Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Probleme.

Zukunftsfragen. – Drei-Körper-Problem. – Begriff der Annäherung. – Die Aufgabe der Mechanik. – Einfachheit der Beschreibung. – Grenzen der Erweislichkeit. – Betrachtungen über den Kreis. – Aus der Geschichte der Irrtümer. – Kausalitäten. – Relativität auf physiologischer Grundlage. – Der Physiker als Philosoph.

Wir sprachen von Zielen und Aufgaben der Wissenschaft im allgemeinen und berührten gewisse Umfragen, wie sie von Zeit zu Zeit an die Berühmtheiten ausgeschickt werden, um deren Meinungen über die näheren und weiteren Ziele, über das Erstrebenswerte und Erreichbare zu erfahren.

Derartige Anregungen, so meinte Einstein, können ganz interessant sein; insofern sie die Aufmerksamkeit des Publikums für die Arbeiten der Forscher schärfen und diesen selbst Gelegenheit geben, weitere Kreise mit ihren Plänen bekanntzumachen. Indes darf man auch den Wert dieser Anregungen nicht überschätzen, wenn sie darauf gerichtet sind, ganz allgemein über die zukünftigen Wege der Wissenschaft etwas Zuverlässiges zu ermitteln. Jeder Gelehrte gerät in Verfolg seiner Untersuchungen an besondere Punkte der Peripherie, wo sich das Bekannte mit dem Unbekannten berührt, und ist geneigt, von diesen Punkten aus seine besonderen Perspektiven zu eröffnen. Man kann aber nicht erwarten, daß sich diese einzelnen Ausblicke zu einem Gesamtbild zusammenschließen und uns eindeutig die Wege bezeichnen, welche die Wissenschaft einschlagen soll oder einschlagen wird.

Herr Professor, entgegnete ich, dürfte ich vorschlagen, einige bestimmte Antworten, die auf solche Umfragen ergangen sind, herauszugreifen und zu erörtern? Ich habe hier eine ganze Reihe mitgebracht, und es wäre wertvoll, zu erkunden, wie Sie selbst zu einzelnen dieser auf die Zukunft eingestellten Aussprüche Stellung nehmen.

Einstein erklärte sich hierzu bereit, und ich las etliche Kundgebungen vor, die von bedeutenden Fachautoritäten, zumal Naturforschern und Mathematikern herrührten und sich unter dem gemeinsamen Titel »Die zukünftige Revolution der Wissenschaft« vereinigt hatten. Gleich zu Anfang gerieten wir an Ausführungen von Herrn Bailhaud, dem Leiter der Pariser Sternwarte, der sich mit dem sogenannten »Drei-Körper-Problem« und mit der Frage »Endlichkeit oder Unendlichkeit des Universums« beschäftigt.

Einstein erläuterte hierzu: Das berühmte Drei-Körper-Problem ist ein Sonderfall des allgemeinen Viel-Körper-Problems, dessen Wesen darauf gerichtet ist, die genaueren Bahnen der Himmelskörper zu ermitteln. Stellt man sich vor, daß die Planeten und Kometen lediglich der Anziehung des Zentralkörpers, der Sonne, unterworfen wären, so würden ihre Bahnen die ideellen Verwirklichungen der Keplerschen Gesetze ergeben, das heißt, sie würden sich um den Zentralkörper, noch präziser gesagt: um den gemeinsamen Schwerpunkt in reinen Kegelschnitten bewegen. Dasselbe würde sich ergeben, wenn man die Bahn eines Mondes als ausschließlich von seinem zugehörigen Planeten bestimmt betrachten wollte. Aber diese Annahme entspricht nicht der Wirklichkeit, da ja sämtliche Körper unseres Systems auch ihrer wechselseitigen Anziehung nach Maßgabe ihrer Massen und Entfernungen unterworfen sind. Hieraus folgen die sogenannten Störungen, Perturbationen, die Abweichungen von den ideell gedachten Bahnen, und die Aufgabe, diese Störungen zu ermitteln, fällt im wesentlichen mit dem »Drei-Körper-Problem« zusammen. Stellt man sich auf den Standpunkt der reinen Mechanik, so kann man dieses Problem als so weit gelöst betrachten, als wir imstande sind, die Bewegungsgleichungen hinzuschreiben. Allein an diese rein mechanische Aufgabe schließt sich eine mathematische, die bis heute noch nicht restlos bewältigt ist. So ist zu verstehen, daß die hierbei auftretenden Integral-Ausdrücke nur in Annäherung berechnet werden können. Für die praktische Ausrechnung macht dies keinen Unterschied, da die Annäherung nach den vorhandenen Methoden so weit getrieben werden kann, als man irgend will. Der Fehler läßt sich bis zu jeder beliebigen Grenze verkleinern, so daß es sich wohl erübrigt, in dieser Hinsicht von den zukünftigen Revolutionen der Wissenschaft ungeahnte Aufschlüsse zu erwarten.

Wir lasen weiter und bemerkten, daß einige der erwähnten Gelehrten nicht dabei stehen blieben, allen Fortschritt der Zukunft von der reinen Theorie zu erhoffen. Ihnen schwebte vielmehr ein Optimum des Glückes vor, zu dessen Gewinnung die Steigerung der Erkenntnisse allein nicht ausreicht. So hatte der berühmte schwedische Astrophysiker Svante Arrhenius sein Gutachten in die wenigen Zeilen zusammengefaßt: »Nach den ungeheuren Fortschritten, die in letzter Zeit durch die physikalisch-chemischen Wissenschaften vollbracht worden sind, scheint mir der Moment gekommen, mit vollem Erfolg die wichtigsten Probleme der Menschheitszukunft anzugreifen; nämlich die der Biologie und besonders der Heilkunde mit den Waffen, die dem Arsenal der exakten Wissenschaften zu entnehmen sind.« Und der Mathematiker Emile Picard, Mitglied der Akademie, präzisierte noch hoffnungsvoller: »Es ist mir nicht zweifelhaft, daß die von der Menschheit mit Ungeduld erwarteten Entdeckungen diejenigen sind, die der Krankheit und den Altererscheinungen beikommen wollen. Impfstoffe gegen sämtliche Krankheiten, ein Verjüngungswasser (une eau de Jouvence) für Personen, deren Alter vorschreitet, das sind die von allen ersehnten Entdeckungen. Es gibt auch die als »sittlich« zu bezeichnenden Wissenschaften, von denen wir mit Ungeduld die Anweisungen erhoffen, um den Haß zu vermindern, der sich in jedem Lande und von Volk zu Volk täglich zu vergrößern scheint. Das wäre eine schöne Entdeckung!«

Nun, Herr Professor Einstein, sagte ich, sind das nicht sehr erbauliche Worte? Wie tief muß das Bedürfnis nach ethischen Werten in der Menschennatur begründet sein, wenn sogar ein Mathematiker, dessen geistige Interessen durchaus nach dem Exakten gerichtet sind, die Entdeckungen auf sittlichem Gebiete allen andern überordnet.

Einstein entgegnete: »Wir müssen hier streng unterscheiden, was wir im allgemeinen ersehnen, und was wir im Sinne der Erkenntnis an sich zu erforschen haben. Die hier gestellte Frage war nicht gefühlsmäßig und wunschhaft umschrieben, sondern richtete sich unzweideutig auf die Fortschritte und Revolutionen im Gebiete der Wissenschaft. Nun denn: zu moralischen Entdeckungen ist die Wissenschaft überhaupt nicht da! Deren einziges Ziel ist vielmehr die Wahrheit. Die Ethik ist eine Wissenschaft über moralische Werte, nicht aber eine Wissenschaft zur Feststellung moralischer »Wahrheiten«. Die Ethik, wie man sie gewöhnlich als Wissenschaft auffaßt, kann daher nur indirekt zu einer Findung oder Förderung der Wahrheit dienen. Ich will Ihnen zur Illustration meiner Ansicht ein Beispiel nennen, das einem ganz anderen Felde entnommen ist, und nur als Vergleichsanalogie dienen soll; nehmen wir also einmal das Schachspiel. Dessen Sinn und Bedeutung liegen nicht im Wissenschaftlichen, sondern ganz anderswo, in einem nach bestimmten Regeln zu erprobenden Kampf. Aber auch das Schach, insofern es den Geist schärft, kann für Wahrheiten einen Wert indirekt aufweisen. Es kann z. B. Permutationsaufgaben anregen, auf deren Grunde mathematische, also rein wissenschaftliche Wahrheiten anzutreffen sind. Was ich durchaus nicht leugne, ist die Tatsache, daß in allen echten Wissenschaften das ethische Moment steckt. Denn die Beschäftigung mit Dingen, nur um der Wahrheit willen, hat eine befreiende und veredelnde Wirkung.«

Diese befreiende, veredelnde Wirkung, so schaltete ich ein, hätte sich doch auch in der Dämpfung der Leidenschaften zu äußern, von denen im vorgenannten Gutachten die Rede war; also vor allen Dingen, um mit Picard zu reden, in der Verminderung des Hasses von Volk zu Volk, dessen unheilvolle Folgen wir so schmerzlich erlebt haben.

Einstein lächelte und äußerte sarkastisch: »Der Haß ist vermutlich ein Reservat der ›Gebildeten‹, die dafür Zeit und Kraft übrig haben und die nicht von der Sorge absolut in Anspruch genommen werden. Aus seinem ironischen Ton war deutlich herauszuhören, daß er unter dem Sammelnamen der »Gebildeten« die Bildungsphilister, die snobistischen Mitläufer der Bildung begriff, nicht aber diejenigen, deren angestrengte Arbeit sich auf Vermehrung und Vertiefung des Bildungsmaterials richtet. Im wesentlichen blieb er dabei, daß irgendwelche »Entdeckungen« auf sittlichem Gebiete zu erwarten recht illusionär wäre; da jede wirkliche »Entdeckung« eben einzig und allein der Wahrheitssphäre angehöre, in der nur die Orientierung nach Richtig und Falsch, nicht aber nach Gut und Böse Sinn und Geltung habe.

