Alexander Moszkowski
Die Inseln der Weisheit
Alexander Moszkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Helikonda

Die Insel der schönen Künste.

Ein beneidenswertes Eiland. Es möge ununtersucht bleiben, welchen Umständen die Insel ihre bevorzugte Stellung verdankt, ihre Wohlhabenheit und politische Ruhe. Genug, daß diese Voraussetzungen erfüllt sind, und daß diejenigen Elemente, die wir sonst als Verfeinerungen und angenehme Arabesken des Daseins betrachten, von der Bevölkerung als das Wesentliche ihrer Existenz mit allem Nachdruck gepflegt und ausgebaut wird. Die Kunst als Selbstzweck ist das Kennzeichen dieser Insel.

Ihr leuchtete eines Mediceers Güte, der mit seinen enormen Reichtümern das Gefilde der Kunst berieselte. Von großzügigem Mäzenatentum erfüllt kannte er keinen anderen Lebenszweck, und nachdem er Appollini et Musis reichliche Einzelaltäre erbaut hatte, verfiel er auf den Gedanken, eine Stadt zu gründen, die durchaus und ausschließlich den schönen Künsten gewidmet sein sollte. Die Neigung des Volkes kam seinem Vorhaben entgegen, und mit der Schnelligkeit, mit der sonst nur in einem neuentdeckten Goldlande menschliche Siedelungen aufblühen, wuchs diese Stadt empor: Helikonda, deren gesamte Anlage vom ersten Plan angefangen als ein Dorado der Kunst gedacht war.

Ihr war und ist das ganze Land tributär. Was Gewerbe und Handel in den anderen Ortschaften erzeugen, findet den materiellen Abfluß nach Helikonda. Ja, man kann sagen: diese andern Ortschaften stellen das sehende, hörende, genießende und zudem zahlende Publikum, während Helikonda, zum Range der Hauptstadt erblüht, den Inbegriff von Theater, Konzert, Museum und Kunstschule darstellt.

In einem Dialog bei Moliere könnte man einen schwachen Hinweis auf diese Entwickelung finden. Dort werden der Tanz und die Musik der Philosophie übergeordnet und als die höchsten Lebensnotwendigkeiten ausgerufen: »Ohne Musik kann ein Staat nicht bestehen.« Eine etwas weiter reichende Folgerung zog Berlioz in seiner »Euphonia«, die er als imaginäre Kunstgemeinde in den deutschen Harz verlegte. Das war ein gedanklicher Versuch mit unzureichenden Mitteln. Tatsächlich verhält sich jene Skizze zu dem Helikonda, das wir erlebten, wie der schüchterne Auftakt eines kompositorisch beanlagten Knaben zum Lebenswerk eines Meisters; oder wie der erste Wettlauf zweier prähistorischen Wilden zu den olympischen Spielen.

Es erinnerte an die pythagoreische Vorstellung vom tönenden Weltall. Die ganze Stadt klang, wenn man unter Klingen nicht etwas rein Akustisches, sondern etwas Kosmisches versteht. Schon in ihrer äußeren Anlage gab sie selbst sich als ein durch Plan, Ordnung und Programm bestimmtes Kunstwerk. In dessen Zentrum und Brennpunkt befindet sich ein ungeheurer, mit Kolonnaden im Berninistil eingefaßter, kreisrunder Platz, dessen Bauwerke bildnerischen, dramatischen und konzertanten Vorführungen dienen. Säle bei Sälen, darunter einer für Monstre-Darbietungen, bei denen dreitausend Mitwirkende sich vor zwölftausend Hörern vereinigen können. Museen, Ausstellungshallen, Kunstschulen, Meisterateliers und die Paläste der Kunstbehörden vervollständigen das Rondell. Von diesem Platz strahlen sternförmig viele Wohnstraßen nach außen hin, die jede für sich einen ausgeprägten Berufscharakter aufzeigen; es gibt eine Straße der Theaterdichter, der Epiker, der Lyriker, der Komponisten, der Sänger, der Instrumentalvirtuosen, der Ästhetiker, der Maler, der Bildhauer; und aus der Entfernung ihrer Häuser vom Zentralplatz läßt sich ein Schluß auf ihr künstlerisches Bekenntnis ableiten: die Konservativsten wohnen dem Mittelpunkt zunächst, die Entfernung von diesem bemißt sich nach dem Grade ihrer Sonderbestrebung, so daß die extremsten Vertreter der Neukünste bis an die Peripherie der Stadt rücken. Die Radialstraßen werden wiederum von konzentrischen Kreisstraßen durchschnitten, wonach sich also die einfachste Orientierung ermöglicht: Verfolgt man eine gradlinige Straße, so verbleibt man im bestimmten Fach und steigt in diesem vom Alten zum Modernen; bewegt man sich in einer Kreisstraße, so durchkreuzt man alle Berufe auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung.

So weit hätten wir Fremdlinge uns auch ohne besondere Anleitung zurechtgefunden. Es gelang uns aber schon am ersten Tage, den Anschluß an einen Prominenten zu erreichen, nämlich an den Jahres-Präfekten der Stadt. Dieser wird nach einem festgelegten Turnus aus den Einzelberufen gewählt, und es fügte sich, daß zur Zeit unseres Besuches ein Ästhetiker das oberste Amt verwaltete. Herr Spiridon, Kunstforscher und Spezialist in tonkünstlerischer Analyse, diente uns fortan als Führer und Erläuterer auf Helikonda.

Die Rolle des Präfekten ist wesentlich als dekorativ aufzufassen, wenngleich er auch administrative Befugnisse besitzt. Wir finden sie vorgebildet in Alt-China, das sich nach dem Zeugnis der Chinesenbibel, des »Chouking«, eines besonderen Musikministers erfreute. In dessen Händen gediehen nach der uralten Überlieferung Akustik und Politik zu einer höheren Einheit, so daß er nur sein Spezialinstrument, den »Klingstein«, anzuschlagen brauchte, um unter allen Beamtenhäuptern volle Einstimmigkeit zu erzielen. Ein gewisser Nachklang dieser Einrichtung besteht auch auf unserer Insel, insofern die Musiker, ihrem numerischen Übergewicht entsprechend, am häufigsten für die Präfektur in Betracht kommen. Im Vorjahr war ein Trompeter Präfekt gewesen, der wiederum einen Organisten abgelöst hatte. Ausnahmsweis kann sogar ein Instrumentenbauer, ja ein einfacher Handwerker zu diesem Posten aufsteigen, denn sie werden in sozialem Betracht den Künstlern gleichgestellt, bewohnen ihre eigenen Straßen und betreiben ihre Fähigkeiten mit künstlerischem Einschlag, wie einst die zünftigen Meistersinger von Nürnberg, die mit der Tabulatur so gut Bescheid wußten wie mit dem Bügeleisen und dem Schusterpfriem. Wandelt man durch die Gassen der Inselstadt, so vernimmt man nicht selten Rhythmen schwierigster Gattung, die unsereiner dem äußersten Futurismus zuweisen würde; sie entquellen aber den Kehlen ortsansässiger Tischler, Spengler und Maurer, die vermöge ihres Berufes für das Gemeinwesen unentbehrlich, das allgemeine Prinzip der Ortschaft in ihre Persönlichkeiten aufgenommen haben.

