übelklang dieser Musik darf uns nicht veranlassen, sie restlos zu verwerfen. Wir haben uns ja auch in unseren heimischen Konzerten an allerlei katzenmusikalische Kakophonien gewöhnt und wissen aus der Kunstgeschichte, wie sehr sich die Rezeptivität der Hörer verändert. Vielleicht ist uns das große Publikum dieser Aula, das so andächtig und sichtlich erbaut zuhört, schon um Jahrzehnte oder Jahrhunderte im Urteil voraus.

Eva widersprach: »Niemals werde ich mich überzeugen, lassen, daß eine wirkliche Musik von den Grundlagen des Taktes, der Tonalität und der reinen Stimmung abgetrennt werden kann. Immer wird ein Unterschied bestehen zwischen Stümpern und Könnern, wie zwischen dem Gekrächz eines Raben und dem Gesang einer Nachtigall. Mich empört nicht die Tatsache, daß diese Leute anders melodisieren und harmonisieren, sondern daß sie falsch musizieren, mit Instrumenten, von denen jedes für sich und alle untereinander so greulich verstimmt sind. Wenn man mir ins rechte Ohr B-dur und gleichzeitig ins linke Ohr B-moll bläst, so muß es zum mindesten wirkliches B-dur und B-moll sein, nicht aber ein Gequiek wie von ungeschmierten Türen, die zufällig in B quietschen.«

»Liebes Fräulein Eva, auch daran werden wir uns gewöhnen müssen, hier und daheim bei uns. Nehmen Sie diese Musik als eine Vorbereitung zu den Konzerten, die uns zu Hause erwarten.«

Das Orchester intonierte aufs neue zu einem glücklicherweise nur kurzen Finalsatz, in den mehrfach spontaner Beifall der bewundernden Hörerschaft hineinbrauste. Dieses Finale wurde auswendig vorgetragen, ganz ohne Noten und Dirigenten, und ich erfuhr später, daß damit eine ganz besondere Kunstübung geboten wurde: Der Komponist hatte vorgeschrieben, daß hier jeder der Ausübenden in Orchester und Chor ganz frei improvisieren sollte, jeder ohne welche Rücksicht auf die Übrigen, was und wie es der Moment ihm gerade eingäbe. Sicherlich wird dadurch eine weit größere Freiheit erzielt, als in der sklavischen Bindung an Partitur und Stimmen jemals erreicht werden kann. Da wäre also noch viel zu lernen für unsere europäischen Tonsetzer, die von der alten Schablonenfexerei nicht loskommen, immer erst aufzuschreiben, was nachher gespielt werden soll.

* * *

Nach Erledigung der Kantate betrat der Magnificus der Akademie, Mitregent des Staates, das Podium zu einer langen, feierlichen Ansprache, die hier auf den zwanzigsten Teil verkürzt eine aphoristische Wiedergabe erhalten möge:

Festgenossen! Wäre uns der Homer nicht verpönt und verboten, so müßte ich mit den Worten beginnen »Andra moi ennepe«. Und die Muse hätte mir zu antworten: der Mann, den du meinst, der Mann, der eurem staatlichen Leben den Inhalt gibt, es ist Plato, der Imperator unter den Denkern, der einzige und vor allem der erste, der gewußt hat, wie man ein Volk herrlichen Zeiten entgegenführt.

Durch ihn sind wir einer Fülle von Segnungen teilhaftig geworden, wie sie sich – das behaupte ich kühn, weil Ihrer Zustimmung sicher – über keine andere Menschengemeinschaft der Erde ergossen hat. Weil es uns allein vorbehalten war, sein System zu realisieren, das für die anderen bis auf diesen Tag nur ein Gegenstand scheuen Bestaunens geblieben ist.

Dieses System beruht auf der berühmten, von aller Welt gefeierten, aber nur von uns voll begriffenen »Ideenlehre«. Sie gibt uns die Idee als Begriff außerhalb der Erscheinung und, tiefer erfaßt: im Gegensatz zur Erscheinung. Aus dem Zufallsding, das wir Mensch nennen, abstrahieren wir die Idee der Menschigkeit, aus dem Löwen die Leonitas, aus dem Esel die Asinität, aus den Gesetzen die Gesetzigkeit. Unsere Aufgabe war es, den eben erwähnten Gegensatz zu betonen und zu verschärfen; also die Gesetzigkeit so zu gestalten, daß sie sich vom Gesetz möglichst loslöst, und die Gerechtigkeit so, daß sie dem konkreten Recht widerspricht. Gelingt dies, so nähern wir uns dem Platonischen Staatssystem, welches verordnet, daß nur Philosophen, das sind Menschen, welche jene Ideenlehre begriffen haben, die Herrschaft ausüben dürfen.

Darin erschöpft sich aber ihre Sendung noch nicht. Sie haben vielmehr dafür zu sorgen, daß die Philosophie im Allgemeinen und ihre Philosophie im Besonderen alle Schichten des Volkes durchdringt. Es gibt ein lateinisches Sprichwort »primum vivere, deinde philosophari« – erst muß man leben, nachher philosophieren. Da wir das Prinzip des Kontrastes befolgen, so erklären wir dieses Wort für einen Unsinn und verordnen: zuerst philosophieren, dann erst leben! Der überaus glückliche Zustand, in dem sich unser Eiland befindet, beweist deutlich genug, daß wir mit dieser Umkehrung das Rechte getroffen haben.

Schon heute, beim Feste, darf ich es ankündigen, daß wir demnächst über das erreichte sehr erhebliche Maß hinaus neue Lehrkurse einrichten werden. So für Bartscheergehilfen einen Kursus über die philosophische Methode des Parmenides und für Rollkutscher eine propädeutische Einführung in die Plato-Sokratische Ethik.

Einige obere Verwaltungsstellen sollen neu besetzt werden. Wo viel Licht, da darf es uns nicht Wunder nehmen, daß wir auch etliche Schatten bemerken. Es sind uns einige Klagen zu Ohren gekommen darüber, daß unser Postdienst nicht ganz exakt funktioniert, und daß beispielsweise im vorigen Monat achtzig Prozent aller ausgelieferten Briefe spurlos verschwunden sind. Um auch in dieser Hinsicht die größtmöglichste Vollendung zu gewinnen, wird das Postressort demnächst großzügig erweitert und einem Fachminister für Transzendental-Aesthetik anvertraut werden.