Und damit gelangten wir an die alte Frage des Pilatus: Was ist Wahrheit?

In der Beantwortung betonte Einstein zunächst den Begriff der »Annäherung«, der in der Erforschung tatsächlicher Wahrheit eine große Rolle spielt, insofern jede physikalische nach Maß und Zahl feststellbare Wahrheit immer noch einen Rest offen läßt, der sie von der niemals erreichbaren Wirklichkeitswahrheit trennt. Dieser Begriff, der in Einsteins eigenen Forschungen, namentlich in deren Verhältnis zur älteren, der sogenannten klassischen Mechanik so bedeutsam hervortritt, möge hier nach den Erörterungen entwickelt werden, wie sie mir nach mehrfachen Gesprächen im Bewußtsein geblieben sind.

Stellen wir uns vor, wir hörten zwei Menschen über die Form der Erdoberfläche streiten. Der eine behauptete, sie wäre eine unbegrenzte Ebene, der andere definierte sie als Kugel; so würden wir nicht einen Augenblick zögern, den ersten als den Vertreter des Irrtums, den zweiten als den der Wahrheit zu bezeichnen; und so lange sich die Frage in der Alternative »Ebene oder Kugel« erschöpft, wäre in der Beantwortung »Kugel« die restlose, absolute Wahrheit gegeben. Trotzdem wäre diese Wahrheit nur eine relative, denn jene zwei Behauptungen sind nur unter sich kontradiktorisch; und zwar nur so lange, als nicht eine dritte Behauptung auftritt, die der Behauptung »Kugel« eine neue Kontradiktion entgegenstellt.

Wenn jetzt der Streit zwischen jenem zweiten und einem dritten Debatter weitergeht, so hätte dieser dritte alles Recht zu der Ansage: die Erklärung Kugel ist falsch. Denn der Begriff Kugel bedingt die Gleichheit aller Durchmesser, während wir bei der Erde die Ungleichheit genau kennen, und die Entfernung von Pol zu Pol erweislich kleiner finden, als die von einem Äquatorpunkt zum gegenüberliegenden. Die Erde ist ein Rotationsellipsoid, und diese Wahrheit ist eine absolute, gemessen an den Irrtümern, die sich in den Stichworten Ebene und Kugel ausdrücken.

Und wiederum wäre hinzuzufügen, daß dieses Absolutum nur so lange gilt, als die Kontradiktion zwischen einer bestimmten Kugel und einem bestimmten Ellipsoid ins Auge gefaßt wird. Bestehen da wirklich, wie bei der Erde, ganz verschiedene Ausmaße, so waltet zwischen beiden Aussagen ein vollkommener Widerspruch, und wenn der Ellipsoid-Anwalt recht hat, so muß der Kugel-Anwalt, der eben noch gegen den Vertreter der Ebene gesiegt hatte, nunmehr kapitulieren. Der Kugel-Behaupter hatte die Wahrheit inne gegen den ersten Streiter, und diese Wahrheit erweist sich gegen den dritten als ein Irrtum.

Die elementare Logik wird dadurch nicht außer Kraft gesetzt. Diese lehrt in einem Satz, der nicht ganz zutreffend als »Satz des Widerspruchs« bezeichnet wird: Zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile, – z. B. diese Figur ist ein Kreis – diese Figur ist kein Kreis – können unmöglich beide wahr sein, aus der Wahrheit des einen folgt mit zwingender Notwendigkeit die Falschheit des anderen. Da hieran nicht zu rütteln ist, so folgt für unseren Fall: es können in Beurteilung des Erdkörpers oder der Erdfläche kontradiktorische Urteile überhaupt gar nicht vorgelegen haben.

Nämlich rein geometrisch aufgefaßt. Die Kugel widerspricht nicht durchaus dem Ellipsoid, da sie einen Grenzfall des Ellipsoids vorstellt; und die Ebene bedeutet ebenfalls einen Grenzfall der Kugel, wie auch der Ellipsoidfläche.

Allein hier handelt es sich nicht um rein geometrische Betrachtung, denn die Erde ist doch ein bestimmter Körper, kein in Abstraktion gewonnenes Grenzgebilde. Hier handelt es sich um meßbare Größen von erweislicher Verschiedenheit, und hiernach müßte von zwei kontradiktorischen Streitern der eine die unbedingte Wahrheit, der andere die unbedingte Unwahrheit verkünden. Was wiederum nicht zu vereinigen ist mit unserem Ergebnis, daß der mittlere Streiter das eine Mal recht behält und das andere Mal ins Unrecht gerät.

Der logische »Satz des Widerspruchs« löst das Dilemma in der einfachsten Weise: die Wahrheit ist bei keinem, mithin kann aus keinem jener Urteile die Falschheit der anderen erschlossen werden. Wahr ist vielmehr nur das eine, daß in jedem der Urteile die Wahrheit in einer gewissen Dosis vorhanden ist. Auf die Erdfläche bezogen bietet uns die Ebene die Wahrheit in erster, die Kugel in zweiter, das Drehungsellipsoid in dritter Annäherung; vorbehaltlich weiterer Annäherungen, von denen jede folgende zu einem höheren Richtigkeitsgrad aufsteigt, ohne daß es irgend einer gelingen könnte, die wirkliche Wahrheit zu erreichen.

Diese auf den Einzelfall eingestellte Betrachtung läßt sich verallgemeinern und bleibt bestehen, wenn wir sie auf unsere Erfassung der Zustände, Veränderungen, Vorgänge in der Natur ausdehnen. Wenn wir von Naturgesetzen sprechen, so müssen wir uns dessen bewußt bleiben, daß es sich hier um menschliche Denkprozesse handelt, die einem Instanzenzuge unterliegen, mit Ausschluß einer allerletzten Instanz, über die hinaus eine Berufung nicht mehr möglich ist. Jede neue Erfahrung im Ablauf der Naturgeschehnisse kann die Notwendigkeit einer neuen Verhandlung vor einer höheren Instanz begründen, der dann die Aufgabe zufällt, das von uns formulierte Gesetz anders oder schärfer zu fassen, mit einem höheren Grad der Annäherung an die Wirklichkeit.

Man vergegenwärtige sich einige der wertvollsten Aussprüche, die von modernen Forschern über das Wesen der Naturgesetze erflossen sind, und man wird erkennen, daß sie alle durch ein einheitliches Gedankenband verknüpft sind, nämlich durch das Zugeständnis, daß auch im sichersten Gesetz ein ungelöster Rest bleibt, der uns verpflichtet, eine erhöhte Annäherung an die Wahrheit, wenn auch nicht für stets erreichbar, so doch als denkmöglich zu erachten.

Die Mechanik liefert uns den Ausdruck der Gesetze in Gleichungen, deren Bedeutung Robert Kirchhoff 1874 durch eine auf der ganzen Linie der Naturforscher als zutreffend erkannte Definition erläutert hat. Danach ist es die Aufgabe der Mechanik: die in der Natur auftretenden Bewegungen vollständig und in der einfachsten Weise (nicht zu erklären, sondern) zu beschreiben.

Die Forderung nach Einfachheit leitet sich her aus der Grundauffassung der Wissenschaft überhaupt, als einer Ökonomie des Denkens. In ihr spricht sich der Denkwille des Menschen aus, mit dem Aufwande des geringsten Kraftmaßes das Maximum von Ergebnissen zu erreichen und mit dem kleinsten Aufgebot von darstellenden Zeichen die größte Summe von Erfahrungen zu umspannen. Nehmen wir, nach Mach, zwei einfache Beispiele: Kein menschliches Gehirn ist der Aufgabe gewachsen, sich alle möglichen Geschehnisse des freien Falls vorzustellen, und man darf sogar bezweifeln, ob selbst ein Übergeist, wie der von Laplace imaginierte, dazu imstande wäre. Merkt man sich aber das Galileische Fallgesetz und den Wert der Schwerbeschleunigung, was ganz leicht und einfach ist, so ist man für alle Fälle gerüstet und besitzt eine auch der bescheidenen Auffassungskraft zugängliche kompendiöse Anweisung, alle vorkommenden Fallbewegungen in Gedanken nachzubilden. Ebenso könnte kein Gedächtnis der Welt alle verschiedenen Fälle der Lichtbrechung fassen. Statt uns auf diese unendliche Überfülle aussichtslos einzurichten, merken wir uns bloß das Sinusgesetz und die Brechungsexponenten für die vorkommenden Paare von Medien; so können wir jeden beliebigen Fall der Brechung ohne Schwierigkeit nachbilden oder ergänzen, zumal es uns freisteht, das Gedächtnis durch schriftliche Aufbewahrung der Konstanten vollständig zu entlasten. Hier haben wir also Naturgesetze, die uns einen umfassenden, abgekürzten Bericht über Tatsachen erstatten, und der Forderung nach Einfachheit im hohen Grade genügen.

Aber diese Tatsachen bauen sich aus Erfahrungen auf, und es ist nicht ausgeschlossen, daß irgend eine neue unvermutete Erfahrung eine neue Tatsache entschleiert, über die das Gesetz nicht erschöpfend mitberichtet. Dann wären wir gezwungen, die Fassung des Gesetzes zu berichtigen und eine weitere Annäherung an den vergrößerten Tatsachenkreis zu versuchen.