Bevor wir noch zum eigentlichen Genuß der klingenden und bildlichen Offenbarungen gelangten, hielt es Spiridon für nötig, uns historisch-analytisch in gewisse Besonderheiten seines Milieus einzuweihen. Er gab uns einen Abriß der hauptsächlichsten Entwicklungsstadien: die Insel besaß ursprünglich nur eine primitive Eigenkunst, bis die abendländische Kultur, durch Sendlinge in gedruckten und getönten Proben heimgebracht, wie eine Sturzwelle hereinbrach. Was sich auf europäischem Boden im Laufe der Jahrhunderte entfaltet hatte, das alles drang fast gleichzeitig in die Insel und stellte an das Auffassungsvermögen der Bewohner die stärksten Anforderungen. »Es kam vor,« – so sagte er – »daß unsere Genossen Böcklin und Leibl – natürlich in getreuen Kopien – früher kennen lernten als Cimabue und Giotto; Reger, Korngold, Busoni und Schönberg früher als Clementi und Mozart; Stefan George vor Rückert und Eichendorff. Sie lernten nach rückwärts, von der Peripherie zum Zentrum. Aber auch für die Mehrzahl, die annähernd in der richtigen Chronologie verblieben, ergaben sich Bedingungen einer Mentalität, die sich anderswo nicht wiederholen können. Anpassung und Fortproduktion vollzog sich in einem Tempo, dessen Rapidität jeden Vergleich ausschließt.«

»Danach,« meinte ich, »hätten wir in der hiesigen Entwickelung ein verkürztes Abbild der unsrigen zu erwarten, eine mit Siebenmeilenstiefeln absolvierte Kunstgeschichte.«

– In den Hauptzügen gewiß. Ich möchte da noch eine andere Parallele heranziehen. Sie kennen das biogenetische Grundgesetz: Die Keimesgeschichte ist ein Auszug der Stammesgeschichte; die Entwickelung des Individuums von der Eizelle bis zum fertigen Menschen ist eine kurze und schnelle Wiederholung aller Vorgänge, die in dem langsamen Werden des ganzen zugehörigen Stammes enthalten waren. Fassen Sie unser Gemeinwesen als eine Person auf, so haben Sie das Gegenbild; es hat in kurzem Ablauf den ganzen Werdegang Ihrer europäischen Kunst repetiert. Und da es dieses Tempo als eine Lebensfunktion in sich aufnahm, so ist es auch befähigt, Kunsterscheinungen zu verwirklichen, die bei Ihnen, in der alten Kulturwelt, noch in weiter Zukunft schlummern.

»Sie machen mich neugierig, Herr Präfekt; obschon ich mich da gewisser schwarzseherischer Ahnungen nicht entschlagen kann. Ich fürchte, uns werden da Schwaden entgegenwehen wie aus einem Hexenkessel. Mit Leidenschaft und Genuß blicke ich in die Vergangenheit der Künste, und gern flüchte ich aus der Gegenwart, um mich im Pantheon des Gewesenen zu ergehen. Aber gerade weil ich gewohnt bin, historisch zu fühlen, graut mir vor der Umkehrung der Perspektive. Wenn nicht alle Anzeichen der von mir erlebten Gegenwart trügen, wird das Pantheon der Zukunft stärker von Fratzen als von Götterbildern erfüllt sein.«

– Das können wir in Voraussicht kaum entscheiden. Nur müssen wir uns als kunstsinnige Menschen auf alle noch so fernen Möglichkeiten einrichten. Hätte Ihre Anschauung stets gegolten, so wäre die Kunst nie über die Uranfänge herausgekommen, sie stünde noch heut bei Amphion und Orpheus, bei den Höhlenmalereien der Steinzeitmenschen, und die Welt hätte niemals einen Michelangelo, geschweige denn einen Archipenko erlebt. Also bleibt uns nichts übrig, als auch im Extremsten die berechtigten Kerne herauszuspüren und sie als entwicklungsberechtigt gelten zu lassen. Wichtiger als jeder Rückblick ist die Witterung für die lebendigen Genies, die ihre Fühlhörner in die künftigen Neuländer strecken.«

»Haben Sie solche Genies auf der Insel?«

– Sie werden Sie kennen lernen. Ganz offen gestanden, hatte ich in mir selbst schwer zu arbeiten, ehe ich mich zur vollen Anerkennung ihres Wertes durchrang. Aber ich habe den Läuterungsprozeß bestanden; und jetzt spreche ich nicht nur für mich, sondern für die überwältigende Mehrheit meiner Volksgenossen wenn ich verkünde, diese Künstler, unsere Vorstürmer, sind wahre echte apollinische Genies. Nicht mehr darauf angewiesen, sich wegen einiger Tropfen zum kastalischen Quell zu bücken, da sie den kastalischen Ozean entdeckt und für uns erschlossen haben. Vor allen sind da drei Größen erster Ordnung, Siriusse am Kunsthimmel von Helikonda: der Komponist und ausübende Tonkünstler Kakordo, der Dichter Dadalbra und der Maler-Bildhauer Patzoha. Schwer genug hat es mir ja die Trias bisweilen gemacht, ihren Spuren zu folgen, und mich in den zahlreichen Richtungen ihrer Stile zurechtzufinden . . .

»Erlauben Sie – es sind doch drei, da kann doch höchstens von drei Richtungen die Rede sein?«

– In diesem Irrtum war auch ich befangen, und viele mit mir. Bis uns die eigentliche Natur dieser Bahnbrecher aufging. Deren Stärke besteht nämlich darin, daß sie immer wieder neue Richtungen auffinden, in die sie uns jedesmal durch die Genialität ihrer Offenbarungen hineinzwingen. Ja in ihren eigenen Werken und Theorien wechseln sie unablässig die Richtung. Und wie die neuesten Physiker behaupten, man müsse für jeden Punkt im Weltall eine besondere Mathematik in Bereitschaft halten, so stellen sie für jeden Punkt ihrer Hervorbringung ein neues künstlerisches Glaubensbekenntnis auf.

»Ich würde das Zickzack nennen.«

– Das erschien mir ursprünglich ebenfalls so. Allein wenn wir abfällig Zickzack sagen, so spricht aus uns ein geometrisches Vorurteil. Wir könnten ebenso den Blitz bemängeln, weil er im Zickzack dahinfährt. Diese gebrochene Linie gehört eben zum Fulminanten, und jene drei Meister verstehen sich aufs Blitzen. Übrigens brauchen wir ja nicht mit den kompliziertesten Erscheinungen zu beginnen; wenn es Ihnen beliebt, beschäftigen wir uns vorerst mit einfacheren Kunstübungen.

Wir hatten das Gespräch in der Wandelhalle eines Hauptgebäudes am Zentralplatz geführt. Jetzt betraten wir einen Musiksaal von bescheidenen Ausmaßen. Es fiel mir auf, daß Spiridon den alten graubärtigen Saalhüter, der uns die Tür öffnete, mit »Herr Kollege« anredete.

– Ein schnurriger Kauz – erzählte unser Begleiter – der auf diese Titulatur Wert legt, da er vor zwanzig Jahren Präfekt der Ortschaft gewesen ist. Er hatte damals gewisse Verdienste um die einheitliche Organisation unserer Kunststadt, nur daß er die Sache allzusehr ins stramm Militärische übertrieb. Die Zunftordnung genügte ihm nicht, vielmehr betrieb er die Einteilung der Künste nach Bataillonen, Kompagnien und Rotten mit Uniformen und Gradabzeichen. Es gab komponierende Rittmeister, dichtende Hauptleute, die zu Majoren befördert wurden. Die Allegrosätze der Symphonien sollten ein für allemal auf den Pendelschlag des auf 100 gestellten Staatsmetronomen gestellt werden. Dazu kamen eigensinnige Verbote, zum Beispiel gegen Stücke, die von Posaunisten mehr als sieben Kubikmeter Blaseluft beanspruchen. Er scheiterte schließlich an den Kabalen einer Sängerin von der dritten Sopran-Batterie zu Fuß, die er wegen Versagens der hohen Töne zum Altistinnen-Train versetzt hatte. Noch heute, als längst Pensionierter, beklagt er die Verwahrlosung des Ordnungsprinzips und träumt sich in die gute alte Zeit zurück, da er noch auf Zucht und schärfstes Kommando im Kunststaate halten durfte.

Schon durch die geschlossene Tür waren die Töne der Mozartschen »Jupiter-Symphonie« zu uns gedrungen, und als wir den Saal betraten, intonierte die Kapelle den letzten Satz, das Meisterstück kontrapunktischer Kunst mit der Tripel-Fuge, das uns mit allem Glanz eines olympischen Jupiters entgegenstrahlt. Also doch auch Pflege der Klassizität in einem so vorgeschrittenen Musikstaat! Und diese erfreuliche Überraschung steigerte sich noch durch die Pracht der orchestralen Wiedergabe. Freilich merkten wir bald, daß es damit weniger auf die Entzückung, als auf die Belehrung der Hörerschaft abgesehen war. Denn nach dem Finale betrat ein Theoretiker das Podium, ein Conferencier, der in wohlgesetztem Vortrag die eigentliche Bedeutung dieser historischen Konzerte erläuterte. Er sprach von Mozart als von einem Petrefakt, von seiner Symphonie als von einem fossilen Überbleibsel einer antediluvianischen Epoche. Mit frostigen Worten zergliederte er deren Bauart, so wie ein Zoologe das Skelett eines Ichthyosaurus erklärt, mit dem Hinweis darauf, daß die lebendige Wirklichkeit sich nur noch aus wissenschaftlichen Gründen mit solchen vermorschten Gerippen zu beschäftigen hätte. Hierin läge der Sinn dieser historischen Konzerte, welche die grauen Schatten der Vergangenheit heraufbeschwören, um im Kontrast die Errungenschaften der künstlerischen Neuzeit desto heller aufleuchten zu lassen.