Betreffs der Volksmoral herrscht bei uns nur eine Stimme – wenn ich das Häuflein der anarchistischen Plato-Gegner ausnehme, die wir zerschmettern, wo sie uns entgegentreten. Die Kriminalität ist, statistisch genommen, fast auf den Nullpunkt gesunken, seitdem unsere Gerichte gelernt haben, den Plato-Sokratischen Grundsatz richtig anzuwenden: »Unrecht leiden ist besser als Unrecht tun.« Hier kam alles auf Konsequenz an, und zu unserer Ehre sei es gesagt, die Tribunale dieser Insel arbeiten konsequent, indem sie das Unrecht leiden. Als äußerst vorteilhaft für die Gesamt-Sittlichkeit hat es sich auch erwiesen, daß wir die Verherrlichung der Knabenliebe aus Platos Symposion und Phädros in unser Staatswesen übernommen haben. Diese zwei Elemente, die Päderastie einerseits und die Verlosung des Jungfernschaftsbeischlafs andererseits, diese zwei echtplatonischen Elemente, sagte ich, haben sich bei uns zur allgemeinen Befriedigung als eine Segensquelle erwiesen, um die uns die ganze Außenwelt beneiden wird, wenn erst einmal die Ausländer ungetrübten Einblick in unsere Zustände erhalten.

Hierzu ist nun ein erster Anfang gemacht, und ich entledige mich einer angenehmen Pflicht, wenn ich hier als Festredner die ersten Fremdlinge begrüße. Sie weilen heut unter uns als Entdecker des Eilands, das für sie eine »ultima Thule« darstellt, um mit Vergil zu reden, der zwar als Dichter ein nichtsnutziges Subjekt war, aber mit dieser Bezeichnung ein auch für anständige Prosa brauchbares Wort geschaffen hat. Ich hoffe, daß die fremden Gäste, für deren gastfreie Aufnahme unsere Stadtverwaltung gesorgt hat, bedeutende Eindrücke davontragen werden, zum späteren Heil der Länder, denen sie entstammen. Sie werden erzählen, daß sie hier eine Verfassung angetroffen haben, die innerlich gefestigt sich seit Urzeit vollkommen bewährt; im Gegensatz zu den Verfassungen ihrer Länder, die von Pfuscherhänden geformt, fortdauernder Quacksalberei unterliegen. Jetzt zum ersten Mal werden sie erkennen, woher es rührt, daß bei ihnen zu Haus keine Stetigkeit waltet, und alles in endlosen Experimenten drunter und drüber geht. Es rächt sich an ihnen fortgesetzt und bitter, daß kein Philosoph mit tiefdurchdachtem System bei ihren Staatsorganismen Pate gestanden hat. Vielleicht ist es auch für jene Kontinente schon zu spät, um sich zu unserem Ideal zu bekennen, und sie werden in diesem Fall aus der Verelendung nicht mehr herausfinden. Immerhin, wenn sie auch nur einige unserer Platonischen Einrichtungen zu sich überpflanzen, werden sie daraus etliche Öltropfen gewinnen, um ihren verrosteten Staatsmaschinen über die ärgsten Reibungen hinwegzuhelfen. – –

Hierauf verkündete der Vizepräsident der Akademie die Verleihung der zum Jubiläum fälligen Staatspreise. Mit Medaillen und Ehrendiplomen wurden unter anderen die Urheber folgender Druckwerke bedacht:

»Die Homöomerien des Anaxagoras in ihrer Anwendung auf die Prüfung der Konsistenz des weiblichen Busens.«

»Warum ist Glaukon, der bei Plato hohnvoll von einer ›Schweinerepublik‹ redet, nicht hingerichtet worden?«

»Wenn Plato fordert, daß der Staatsbeschützer schlechterdings Philosoph sein muß, wenn er andererseits feststellt, er müsse sich benehmen ›wie ein tüchtiger Hofhund‹, – welche Merkmale ergeben sich hieraus für den Logos, die Dialektik und die Syllogismen der Hofhunde?«

»Entwurf einer buntillustrierten Kinderfibel mit den Anfangsgründen der Aristotelischen Topik und Metaphysik.«

Im Anschluß hieran gab der Sprecher bekannt, daß den Anwesenden besonders gute Plätze auf den Straßentribünen zur Verfügung ständen. Der Festzug begänne morgen nachmittag um vier Uhr nach mittelpolynesischer Zeit. Er fügte hinzu: Wie alle unsere Veranstaltungen wird auch dieser Zug vom Geiste der Philosophie durchweht sein, das Wort im Sinne der Fakultät genommen, also mit Einschluß der Physik, Mathematik und Astronomie. Er wird dartun, daß auf diesen Gebieten die hohe Einsicht sich sehr wohl mit einer liebenswürdigen, eleganten, ja sogar heiteren Darstellung verträgt. Dieser Festzug der Wissenschaft soll also zugleich ein Zug der Fröhlichkeit werden. Unsere verehrten Gäste werden hier wiederum Anlaß zu Vergleichen finden. Es ist uns aus den Berichten unserer Emissäre, wie aus bildlichen Darstellungen, die sie mitbrachten, bekannt geworden, daß auch in Europa gewisse Züge mit launigem Anstrich veranstaltet werden, insonderheit zu Zeiten, die sie wegen des Nahrungsmangels Fleischabschied nennen, Carnevale. Derartige karnevalistische Umzüge spielen dort namentlich in Rom eine Rolle, wie auch in einer hierorts fast unbekannten Stadt Colonia-Agrippina, die neuerdings Köln heißt. Es bleibt unverständlich, wieso die Europäer daran Gefallen finden können, da sie ihren Gruppen grundsätzlich ein ganz verfehltes Programm unterlegen: sie glossieren und verspotten darin ihre eigenen politischen und sozialen Zustände, mithin Dinge, die gar nicht karikiert werden können, da sie ja schon an sich und in natura Karikaturen sind. Eine sinnvolle Beziehung ermöglicht sich erst dann, wenn ernste, edle, als gültig anerkannte Themen der Parodie und Travestie untergelegt werden, also wissenschaftliche Dinge, denen wir eine volksmäßig derbe Physiognomie abgewinnen, und die gleichsam vom Genius der Heiterkeit bestrahlt, humoristische Schatten werfen. –

Herr Yelluon machte uns darauf aufmerksam, daß wir gar nicht nötig hätten, uns in eine Tribüne einpferchen zu lassen, da wir den Zug weit bequemer von den Fenstern unserer Wohnung aus betrachten könnten, bei der er in voller Ausdehnung vorbeikäme. Das war uns natürlich sehr erwünscht, schon unserer Dame wegen, die auf der freien Tribüne unter den grellen Sonnenstrahlen gelitten hätte.

Ich beabsichtige keineswegs, den ganzen Verlauf des Zuges reporterhaft zu schildern. Nur einige wenige Einzelheiten seien herausgegriffen.