Der Trägheitssatz steht nach menschlichem Ermessen in seiner Einfachheit und Vollständigkeit als unübertrefflich da, er erscheint uns ganz elementar. Aber dieser Satz, der nach dem Erlöschen der bewegenden Kräfte dem Körper eine gleichförmige, gradlinige Bewegung zuschreibt, hebt doch aus unendlich viel Denkmöglichkeiten nur eine einzige als maßgebend für unsere Vorstellung hervor. Einem denkenden Kinde leuchtet er nicht ein, und man könnte sich einen in anderem Fach sehr tüchtigen Gelehrten vorstellen, dem er ebenfalls nicht einleuchtet. Denn a priori ist es durchaus nicht feststehend, daß sich ein Körper nach Erlöschen der Kräfte überhaupt fortbewegt. Wäre der Satz an sich evident, so hätte er nicht erst entdeckt zu werden brauchen, von Galilei im Jahre 1638. Nichtsdestoweniger, für uns ist er voll und ganz mit Selbstverständlichkeit umkleidet, und wir vermögen uns nicht vorzustellen, daß er diese jemals verlieren könnte. Weil wir eben an den derzeitigen Vorstellungskreis gebunden sind, der nicht weiter reichen kann, als bis zur Summe der in Vererbung und Anpassung aufgearbeiteten Sinneswahrnehmungen oder Erfahrungen. In einem sehr fernen Menschengeschlecht könnte der Durchschnittskopf einen Galilei so weit überragen, wie Galilei einen Kindskopf oder den Intellekt eines Papuanegers. Und in einem fernen Zukunfts-Galilei könnte aus den unendlichen Denkmöglichkeiten eine besondere aufsteigen, die als Gesetz formuliert, zur Beschreibung der Bewegungen besser dient, als unser Trägheitsgesetz von 1638.

Das sind keine leeren Halluzinationen, sondern diese Betrachtungen knüpfen an wissenschaftliche Geschehnisse an, die wir im zwanzigsten Jahrhundert erlebt haben. Die Newton'sche Gleichung, welche das Gesetz der Attraktion darstellt, ist zweifellos ein Muster der Einfachheit, und an seiner Genauigkeit zu zweifeln, wäre vor einem Menschenalter keinem Denkenden eingefallen.

Mit dem faßlichen Ausdruck Formel: k x (m x m')/r hoch 2 wird eine anscheinend für alle Ewigkeit gültige Gesetzeswahrheit hingestellt. In diesem Ausdruck bedeutet k die Gravitationskonstante, also eine im ganzen Universum unveränderliche Größe, m und m' zwei durch Anziehung aufeinander wirkende Massen und r deren Abstand. Aber über Newton kam Einstein, der nachwies, daß jener Ausdruck nur einen Näherungswert darstellt, der unter allerschärfster Prüfung einen feststellbaren Fehlerrest einschließt. Die von Einstein aufgestellten Gleichungen stellen die vorläufig letzte, vielleicht auf Jahrtausende gültige Annäherung dar. Freilich sind sie sehr kompliziert, in einem System erschreckend langer Differentialgleichungen aufgebaut, und man könnte den fragenden Einwand erheben: wie vertragen sie sich mit Kirchhoffs Forderung, daß die aller einfachste Beschreibung der Bewegungen angestrebt werden muß? Aber der Einwand hält nicht stand, wenn man der Sache auf den Grund geht. Denn die Einfachheit spricht sich keineswegs in der Kürze oder Unschwierigkeit einer Formel aus, vielmehr darin, daß sie die einfachste Beziehung zum Weltganzen behauptet, daß sie unabhängig werde von irgend welchem Bezugssystem. Wenn diese Unabhängigkeit nachgewiesen wird – und für die Einstein'schen Gleichungen ist sie gesichert –, dann verschwindet die Kompliziertheit der Formel gänzlich gegen die übergeordnete Einfachheit und Einheit des vor uns aufsteigenden Weltsystems, das im Lauf der Elektronen wie der fernsten Gestirne von dem einen Grundgesetz der allgemeinen Relativität dirigiert wird. Was aber die andere Forderung betrifft, die nach Vollständigkeit, das heißt nach erschöpfender Genauigkeit, so sind uns hierfür Beweise erbracht worden, die mit Recht das Staunen der Mitwelt erregt haben. Aber wie denn? Sollen wir uns zum Annäherungs-Prinzip allem und jedem gegenüber bekennen? Gibt es denn nicht streng Erweisliches, unbedingt Gültiges in Erkenntnissen, die sich mit der Wahrheit restlos decken?

Man denkt an die mathematischen Lehrsätze, welche, einmal bewiesen, dieselbe Evidenz besitzen wie die Axiome, aus denen sie abgeleitet werden, kraft unmittelbar einleuchtender Logik; weil bei ihnen jeder Zweifel zum blanken Widersinn führen müßte. Die Mathematik, ist gesagt worden: est scientia eorum, qui per se clara sunt, ist die Wissenschaft von dem, was sich von selbst versteht.

Aber auch hier darf sich der Zweifel melden. Wenn uns auch nur ein einziger Fall bekannt würde, in dem die Selbstverständlichkeit zu Schaden kam, so öffnet sich das Tor für weitere Zweifel. Solch ein Fall sollte erörtert werden.

Eine Tangente ist bekanntlich eine gerade Berührungslinie, die an eine Kurve gelegt wird, dergestalt, daß sie mit dieser einen Punkt (besser: zwei unendlich benachbarte Punkte) gemeinsam hat, ohne die Kurve zu schneiden. Einfachster Fall: die Senkrechte auf dem Endpunkt eines Kreis-Radius. Und es stimmt vollkommen mit menschlicher Anschauung, wenn gesagt wird: Jede gebogene Linie, die einen »stetigen« Verlauf zeigt, die sich von Punkt zu Punkt in lückenloser, nirgends sprunghafter Krümmung fortsetzt, besitzt in jedem Punkt eine Tangente. Die Analysis, welche die ebenen Kurven als Gleichungen mit zwei Veränderlichen behandelt, findet den Ausdruck für die Richtung der Tangente im Differentialquotienten und erklärt demgemäß: Jede stetige Funktion ist in jedem Punkte differentiierbar. Das eine besagt genau dasselbe, wie das andere, da für jeden Funktionsausdruck ein äquivalentes graphisches Abbild in Kurvenfigur vorhanden sein muß.

Aber in diesem anscheinend elementaren Satz steckt ein Fehler, und dieser Fehler ist erst im Jahre 1875 entdeckt worden. Hunderte von Jahren hat die Kurvenlehre existiert, ohne daß es jemandem eingefallen wäre, die Allgemeingültigkeit jener Tangentenansage zu bezweifeln. Sie verstand sich eben von selbst, als eine mathematische Erkenntnis. Und sicherlich hat weder Newton, noch Leibniz, noch ein Bernoulli – von den alten Mathematikern ganz zu schweigen – daran gedacht, daß jemals eine stetige Kurve ohne Tangente oder eine stetige Funktion ohne Differentialquotienten auftreten könnte.

Zudem hatte man doch einen Beweis in der Hand, und dieser Beweis wurde in Lehrbüchern gedruckt, in Hörsälen oft vorgetragen, ohne daß gegen ihn der Schimmer eines Verdachtes aufgestiegen wäre. Denn es handelte sich nicht nur um eine demonstratio ad oculos, sondern um die Anrufung des uns eingepflanzten Anschauungsvermögens. Und man darf getrost behaupten, daß bis zum heutigen Tag kein Mensch auf der Welt existiert, der imstande wäre, sich eine stetig gekrümmte Linie ohne die Möglichkeit einer Tangente wirklich vorzustellen. Er vermöchte dies nicht einmal für einen einzelnen Punkt.

Trotzdem fanden sich Forscher, die zu zweifeln begannen. Bei Riemann und Schwarz verdichtete sich der Zweifel bis zu dem Nachweis, daß gewisse Funktionen in gewissen Punkten ihre Bereitwilligkeit versagten. Aber erst Weierstraß schlug offene Bresche in die alte felsenfeste Überzeugung. Er stellte eine Funktion hin, die in jedem Punkte stetig ist, in keinem einzigen differentiierbar. Das graphische Abbild müßte eine stetige Kurve ohne irgendwelche Tangente sein.

Wie sieht ein derartiges Gebilde aus? Wir wissen es nicht und werden es vermutlich niemals erfahren. Als im Gespräch diese Weierstraß-Frage auftauchte, sagte mir Einstein, daß solche Kurve außerhalb aller Vorstellungsmöglichkeit läge. Wobei noch zu bemerken, daß die Weierstraß-Funktion in ihren mathematischen Zeichen zwar nicht gerade den Anblick der Einfachheit gewährt, aber doch nicht den einer unfaßbaren Verwickelung. Und ferner: wo eine solche Funktion (oder Kurve) existiert, da werden sich andere hinzufinden (Poincaré erwähnt, daß Darboux tatsächlich bereits im selben Jahre andere Beispiele geliefert hat); und nicht bloß andere, sondern viele, unendlich viele. Ja noch mehr: man darf annehmen, daß auf je eine stetige Kurve mit Tangenten, unendlich viele ohne Tangenten entfallen, so daß jene die Ausnahme, diese die Regel darstellen. Ein erschütterndes Bekenntnis, das an die Grundfesten der mathematischen Überzeugung rührt, dem aber nicht auszuweichen ist.

Wie können wir nun das Prinzip der »Annäherung« auf diese Betrachtungen anwenden? Dürfen wir sagen: jener vormalig geglaubte, vormals bewiesene Lehrsatz bietet eine Annäherung an die mathematische Wahrheit.