Der Vortragende sprach von diesen Errungenschaften. Vom Durchgangsstadium des klingenden Expressionismus, der mit der äußersten Zähheit einer gänzlich in geistigem Erleben aufgelösten Transzendenz die Innengewendetheit zu einer expressiven Durchschlagskraft umbilde, gleichsam in vorausschauender Exzessivität des Aktivismus; sprach noch zahlreiche derartige Erbaulichkeiten, die uns Fremdlinge nicht ganz fremdartig anmuteten; erging sich in schleierhaft wehenden Redewendungen, um das Ergebnis zu gewinnen: man müsse auch von den unbeholfenen Stammeleien eines Mozart, eines Bach Kenntnis nehmen, um die neuesten Kunstblüten und Kunsttendenzen, namentlich in den Schöpfungen des großen auf Helikonda wirkenden Meisters Kakordo so recht würdigen zu können.

Lebhafter Beifall folgte diesen Ausführungen, während die Symphonie vorher kein Zeichen der Ergriffenheit ausgelöst hatte. Nur ein vereinzeltes ältliches Fräulein war uns aufgefallen, die den Klängen Mozarts mit stiller Verträumtheit und mit beseligten Reflexen im Antlitz folgte. »Das ist nämlich eine Unbelehrbare,« sagte uns der Präfekt; »eine ganz rückständige, die wir in der Gemeinde als ein Kuriosum mitschleppen. Sie bedeutet unter den Empfangenden ebenso ein Fossil, wie Mozart unter den Hervorbringern. In der nächsten Generation werden derartige Versteinerungen nicht mehr vorkommen.«

Wir wandten uns einigen Nebensälen zu, die den Ausübungen der Virtuosität gewidmet waren. Hier gab es noch die vertrauten altertümlichen Instrumente, Pianoforte und andere, während für die letzten Ausläufer der Helikondischen Kunst, wie wir bald erfuhren, ganz andere Apparate in Tätigkeit treten. »Die Virtuosität,« erklärte Spiridon, »gilt uns als ein Kunstfaktor für sich. Wäre sie nur eine gesteigerte Handfertigkeit, so würden wir sie verleugnen. Sie beruht aber auf dem Zusammenwirken der Koordinationszentren im Gehirn und muß somit als eine geistige Angelegenheit gepflegt werden.«

Bis zu welchem Grade die Materie durch den Geist überwunden werden kann, davon erhielten wir eindringliche Proben: Fünfzig Pianisten spielten gleichzeitig ein und dieselbe schwierige Toccata in vollkommenstem Unisono und absoluter Koinzidenz. Bei geschärftester Aufmerksamkeit vernahm man tatsächlich nur das eine Stück, mit fünfzig multipliziert. Hiernach exekutierte ein anderer Künstler die vollständige Appassionata von Beethoven in vier Minuten. Nicht etwa der Zeitersparnis wegen, denn dies Prinzip der mechanisierten Insel spielt hier keine Rolle, sondern lediglich zum Beweise einer über alle Vorstellung hinausragenden musikalischen Technik. Der nämliche Virtuos lieferte folgende erstaunliche Zugabe: er meisterte mit der rechten Hand die Paganini-Etüden von Brahms und gleichzeitig mit der Linken die spanische Rhapsodie von Liszt. Das hatte einen doppelten Zweck. Erstens offenbarte sich die magistrale Unabhängigkeit in der Massendisziplin der Finger, zweitens ergaben sich aus diesem unerhörten Duo von Rechts und Links Neuklänge mit ungeahnten musikalischen Offenbarungen. Es war sehr nebensächlich, daß sie unseren Ohren übel klangen; wir waren eben nicht vorgebildet genug, um in der Kakophonie die klanglichen Schönheiten so sicher herauszufühlen, wie die Mehrzahl der Hörer.

Ein Raum war zur Manege umgeformt und hatte die Bestimmung, einer gewissen Zukunftskunst zu dienen, in der musische Elemente mit Sport und Gymnastik zusammenfließen. Hier üben parnassische Muskelmenschen. Einer spielte, am Schwebetrapez mit den Zähnen hängend ein vielgriffiges Geigenkonzert, zu dem ein mit Zentnergewichten balancierender Dichter in anapästischen Dithyramben den dichterischen Kommentar vortrug. Ein Reiter auf raschem Pferd stehend entwarf die kubistische Skizze einer Landschaft auf festgehaltener Leinwand. Unsere Gefährtin Eva vermißte darin die Naturtreue und Perspektive. Allein der zufällig anwesende Großmeister Patzoha fand zu lobenden Äußerungen Veranlassung, und gegen das Urteil dieses Ultra-Malers gibt es in Helikonda keine Berufung.

Weiterhin gerieten wir an die »Optophonische Abteilung«, der das Problem zufällt, Sichtbares in Klingendes umzuwandeln. Im Prinzip durfte diese Aufgabe schon seit Jahrzehnten als gelöst betrachtet werden, da sich durch Einschaltung verbindender Induktionsströme eine Brücke von der Optik zur Akustik schlagen läßt. In den einzelnen Vervollkommnungen werden alle Scheidewände zwischen den zwei Welten eingerissen; hier zeigt uns die Gilde der Optophonisten, daß es möglich ist, jeden gegenständlichen Vorgang, insonderheit jede bildliche Darstellung, zu einem tönenden, konzertanten Ereignis umzubilden.

Man kam uns, den Rückständigen, insoweit entgegen, als man uns zunächst verständliche und allgemein bekannte Farbengemälde vorführte. Das Optophon war so montiert worden, daß es die Figuren eines Heiligenbildes aus der Renaissance der Reihe nach bestrich und in Klangvibration versetzte; wodurch wir den Eindruck gewinnen sollten, als ob die gemalten Gruppen des Rafaelischen Schinkens den melodiösen Kommentar zu ihrer eigenen Existenz lieferten. Unsere Erwartung war auf einen kirchlichen Choral gerichtet, allein es erhob sich nur ein summendes, formloses Geräusch. Woraus zu schließen war: das Experiment hatte seine Schuldigkeit getan, und nur wir mit unseren unzulänglichen Organen waren dem Experiment nicht gewachsen.

Nun wurde das Verfahren umgekehrt. Man spielte die Hebriden-Ouverture von Mendelssohn und verwandelte sie optophonisch in ein Bild. Wiederum scheiterten wir am Effekt, da wir nur einige irre Lichtzuckungen wahrnahmen. Aber die mit überlegenen Empfangsnerven ausgerüsteten Nachbarn im Saal erklärten, sie sähen ganz deutlich die optisch-landschaftliche Erscheinung der Fingalsgrotte. Vielleicht kommt es auf die Stärke der Phantasie an, die der Seh-Hörer oder Hör-Seher solcher Veranstaltung entgegenbringt. Und es war ja schließlich erklärlich, daß die Kunstinsulaner über eine regere Einbildungskraft verfügten, als wir im Philistertum dämmernden Fremdlinge.

Der Direktor der optophonischen Abteilung gab uns noch einige wertvolle Winke. Seiner Ansicht nach steht die Optophonie mit all ihren Mirakeln erst im Anfang ihrer Entwickelung. Deren Schluß wird bedeuten: Ersetzung des Komponisten, des Malers und schließlich sogar des Dichters durch das Instrument. Wir bezweifelten dies, und ich muß anerkennen, daß der Präfekt unserem Zweifel zu Hilfe kam. »Gewiß,« meinte er, »wird man binnen kurzem elektrisch komponieren und farbdichten, nur werden sich diese Hervorbringungen an Tiefe und Bedeutung niemals mit den Werken unserer Ultra-Genialen zu messen vermögen.«

Wo waren nun diese Werke? Wie klangen sie, wie sahen sie aus? Darüber blieben wir einstweilen im Dunkeln. Es schienen betreffs ihrer Vorführung Schwierigkeiten obzuwalten, die man uns nicht erklären konnte oder wollte. Auch die letzte Nummer, die uns auf dieser Streife geboten wurde, bewegte sich noch in einem Fahrwasser, das uns, wenn auch nicht vertraut, so doch nicht ganz außerweltlich vorkam. Sie betraf eine von dem Vorläufer Kakordos verfaßte Symphonie in K-Dur. Dies ist eine in unserem System nicht existierende Tonart, die sich auf der Skala C, Cis, Es, F, Halb-Ges, Dreiviertel-As, Hoch-B, C aufbaut. Sie ist für ein Orchester von 3000 Mann geschrieben, und zwar so, daß sie eine Minderzahl, etwa von 2800 Musikern, gar nicht aufzuführen vermag. Die Gesamtgestaltung des Werkes ging über meine Fassung hinaus, indes vermochte ich doch gewisse Leitmotive nicht nur zu erkennen, sondern sogar wiederzuerkennen. Ich habe nämlich einmal vor langer Zeit, auf einer Weltausstellung, ein Orchester von Bantunegern gehört und einige Themen in der Erinnerung behalten. Da zeigten sich mir auffallende Ähnlichkeiten. Die Qualität des Ganzen freilich war eine ganz andere und übertraf dynamisch sogar die Höhe der Klassizität. Die Eroica zum Beispiel läßt sich mit 50 Mann sehr gut aufführen, und man hat nur noch nötig, 50 in 3000 zu dividieren, um herauszubekommen, daß jene K-dur-Symphonie 60 mal stärker wirkt, als die in Es-dur von Beethoven.