Da kam auf einem geschmückten Wagen Demokrit, der lachende Philosoph, umgeben von den Bürgern seiner Vaterstadt, den Abderiten, welche pappene Schafsnasen trugen, während sich die schönen Abderitinnen im Federkleid der Gimpel präsentierten. Hier sollte in einem sinnvollen Auftakt gezeigt werden, wie sich ein echter Philosoph aus den Nöten der menschlichen Torheit in göttlichem Gelächter befreit. Dieser Demokrit (im Zivilberuf Komiker des Staatstheaters von Balëuto) verstand nun in der Tat so anhaltend und dröhnend zu lachen, daß er mit seinen Explosionen die ganze Bevölkerung ansteckte. Und mit dem Krimstecher nahm ich wahr, daß eine der vollbesetzten, vom Staatsarchitekten erbauten Tribünen unter der Wucht des allgemeinen Lachgeschüttels zusammenkrachte. Was, abgesehen von den zahlreichen Zerdrückten und Verwundeten, ein schönes Zeugnis ablegte für die Zweckmäßigkeit und Kalokagathie eines Gelächters, wie es nur aus den seelischen Gründen eines gereiften Weltweisen entströmen kann.

Die Hauptfigur eines anderen Wagens war der Philosoph Empedokles aus Agrigent, der sich bekanntlich um die profundesten Tiefen des Seins und Werdens zu erforschen, anno 430 vor Chr. in den glühenden Schlund des Ätna gestürzt hat. Dieser epochale Vorgang wurde auf dem Gefährt durch einen Miniaturvulkan wiedergegeben, in dessen Inneren der Staatspyrotechniker ein sprühendes und seiner Versicherung nach gänzlich unschädliches Feuerwerk (flamma frigida) angebracht hatte. Der große Empedokles sprang also periodisch oben hinein, kroch unten aus einer Klappe wieder hervor und setzte diese erkenntniskritische Übung fort, so lange der Zug währte. Oder wenigstens beinahe so lange. Denn eine Viertelstunde vor Schluß des Festes zog man ihn verkohlt aus dem hübschen, aber, wie sich herausstellte, doch nicht ganz ungefährlichen Ätna. Und die Duplizität der Ereignisse fügte es, daß sich auf einem anderen Wagen, der den Feuertod des Philosophen Giordano Bruno ebenfalls mit flamma frigida versinnbildlichte, eine ähnliche Episode ereignete.

Sehr lustig ging es dagegen auf einem Aufbau zu, der das Platonische »Gastmahl« in einer lebensechten, dem Texte Platos nachgeformten Gruppe abbildete. Da saßen sie, die pokulierenden Wahrheitsfinder des Altertums, bei denen sich zum ersten Mal die ganze Bedeutung des Wortes offenbarte: in vino veritas. Man konnte es ordentlich verfolgen, wie der Geist der Getränke in den Zechgenossen aufstieg, um in Gasen der Erkenntnis aus ihren beredten Mündern herauszudünsten. Mit parodistischer Freiheit war dafür gesorgt worden, daß bei diesem akademischen Gelage der Sokrates doch noch etwas mehr in sich hineinpumpte, als er nach Platos Erzählung vertrug. Zu den geschichtlich beglaubigten, ungeheuerlichen Quantitäten, die er damals konsumierte, tat er hier noch ein Übriges, so daß er schließlich wie ein besoffenes Schwein unter den Tisch des Agathon fiel; was ihn nicht hinderte, auch noch in diesem Zustande, gleichsam im delirium tremens, fortzuphilosophieren und dem Aristodemus die herrlichsten Offenbarungen über die Unsterblichkeit der Seele entgegenzurülpsen. Der Aristophanische Effekt der fahrenden Gruppe bewährte sich vollkommen, und ich muß sagen, daß mir aus dieser eindringlichen Pantomime die Bedeutung des Symposion klarer geworden ist, als aus der Lektüre des Platonischen Originals.

Auch der Tanz kam zu seinem Recht, und zwar in Verbindung mit Geometrie und Astrophysik, also in einem weiten Horizonte, der von den Pythagoreern bis in die Neuzeit reichte.

Auf einer von acht himmelblau lackierten Stuten gezogenen Plattform, die das Universum vorstellte, erblickte man als Zentralkörper die Sonne in Form einer Matrone mit Strahlendiadem. In kurzen Abständen von ihr kreisten die Planeten, nämlich Merkur, Mars, Jupiter bis Neptun als Jünglinge, während Venus, die Erde und die Asteroiden durch entzückend kostümierte, beziehungsweise entkostümierte Mädchen verkörpert wurden. (Der halblaute Zuruf des Doktor Wehner: »Asteroiden mit Krätze« machte mir keinen besonderen Eindruck, da ja die Gestirne überhaupt nach Hegel nichts anderes sind, als ein leuchtender Aussatz am Himmel.) Hier nun vollführten die Planeten um die Sonne Tanzbewegungen, die ganz genau den Keplerschen Gesetzen entsprachen, und es war eine Freude zu sehen, wie streng in den getanzten Ellipsen die Proportionen zwischen den Quadraten der Umlaufszeiten zu den Kuben der Entfernungen herauskamen. Auch hier zeigte sich der Segen der von Plato so dringend empfohlenen mathematischen Disziplin: als der Knabe Merkur einmal einen kleinen Verstoß gegen Kepler beging, erhob sich die Sonne vom Thron und gab ihm eine zentrifugale Ohrfeige, so daß der irrende Stern aus dem Universum hinaus aufs Straßenpflaster flog.

* * *

Nachdem wir unsere Studien auf der Insel abgeschlossen hatten, erklärten wir unserem freundlichen Herbergsvater, daß wir nunmehr unsere Entdeckungsreise nach weiteren Gebieten auszudehnen wünschten. Er versuchte auf alle erdenkliche Weise, uns noch zurückzuhalten und machte sich anheischig, den Herren für nächste Woche eine Beteiligung an der bevorstehenden Jungfern-Lotterie zu verschaffen. Der Kapitän Ralph Kreyher schien auch wirklich schwankend zu werden, allein er wurde überstimmt, und wir schickten uns an, mit Dankesworten Abschied zu nehmen.

Wider Erwarten präsentierte uns der Wirt eine Rechnung. Wieso? Wir hatten doch gehört, daß wir uns als Gäste der Stadt zu betrachten hatten? Ja, das stimmte schon, allein der vom Stadtkämmerer ausgestellte Freischein mußte verstempelt werden, und dieser Stempel ging zu unseren Lasten; die Gebühr betrug mehr, als der Aufenthalt im ersten Gasthof gekostet hätte. Ad 2 wurde die Fenstermiete für die Besichtigung des Festzugs aufgeschrieben. Denn – so erläuterte jener – die städtische Gastlichkeit erstrecke sich zwar auf Obdach und Verpflegung, aber nicht auf Dinge außerhalb der Wohnung; und nach Plato wäre zu unterscheiden zwischen der Idee des Fensters an sich und der Idee des Fensters als optischen Hilfsmittels. Ad 3 fiel nach einer Magistratssatzung der Kaffee nicht unter den Begriff der Beköstigung. Wie ja auch bei Plato die eingeladenen Gäste sehr viel vorzügliche Tafelgenüsse, aber niemals Kaffee empfangen haben. Dieser wurde daher besonders notiert und zwar pro Tasse mit vier Dollars, was nach dem damaligen Weltkurse etwa 940 Mark ausmachte. Nur das Bewußtsein, daß mich diese Rechnungsbegleichung nichts anging, sondern auf das Mac Lintocksche Expeditionskonto entfiel, bewahrte mich vor dem Schicksal, bei diesem Abschied von unserem gütigen Amphitryon aus der Haut fahren zu müssen. –

* * *

Während auf der Atalanta die Vorbereitungen zur Abfahrt getroffen wurden, versammelten wir uns zu Vieren im Schiffssalon, um das Fazit unserer Erfahrungen zu ziehen.