Nur sehr bedingungsweise, in einem gewissen, äußerst enggegriffenem Sinne. Wenn wir uns nämlich in der Entwickelung der Wissenschaft etwa den Zeitpunkt vorstellen, da man eben erst anfängt, den Begriff und die Eigenschaften der Tangenten in Untersuchung zu ziehen. An diesem Wissenschaftsstand gemessen, bedeutet jener Lehrsatz trotz seiner Unrichtigkeit einen Fortschritt, eine erste Annäherung an die Wahrheit; denn er berichtet über eine Fülle – für uns sehr wichtiger – Kurven, die überall Tangenten aufweisen, und mit dieser Erkenntnis nähern wir uns bereits der erhöhten Wahrheit, die sich in dem Weierstraß-Beispiel darbietet. In fernerer Zeit wird der Studienbeflissene jenen Satz nur als ein anekdotisches Kuriosum erfahren, so wie wir von gewissen astrologischen und alchimistischen Irrlehren Kenntnis erhalten, und er wird daneben andere Sätze kennen, die uns Heutigen als bewiesen gelten, obschon sie in Wirklichkeit nur näherungsweise bewiesen waren. Denn was bedeutet es schließlich, daß z. B. Gauß gewisse Beweise früherer Algebraisten als »nicht streng genug« verworfen und durch »strengere« ersetzt hat? Nichts anderes, als daß auch in der Mathematik dem einen Forscher etwas lückenlos, stringent und evident erscheint, worin der andere Risse und Löcher erblickt. Vollendete Richtigkeit besitzen nur die Identitäten, Tautologieen, die zwar in sich absolut wahr aber nicht zeugungsfähig sind. Somit sitzt im Grunde jedes Satzes und jedes Beweises ein Rest von Dogma und in allen zusammen das niemals zu erweisende Dogma von der Unfehlbarkeit.

Als äußerst interessant muß es erscheinen, daß jene, auf den ersten Blick so rätselhafte Tangentenangelegenheit, in der Natur selbst ein physikalisches Gegenbild findet; und zwar in Molekularbewegungen, zu deren Ergründung wiederum unser Einstein mächtig beigetragen hat. Wie man ja von ihm nicht loskommt, wo immer man Dinge berührt, deren vorläufig letzte Erkenntnis durch Annäherung gewonnen werden.

Jean Perrin, der Verfasser des berühmten Buches »Die Atome«, beschreibt in seiner Einleitung den Zusammenhang jener mathematischen Abenteuerlichkeit mit sichtbaren, durch das Experiment darzustellenden Ergebnissen, zu denen das Studium gewisser milchig-trüber (kolloidaler) Flüssigkeiten geführt hat.

Man beobachtet z. B. eine jener weißen Flocken, die man erhält, wenn man Seifenwasser mit Kochsalz versetzt. Deren Oberfläche erscheint zunächst scharf begrenzt, allein, je mehr man sich nähert, desto mehr verschwindet die Umrißschärfe. Das Auge ist nicht mehr imstande, eine Tangente an einen Oberflächenpunkt zu legen: eine Gerade, die bei oberflächlicher Betrachtung tangential zu verlaufen scheint, könnte bei näherer Prüfung ebensogut schräg oder senkrecht zur Oberfläche stehen. Kein Mikroskop beseitigt diese Unsicherheit. Im Gegenteil, jedesmal, wenn man die Vergrößerung steigert, sieht man neue Unebenheiten hervortreten, ohne daß man jemals zum Anblick irgendwelcher Stetigkeit gelangt. Solch eine Flocke gibt uns die Vorstellung von dem allgemeinen Begriff der Funktion ohne Differentialquotienten. Wenn wir mit Hilfe des Mikroskops die sogenannte »Brown'sche Bewegung« verfolgen, die auf einem molekularen Vorgang beruht, so verliert sich der Begriff einer Kurve mit Tangente, und für den Beobachter bleibt nur die Vorstellung der Funktion ohne Differentialquotienten ... Schließlich muß man die Hoffnung aufgeben, beim Studium der Materie überhaupt Homogenität zu entdecken; sie zeigt sich, je tiefer man in ihre Natur dringt, als schwammartig, unendlich zusammengesetzt, und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß jede noch schärfere Beobachtung nur noch mehr Diskontinuitäten enthüllen wird.

Mir selbst ist bis heute nicht die Gelegenheit geworden, jene »Brown'schen Bewegungen« unter dem Mikroskop zu sehen. Ich möchte aber erwähnen, daß mir Einstein wiederholt mit einer wahren Begeisterung von ihnen erzählt hat, mit einer sozusagen objektiven Begeisterung, denn er verriet dabei nicht mit einem Blick und einer Silbe, daß gerade er Arbeiten geliefert hat, die in der Geschichte der Molekulartheorie Gesetzeskraft erlangt haben.

Sobald wir uns aber an die molekularen Unstetigkeiten heranwagen, erkennen wir, daß wir uns zuvor bei der Besprechung der »Annäherung« in Bestimmung der Erdfigur noch sehr weit von der vorstellbaren Grenze entfernt hielten. Wir hatten die drei Stufen aufgestellt: Ebene – Kugel – Rotationsellipsoid, als relative geometrische Fortschritte, jenseits deren noch weitere geometrische Annäherungen liegen müssen. Denkt man sich selbst alle Niveauunterschiede in Gebirg und Tal als getilgt, stellt man sich die Erdoberfläche als Flüssigkeit vor, die von keinem Windhauch gekräuselt wird, so bedeutet das Ellipsoid durchaus noch nicht die letzte Beschreibung. Denn nunmehr beginnen die Diskontinuitäten von Molekül zu Molekül, die Unendlichkeiten der Gebilde ohne Tangente, die Erscheinungen im Großen, die uns jene weiße Flocke im Seifenwasser mikroskopisch zeigt, und keine jemals denkbare Geometrie wird ausreichen, um sie zu erfassen. Eine Unvollendbarkeit von Funktionen, die sich weder in Worten noch in symbolischen Ausdrücken der Analysis wird beschreiben lassen.

Wenn sich aber auch die letzte geometrische Wahrheit hinter den Schleiern der Maja verbirgt, so verbleibt uns doch der Trost, daß die Methode der Annäherung selbst bei relativ bescheidenem Ausmaß in Zahlen Erstaunliches zu leisten vermag. Betrachten wir zu diesem Zweck einmal die einfache Figur des Kreises in seinem Verhältnis von Umring zum Durchmesser.

Dieses Verhältnis ist bekanntlich konstant und wird nach dem ersten zuverlässigen Berechner die Ludolf'sche Zahl, π(pi), benannt. Es ist also gänzlich gleichgültig, ob man einen Kreis ins Auge faßt von der Größe eines Fingerrings, oder einer Zirkusarena, oder vom Radius einer Siriusweite. Und ebenso gleichgültig ist es, was mit dem Kreis vorgeht, während man ihn mißt. Die Verhältnisgröße muß immer stimmen.

Aber schon hier meldet sich aus einer Ecke der neuesten Wissenschaft ein Widerspruch, und man dürfte an den Ausspruch Dove's zurückdenken: wenn wir Professoren einer Sache nicht ganz sicher sind, so beginnen wir den Satz mit dem Worte »bekanntlich«. Man könnte erweitern: der Ausdruck sollte überhaupt vermieden werden. Auch wenn man der Sache ganz sicher ist, lauert hinter jedem »Bekanntlich« immer noch ein Unbekanntlich.

Der Satz: Alle Kreise ohne Ausnahme unterliegen der gleichen Größenbestimmung, gehört zu den synthetischen Urteilen a priori. Nun sind Gedankengänge erschlossen worden, auf denen das a priori nicht mehr mitkommen will. Die Mathematik – vormals ein Inbegriff synthetischer Sätze a priori – wird in Abhängigkeit von physikalischen Zuständen gedacht. Physikalische Zustände aber sind erfahrbar und unterliegen dem Wechsel. Da aber das a priori keinem Wechsel unterliegt, so gerät man an eine Unstimmigkeit. Sie führt zu der Frage: Ist die uns geläufige Euklidische Geometrie die einzig mögliche? Im Spezialfall: Gibt die Größe π die einzig mögliche Maßbestimmung?

Einstein verneint die Frage. Nicht nur so, daß er die Möglichkeit einer anderen Geometrie eröffnet, sondern er zeigt das vormals Unfaßbare auf: Wenn man die Natur aufs Genaueste durch einfache Gesetze beschreiben will, so ist es nicht nur unmöglich, mit den Euklidischen Maßbestimmungen auszukommen, sondern man hat an jedem Ort der Welt eine andere Geometrie zu benutzen, die von dem physikalischen Zustand abhängt.

Einstein entwickelt aus dem relativ einfachen Beispiel zweier zueinander in Drehung befindlichen Systeme, daß für einen rotierenden Kreis, vom andern System beurteilt, in der Umfangsmessung eine Besonderheit auftritt, der die Radiusmessung nicht unterliegt. Nach der Relativitätstheorie ist nämlich die Länge eines Maßstabes als von seiner Orientierung abhängig anzusehen; im vorliegenden Fall erleidet der Stab eine Verkürzung, wonach er, zur Ermittelung des Umfangs öfter aneinandergelegt werden muß, als bei Nicht-Rotation. Hieraus ergibt sich für das Verhältnis ein größerer Wert von π, wir befinden uns somit nicht in der Euklidischen Geometrie.

Allein, vormals, als an derartige Betrachtungen noch nicht im allerentferntesten gedacht werden konnte, war dieses π etwas Feststehendes, absolut Unveränderliches, und die Betrachter gaben sich natürlich alle Mühe, um seinen Größenwert mit aller Genauigkeit zu ermitteln.

Da lebte zu Byzanz im elften und zwölften Jahrhundert ein Gelehrter Michael Psellus, dessen Ruhm unter dem Titel »Erster der Philosophen« weit in die Lande strahlte und dessen mathematische Untersuchungen als bewundernswert galten. Dieser Großmeister hatte analytisch und synthetisch herausgebracht, daß ein Kreis als das geometrische Mittel zwischen dem umschriebenen und dem eingeschriebenen Quadrat aufzufassen wäre, wonach sich, wie leicht nachzurechnen, jene Größe als die Quadratwurzel aus 8, gleich 2,8284271 ... ergibt. Anders ausgedrückt: die Länge des Umrings übertrifft den Kreisdurchmesser noch nicht einmal um das Dreifache.