* * *

An einem der nächsten Abende befanden wir uns im Heim des Präfekten, der uns zu Ehren einen kleinen Empfang veranstaltete. Dort lernten wir auch die drei Übergenialen kennen, denen die Insulaner nahezu göttliche Ehren erweisen. In zwanglosen Gruppen wurden Themen angeschlagen, deren Erörterung mehrfach zu ungeahnten Gipfeln der Ästhetik emporführten. Ich werde die Gesprächspartner nicht durchweg einzeln nennen; rechne vielmehr darauf, daß der Leser auch dort, wo ich es unterlasse, die Stimmen genügend auseinander halten wird. Bei künstlerischen Auseinandersetzungen ist das »Was« wichtiger als das »Von Wem«. Es liegt mir auch nichts daran, die Argumente in lückenloser Folge wie die Perlen am Faden aufzureihen. Denn ich berichte ja aus der Erinnerung, die mir Einzelheiten zuträgt, ohne alle Zwischenglieder und Übergänge aufzubewahren.

Wir sprachen zuerst, um einen Verständigungsboden zu gewinnen, von den Grenzen der Kunst. Hat sie überhaupt Grenzen? Ist sie endlich oder unendlich?

Die ideale Existenz Helikondas hängt an der Beantwortung dieser Frage, die besonders vier Kämpen in die Streitarena rief: Einen jungen Tonsetzer, mich, Fräulein Eva und einen Bewohner der Ästhetiker-Straße, der auf der Insel die Linie des »Exaktismus« betreibt. Er hatte kurz zuvor ein Werk herausgegeben mit dem Titel: »Die Kunst, eine mathematische Angelegenheit«.

Der Tonsetzer vertrat natürlich das Prinzip der Unendlichkeit: »Wir Künstler dürfen nur eine Sendung anerkennen: in der schrankenlosen Weite der Kunst das Neue aufzufinden. Streng genommen geben wir alle, auch mit verwegenstem Futurismus, immer nur Anfänge, deren Fortsetzungen sich niemals erahnen lassen. Aus dem einfachen Grunde, weil unsere Kunst unendlich ist und in alle Ewigkeit die in ihr beschlossenen Möglichkeiten nur andeuten, aber niemals vollenden kann.

Der berechnende Ästhetiker widersprach: »Ihr produzierenden Künstler wiegt euch alle in einer unhaltbaren Illusion. Ihr haltet euer Reich für unbegrenzt, es läßt sich aber beweisen, daß es von zahlenmäßig angebbaren, vom Verstande erfaßbaren Grenzen umspannt wird. Diese Erkenntnis mag schmerzlich sein, sie besteht aber vor der Logik zu Recht, und wer sich ihr verschließt, der ergibt sich einer abergläubischen Phantasieschwelgerei.«

Ehe der Angegriffene erwidern konnte, nahm Fräulein Eva impulsiv seine Partei: »Verzeihen Sie, wenn ich die zuletzt gehörte Behauptung absurd finde. Was Sie als Aberglauben zu bezeichnen belieben, ist tatsächlich der heilige Glaube ausnahmslos aller, die jemals Kunst geschaffen und genossen haben. Dieser Glaube trägt seine Evidenz in sich, jede Welle unseres inneren Singens und Klingens zeugt für ihn. Und dieser Glaube an die Unbegrenztheit ist die Vorbedingung nicht nur alles Schaffens, sondern auch jeder Kunstbetrachtung. Ob Futurist, ob Klassizist, das ist hier ganz gleichgültig. Schlagen Sie die Bekenntnisse der Meister auf, wo Sie wollen, überall finden Sie diesen Glauben an das Selbstverständliche, aller Diskussion Entrückte. Der ganze Richard Wagner ist nichts anderes, als ein großer Psalm über die Motive Unendlich, Unermeßlich, Unergründlich, Uferlos, die wir alle als ganz unabtrennlich vom Wesen der Kunst betrachten.«

Der Berechner: »Das meinte ich ja eben. Es ist das Los der Künstler, sich in diese vermeintliche Selbstverständlichkeit zu verbeißen, und es hält tatsächlich sehr schwer, irgendeinen von seinem Irrglauben zu kurieren. Aber der Exakte, der nicht phantasiert, sondern überlegt, erkennt die Zusammenhänge anders als der Schwärmer, dem die Vielheit der Erscheinungen sogleich eine Unendlichkeit vorgaukelt. Der Musiker zum Beispiel operiert mit einer bestimmten Vielheit der Töne, chromatisch gerechnet mit hundert, und jede auf dieser Basis existierende Komposition stellt einen bestimmten Permutationsfall dieser Elemente dar. Steht das Werk aufgeschrieben vor uns, so erkennen wir leicht, daß sich alles, restlos alles, in Tonfolge, Modulation, Akkord, Rhythmik, Stärkestufe, Tondauer und Klangverbindung auf auszählbare Grundelemente zurückführen läßt. Das sind Endlichkeiten, die allerdings sehr hohe Zahlenwerte erreichen; wie ja alle Kombinatorik sich rasch ins Ungeheure auswächst, ohne darum jemals die Grenze des Endlichen zu überschreiten.«

Der Künstler: »Ihre Rechnung hat ein Loch. Wir sind ja über die Halbtöne bereits hinausgegangen zu Drittel- und Vierteltönen, und wir werden in der Zerkleinerung der Intervalle noch fortschreiten.«

Der Berechner: »Gewiß. Und ferne Jahrtausende werden sich vielleicht mit einer Chromatik von Zehnteltönen abzufinden haben, falls dann überhaupt noch musiziert wird. Aber auch damit gelangen Sie nur zu einer Hinausschiebung, keineswegs zur Vernichtung der Grenzen bis ins Uferlose.«

Eva: »Sie wären mit Ihrer Deutung schließlich imstande, die Zahl aller möglichen Stücke direkt zu berechnen. Also sagen Sie wenigstens: unter wie vielen Möglichkeiten haben die Tonschöpfer die Auswahl, wenn sie schon verurteilt sind, das Pensum der Endlichkeit aufzuarbeiten?«

Der Berechner: »Diese Rechnung wäre theoretisch möglich, allein ich ziehe es vor, Ihnen eine Grenze zu bezeichnen, die jedenfalls sehr viel weiter liegt, als alle jemals erdenklichen Werke in allen Künsten zusammengenommen. Wie leicht spricht es sich aus: 10 zur millionten Potenz! Nun wohlan, diese Zahl ist unabsehbar größer als jede Kombination in der Kunst, und diese wird bis in alle Ewigkeit weltenfern hinter ihr zurückbleiben. Und damit gelangen wir an die Hauptsache, nämlich an die leidige Gewißheit, daß die Ewigkeit der Zeit gar nicht imstande wäre, der Kunst zu helfen; weil bei irgendeinem Zeitpunkt alle Möglichkeiten erschöpft sein müssen und selbst der genialste Meister gar nichts anderes mehr vermag, als das zu wiederholen, was schon vor Aeonen eine längstvergangene Kunst hervorgebracht hat. Und Sie ahnen gar nicht, wie rapide wir uns diesem Zeitpunkt nähern. Achten Sie auf die atavistischen Rückfälle unseres Kollegen auf Helikonda, wie in der K-dur-Symphonie, die Sie ja auch gehört haben!«

Der Künstler: »Wäre Ihr Kalkül richtig, dann müßte ja unsereiner die Produktion an den Nagel hängen, und sich selbst dazu.«