– Es läßt sich nicht bestreiten, so begann ich, daß diese platonische Insel wert war, von uns entdeckt zu werden, wiewohl die Gesamtheit der Eindrücke keineswegs als erbaulich anzusprechen ist. Hüten wir uns zunächst vor der Einseitigkeit des Urteils, das so gern an das Neue und Andersartige die Elle des Gewohnten anlegt. Kein Zweifel, die Bewohner von Balëuto fühlen sich in überwiegender Mehrheit glücklich.

– Und da sie sich glücklich fühlen, ergänzte Eva, so haben sie auch ein Recht darauf, es zu sein; und das Recht, die Bedingungen ihres Glückes als die allein gültigen zu betrachten.

Donath: Von diesem Recht machen sie auch Gebrauch. Ich hörte im Vorbeigehen zwei Insulaner mit einander reden und entnahm ihrem Gespräch den Satz: »Am Balëut'schen Wesen wird die Welt einst genesen.«

Der Arzt: Erstaunlich bleibt es dabei, daß diese Leute von einem System ausgehen, das man doch beim besten Willen nur als total verrückt, als die Ausgeburt einer Hirnverbranntheit bezeichnen kann.

Ich: Somit stehen wir vor der Aufgabe, ergründen zu müssen, wieso sich der Weltruhm des Platon mit der Tatsache verträgt, daß wir ihn als einen Verrückten und Hirnverbrannten erkennen.

Donath: Ich glaube, wir können uns die Aufgabe erleichtern, wenn wir von der Annahme ausgehen, daß neun Zehntel aller Philosophie überhaupt blanken Blödsinn darstellt . . .

Eva: Schopenhauer ausgenommen, möchte ich mir doch ausbitten.

Donath: Gerade mit Ihrem Schopenhauer würde ich mich darüber gut verständigen. Denn da dieser nur eine Philosophie anerkennt, nämlich die seine, und nicht Schmähworte genug findet für den größten Teil der übrigen, da ferner Schopenhauer auf Kant fußt, Kant auf Plato, so möchte ich eigentlich wissen, was noch von der Philosophie übrigbleibt, wenn wir von ihr alles Unsinnige abziehen.

Eva: Wenn man nur wüßte, an welche Instanz man sich zu halten hat, um zwischen Sinn und Unsinn zu unterscheiden.

Donath: Natürlich an den gesunden Menschenverstand!

Ich: Aber der ist ja auch schon in Mißkredit geraten, und besonders die neuen, auf dem Grenzgebiet zwischen Philosophie und Naturkunde arbeitenden Forscher haben ihn uns als einen höchst unzuverlässigen, nur von seinen Vorurteilen lebenden Gesellen enthüllt. Wir kommen aus diesem fehlerhaften Zirkel niemals heraus. Wir verlassen uns zur Wahrheitsprüfung auf unser Gehirn, weil es so ausgezeichnete wissenschaftliche Beglaubigungen aufweist. Und wir übersehen dabei regelmäßig, daß es doch wiederum das nämliche Gehirn ist, das sich alle diese glänzenden Zeugnisse ausgeschrieben hat. Von einer höheren Warte gesehen, zerfiele vielleicht alles Denken überhaupt in dilettantischen Unsinn und fachmännischen Unsinn.

Donath: Nur daß der dilettantische Unsinn niemals so prätentiös auftritt und sich in bescheideneren, um viele Grade einfacheren Formen kundgibt. Da kann einem die Wahl nicht schwer werden. Ich für meine Person würde es schon der Einfachheit wegen lieber mit dem gemeinen Denken halten.

Ich: Auch das ist schon ausgesprochen worden. Und wenn der Klassiker, an den ich denke, sein Bekenntnis auch einem Abderiten in den Mund legt, so bleibt es doch ein klassisches Zeugnis, das uns wertvoll wird, angesichts der horrenden Bocksprünge Platos und der Platoniker. Er sagt ungefähr: Die größten, gefährlichsten, unerträglichsten Narren sind die wissenschaftlichen Narren. Ohne weniger Narren zu sein als andere, verbergen sie dem denkunfähigen Haufen die Zerrüttung ihres Kopfes durch die Fertigkeit ihrer Zunge und werden für weise gehalten, weil sie zusammenhängender rasen als ihre Mitbrüder im Tollhause. Ein ungelehrter Narr ist verloren, sobald er offenbaren, durch die Tatsachen sofort widerlegbaren Unsinn lallt. Bei dem gelehrten Narren erleben wir gerade das Widerspiel. Sein Glück ist gemacht, sobald er Unsinn zu reden oder zu schreiben anfängt. Denn die meisten, obgleich sie instinktiv spüren, daß sie nichts davon verstehen, sind entweder zu mißtrauisch gegen ihren eigenen Verstand, um klar zu erkennen, daß die Schuld nicht an ihnen liegt; oder zu eitel, um zu gestehen, daß sie nichts verstanden haben. Je mehr also der gelehrte Narr Unsinn spricht, desto lauter schreien die ungebildeten Narren über Wunder, desto emsiger verdrehen sie die Köpfe, um einen Sinn in dem hochtönenden Unsinn zu finden. Jener, gleich einem durch den öffentlichen Beifall angefrischten Luftspringer, tut desto verwegenere Sätze, je mehr ihm applaudiert wird, diese klatschen immer stärker, um den Gaukler zu noch verblüffenderen Sprüngen anzuregen. Und so geschieht es oft, daß der Schwindelgeist eines Einzigen ein ganzes Volk ergreift, und daß, so lange die Mode des Unsinns dauert, dem nämlichen Manne Altäre aufgerichtet werden, den man unter anderen Bedingungen, ohne viel Umstände mit ihm zu machen, in einer Idiotenanstalt versorgt haben würde.

Der Arzt: Mir aus der Seele gesprochen. Die Stelle paßt genau auf das von uns erlebte, denn auf dieser Insel ist ja der gelehrte Narr Plato ein Lebendiger und seine Theorien haben sich hier leibhaftig und gegenständlich ausgewirkt.

Donath: Und man erfährt doch aus solchen Bekenntnissen, daß der gesunde Menschenverstand nie aufgehört hat, gegen die Anmaßungen und Gaukeleien der Fachphilosophie zu rebellieren.