Man hat hier die Wahl, das Ergebnis des Psellus als eine »Annäherung« aufzufassen, oder als einen Blödsinn. Jeder Schuljunge, der einen kreisrunden Gegenstand, einen Brummkreisel etwa, spielerisch mit einem Faden nachmißt, kann von der Schnur ein besseres Resultat ablesen; allein die Zeitgenossen des Psellus nahmen jene grundfalsche Zahl mit gläubiger Ehrerbietung hin und fuhren fort, den berühmten Magister zu beweihräuchern. Wir haben heut gut reden: er war ein Esel. Ebensogut kann man erklären, daß irgendwelche Mathematiker in ihren Hirnfunktionen sich nur dem Grade nach, aber nicht im Wesen unterscheiden. Konnte ein Psellus derart vorbeitapern, so kann auch ein Fermat oder Lagrange gelegentlich oder zeitlebens danebengehauen haben.

Kein Gott verbürgt uns das Gegenteil, und wir alle können die von uns anerkannten Geistesgrößen so schief beurteilen, wie die Byzantiner vor achthundert Jahren ihren Psellus.

Hatte dieser »weniger als 3« ermittelt, so sind uns auch aus ungefähr der nämlichen Zeit gelehrte Abhandlungen aufbewahrt, nach denen die Größe π ganz exakt als 4 herauskommt. Gegen solche grandiose Stümpereien gehalten, waren schon die altbiblischen Feststellungen Muster der Feinheit. Denn schon vor fast dreitausend Jahren war an dem gewaltigen Waschgefäß im Salomonischen Tempel festgestellt worden (Erstes Buch Könige 7. Kapitel): »Und er machte das Meer gegossen, zehn Ellen von einem Rande bis zum andern, gerundet ringsum ... und ein Faden von 30 Ellen umfing es ringsum.« Danach stellte sich π auf 3, eine Annäherung, die den Nachfahren nicht mehr genügte. Die Talmud-Weisen ergänzten: 3 und noch ein klein bißchen darüber; was sich ja in roher Abkürzung mit dem wahren Sachverhalt deckt.

Mehr und mehr befestigte sich die Einsicht, daß in diesem π ein Grundpfeiler mathematischer Anschauung und Rechnung gegeben sei. Und je stärker das Problem der Quadratur des Zirkels die Geister beschäftigte, desto eifriger wurden die Bemühungen, jenem talmudischen »noch ein bißchen darüber« restlos beizukommen. Wir wissen seit 1770, daß dies nicht möglich ist, denn π ist nicht rational, das heißt, nur durch einen unendlichen, in sich unregelmäßigen (nicht periodischen) Dezimalausdruck zu erfassen; es behauptet sogar darüber hinaus noch einen Sonderrang als Transzendente, was erst Lindemann 1882 dem lebenden Geschlechte bewiesen hat. Doch selbst heut gibt es noch unheilbare Quadrierbolde, die der Problemlösung nachjagen, weil sie von dem Wahne nicht loskommen, ein so einfaches Gebilde wie der Kreis müsse schließlich irgend einem Konstruktionsverfahren erliegen.

Der korrekte Weg führt zur immer genaueren Feststellung der Dezimalstellen. Jener Ludolf van Ceulen war bis zur 35. Dezimale vorgedrungen, an der Wende des 18. Jahrhunderts gab es für π das Jubiläum der 100. Dezimale, seit 1844 besitzen wir es durch den Kopfrechner Dase bis zur 200. Dezimale genau, und selbst die verwegensten Ansprüche werden sich dabei bescheiden dürfen. Denn diese Kreisgröße zeigt in geradezu klassischer Weise, daß schon eine in winzigen Ziffern ausdrückbare Annäherung Genauigkeitsgrade erwirkt, die nur mit phantastischen Mitteln beschrieben werden können.

Wir nehmen einen Kreis von der Größe des Erdäquators, multiplizieren den Erddurchmesser mit einem bestimmten π, und wissen im voraus: die Multiplikation wird nicht ganz genau die Größe des Äquators erreichen, ein kleiner Fehlerrest wird immer zurückbleiben. Hält sich dieser Fehler, sagen wir etwa unter einem Meter, so wäre die Genauigkeit schon außerordentlich groß, denn ein Meter bedeutet auf einem Kolossalkreis wie dem Erdumfang so gut wie nichts.

Die Forderung soll sich aber zuspitzen. Wir verlangen, daß der Fehler auf alle Fälle noch lange nicht die Dicke eines allerfeinsten Damenhaares erreiche. Und wir ermitteln: das hierfür aufzuwendende π braucht höchstens bis zur 15. Dezimale genau zu sein. Operieren wir also mit π = 3,141592653589793, so gebrauchen wir ein Rechnungsinstrument, das für jede irdische Kreismessung den möglichen Fehler unter alle sinnliche Wahrnehmung herabdrückt.

Schreiten wir über die Erde hinaus in den Weltenraum bis zu Kreisen vom Ausmaß einer Planetenbahn, der Milchstraße, ja, der gesamten sichtbaren Sternenwelt; und wir wollen selbst bei diesen Ungeheuerlichkeiten so genau verfahren, daß der Restfehler kleiner wird, als die kleinste durch irgend ein Mikroskop bemerkbare Länge: so leistet die ausgewachsene Ludolf-Zahl das Verlangte, wiewohl immer noch mit dem Vorbehalt: semper aliquid haeret, etwas Ungelöstes bleibt im Exempel haften.

Derartige zahlenmäßige Annäherungen, so lehrreich sie auch erscheinen mögen, bewahren doch vergleichsweise spielerischen Charakter und zeigen nur eine oberflächliche Analogie zu den wichtigeren Annäherungen in der Erkenntnis der Naturgesetze selbst. Diese sind es vornehmlich, die sich uns in Einsteins Lebenswerk so bedeutsam offenbaren, und sie verhalten sich zu jenen, wie die Wahrheit zur Richtigkeit. Die Wahrheit umspannt den größtdenkbaren Ideenkreis und strebt weit hinaus über die Sphäre der Richtigkeit, welche nur Maßverhältnisse betrifft, nicht die Dinge an sich. Wenn Einstein, wie wir erfahren, die Wahrheit als das alleinige Ziel der Wissenschaft erklärt und fordert, so meint er tatsächlich die aus der Natur zu erforschende, streng objektive Wahrheit, den wirklichen Zusammenhang der Erscheinungen und Geschehnisse, unabhängig davon, ob die grübelnde Philosophie hinter diese letzte Objektivität etwa noch ein Fragezeichen setzt. Ein großer Naturforscher kann und darf gar nicht anders verfahren; für ihn sitzt hinter den Maja-Schleiern nicht ein Phantom, das sich schließlich verflüchtigt, sondern etwas Erkennbares, das immer deutlicher, realer hervortritt, je mehr Schleier er in fortgesetzter Annäherung entfernt.

Als in jenem Gespräch von der »Zukunft der Wissenschaften« die Rede war, entwickelte mir Einstein weit hinausstreifend über die Ansichten und Prognosen der vorerwähnten Gelehrten:

»Bis jetzt betrachten wir die Naturgesetze nur unter dem Gesichtspunkt der Kausalität, indem wir stets von einem zu einer bestimmten Zeit bekannten Zustand ausgehen, also indem wir durch die Weltvorgänge einen Zeitschnitt legen, etwa den Gegenwarts-Schnitt. Allein, ich glaube, so ergänzte er mit feierlichem Nachdruck, »daß die Naturgesetze, das Geschehen in der Natur, einen viel höheren Grad von gesetzlicher Gebundenheit zu zeigen scheinen, als in der so ausgesprochenen Kausalität liegt! Zur Aufstellung dieser Möglichkeit liegen für mich mehrere Anlässe vor, besonders gewisse Betrachtungen, die sich an die Planck'sche Quantentheorie knüpfen. Möglich wäre folgendes: Das zu einem bestimmten Zeitschnitt Gehörende könnte an sich noch ganz gesetzlos sein; das will sagen: es könnten darin alle physikalischen Denkbarkeiten verwirklicht sein, auch solche« (so verstand ich), »die wir im üblichen physikalischen Denken für nicht verwirklichbar halten; zum Beispiel: Elektronen von beliebiger Größe, von beliebigen Ladungen, Eisen von beliebigem spezifischem Gewicht usw. Durch die Kausalität haben wir unser Denken eingestellt auf eine geringere Stufe der gesetzlichen Beschränkungen, als sie in der Natur verwirklicht erscheinen. Die wirkliche Natur ist viel beschränkter, als unsere Gesetze es zulassen. Um ein Gleichnis zu gebrauchen: wenn wir die Natur wie ein Gedicht auffassen, so ähneln wir etwa einem Kinde, das wohl den Reim entdeckt, aber nicht die Prosodie, den Rhythmus.« Ich verstehe: es ahnt nicht die Zwänge, denen das Gedicht unterworfen ist, und ebensowenig ahnen wir – am Leitseil der Kausalität – die Zwänge, denen die Natur die Vorgänge und Zustände unterwirft, selbst wenn wir sie schon als naturgesetzlich geregelt ansehen.

Sonach würde eine Hauptaufgabe zukünftiger Wissenschaft darin bestehen: die Bindungen der Natur gegenüber der scheinbar naturgesetzlichen Kausalität aufzufinden.