Ich: »Wenn er richtig wäre . . . er ist aber falsch! Ich habe jene Atavismen in dem Schreckenswerk sehr wohl herausgehört, und trotzdem, bei allem Widerwillen gegen die Gehirnkrämpfe der Futuristen behaupte ich: Ihre Betrachtungen über Endlich und Unendlich sind lediglich symbolische Spiele mit Vorstellungen, die von einer höheren Warte gesehen, jeglichen Sinn verlieren.«

Der Berechner: »Sie werden doch nicht aussagen wollen, daß es jenseits der mathematischen Evidenz noch eine andere, übergeordnete gibt?«

Ich: »Das vertrete ich allerdings. Und die bloße Gefühlssicherheit von der Grenzenlosigkeit der Kunstgestaltung wäre schon Beweis genug. Aber auch dem Mathematiker graut bisweilen vor seinen eigenen Abgrenzungen und vor den Paradoxien, die auf ihnen wachsen. Wir besitzen Aussprüche vom größten aller Mathematiker, von Gauss, in denen der Abscheu vor diesen selbstgeschaffenen Paradoxien deutlich zum Ausdruck kommt. Ihr Unendlich, mein Herr, ist der Wirklichkeit gegenüber eine haltlose Fiktion, des Künstlers Unendlichkeit schöpft aus dem Leben, zeigt dessen Puls und offenbart sich ihm als eine unmittelbare, nie zu erschütternde Gewißheit. Sie starren auf arithmetische Grundsätze und rufen eine Größe wie 10 zur millionten Potenz als begrenzt aus, während Sie tatsächlich allen denkbaren Erscheinungen gegenüber mit der vollen Wucht der Unendlichkeit auftritt. Ein Beispiel für viele: Jede wissenschaftliche Wahrheit, so fordert der Entdecker der Spektralanalyse, muß so beschaffen sein, daß sie sich auf einem Quartblatt aufschreiben läßt. Die Buchstaben, die sich darauf tummeln können, sind begrenzt; sonach stellen alle jemals möglichen wissenschaftlichen Wahrheiten nur endliche Permutationen dar, das würde heißen: der Inhalt alles Wissens ist begrenzt, ist vollendbar.«

Der Berechner: »Stimmt vollkommen. Die Wissenschaft hat in dieser Hinsicht das Los der Kunst zu teilen, beide erschöpfen sich. Das mag paradox klingen, allein es gibt da keinen Ausweg.«

Ich: »Doch, es gibt einen. Man braucht sich bloß zu einem radikalen Denk-Akt zu entschließen und zu erklären: Es besteht kein Unterschied zwischen dem unfaßbar Großen und dem Unendlichen. In diesem Augenblick versinkt Ihre hochgeschraubte Kombinatorik, und das wissenschaftliche Weiterdenken, wie alles Kunstschaffen triumphiert in voller Freiheit. Mit einem Akt des Denkwillens lassen sich die von Ihnen errechneten Grenzsteine entlarven als papierne Symbole, als leere und gänzlich wirkungslose Nummernzeichen. Sie sind Phantasiegebilde aus einer Formelwelt, die sich mit der Welt des Erlebens und Gestaltens in keinem Punkte berührt.«

Der Berechner: »Dann verleugnen Sie also den Pythagoras: Das Wesen aller Dinge ist die Zahl?«

Ich: »Durchaus nicht. Allein Pythagoras findet eine Ergänzung in Leibniz: Musik ist geheime arithmetische Übung der Seele, welche zählt, ohne es zu wissen. Der Künstler darf es nicht wissen und er wäre verloren, wenn er es wüßte. Er wirkt im Unendlichen, und sein Universum beginnt dort, wo die numerische Geltung der Zahl aufhört.«

* * *

Unser Gesprächskreis vergrößerte sich, die Gewaltigen, die Ultra-Genies waren mit dem Präfekten herangetreten. Kakordo, ersichtlich in aufgeräumter Stimmung, pflichtete mir in der Hauptsache bei, vermißte indes bei mir das klare Bekenntnis zum Letzten und Überletzten.

»Sie bewilligen,« sagte er, »der Kunst die Unbegrenztheit, legen aber doch zugleich Ihrem Geschmack Hemmschuhe an; Sie lassen der Zukunft alle Freiheit, allein – reden wir doch ganz ehrlich – Sie sind froh, wenn Sie von ihr möglichst wenig zu sehen und zu hören bekommen! Da fehlt der Schwung der Konsequenz. In welchem Gesetz steht es geschrieben, daß man nicht schon heute in Drittel- und Vierteltönen tondichten darf? Von mir gibt es ein Trio in Sechsteltönen, und wie Kenner versichern – fragen Sie nur herum –«

Spiridon nickte zustimmend: »Mir war die Sache zwar anfänglich etwas schleierhaft, allein ich fand mich doch allmählich hinein, wie viele andere, die den guten Willen mitbrachten, den freudigen Entschluß zum Selbstzwang; und dann begann es in mir wunderartig mitzuklingen; ich kann nur sagen, das Trio ist fabelhaft.«

»Dieser Genuß wird mir versagt bleiben. Und wenn Sie nach dem Gesetz fragen, so nenne ich ganz einfach die Verfassung unseres Ohres, die mit unserem guten oder üblen Willen nicht das Mindeste zu schaffen hat . . .«

– Und die es auch bewirkte, daß noch vor zwei Generationen jedes Fortschreiten in parallelen Quinten verpönt war. Heut lacht man schon in allen Konservatorien von Europa über dieses Verbot. Der erste Grieche, der die kleine Terz aufstellte, verstieß gegen die Verfassung des Ohres, wie Terpander, als er dem Ohr zum Trotz die Kithara mit sieben Saiten bespannte, statt mit den verfassungsmäßigen vier Klangfäden. Rousseau, der Philosoph und nebenher erfolgreicher Opernkomponist, dazu Erfinder des Melodrams, erklärte die Melodie allein für Musik, die neuere Harmonie dagegen für eine unnatürliche, barbarische, verfassungswidrige Zutat. Also mit diesem Argument ist es nichts.

»Aber es heult doch, es quietscht katzenhaft, wenn man die Halbtöne spaltet!«

– Die Katze ist ein sehr wichtiger Musikfaktor. Angefangen von Scarlattis berühmter Katze, die über die Klaviertasten hinweglief und damit dem Italiener das Thema zu seiner herrlichen Katzenfuge verschaffte. Noch ungleich bedeutender wird die Katze in Fragen der Intonation und Modulation. In ihrem Gesangsorgan besitzt sie ein Portament, das für unsere eigenen Ausübungen richtunggebend zu werden verspricht.

»Wenn Sie schon an animalische Naturlaute anknüpfen, dann wären doch andere empfehlenswerter: die Kadenzen der Nachtigall, der Wachtelschlag und Kuckucksruf, nach dem Vorbild der Pastoral-Symphonie; oder die Melismen der Goldammer, die dem Beethoven das Hauptthema seiner fünften Symphonie zutrug.«

– Ein Beethoven der Zukunft wird seine Klangmuster nicht von den Bäumen, sondern von den Dächern herholen. Übrigens richtet sich mein Ehrgeiz gar nicht auf diesen Titel, denn wir haben mit Beethoven kaum noch das Substrat gemein. Die Kunst, das was wir Kunst nennen, muß überhaupt erst erfunden werden; und das ist ein schweres Geschäft.

– Davon weiß ich ein Liedchen zu singen, bemerkte der Dichter Dadalbra. In der Poesie liegt die Sache mindestens ebenso schwierig. Eine Dichtkunst wird erst anfangen, zu sein, wenn sie von der Sprache vollkommen losgelöst wird.

– Und erst in unserem Fach! rief der Maler-Bildhauer Patzoha. Wieviel Irrwege sind da erst zu verlassen, ehe es gelingt, die Natur zu überwinden. Den europäischen Futuristen schwebte ja ein gewisses Ideal vor, als sie anfingen, den menschlichen Körper aus Mohrrüben, Gurken und Knackwürsten zu formen, aber sie verblieben trotzdem in der nachbildenden Schablone und sie begriffen nicht, daß aus der menschlichen Anatomie nie und nimmer etwas Kunstbrauchbares werden kann, mag man sie noch so sehr korrigieren, läutern und stilisieren. Alles Gegenständliche ist Anekdote, eine Landschaft ebenso, wie eine Historie, wie irgendein dinglicher Komplex, und der Mensch, wie die Natur ihn schuf, ist sogar eine Anekdote ohne Pointe. Bildet man sie nach in Öl, Stein, Holz oder Erz, so verfällt man in die naive Rolle eines Kindes, das seinen Fibelvers aufsagt. Noch schlimmer, man wird Widerkäuer, man kaut reproduktiv nach, was einem die Natur mit den plumpen Mahlzähnen der Schöpfung und der Geschichte vorgekaut hat. Auf diesem Wege ist eine Kunst überhaupt nicht zu erzielen.