Ich: Das ist allerdings reichlich geschehen. Der eine nimmt Plato, Sokrates, die Sophisten oder Aristoteles zum Objekt, der andere Fichte, Schelling, Hegel oder Herbart, und rechnet man alles zusammen, so ergibt sich das Fazit, daß sich sogar viele Philosophen bemüht haben, die akademisch betriebene Philosophie als einen Gegenstand verdienter Verachtung hinzustellen. Einer der Unsrigen, Eugen Dühring, hat hierfür nur die schärfsten Ausdrücke gefunden, wenn er Kraftworte gebraucht wie: Philosophastischer Cretinismus, Irrenhäuslerei, Paranoia paralytica philosophastrix und Philosophatsch. Und wenn uns, davon unabhängig, Plato als ein großer Mann und hervorragender Denker vorschwebt, weil ihn die Geschichte als solchen ausruft, so müssen wir doch gestehen: Im Platonischen Staat wäre ein Plato selbst unmöglich gewesen! Er hat Richtlinien vorgezeichnet, in deren Befolgung nur Konfusionariusse zu existieren vermögen, nicht aber ein Mensch, der imstande gewesen wäre, die Ideenlehre aufzustellen.

Eva: Der Krebsschaden seiner Theorie scheint wohl in seiner krassen Kunstfeindlichkeit zu sitzen.

Ich: Das kann man bis zu einem gewissen Grade zugeben; nämlich falls man nicht als noch tieferen Grund Unwahrhaftigkeit und Heuchelei annimmt. Ich habe allen Grund zu der Annahme, daß der göttliche Plato ein philosophischer Falschspieler gewesen ist, und bin dessen ganz sicher, daß in hundert Jahren diese vereinzelte Meinung von heute allgemeine Überzeugung sein wird. Sein ganzer Sokrates ist eine raffiniert angelegte, und trotz dieses Raffinements für Geistesaugen durchsichtige Fälschung. Doch das steht auf einem anderen Blatt. Hier haben wir es mit einem grell plakatierten Aufruf zur Kunstverbannung zu tun, und dieses Plakat hat er wider besseres Wissen und gegen seine Überzeugung an seine Politeia-Säule geklebt. Denn er selbst war ein Künstler mit eingeborenen und gepflegten Schönheitsidealen, er selbst hielt sich als Autor der Dialoge für einen Dichter von allen Graden. Nicht weil er die alten Dichter mißachtete, wollte er sie stürzen, sondern sein eigen Bild wollte er auf die Altäre und Sockel setzen; dort standen vorläufig Hesiod und Homer, also herunter mit diesen! Wird aber in dem von Plato vorkonstruierten Staat die wörtlich verstandene Forderung »fort mit den Dichtern« durchgeführt, so müssen sich schon daraus allein die widerwärtigsten Folgerungen ergeben, weil man von einer Barbarei als Prämisse ausgehend nur zu barbarischen Konsequenzen gelangen kann. Es ertöte einer im Volke die Kunstehrfurcht, die Liebe zur Dichtung, und es ist unabwendbar, daß das nämliche Volk in einen Morast von Widersinn und Unmoral versinkt. An den Anfängen des Platonischen Staates stehen schon die Zeichen des Bilderwüterichs Savonarola aufgerichtet, der gegen Ovid und Tibull, Terenz und Catull wetterte, weiterhin gegen Wissenschaft und Kunst überhaupt bis zum Aufbau von Scheiterhaufen in Stufenpyramiden, auf denen bildliche Kostbarkeiten neben den Werken des Pulci, Boccaccio und Petrarca verbrannt wurden. Nur daß Savonarola weit entfernt von dem fürchterlichen Schwindel des Griechen blieb, der nicht eine Theokratie, sondern eine Platonokratie predigte, und daß die Moral Savonarolas immer noch turmhoch steht über der, die sich im Platonischen Staat brandig durchfressen müßte . . .

Eva: . . . und von der wir ja einige schauderhafte Proben erlebt haben. Sie erinnern an Savonarola, und das ist wenigstens insofern tröstlich, als Sie dabei über fast zweitausend Jahre springen mußten. Es ist vielleicht ein Glück für die Menschheit gewesen, daß sich der ausgesprochene Kunsthaß so selten hervorgewagt hat.

Ich: Er ist eigentlich nie völlig verstummt, und zu aller Zeit hat es Ikonoklasten gegeben. Wenn so viele von ihnen unberühmt geblieben sind, so liegt dies daran, daß nicht jeder, wie Caligula, einen Sueton als Berichterstatter gefunden hat. Und es ist höchst bezeichnend, daß sich Caligula direkt auf Plato berufen hat, als er seine Frevel verübte: er vollstrecke nur Platos Anweisungen, so sagte er. Die Bildsäulen berühmter Männer, die Augustus auf dem Marsfelde hatte aufstellen lassen, ließ er verstümmeln und durcheinander werfen. Er dachte daran, Homers Gedichte gänzlich zu vertilgen, dazu den Virgil und, da er einmal beim Ausrotten war, auch den Livius. Sagte ich nicht, daß Plato sich selbst an die Stelle der gestürzten setzen wollte? Caligula hat das für sich buchstäblich durchgeführt. Er gab Befehl, die durch Ehrwürdigkeit und Kunstwert ausgezeichneten Bildnisse mehrerer Gottheiten, namentlich des olympischen Jupiter aus Griechenland nach Rom herüber zu bringen, um ihnen die Köpfe abzuschlagen und den seinigen aufpflanzen zu lassen. Auch betreffs der Ehegesetze und des Kommunismus setzte er manches zu seinem Vorteil in die Tat um, was bei Plato nur schriftlicher Wunsch geblieben war.

Eva: Und in der Neuzeit?

Ich: . . . wühlt die Kunstfeindschaft in anderen Formen, aber sie schöpft noch immer ihre Argumente aus asketischen Quellen wie ehedem. Sie holt sie aus Savonarola, aus Tolstoj und aus dem Pseudo-Asketen Plato. Boccaccio wird noch immer verbrannt, nur daß die Prozedur heut nicht von einem Mönch beaufsichtigt wird, sondern von einer Priesterin, die sich Zensur oder Lex Heinze nennt. Gewänne sie einmal durchgreifenden Einfluß, so würde das asketische Grundprinzip in seinen Staatsfolgen bald zur Verwilderung umschlagen, denn die Kunst und die Moral sind Schwestern. Didicisse fideliter artem emollit mores, nec sinit esse feros. In der Umkehrung könnte das heißen: wer die Kunst fesselt, der verhärtet und barbarisiert die Sitten. Zum Glück ist die Kunst stets mächtiger gewesen als die amusische Verordnung. Erinnern wir uns einer Erzählung des Herodot: Als der Dichter Phrynichos ein milesisches Drama aufführte, bei dem das ganze Schauspielhaus in helle Tränen ausbrach, wurde er von den Athenern wegen Erregung einer Trauer um tausend Drachmen gestraft; gleichzeitig erließen sie ein Gesetz, das jede weitere Darstellung dieser Poesie verbot. Was nicht verhindert hat, daß nach Phrynichos das Trauerspiel zu höchster Blüte gelangte.