Wir haben hier ein Beispiel für die transzendenten Perspektiven, die sich erschließen, wenn man sich mit Einstein auf die Wanderung begibt. Tatsächlich handelt es sich hier um letzte Dinge, um ein Gebiet vorläufig unausdenklicher Entdeckungen, und es mag fraglich erscheinen, ob die hier verborgenen Probleme der exakten Naturforschung allein, oder vielmehr auch der spekulativen Erkenntnistheorie zuzuweisen sind.

Zunächst scheint Einsteins Ansage auf nichts geringeres hinzuzielen, als auf eine Revision des Kausalitätsbegriffes überhaupt. Soviel auch schon geschehen ist, um diesen Begriff zu filtrieren, zu läutern, – vielleicht öffnet sich hier die Möglichkeit einer neuen Läuterungsprobe durch eine Synthese naturwissenschaftlicher und abstrakt philosophischer Einsichten. Nur andeutungsweise und in losester Annäherung an irgendwelche Wahrheitserschließung möge hier die Möglichkeit solcher Synthese gestreift werden. Wer jene Worte Einsteins erlebt hat, der fühlt eben das Bedürfnis, in den wildflutenden, durch sie ausgelösten Gedankenstrom wenigstens auf Sekunden einen Halt zu gewinnen.

Was ist Kausalität? Man könnte auf physiologisch sagen: das ist der unzähmbare, animalische, in Gehirnzellen eingelagerte Trieb, die erlebten und vorgestellten Geschehnisse miteinander zu verknüpfen. Wenn der Dichter den Hunger und die Liebe als die Grundfaktoren des Weltgetriebes definiert, so braucht man jenen nur noch auf den Kausalitätshunger auszudehnen, um das Register der Urtriebe zu vervollständigen. Denn dieser Hunger tritt nicht minder stürmisch auf, als der leibliche, und übertrifft ihn dadurch, daß er uns nicht einen Augenblick losläßt. Der Körper kann eher das Atemziehen einhalten, als die Seele die Frage nach dem Warum und Weil, nach Ursache und Wirkung, nach Grund und Folge.

Dies unablässige Suchen nach einer Verknüpfung der Geschehnisse hat sich in uns zu einer festen, absolut unerschütterlichen Denkform organisiert, die mysteriös bleibt, selbst wenn wir vermeinen, alles Mysteriöse aus ihr ausgeschaltet zu haben. Der Natur selbst sind die von uns gesuchten und vermeintlich elementar begriffenen Beziehungen gänzlich fremd. David Hume, der erste wirkliche und allertiefste Erforscher dieser Denkform, hat gesagt, daß in der gesamten Natur nicht ein einziger Fall von Verknüpfung erscheint, den wir zu erfassen vermögen. Alle Geschehnisse treten in der Wirklichkeit lose und getrennt auf. Eines »folgt« nur immer auf das andre, niemals aber können wir irgend ein Band zwischen ihnen beobachten. Sie erscheinen »zusammen« (cojoined), aber niemals verknüpft (connected). Und da man keinerlei Vorstellung von etwas haben kann, was niemals unserer sinnlichen oder inneren Wahrnehmung sich darstellte, so scheint die notwendige Folgerung die zu sein, daß wir ganz und gar keine Vorstellung von kausalen Verknüpfungen oder bewirkenden Kräften besitzen, und daß diese Worte durchaus ohne Sinn sind, mögen sie in philosophischen Erörterungen oder im gewöhnlichen Leben gebraucht werden. Diese resignierende »Untersuchung über den menschlichen Verstand« hat zahlreiche Ausbauten erfahren, zumal durch Kant und alle Kantianer, wie es ja unmöglich ist, irgend einen philosophischen Faden zu spinnen, ohne sich mit der Grundfrage nach der Existenz einer Kausalität außerhalb unseres Kausalitätsbedürfnisses auseinanderzusetzen. Und es ist unvermeidlich, bei jedem Anlauf in dieser Richtung an die weitere Frage zu geraten: Was ist Zeit? Denn die Kausalität richtet sich auf das Nacheinander, auf die Folge der Wahrnehmungen und Erscheinungen, mithin sind die beiden Fragen nicht nur aufs engste ineinander verflochten, sondern eigentlich nur verschiedene Ausdrücke einer und derselben Frage. Die Zeit, nach Cartesius und Spinoza ein Modus cogitandi, nicht Affectio rerum, nach Kant eine Denkform a priori, beherrscht unsere Intelligenz mit derselben Souveränität, wie der vorgestellte Ablauf der Dinge, den wir in dem nämlichen nicht weiter zerlegbaren Denkakt als zeitlich und als kausal empfinden.

Nun ist der Zeitbegriff durch Einstein selbst aufs äußerste revolutioniert worden. Und es ist zu erwarten, daß auch der Kausalitätsbegriff, – dem wir nach alter Gepflogenheit wenigstens dem Worte nach noch eine gesonderte Existenz vorbehalten – von den Folgen dieser Revolution mitbetroffen wird.

Wir nähern uns damit einer Relativierung der Ursächlichkeit, und wir können dieser einen Schritt näherkommen, wenn wir uns vergegenwärtigen, für welche Verschiedenheiten in der Zeitwahrnehmung die Natur selbst Spielraum offen läßt. Wohlverstanden: es handelt sich hier nicht um die physiktheoretische Zeit, im Sinne der Einsteinschen Lehre, sondern um etwas Physiologisches, das aber letzten Endes ebenfalls auf eine Relativierung der Zeit und damit der ursächlichen Zusammenhänge innerhalb der Zeit hinausläuft.

Wir haben dabei die Gedankengänge des berühmten Petersburger Akademikers K. E. von Baer einzuschlagen, und wir brauchen diese nur wenig zu verlängern, um aus seiner Rede von 1860 »Welche Auffassung der lebenden Natur ist die richtige?« bis in den Kern der Kausalität vorzustoßen. Weil nämlich das Menschenhirn zur lebenden Natur gehört, mithin auch die Denkvorgänge selbst als Äußerungen des Lebens begriffen werden können.

* Den Ausgangspunkt bildet eine Fiktion, deren fiktiver Charakter dahinschmilzt, sobald wir uns dem Ergebnis nähern. Die Denkbrücke kann nachträglich abgebrochen werden, es genügt, wenn sie uns interimistisch trägt, wenn wir nur jenseits auf einer Sicherheit landen.

Die Schnelligkeit des Empfindens, der willkürlichen Bewegungen, des geistigen Lebens scheint bei verschiedenen Tieren annähernd der Schnelligkeit ihres Pulsschlages proportional zu sein. Da nun z. B. beim Kaninchen der Puls viermal so schnell schlägt, als beim Stier, so wird auch jenes in derselben Zeit viermal so schnell empfinden, viermal soviel Willensakte ausführen können, überhaupt viermal soviel erleben, wie der Stier. Allgemein gesagt: In demselben astronomischen Zeitraum verläuft das innere Leben, das Erleben, in verschiedenen Tieren einschließlich des Menschen mit verschiedenen spezifischen Geschwindigkeiten, und hiernach richtet sich in jedem Lebewesen das subjektive Grundmaß der Zeit. Nur an unserem eigenen Grundmaß gemessen, erscheint uns ein organisches Individuum, etwa eine Pflanze, an Größe und Gestalt als etwas Beharrendes, zum mindesten in engen Zeitspannen als etwas Unveränderliches. Denn wir können sie in der Minute hundertmal und öfter sehen, ohne äußerlich eine Veränderung zu bemerken. Denkt man sich nun aber den Pulsschlag, die Wahrnehmungsfähigkeit, den äußeren Lebenslauf und den geistigen Prozeß des Menschen sehr beträchtlich beschleunigt oder verzögert, so ändert sich das gründlich, und Erscheinungen treten alsdann auf, die wir im Banne unsrer gegebenen physiologischen Struktur als märchenhaft, übernatürlich, außernatürlich ablehnen müßten, obschon sie unter Voraussetzung einer andern Struktur durchaus folgerecht und notwendig wären. Gesetzt etwa, der menschliche Lebenslauf von Kindheit bis zum Greisenalter würde auf seinen tausendsten Teil in Schrumpfung reduziert, auf einen einzigen Monat, und der Pulsschlag ginge tausendmal so schnell, als ihn unsere Eigenerfahrung aufzeigt, so würden wir eine fliegende Flintenkugel sehr genau von Punkt zu Punkt mit den Blicken verfolgen können, gemächlicher, als wir heut einen Schmetterlingsflug beobachten; weil die Sekunden-Bewegung des Geschosses sich jetzt auf mindestens 1000 Pulsschläge, auf 1000 Wahrnehmungen verteilt, mithin sich an unserer Empfindung gemessen um das 1000fache verlangsamt. Würde dieses Leben nochmals auf den tausendstel Teil, auf etwa 40 Minuten verkürzt, dann würden uns Blumen und Gräser ebenso starr und unveränderlich erscheinen, wie Felsen und Gebirge, deren Verwitterungen von uns nur erschlossen, nicht aber direkt bemerkt werden; vom Wachstum und Verwelken einer Knospe und Blüte würde man zeitlebens nicht viel mehr gewahren, als von den geologischen Umgestaltungen der Erdrinde. Die willkürlichen Bewegungen der Tiere würde man als viel zu langsam gar nicht sehen; höchstens könnte man sie erschließen, wie die Bewegungen der Gestirne. Und bei noch weiterer Verkürzung des Lebens könnte das Licht für uns aufhören ein optischer Vorgang zu sein. An Stelle seiner Sichtbarkeit könnte seine Hörbarkeit treten, während alles, was wir Töne und Geräusche nennen, längst aufgehört hätte, dem Ohr wahrnehmbar zu werden. Schlägt aber die Phantasie den umgekehrten Weg ein; läßt sie das Menschenleben, anstatt es zu verdichten, sich vielmehr enorm erweitern, – welch anderes Weltbild wird dann erlebt! Verlangsamte sich z. B. der Pulsschlag und damit die Wahrnehmungsfähigkeit um das 1000fache, in einem auf etwa 80 000 Jahre angesetzten Menschenleben, erlebten wir also in einem Jahre nur so viel, wie jetzt im Drittel eines Tages, dann würden wir in je vier Stunden den Winter hinwegschmelzen, die Vegetation aufsprießen und wieder abwelken sehen. Manche Entwickelung könnte wegen ihrer relativen Schnelligkeit, im Verhältnis zum Pulsschlag gar nicht wahrgenommen werden. Ein Pilz stünde z. B. plötzlich aufgeschossen da, wie ein Springbrunnen. Wie eine helle und dunkle Minute wechselten Tag und Nacht, und die Sonne flöge wie ein Projektil über den Himmelsbogen. Würde aber solches Menschenleben abermals um das 1000fache verzögert, könnte also der Mensch während eines Erdjahres nur etwa 190 distinkte Wahrnehmungen machen, dann fiele der Unterschied zwischen Tag und Nacht gänzlich fort, der Sonnenlauf erschiene als ein glühender Bogen am Himmel, und alle Gestaltungen, die uns in ruhigem Nacheinander geordnet und bleibend erscheinen, würden in Hast des Geschehens zerfließen, vom wilden Sturm des Geschehens verschlungen werden.