»Und wie sonst?«

– Durch Wollungen und Ballungen. Wohl verstanden: das was wir an der Peripherie von Helikonda betreiben, ist noch ganz etwas anderes. Aber um überhaupt aus dem Kunst-Nichts ein Kunst-Etwas herauszuwirken, muß man damit anfangen, Wollungen zu wollen und Ballungen zu ballen. Andernfalls erdrosselt sich die Idee zu einem distanzlosen Phänomenon, während sie sich gerade durch antinomische Propädeutik zum infinitesimalen Noumenon transsubstanzieren soll.«

– Der Dichter zumal muß sich aus dem Sumpf der Logik und der Verständlichkeit herausätherisieren. Jene vordem gerühmte Hippokrene, der klassische Musenquell, hat sich als ein Morast erwiesen, als ein Dreckpfuhl, dem gegenüber alle Pontinischen Sümpfe zusammen wie ein lauterer Tautropfen anmuten. Somit ist der Inhalt der Literaturgeschichte etwa von Pindar bis zum Anbruch der Neuzeit nichts anderes als der Bericht aus einem Malariahospital. Die erste Besserung trat ein, als gewisse Dichter sich entschlossen, anstatt zu dichten, ihre internen Vorgänge durch Rufe, animistische Gedankenstriche, expansive Pausen und Evokationen in die Welt zu projizieren.

»Diese Methode ist mir nicht ganz unbekannt. Alle Tage liest man in Deutschland begeisterte Kritiken über Poeten, die uns als kochend, verkrampft, aus ihrer eigenen Hirnwelt herausspringend vorgestellt werden. Sie haben das Gestalten aufgegeben, um hinauszubrüllen, hinauszuächzen, hinauszudonnern, hinauszustöhnen, hinauszukreischen. Vielen Rezensenten gefällt das, wenigstens tun sie als ob, und sie geben Tips aus für das dichtungssportelnde Stadion. Ein Teil des Publikums geht mit und entflammt sich für diese Poeten mit der nämlichen Bereitwilligkeit, wie für Derbyrenner, Stafettenläufer oder Meisterboxer. Ich persönlich halte dafür, daß es nicht darauf ankommt, wie einer schreit, brüllt, ächzt und kreischt, sondern erheblich mehr darauf, was er zu sagen hat. Ich mache gern mit fremden Gedanken und Empfindungen Bekanntschaft, aber ich hasse es, wenn mir der andere seine Gedärme um die Ohren schlägt. Solchen Wollungen und Ballungen gehe ich in weitem Bogen aus dem Wege.«

– Sie haben dergleichen hier auch nicht zu befürchten, denn wir sind über diese Zwischenstadien längst hinaus. Sie waren wichtig als Etappen auf dem Wege zur Kunst, die wir nunmehr erschaffen, als die einzelnen Signale, die wir selbst errichteten, um die Umwelt auf die einzige große Kunst der Zukunft vorzubereiten.

»Was verstehen Sie unter diesen Signalen? Ich vermute, das sind die »Ismen«, die auch bei uns umgehen, und denen man sich auf Leben und Tod verschreiben muß. Die Sakramente, auf die man sich verpflichtet, und die alle zusammengenommen – wie ich sie beurteile – nur einem höchst komplizierten Götzendienst und Fetischkult dienen. Also sagen Sie: auf welche Ismen muß oder mußte man bei Ihnen schwören? Auf den Im- oder Expressionismus?«

– Vorübergehend auch auf diese. Und es lag in unserer Methode, einen Ismus immer so lange als den einzig gültigen zu verordnen, bis es uns angezeigt erschien, radikal mit ihm zu brechen. Darin offenbarte sich unsere Vielseitigkeit. So schufen wir den Extremismus, den Futurismus, und den Plusquamperfektismus; ferner den Zentrifugismus, den Satanismus, den Vampirismus, den Echolalismus, den Psychapathismus, Delirismus und Paranoiismus.«

– Mit diesen letzten Formen hatten wir schon schwer zu ringen, ergänzte Spiridon; bis wir uns klar machten, daß der Irrsinn selbst von der Geschichte seine sakramentale Weihe empfangen hat. Waren nicht Lenau, Wiertz, Schumann, Courbet, Makart, Manet, Overbeck, Rethel, Stauffer-Bern, Nietzsche irrsinnig in der psychiatrischen Bedeutung des Wortes? Gehört nicht Dostojewski, der Epileptiker, in diese Reihe? Erzählen uns nicht die Biographen, daß van Gogh sich ein Ohr abschnitt, um es einem Bordellmädchen zu schenken? Sonach Hut ab vor den Deliristen!

»Diese Reverenz mache ich mit, Herr Präfekt, soweit sie den Persönlichkeiten gilt. Und ich komme Ihnen sogar noch weiter entgegen: in jedem Ismus, als Prinzip, steckt etwas Paranoia. Das Reich der Kunst und das der Ismen sind völlig getrennte Welten, und wer in der einen die andere vermutet, der begibt sich in eine ästhetisierende Faselei. Die Kunst an sich ist richtungslos . . .«

– Das heißt, sie wartet auf die Kräfte, die ihr die Richtung geben. So war es eine große Tat unseres Meisters Patzoha, als er sie mit der Richtung des Sphäro-Kubismus beschenkte. Sie war um so bedeutender, als es sphärische Würfel in der Natur gar nicht gibt. Er aber ging weiter und erfand die Richtung des zylindrischen Prismatismus. Nebenbei erweiterte er die Maltechnik, indem er eine ideale Landschaft formte, in der er sämtliche Objekte aus wirklichen Hosenknöpfen auf die Leinwand nähte und nagelte. Das Gemälde befindet sich im Ehrensaal des Museums.

»Wir werden nicht verfehlen, dieses Werk in Augenschein zu nehmen.«

– Davon möchte ich Ihnen eigentlich abraten, sagte der Urheber, denn es ist schon wieder veraltet. Auf dem Bild kommt die Sonne vor, freilich fünfeckig, aber auch in dieser Figur entspricht sie nicht mehr meinem heutigen Empfinden, denn die Sonne ist eine Anekdote. Außerdem wurde meine Methode durch Nachahmung allzusehr vulgarisiert. Einer meiner Schüler lieferte eine Quellnymphe aus natürlichen Fischgräten ins Museum, ein anderer komponierte aus Schuhabsätzen, Zahnstochern und Zigarrenstummeln eine Nackttänzerin ohne Unterleib. Sehr talentvoll übrigens, als Erhöhung der Flächenmalerei zur Raumkunst. Aber die ganze Richtung ist, wie gesagt, schon wieder überholt.

– Und dies ist auch der Grund, weshalb wir noch zögern, Sie mit den letztjährigen Erzeugnissen bekannt zu machen, die doch schon wieder der Vorzeit angehören. Noch vor einem Jahre wäre es mir ein Vergnügen gewesen, Ihnen meine logarithmische Symphonie vorzuführen oder mein Streich-Sextett über das Kraftparallelogramm. Beide Kompositionen sind preisgekrönt, und dennoch, ich erkenne sie aus dem Gesichtswinkel dieser Stunde als unzureichend.

»Seien Sie nicht allzu bescheiden!« monierte der Präfekt. »Die Sachen waren vorzüglich, und unsere Kritiker rühmen sie noch heute, wenn sie auch andeuten, daß auf den Bildern der Rhythmus und in den Tonwerken das Ultraviolette fehlte.«

Dadalbra erläuterte: Das sind Worte einer futuristischen Kritik, Ausdrücke, die ich früher einmal geprägt habe, um der Sprache ein bißchen Prägnanz zu verleihen. Ich gelangte dazu bei der Betrachtung meiner eigenen Poesien, als ich entdeckte, daß Theaterstücke etwas Ovales haben müssen . . .