Donath: Und das Lustspiel erst recht, was noch wichtiger war. Der Philosoph gegen den Dichter – der Dichter gegen den Philosophen – ausgleichende Gerechtigkeit! Na, die Komödienschreiber haben es ihm ja auch gehörig eingetränkt.

Ich: Und sogar mit prophetischem Ausblick. In den »Ekklesiazusen« finden wir bereits einen Teil des Platonischen Monstrums realisiert, und der Humor der Geschichte hat es gewollt, daß Aristophanes seine Posse von der Weiberherrschaft und Weibergemeinschaft entwarf und aufführte, noch bevor Plato seinen idealen Staat aufgeschrieben hatte. Der große, der originelle Plato hielt es also nicht unter seiner Würde, später mit staatsmännischer Wichtigtuerei im Ernst zu fordern, was ihm der Spaßmacher Aristophanes schon ungleich gelungener in Spottkarikatur vorgemacht hatte. Denn sein Stück ist wirklich eine verkehrte Welt. Die Weiber haben in der Volksversammlung, in der »Ekklesia« durchgesetzt, daß ihre Liebenswürdigkeit und die Gesamtheit ihrer Reize ein Allen zugehöriger Schatz sein sollte. Mit derbster Komik entwickelt das Oberweib die Idee, wonach Vermögen und Grundbesitz, besonders aber Weiber und Kinder zum Gesamtgut bestimmt werden. Eine besondere Klausel verfügt, daß die ältesten Weiber den Liebesvorrang bei den jüngsten Burschen besitzen, und hieraus entwickeln sich Zerrkämpfe, die allerdings in der Komik, nicht aber in der Verdrehtheit des Postulats die Platonische Norm übertreffen.

Eva: Ich möchte da eine Einschränkung machen. An sich wäre doch ein Staat mit polygamen Einrichtungen durchaus möglich, er hat sich auch im Altertum und bis in die neuere Zeit im Orient verwirklicht, ohne im Mindesten der Lächerlichkeit zu verfallen. Und Nichts verbürgt uns die ewige Gültigkeit unserer heutigen Sittlichkeitsnorm. Wir dürfen doch immer nur sagen: unter der heutigen sozialen Ordnung ist die Einehe das sittlich Gegebene. Ändert sich die soziale Voraussetzung, so kann sehr wohl eine andere Sittenräson platzgreifen.

Der Arzt: Selbstverständlich. Es braucht bloß eine numerische Verschiebung in den Geschlechtern, in den Geburten einzutreten, was physiologisch durchaus denkbar, und der Fall läge vor. Ich möchte nicht die Garantie übernehmen, daß in unseren Kulturländern die Monogamie unverbrüchliches Gesetz bleibt.

Ich: Zugestanden. Aber Sie können ruhig dafür bürgen, das Plato's Ehemuster, wie es unsere Insulaner hier mit Überstümperung einer Stümperei darstellen, für sinnige Menschen ewig ein Gegenstand des Ekels und des Spottes bleiben wird. Vergleichen Sie etwa die Vorschriften des Koran mit denen unseres Philosophen und Sie werden zunächst bemerken, daß in jenen Klarheit, in diesen eine idiotische Konfusion herrscht; vor allem aber, daß dort eine erkennbare Moral hervorleuchtet, während hier in einem Durcheinander von Polygynie und Polyandrie ein wahrer sexueller Rattenkönig herauskommt; ein Hexensabbat, in dem nur ein mit natürlichem Backenrot gesegneter Mandrill nicht zu erröten braucht.

Eva: Ich glaube, wir haben uns vom Hauptproblem ein wenig entfernt: soll der Regent Philosoph sein? ist es dem Philosophen, und ihm ausschließlich, vorbehalten, Regent zu werden? das war doch der Ausgangspunkt. Wenn nach Platonischem Diktat eine Karikatur herauskam, so hätte sich vielleicht nach dem Prinzip eines weiseren Philosophen ein wirklicher Musterstaat entwickeln können.

Donath: Ich bin da höchst mißtrauisch. Der Philosoph soll bei seinem Leisten bleiben, bei seiner Gedankenschusterei, oder, wenn das zu grob klingt, bei seiner Ideenbrauerei. Da mag er in seinem Bottich herumrühren, so viel er will, und auf Leute warten, denen sein Gesöff schmeckt. Aber Hände weg von der Staatsmaschinerie. Da gehören Leute hin, die nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt sind.

Der Arzt: So schroff möchte ich das doch nicht hinstellen. Selbst hier, wo uns ein Maximum von Verbohrtheit entgegentritt, hat der Philosoph doch wenigstens ein Gutes gestiftet: die Menschen scheinen bis zu einem gewissen Grade friedlich erzogen. Die Bestialität, die sich nach innen kehrt, wirkt nicht nach außen, und allem Anschein nach haben die Bewohner noch niemals einen Krieg geführt.

Donath: Woran das lag, können wir nicht beurteilen. Vielleicht an ihrem kurzen Horizont, ihrer Engbrüstelei, ihrer Feigheit, oder an der Gutmütigkeit der Nachbarinsulaner.

Ich: Damit kommen wir dem Problem nicht näher. Ich meine vielmehr, daß jeder Staatsverfassung irgendetwas Philosophisches zu Grunde liegt, und daß fast jeder Philosoph letzten Endes auf das Regieren abzielt. Nur daß er niemals taxieren kann, wohin seine Philosophie hinauswill, wenn sie aus der Gedankenretorte in die praktische Öffentlichkeit tritt, was ihr übrigens in den seltensten Fällen gelingt. Meistens bleibt sie in der Retorte stecken, als ein phantastischer Wunsch, als eine Kuriosität, wie die Staatsromane, die Utopien des Thomas Morus, des Campanella, des Fénélon, Bellamy und vieler anderer. Gewinnt sie Einfluß wie bei Hobbes, bei Hegel, bei Voltaire und Rousseau, so hört sie auf, erkennende Philosophie zu sein und wird Rhetorik, Phrase, Demagogie. Wenn die Girondisten und Montagnards sich auf philosophische Meister beriefen, so war ihr Voltaire der geistreiche, ihr Rousseau der pedantische Räsonneur. Gewiß, es hat gekrönte Philosophen gegeben, Marc Aurel, Friedrich; und philosophelnde Dilettanten, die es zur Machtstellung brachten. Cicero führte den offiziellen Titel »Imperator«. Allein dieser Imperator, vormals Schönredner und Anwalt, hatte längst sein bißchen Philosophie eingepackt, als er befehlen durfte, und in seinen Imperatorenbriefen ist davon gar nicht mehr die Rede. Unser Plato selbst hat einmal das Experiment unternommen, einem allmächtigen Herrscher Philosophie einzuträufeln, und er mag sich wohl eingeredet haben, daß der Autokrat imstande sein würde, seine Weisheit in die Wirklichkeit zu übersetzen. Dionys von Syrakus hörte ihm auch sehr aufmerksam zu, nahm das größte Interesse an den Platoniken, mit dem Endeffekt, daß Dionys sich in seiner entsetzlichen Tyrannei bestärkte und seinen Terror an der Person des Plato handgreiflich ausließ. Man könnte auf die Vermutung kommen, daß in der Welt der harten Tatsachen die wirkliche Philosophie nichts zu suchen hat, und daß es ihr traurig ergeht, wenn sie sich da hineinwagt. Mit Sicherheit muß es ihr so ergehen, wo sie sich als System behaupten und die menschlichen Beziehungen systematisch bearbeiten will. Ein System läßt sich entweder nicht durchführen, oder führt bei Erzwingung ins Abstruse, verträgt also niemals die praktische Probe der Bewährung.