Dürfen wir gegen diese relative Zeitwahrnehmung wirklich »unsere« Zeit, also etwas Spezifisches, von unserer Menschenstruktur Abhängiges, ausspielen? Könnten wir nicht vielmehr zu der Einsicht gelangen, daß dieses auf unseren besonderen Pulsschlag eingestellte Zeitspezifikum nur ein höchst beschränktes Weltbild, eines unter unendlich viel möglichen liefert, wie es gerade von den Schranken dieser bestimmten Intelligenz bedingt und determiniert wird? Vielleicht sogar ein Zerrbild, eine Karikatur des wirklichen Geschehens?

Ein unendlich überlegener Geist wäre nicht mehr abhängig von Einzelwahrnehmungen, wie sie uns unter dem Rhythmus des Pulses zugeführt werden. Für ihn gäbe es keine Metronomisierung im Ablauf der Geschehnisse, außerhalb dessen, was unserem Verstande sich als Zeit darstellt. Er stünde jenseits und außerhalb der Zeit, in dem, was Aquino das »Nunc stans« nennt, im stehenden Gegenwartspunkt, ohne Rückblick auf eine Vergangenheit, ohne Erwartung einer Zukunft. Ohne Vorher und Nachher gewänne für ihn das Weltgeschehen den klarsten, allereinfachsten Sinn, wie eine identische Gleichung. Was uns als »Ablauf« der Ereignisse vorschwebt, flösse zusammen in eines, wie uns im Nacheinander des Zählens ein Zahlengesetz, wie uns im Ablauf der logischen Operationen eine logische, selbstverständliche Grundwahrheit. Wenn der von Laplace imaginierte Geist existiert, so ist er der Mühe überhoben, in seine Weltgleichungen die Zeitgröße einzusetzen, denn diese ist eine rein anthropomorphe, durch unsere Wahrnehmungen erzeugte, durch unseren Eigenpuls regulierte Größe. Sonach muß auch der von der Zeit gänzlich unabtrennbare Kausalitätsbegriff als anthropomorph angesprochen werden, als ein Etwas, das wir in die Natur hinein-, nicht aus ihr herauslesen. Zum mindesten wäre festzustellen: sollte es außer uns eine Ursächlichkeit geben, so können wir von ihr nur ein Minimum erfahren, und dies Wenige nur in einer durch den Zufall unseres Wahrnehmungstempos bedingten Verschiebung oder Verzerrung.

Wiederholen wir uns nunmehr Einsteins Erklärung, »daß die Naturgesetze, das Geschehen in der Natur, einen viel höheren Grad von gesetzlicher Gebundenheit zu zeigen scheinen, als in der von uns gedachten Kausalität liegt; möglich wäre, das zu einem bestimmten Zeitschnitt Gehörende könnte an sich noch ganz gesetzlos sein, es könnten darin auch solche physikalische Denkbarkeiten verwirklicht sein, die wir für nicht verwirklichbar halten, z. B. Eisen von beliebigem, spezifischem Gewicht«, – und da möchte ich doch sagen, daß dem Nichtphysiker die schweren Worte Einsteins vielleicht unschwerer ins Verständnis dringen werden, wenn er jene physiologische Betrachtungen zu Hilfe ruft. Gewiß, die Erkenntnisgründe Einsteins sind ganz andere und liegen tiefer, als die des erwähnten Akademikers, der von organischen Funktionen ausgeht, um zu einer abenteuerlichen, aber doch in sich widerspruchlosen Relativität zu gelangen. Aber eine Berührungsstelle ist wohl vorhanden, insofern hier wie dort Möglichkeiten scheinbar extra naturam angesagt werden.

Einstein sagt: Bisher betrachten wir die Naturgesetze nur unter dem Gesichtspunkt der Kausalität, indem wir stets von einem zu einer bestimmten Zeit bekannten Zustand ausgehen, also indem wir durch die Weltvorgänge einen Zeitschnitt legen, etwa den Gegenwarts-Schnitt. Versuchen wir auf eigene Gefahr eine populäre Umschreibung:

Der Gegenwarts-Schnitt enthält für uns die Summe der bisherigen Erfahrungen, aus denen der Zwangslauf unseres Denkens die Kategorie der Kausalität herausarbeitet.

Was in der Erfahrung nicht vorhanden ist, kann in unserer Kausalität nicht zum Vorschein kommen. Denken wir an den von Hume zitierten Indier, der noch niemals Eis erlebt hat. Er könnte – unbelehrt, und nur auf eigene Wahrnehmungen angewiesen – niemals die Erfahrung machen, daß Wasser in kaltem Klima gefriert. Der Einfluß der Kälte auf das Wasser ist kein allmählicher, in seinen Folgen vorauszusehender, entsprechend der Kältesteigerung, sondern beim Gefrierpunkt geht das Wasser in einem Augenblick von der höchst beweglichen Flüssigkeit zur starrsten Festigkeit über. Dafür besitzt die Kausalität des Indiers kein Schema. Erzählt man ihm den Vorgang, dann schwebt er in einer Alternative; entweder er verweigert den Glauben, und das wäre das natürlichste, denn festes Wasser ist für ihn so sinnlos, wie für uns eine eckige Kugel. Oder er glaubt dem Gewährsmann, dann erhält seine Kategorientafel ein Loch, einen Bruch mitten in seiner Kausalität. Er versteht sich dann dazu, etwas für ihn Sinnloses, außer Verknüpfung von Ursache und Wirkung Stehendes als verwirklichbar anzunehmen. Bis zum Moment, im Gegenwartsschnitt, war dafür in seiner Kausalität kein Platz. Einem Torricelli wäre der Begriff der flüssigen Luft, darstellbar erst seit 1883, als eine mit seiner Kausalität unverträgliche Unmöglichkeit erschienen.

Ebensowenig wie in unserer ein Platz ist für die Vorstellung eines Eisens vom spezifischen Gewicht der Luft oder des Vielfachen vom Golde. Denn im Zuge unserer Kausalität müssen wir schließen: eine so leichte oder so schwere Substanz könnte zwar chemische Verwandtschaften mit dem Eisen aufzeigen, allein sich selbst nicht mehr mit dem Begriff Eisen decken.

Nun sagte Einstein allerdings: Die Natur ist viel beschränkter (gebundener), als unsere Gesetze es zulassen, und ein Zweifler könnte jene Ansagen aneinanderhalten, um eventuell einen Gegensatz aus ihnen herauszudeuten. Denn wenn in der Natur einschränkende Bedingungen obwalten, die unserer naturgesetzlichen Anschauung fremd sind, wie wäre es dann möglich, daß unvorstellbare Erscheinungen sich verwirklichen könnten? Wenn sie dazu imstande ist, so müßte sie doch gerade vermehrte Freiheiten in Anspruch nehmen? Der scheinbare Gegensatz löst sich, wenn man den Begriff der Gesetzmäßigkeit und das Maß der vorliegenden Erfahrung als verschiedene Dinge behandelt. Dann ergäbe sich die Interpretation:

Aus der Mannigfaltigkeit des mechanisch möglichen Geschehens greift die wirkliche Natur eine ganz engbegrenzte Mannigfaltigkeit heraus. Die wirklichen Gesetze sind also viel einschränkender, als die uns bekannten. Zum Beispiel würde es nicht gegen die bisher bekannten Gesetze verstoßen, wenn wir Elektronen von beliebiger Größe oder Eisen von beliebigem spezifischem Gewicht vorfänden. Die Natur aber realisiert nur Elektronen von ganz bestimmter Größe und Eisen von ganz bestimmtem, spezifischem Gewicht. *

* * *

Vergegenwärtigen wir uns jedenfalls, daß es in letzten Erkenntnissen keine letzten Instanzen gibt. Eine solche ist auch dann nicht anzunehmen, wenn man im Verfolg einer Lehre an eine Schwierigkeit gerät, die zuerst mit den Anzeichen verbalen, begrifflichen, antinomischen Widerspruchs auftritt. Vielmehr kann man sich darauf verlassen, daß gerade den feinsten und folgenschwersten Untersuchungen eine Fiktion und in dieser ein vorläufiger Widerspruch zum Ausgangspunkt dient. Wir besäßen keine Infinitesimalrechnung, keine Algebra, keine Atomistik, keine Gravitationslehre, wenn wir aus ihnen, um jeden Widerspruch von vornherein auszuschalten, die Fiktion des Differentials, der Imaginärgröße, des Atoms, der actio in distans ausschalten müßten. Ja, ganz summarisch gesprochen: nicht nur die Erkenntnis, sondern auch das Leben, der Zusammenhalt der Menschheit durch Vertrag, Gesetz und Pflicht würde zur Unmöglichkeit ohne die Anerkennung der Fiktion vom freien Willen, die im schärfsten Widerspruch steht zur naturgesetzlich einzig erkennbaren Determiniertheit alles Geschehens, einschließlich aller Handlungen und Motive.