»Wie ist das zu verstehen?«

– Sie müssen es nachfühlen. Eine Szene ohne elliptischen Kontrapunkt besitzt keine Entelechie. Nehmen Sie dies als gedanklichen Ausgangspunkt, so erfließen die kritischen Folgerungen von selbst. Der Wert eines Gemäldes hängt von seiner Parallaxe ab, bei einer Skulptur kommt es auf die polarische Dominante an, und ein Konzertstück wird man nur dann richtig beurteilen, wenn man es von seiner konkaven Seite auffaßt. Allen Künstlern gemeinsam ist schließlich das negativ subsumierte Konzentrat, oder noch besser gesagt, die Spirale der paramagnetischen Ubiquität. Das mag Ihnen vielleicht etwas fremdartig erscheinen . . .

»Doch nicht so ganz, Herr Dadalbra; mir ist es sogar, als hörte ich Heimatsklänge; Ihre Ausführungen berühren mich wie der Vorklang der kritischen Stimmen, die wir demnächst in Deutschland zu erwarten haben. Und ich erkenne auch ohne weiteres: das überlieferte Vokabular kann nicht ausreichen, wenn sich erst wirklich eine Notwendigkeit ergibt, die Halbtöne zu spalten.«

– Gut, daß Sie auf diesen Hauptpunkt zurückkommen. So lange man überhaupt noch in irgendwelchen Ton-Intervallen komponiert, liegt die Musik in Regeln und Fesseln; ist sie an die Erde geschmiedet, während sie in ihrer Göttlichkeit sich danach sehnt, der Linie des Regenbogens zu folgen.

»Wunderschön gesagt. Nur gestatte ich mir den Einwand: die Linie des Regenbogens bietet keine Loslösung von der Regel; im Gegenteil; schwingt sich die Tonkunst wirklich wie der Regenbogen, so trotzt sie jeder Willkür und vollzieht im höchsten Grade das kosmische Gesetz!«

– Es war doch nur ein bildlicher Vergleich, der das Unsubstantielle der Kunst bezeichnen sollte. Aber jedes Intervall ist ein Rest von Substanz. Es handelt sich nicht mehr darum, mit Sechstel- oder Zehnteltönen zu operieren, sondern den Ton überhaupt infinitesimal aufzulösen. Erst das Unendlichkleine in der Stufung wird das Unendlichgroße der Kunst herbeiführen. Denn dann werden die Permutationen wahrhaft unendlich, und der mathematische Ästhetiker verliert das Spiel definitiv. Trillionen von Melodien und Harmonien, die jetzt noch uneingefangen in der Luft hängen, steigen zu uns herab, sobald wir nur noch eine Tonart mit unendlich vielen und unendlich benachbarten Tönen anerkennen.

»Und was machen Sie mit den Instrumenten, die doch bestimmte Töne liefern von bestimmtem Charakter, mit bestimmten Obertönen und Klangfarben? Von denen jedes in seiner eigenen Technik lebt, in seiner eigenen Sprechweise und Gestaltungsmöglichkeit?«

– Sehr einfach: Ich schaffe sie sämtlich ab. In der freifließenden Komposition sind Geigen, Klaviere, Orgeln, Flöten, Klarinetten und wie sie alle heißen, nicht mehr zu brauchen. Statt ihrer haben wir jetzt einen transzendentalen Tonerzeuger, der sich freimacht vom Primadonnentum der Geige, von der Arroganz der Trompete, von der Schmachtlappigkeit des Cello, von all dem Gekräh, Gekrächz, Gebrumm, Geschmetter bornierter, koketter urid rüpelhafter Orchesterinstrumente.

Darauf hatte ich gewartet. Denn mir kamen hier gewisse höchst geistreiche Anregungen hervorragender europäischer Meister in Erinnerung. Sollte ihre dämmernde Ahnung auf Helikonda Erfüllung finden?

Die Herren wechselten Blicke und gaben Zeichen, ihnen zu folgen. Wir gelangten von den Wohnräumen in einen Saal, dessen Querwand von einem ungeheuren Apparat mir unbekannter Konstruktion ausgefüllt wurde. Ein Mittelding zwischen Orgel und Dynamomaschine. Telephon-Diaphragmen vermittelten zwischen Luft und elektrischen Strömen, die nicht nur das Intervallproblem lösten, sondern durch beliebige Mischung der Obertöne alle jemals denkbaren Klangkolorite hervorzauberten.Ein ähnliches Dynamophon ist bereits von dem Amerikaner Dr. Thaddäus Cahill im Jahre 1906 konstruirt worden. Busoni erwähnt es in seiner gedankenreichen Schrift »Entwurf einer neuen Aesthetik der Tonkunst.« Die Maschine wurde von einer Klaviatur aus bedient, deren Einzeltasten je nach dem Fingerdruck das ganze Kontinuum der Schallschwingungen mit Einschluß aller Irrationalzahlen durchliefen. Wenn zum Beispiel das eingestrichene A ursprünglich auf 435 Schwingungen eingestellt ist, so braucht sich nur der Anschlagsdruck unmerklich verändern, um es nach beliebigen Dezimalen zu erhöhen oder zu vertiefen. Kakordo setzte sich an das Manual und spielte eine Phantasie über das Thema »Abracadabra«, worin alle Klangstärken vom zartesten Gesäusel bis zum betäubenden Gewitter vorkamen. Mit dem, was Unsereinem als Musik gegenwärtig ist, hatte sie so wenig zu schaffen, wie der Wind, wenn er durch den Kamin fährt oder um die Straßenecke pfeift. Allein wir unterdrückten unser Votum, bis auf Donath, der sich als Gast verpflichtet fühlte und »Bravo Dacapo!« rief. Zum Glück blieb es bei der einmaligen Spende, denn jede Vorführung auf dem Transzendental-Tonerzeuger ist ein Unikum, nicht in Notation festzuhalten und niemals wiederholbar. Spiridon strahlte und gab zu verstehen, daß der Meister sich soeben selbst übertroffen habe.

»Wenn das durchdringt,« sagte ich, »werden Ihre Kapellmeister wenig zu tun haben.«

– An denen liegt nicht viel. Wir rechnen die Orchesterdirigenten schon heute zu den Leichtathleten mit einem Anflug von Komik. Ihre Bewegungen am Dirigentenpult sind illustrative, nicht ernst zu nehmende Turnübungen. Der eine sticht mit dem Taktstock wie mit einer Nadel in die Violinpassagen, der andere angelt mit ihm einen imaginären Fisch aus der Kapelle, der dritte produziert sich mit Verrenkungen als Schlangenmensch. Unser Dynamophon macht diesen Clownerien ein Ende.

* * *

In einem reizenden, von bunten Strahlkörpern erhellten Gartenpavillon wurde der Tee eingenommen. Zur Vergnügung der Gesellschaft hatte unser Wirt mehrere Tänzerpaare bestellt. So konnten wir auch etliche Blüten der Tanzkunst erhaschen, ohne unsere Auffassungskraft besonders zu strapazieren. Denn zu den Tänzen gab es keine elektrische Tonkunst, sondern die Begleitung eines richtigen kleinen Orchesters. Es sah nicht viel anders aus, als in einer großstädtischen Diele.

Jeder Nummer lag sozusagen eine zoologische Idee zu Grunde; wie ja auch bei uns der Fuchs und der Grislybär die wertvollsten choreographischen Grundmotive gegeben haben. Die Kunst-Insel hat sich natürlich von diesem viel zu engen Schema emanzipiert und den Umkreis der Tiermotive wesentlich erweitert. Sehr sinnig imitierten hier die gleitenden und hüpfenden Darsteller eine Mannigfaltigkeit aus allen Gebieten der behaarten, geschwänzten und gefiederten Welt: den epileptischen Kranich, den elegisch vibrierenden Moschusochsen, den wirbelnden Polypen, und eine durch Selbststich zum Tanzorgiasmus erregte Tarantelspinne. Die Beziehung des Tanzes zur Begleitmusik bestimmt sich dadurch, daß die Taktarten konträr gegeneinanderlaufen. Daß der Tanz als eine Darstellung seelischer Zustände, durch Menschenbewegung verkörpert, eine gewisse lyrische Übereinstimmung mit dem Klangrhythmus bedingt, ist durch die Ästhetiker der Insel längst und auf immer widerlegt.