Eva: Mir scheint, Sie verallgemeinern da allzusehr. Sie stehen noch unter dem einseitigen Druck unserer Erlebnisse bei diesen Abderiten von der Insel, die wir soeben verlassen haben. Vielleicht stoßen wir noch auf Gebiete mit vernünftigeren Systemen und besseren Resultaten.

Ich: Dann will ich mich gern belehren lassen. Einstweilen hake ich bei Ihrem Ausdruck »Abderiten« ein, um Ihnen zu zeigen, wie sogar eine Systemisierung nach Worten in eine Sackgasse führt. Wir unterscheiden seit Alters her zwischen klassischem Athen mit hoher Intelligenz und närrischem Abdera. Ich mache mich anheischig, Ihnen zu beweisen, daß die Abderiten gescheiter waren, als die Athener.

Donath: Oho, jetzt wirst du paradox.

Ich: Nur im Verhältnis zur landläufigen Ansicht, die sich immer noch zu dem Dogma bekennt: Alles was ist, ist vernünftig. Das Gegenteil ist der Fall. Die Welt ist ein ungeheures Paradoxon. Wir halten es für ausgemacht, daß Abdera eine Brutstätte der Dummheit gewesen ist, und die bekannten Beweise genügen uns. Folglich ist es vernünftig, die Abderiten für Blödlinge zu halten. Ich brauche nur den Gesichtswinkel etwas zu verschieben, und die Dinge verkehren sich ins Gegenteil . . .

Der Arzt: Sie meinen, ein Abderitengehirn wäre gar nicht fähig gewesen, so einen Musterstaat wie den platonischen zu erfinden?

Ich: Es hätte auch keine Veranlassung gehabt, denn sein Realstaat war gar nicht so übel. Der ionisch-tejische Volksstamm, der Grundstock Abderas, übertraf an natürlicher Begabung weitaus alle Nachbarvölker des Altertums. Hat ein Homer gelebt, so stammt er aus Ionien, das auch der Ursprung war des Alkäos, der Sappho, der Aspasia, des Apelles, des Anakreon; dieser als geborener Tejer kann schon als halber Abderit gelten. Ihnen schließt sich eine glänzende Reihe großer Männer an, die erweislich im echten Abdera zur Welt kamen: Der Philosoph Anaxarch, Hekatäus, der Philosoph und Geschichtsschreiber, beide Begleiter Alexanders des Großen, der geniale Protagoras, und vor allem Demokritos. Soll man nun wirklich annehmen, daß so viele auserlesene Geister auf einem Boden erwuchsen, der im Übrigen nur Trottel hervorbrachte?

Der Arzt: Aber die Geschichte der Abderiten ist doch eine Fabel von Wieland!

Ich: Sie irren. Wieland hat nur dichterisch frei ausgestaltet, was er in guten Quellen vorfand und bei anderen Fabulierern; im Lucian, im Plutarch, Diogenes Laertius, Athenäus, Galenus und besonders im Juvenal. Alles in allem eine systemisierte Mythologie, die den gebildeten Großstädtern zeigen sollte, wie es in einer beschränkten, von zweibeinigen Eseln bevölkerten Kleinstadt zugeht. Systemisierte Schilda und Schöppenstedt. Unzählige Tausende haben das mit eitlem Amüsement gelesen, ohne auch nur einen Augenblick zu stutzen; ohne sich zu fragen: wie, wenn das ganze Maßsystem dieser Legende falsch wäre? Ich lese das anders; und aus meiner Art, es zu lesen, entwickelt sich die Überzeugung: waren die Abderiten wirklich so wie sie geschildert werden, dann repräsentieren sie einen höheren Menschenschlag, und wir haben alle Ursache, sie zu beneiden.

Erstens einmal: Welche Gesundheit! und als Exponent dieser Gesundheit: welche Galerie von Frauenschönheit! Fast jede Abderitin, die uns vorgestellt wird, eine Atalanta, eine Juno, eine Aphrodite. Das sicherste Merkzeichen einer hohen, in edler Geistigkeit wurzelnden Kultur. Es gibt keine Prachtfiguren wie Aspasia, ohne Periklesse und Alcibiadesse ringsum. Wer das verkennt, der stellt sich selbst – um in der alten Redeweise zu bleiben – auf den Abderitischen Standpunkt.

Ferner: In Abdera wohnte ein Künstlervolk von höchstem Range. Es besaß ein prächtiges Nationaltheater und pflegte die Musik mit jener Leidenschaft, die nur aus ursprünglichem Kunstingenium emporschlägt. Aber diese Musik – so erfahren wir ja – war schlecht, pfuscherisch, närrisch, abderitenhaft; sie verfolgte nicht die einfache Linie, sondern erging sich in Trillern, Koloraturen und Nachtigallkadenzen. Wirklich? Dann haben die Abderiten eine Kunstentwicklung vorweggenommen, die Italien, Frankreich und die germanischen Länder erst um viele Jahrhunderte später nachzuliefern vermochten.