* * *

Zu später Stunde trennten wir uns von der gastlichen Stätte. Die drei Gewaltigen begleiteten uns, und Kakordo beantragte ein kleines gemütliches Stündchen bei einem Glase Wein in seiner Behausung. Meine Gefährten waren zu erschöpft, um dieser Einladung zu willfahren, ich allein entschloß mich zu dem weiten Weg an die Stadtgrenze. Unterwegs eröffneten mir die Ultragenialen, daß sie seit drei Monaten dabei wären, die definitive Neukunst zu erfinden, gegen die alles frühere zum Range von Gestammel und Geklexe herabsinken sollte. Die gesamte Intelligenz der Insel fiebre schon dieser erlösenden Tat entgegen; der Vereinigung aller Künste zu einer einzigen, als deren Träger und Empfänger nicht Auge noch Ohr in Betracht komme, sondern die Nase.

Daß die Sinne selbst diese Vereinigung verlangen, sagte Dadalbra, das steht außer allem Zweifel; sogar vom Tast- und Geschmacksinn läßt sich das behaupten. Man kann ein und dieselbe Sonate in gelb, rosa oder grün spielen. Für meine Empfindung tragen Sie, mein Herr, eine Krawatte in D-dur und die amerikanische Dame, die wir eben verließen, trägt einen Hut in As-moll. Ich subjektiv empfinde einen Septimenakkord als viereckig und eine diatonische Skala als sauer. In einem meiner Dramen kommt ein Held vor, der immer ein salziges Echo in der Pupille hat, und der sich mit einer spitzigen Fuge ersticht. Jeder Klarinetttriller riecht nach roten Nelken und jede Triole nach Moschus. Vertieft man sich in diese Phänomene, so erkennt man, daß sämtliche Sinne nur Ausstrahlungen eines einzigen sind, und dieser einzige sitzt in der Nase.

»Warum denn grade dort? Auge und Ohr sind doch für uns wesentlicher?«

– Es geht nicht nach der physiologischen Wichtigkeit, sondern nach der transzendentalen Bedeutung. Diese sublimiert sich in der Nase zu einer Höhe, hinter der alle andern Sinne weltenfern zurückbleiben. Wir stehen hier durchaus auf dem wissenschaftlichen Boden der Forschungen von Spallanzani, Ribot und Lubbock. Dementsprechend schaffen wir die Nasenkunst durch die »odorische Symphonie«, welche die Dichtung, Musik und Bildnerei überflüssig machen wird.

»Aber, um Himmelswillen, durch welche Instrumente wollen Sie denn das bewirken?«

– Durch gar keine Instrumente. Nur durch trajektorische Willensakte, die vom Genie ausgehen und die Nasennerven suggestiv bearbeiten. Dann werden sich im Empfangsapparat des Geruchmenschen Schwingungen entwickeln, die ihm das wirkliche Wesen aller kombinierten Künste offenbaren.

Ich verstummte und verharrte in meinem Schweigen, als wir uns schon im Salon des Tonkünstlers zu nächtlicher Runde niedergelassen hatten. Vor uns standen die gefüllten Kelche. Plötzlich löste sich mir die Zunge in spontanem Durchbruch: »Na prost, meine Herrschaften, es lebe der Schwindel! Den habe ich heute in seinem genialen Maximum erfahren, und für dieses Erlebnis bin ich Ihnen dankbar.«

Die Ultras wechselten seltsame Blicke. Ich wartete auf Bescheid. Unser Amphitryo sagte zögernd: »Sie sind recht unhöflich.«

»Sagen Sie lieber: sehr aufrichtig. Und in meiner Aufrichtigkeit steckt ein größeres Lob, als in allen Hymnen, die Sie umrauschen. Sie sind für mich die größten Meister, denen ich je begegnet bin; Meister der Neukunst, über alle Widerstände des überlieferten Kunstverstandes zu triumphieren. Meinen eigenen nehme ich aus. Der ist nämlich auch eines trajektorischen Willensaktes fähig, und er verlangt von Ihnen: Vergelten Sie Gleiches mit Gleichem. Ehrlichkeit gegen Ehrlichkeit! Sie haben sich über so viele Peripherien hinweggesetzt, überspringen Sie noch die letzte, die Ihr vorgespiegeltes Jenseits von meinem bescheidenen Diesseits trennt – dann wollen wir uns die Hände reichen.«

Kakordo biß sich auf die Lippen: »Wie lange gedenken Sie noch in Helikonda zu bleiben?«

»Das hängt von Ihrem Bescheid ab. Oder wollen Sie mir Bedingungen stellen? Ich akzeptiere jede, die Sie ohne Vorbehalt aussprechen. Keine Hintergedanken – das ist meine Bedingung.«

– Gut. Sie werden morgen mit dem Frühesten die Anker lichten. Und Sie geloben mir bei dem Höchsten, was Sie in der Kunst kennen, bei Gott, Goethe und Beethoven, daß Sie keinem unserer Volksgenossen von dem, was wir Ihnen eröffnen werden, eine Mitteilung machen.«

»Mein Wort darauf. Ihre Eröffnung verrät sich danach von selbst. Sie werden mir anvertrauen, daß Sie nicht eine Silbe von dem Hokuspokus glauben, den Sie der Insel vormachen.«

– Er ist ein Mittel im Kampf ums Dasein; eine Leiter zum Aufstieg; und die Hauptsache: In den Anfangsstadien glaubt man selber an ihn. Man gerät in den Bann der Halluzinationen, und verfängt sich in Wahngebilden, deren Betörung auf den Urheber zurückwirkt. Später gerät man an einen merkwürdigen Punkt, wo Erkenntnis, Ironie und Verachtung zusammenfließen. Man probiert, wie weit man im Kunstgebiet mit dem Bluff gehen kann, und man findet keine Grenze. Folgt erst einer, dann ergeht es dem ganzen Troß wie den Hammeln des Panurg; besonders wenn ein so tüchtiger Oberhammel vorhanden ist wie unser Präfekt Spiridon. Für den Veranstalter der Charlatanerie liegt eine psychologische Wollust in dem sicheren Vorgefühl: er darf alles wagen, alles bieten, noch so dick aufstreichen – die Leute kriechen auf die Leimrute. Es ist wie eine Lotterie ohne Nieten. Man setzt auf die Verblendung der Betölpelten und kommt immer mit Gewinn heraus. Jede Exaltation wird die Mutter einer Horde von Gaukeleien. Ja, wir haben die ganze Insel unter Bluff gesetzt, und in den nächsten Wochen werden sich alle an unserer Odorischen Symphonie berauschen, die gar nicht existiert und niemals existieren kann. Wo die Möglichkeit des Erzeugers aufhört, fängt die Phantasie der Genießer an.«

»Es wird Ihnen aber schwer fallen, danach noch einen neuen Ismus aufzubringen.«

– Gar nicht schwer. Aus jeder Vokabel im Lexikon läßt sich ein Ismus destillieren, der besorgt dann allein seine Propaganda. Und schließlich, warum soll man der Gemeinde ihre Illusionen rauben? Sie würde unglücklich sein, wenn sie erführe, daß es in Wahrheit nur zwei Ismen gibt: den Talentismus und den Stupidismus! Jeder bezeichnet die ewige Richtung, und ihr wollen wir noch eine kleine Huldigung bringen, bevor wir auseinandergehen.«

Er holte drei Pulte herbei und die Extremisten griffen nach den alten Instrumenten. Erste Überraschung: richtige Streichwerkzeuge waren im Hause des Ultra vorhanden, und richtige Notenblätter aus der überwundenen Epoche. Zweite Überraschung: auch der Maler und der Dichter verstanden sich auf die tönende Kunstübung, und ich erfuhr, daß sich die drei Verwegenen hier allwöchentlich bei tiefer Nacht zusammenfanden, um heimlich Kammermusik zu machen.

Und nach wenigen Sekunden intonierten sie Mozarts Streichtrio in Es-dur vom Jahre 1788. Alle sechs Sätze wurden gespielt, und in blühenden Figuren stiegen sie auf, aus einfachen Motiven mit seraphischer Kunst entwickelt. Wie seltsam, daß solcher Zauber aufzukeimen vermochte, in den antiquierten Ganz- und Halbtönen, ohne elektrischen Transzendentaltonerzeuger, ohne Dynamobetrieb, bloß aus einigen mit Schafsdärmen bespannten Holzbrettchen!

Ich träumte mich in die Rückertsche Gestalt hinein, in den ewig jungen Chidher: »und aber nach fünfhundert Jahren will ich desselbigen Weges fahren«. Unausdenkbar, welche Futurismen dann auf der Kunstinsel Helikonda umgehen werden. Aber vielleicht werden auch dann noch in einer verlorenen Ecke des Eilandes solche Töne der Vorwelt auferstehen, um in gänzlich zurückgebliebene Ohren ein Glücksgefühl zu träufeln.

 


 


 << zurück weiter >>