Sie spielten den Euripides und bewogen den Meister selbst, seine Andromeda auf ihrer Nationalbühne zu inszenieren. Dabei fiel die ganze Republik in einen unerhörten Taumel der Begeisterung, alle Einwohner wurden zu Deklamatoren, Sängern, Tragikern, die, wo sie auch standen und wandelten, die herrlichsten Stellen des Dramas wollustfiebernd vortrugen. Wie heute nur ein gelungenes Couplet, ein reißerischer Gassenhauer die Masse ergreift, ja hundertmal intensiver, packten Euripides Verse das Völkchen, und Straßen wie Hallen durchbebte das Echo des Anrufs »Du aber, der Götter und der Menschen Herrscher Eros!« Hätte sich die Legende darauf versteift, uns ein Gemeinwesen von tiefster Empfindlichkeit, von höchstem Seelenadel vorzustellen, so konnte sie kein besseres Ausdrucksmittel finden, als die Darstellung dieses künstlerischen Paroxysmus. Wie im Falle Euripides, so erwiesen sich die Abderiten auch beim Besuch des Arztes Hippokrates als Menschen, denen es Herzensbedürfnis ist, großen Erscheinungen zu huldigen. Und nach Schopenhauer – nicht wahr, Fräulein Eva? – ist ja die Stärke der Verehrung für das Bedeutende zugleich das Maß für den Eigenwert. Sie bewunderten auch den Demokrit, wenngleich sie an ihm mancherlei auszustellen fanden; aber um zu beurteilen, wie sie sich mit ihm auseinandersetzten, vergleiche man ihr Verhalten mit dem der ihnen angeblich unendlich überlegenen Athener. Diese vergifteten Sokrates und befleckten sich durch abscheuliche Verfolgungen fast aller Größen, die ihnen erreichbar waren; in den Schicksalen des Aristides, Protagoras, Aristoteles, Diagoras und vieler anderer dünstet es von Borniertheiten, rauchen Brandfanale. Die Abderiten verbannten nicht, quälten nicht, sie debattierten; oft mit naivem Verstande, aber niemals mit dummem Gerede. Wenn sie sich gegen die Tierversuche Demokrits auflehnten, so haben sie dabei Gelehrte auf ihrer Seite, die in ethischem Betracht vielleicht höher stehen als mancher Vivisektor. Es gab neben Demokrit Philosophen, in der Stadt Protagoras-Schüler, die drauf und dran waren, die letzten denkerischen Geheimnisse aufzudecken. Ihnen waren schon einige Argumente geläufig, die dem Ideenkreis von Hume angehörten; sie entwarfen Kosmogonien, die in einigen Punkten an die von Kant und Laplace erinnern. Daß die Berichterstatter und Fabulierer ihren ewigen Refrain »Albernheiten!« dazwischenwerfen, beweist nur, daß sie von ihrem System, die Leute als Cretins zu verulken, niemals loskonnten. Allgemein bezeichnen sie als Gipfel der Trottelosis, die ernsten Gegenstände heiter, die heiteren ernst zu behandeln. Verfuhren die Abderiten wirklich so, dann haben sie wiederum nur eine tiefe Weisheit weit vorausgenommen, die Gleichsetzung der res severa mit dem verum gaudium, als deren Urheber uns Seneca gilt. Ihr Prozeß um des Esels Schatten zeigt sie als Träger rechtlicher Empfindung und als scharfsinnige Advokaten. Nein, nein! brüllt die systemisierte Legende, dieser Prozeß mit seinem Gewirr von Spitzfindigkeiten zeigt nur, daß sie selbst Esel waren. Man vergegenwärtige sich: »spitzfindige Esel!« Man verleugne das System nur auf eine Stunde und man wird erkennen, daß die Auseinandersetzungen dieser geschichtlich als Idioten abgestempelten Leute eloquenter waren, interessanter und geistreicher als die meisten Plaidoyers des Cicero; daß sie nicht nur spitzsucherisch zu Werke gingen, sondern spitzfinderisch, als die Finder feinster Spitzen in der Kunst des Argumentierens.

Ich übergehe ihren stets regen Patriotismus und verweile nur eine Sekunde bei einigen ihrer vortrefflichen Einrichtungen für Kunstpflege und soziale Fürsorge. Bei den Abderiten, und wohl bei ihnen zuerst, entsagte man dem barbarischen Gebrauch, Weiber von Mannspersonen spielen zu lassen; ihre Iphigenien und Andromachen waren wirkliche Frauen, die ihre fraulichen Reize auf der Bühne voll entfalten durften. Das Theater, als staatliche Angelegenheit, wurde aus staatlichen Geldern gespeist, dergestalt, daß nicht nur die Schauspieler und das Orchester, sondern auch die Dichter und Tonsetzer von Staats wegen reichlich versorgt waren. Und obendrein erhielten die beiden untersten Zuschauerklassen zu ihren Freikarten eine Gratisverköstigung in Brot und Feigen für die Dauer jeder Vorstellung. Bitte, vergleichen Sie damit die Maßregeln, die heute für uns Nicht-Abderiten gelten; die sich mit der Devise »die Kunst dem Volke« drapieren und die sogar den Besuch der Galerien und Museen einer Eintrittstaxe unterwerfen. Ja, wir haben schon Grund, die Einwohner der thrazischen »Schöpsenstadt« zu bespotten. Weil einer unserer Gewährsmänner, Juvenal, tatsächlich für Demokrits Heimat den Ausdruck geprägt hat: Vaterland der Schöpse!

Und nun zur Hauptsache. Die Abderiten waren glücklich. Wie ein langgehaltener Orgelpunkt schwingt sich der Grundton fröhlicher Zufriedenheit durch alle Darstellung. In ihrem Bewußtsein lebte es unerschütterlich, daß sie sich aller Welt voraus die beste Verfassung, die besten Einrichtungen, Sitten und Denkweisen erschaffen hatten. Der Gradmesser für diese Taxe war ihr Glück, und sie hielten ihn für den einzig zuverlässigen. Er ist es auch wirklich, er steht als in sich evident außerhalb des Beweises, unnahbar für irgend einen Gegenbeweis. Und da uns von keinem Staatswesen berichtet wird, das seine Selbstzufriedenheit so nachdrücklich bekannt hat, so bleibt uns nichts übrig, als zuzugeben: Abdera war unter allen uns bekannten Staaten der vollendetste.

Eva: Mit einer Ausnahme, allenfalls. Der Platonische Staat von Balëuto schien mir, nach dem Glück der Insulaner beurteilt, nicht wesentlich hinter dem Abderitischen zurückzustehen.

Donath: Sollten wir etwa danach alle unsere Einsichten umkrempeln?

Ich: Das wird uns nicht gelingen, denn hierzu müßten wir einen Betrachtungsstandpunkt außerhalb unserer Person gewinnen. Aber der Vorsicht halber wollen wir uns erinnern, niemals unser Urteil abzuschließen. Es gibt immer eine Berufung. Diese Menschen, die sich im Zeichen Platos freuten, erscheinen uns als Abderiten. Vielleicht sind sie es im Sinne derer, die in Abdera nur ein närrisches Krähwinkel sehen; vielleicht in dem anderen Sinne, den ich Ihnen soeben entwickelt habe. Dann wären wiederum wir, als Betrachter, die Juvenalischen Abderiten. Wie soll man diese Antithesen überbrücken, wie aus diesem Circulus sich her auswickeln? Ich weiß es nicht. Aber es ist ja nicht unsere Aufgabe, solche Widersprüche erklärend zu lösen, sondern sie aufzusuchen. Wenn die erste Insel darin vorbildlich war, so läge eigentlich hierin der Zweck unserer Entdeckungsreise. Segeln wir also weiter, ich sehne mich nach Abfahrt.

Mein Wunsch war erfüllt, ehe ich ihn noch ausgesprochen hatte. Wir fuhren schon seit einer Viertelstunde, ohne daß ich das Loslösen vom Kai bemerkt hatte. Spiegelglatt lag die Tuscarora-Fläche, und in wenigen Tagen erreichten wir ein neues unbekanntes Eiland.

 


 


 << zurück weiter >>