Fiktion (wohl zu unterscheiden von Hypothese) und Anthropomorphismus, sie sind trotz ihrer inneren Unnahbarkeit die Pole, um die unser Denken und das menschliche Geschehen kreist. Und keine Lehre wird jemals so hoch fliegen, daß sie die Herkunft von jenen Wurzeln alles Denkens gänzlich verleugnen könnte. Der Archimedeische Denkpunkt [Drehpunkt?] im Universum, von dem aus die Welt aus den Angeln gehoben werden könnte, ist unerreichbar, weil er nicht existiert.

Sollte sich das am Ende auch auf die neue Physik an sich beziehen, deren Ergebnisse doch als die letzten Worte naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu gelten haben? Manch ein Gedankengrübler könnte wohl im Zuge des vorangehenden Satzes den Drang verspüren, mit einem Ja zu antworten, wenn sich nicht auch hier ein Widerspruch meldete. Der äußert sich darin, daß von den heutigen Philosophen wohl keiner imstande ist, die Fasern dieser theoretischen Gewebe bis in ihre Grundwurzeln zu verfolgen.

Hier scheiden sich die Wege: wer es darauf anlegt, sich in Einsteins neuem Weltsystem durchaus zurechtzufinden, der hat mit dem Studium der Theorie so viel zu tun, daß ihm daneben kaum die Möglichkeit zur letzten philosophischen Analyse verbleibt. Wer aber nur vom Philosophentrieb beherrscht sich mit der Sache beschäftigt, der gerät schnell genug an Erkenntnisgrenzen, wo sich sein wissenschaftliches Gewissen warnend meldet. Er wird Zweifeln anheimfallen, die ihm zurufen: hast du es denn auch wirklich ganz verstanden? Steht es dir zu, letzte philosophische Folgerungen zu ziehen, bevor du die letzten mathematischen Schwierigkeiten überwunden hast?

Soweit zu übersehen, hat bisher nur ein Einziger die Vielseitigkeit in sich aufgebracht, um das Physiktheoretische mit dem Erkenntheoretischen methodisch zu vereinigen. Es ist Moritz Schlick in Rostock, der die Früchte seiner Arbeit in einer systematischen »Erkenntnislehre« niedergelegt hat. Ein außerordentliches, fernhinstrahlendes, über Kant hinausgreifendes Werk. Für Schlick bildet Einsteins Lehre den Schlüssel zu neuen, vordem ungesehenen Pforten, ein wunderbares Werkzeug der Erschließung, das vielleicht noch wunderbarer wirken würde, wenn es gelänge, bei Handhabung des Instrumentes allen Anthropomorphismus zu überwinden. In dieser Einschränkung mag eine Utopie liegen, oder der Ansatz zu einem circulus vitiosus. Aber wir besitzen ja heute eine Lehre, die sich auf das Unvollziehbare erstreckt, »Als Ob« es vollziehbar wäre. Und unter den Jüngern Vaihingers, des Meisters der Als-Ob-Schule, macht sich allerdings das Bestreben geltend, auch auf diesem Felde den anthropomorphen und fiktiven Spuren nachzugehen.

Einstein selbst stellt sich, wie ich aus zahlreichen Äußerungen entnehmen muß, nicht mit unbedingter Sympathie zu allen Versuchen, den letzten Problemen mit reiner Philosophie, vollends auf metaphysischen Wegen beizukommen. Er läßt gewähren, er bekundet sogar Bewunderung für einzelne neuere Arbeiten, wie für die vorgenannte von Schlick, allein er findet in den nur-philosophischen Methoden Widerstände, die ihn zum mindesten abhalten, sich an ihnen systematisch zu beteiligen. Jene unwillige Bezweiflung der Philosopheme, die im Kreise der exakten Forscher nie verschwunden ist, jener Verdacht, der in allen metaphysischen Ansätzen Reste von Sophistik und Scholastik wittert, äußert sich auch bei ihm in wahrnehmbaren Reflexen. Er vermißt in der Denkweise der Nichts-als-Philosophen die Straffheit und Gradlinigkeit, die von einem Ergebnis zum nächsten die Bürgschaft des Fortschreitens gibt, und er bemängelt das Schwammige, Unsaubere gewisser Denkgebilde, die ja freilich von der Geschlossenheit und kristallklaren Helligkeit mathematisch-physikalischer Entwickelungsreihen recht unvorteilhaft abstechen. Stand am Portal der Athenischen Akademie der Spruch »medeis ageometretos eisito« – keiner soll hier hinein, der nicht mathematisch vorgebildet –, so denke man sich daneben eine Akademie der reinen Transzendentalphilosophen mit der Inschrift: Kein Aufenthalt für Exaktforscher! Und ich glaube, diese reinliche Scheidung wäre so ziemlich in Einsteins Sinne.

Bei dem großen, von Einstein höchst verehrten Ernst Mach erlebten wir ähnliche Reflexe, oder besser mit einem akustischen Gleichnis: er sang laut und öffentlich fast die nämliche Melodie in anderer Tonart. Nie wurde er müde, zu versichern, daß er eigentlich »gar kein Philosoph, sondern nur Naturforscher« sei, und eines seiner Werke trägt an der Spitze der Einleitung das Bekenntnis: »ohne im geringsten Philosoph zu sein oder auch nur heißen zu wollen...«, während er sich wenige Zeilen später, sarkastisch, als »streifenden Sonntagsjäger« auf philosophischen Gründen bezeichnet. Allein, Machs Auftakt erlebt ein eigentümliches Nachspiel, denn das also präludierende Buch, betitelt »Erkenntnis und Irrtum«, gehört zu den Hauptwerken der philosophischen Literatur; und er selbst, der Sonntagsjäger, der nicht einmal Philosoph heißen wollte, übernahm 1895 an der Wiener Universität die Professur für Philosophie. Nur die Scheu vor dem Zunftwesen hatte ihn dazu gedrängt, immer wieder den Abstand zu betonen, während er im Herzen eine glühende Liebe zur Urmutter der Wissenschaft, eben der Philosophie, hegte. Und ich bin der Meinung: für jeden, auch für den strengsten Forscher, kann der Moment kommen, da die Sirenenklänge vom philosophischen Gelände her Macht über ihn gewinnen.

Was Einstein persönlich anlangt, so wage ich in dieser Hinsicht keine Prognose. Gehört er auch in die Größenklasse der Descartes, Pascal, d'Alembert, Leibniz, in denen Mathematik und spekulative Philosophie zusammenflossen, so ist er doch eine Figur von so hervorstechender Eigenprägung, daß man in keinem Betracht von anderen auf ihn schließen darf. Er braucht nicht einen Tag von Damaskus zu erleben, denn er trägt die Heilsbotschaft in sich, und von ihm geht sie aus. Eines halte ich dabei für möglich: daß Einstein gelegentlich aus künstlerischen Motiven das Nachbargebiet beschreitet. Sind die Mittel der Philosophie nebuloser, verschwommener, als die der brennend deutlichen Exaktwissenschaft, so nähert sie sich in gleichem Verhältnis den Künsten. Und sicherlich sind auch in einer die Welt umspannenden Lehre viele künstlerischer Befruchtung zugänglichen Keime vorhanden. Die Linie von Kant zu Schiller zeigt, wie das gemeint ist. Schon jetzt verrät die Kunst in Andeutungen, daß sie gewillt ist, mit den Erkenntnissen Berührungspunkte aufzusuchen. In Frankreich entstanden symphonische Tonstücke über die Kreisberechnung und über die Logarithmen, heute Kuriositäten, in weiterer Zeit vielleicht Vorbilder. Eines späten Tages kann das vierdimensionale Universum für künstlerische Behandlung reif geworden sein. Auf dem Wege dahin liegt die Behandlung mit den symbolischen, unstrengen, halbdichterischen Ausdrucksmitteln der Philosophie. Viele werden sie versuchen, und das Gelingen könnte ihnen näherrücken, wenn Einstein selbst ihnen hilfreiche Hand bietet. Neue physikalische Wahrheiten gibt es auf diesem Wege nicht zu erschließen, aber die vorhandenen könnten leichter in das breite Bett der Weltphilosophie einmünden. Die Welt ergründen ist Klausurarbeit, sie weithin begreiflich machen wollen, das verlangt einen Prediger, der mit den schönen Mitteln philosophischer Rhetorik wirkt. Kosmos bedeutet Welt und Schmuck, sein Schöpfer Demiurgos ist ein künstlerisch bildender Werkmeister.

Einstweilen haben wir vernommen, wie Einstein den Zweck der Wissenschaft auffaßt, als deren alleiniges Ziel er die Wahrheit bezeichnet. Für ihn ist diese ein Absolutes an sich, dem wir uns so sicher nähern, wie es unmöglich ist, durch etwaige ethische Entdeckungen irgend etwas wissenschaftlich Brauchbares zu erreichen. Denn die Ethik ist ein Feld, auf dem die Begriffsgespenster geistern, und die Behandlung »ordine geometrico«, die Spinoza auf sie anwenden wollte, bleibt der Physik vorbehalten. Die philosophische Querfrage, »ist die Wahrheit an sich nicht auch nur ein Vorgestelltes?« überläßt Einstein denen zur Erörterung, die ein Vergnügen darin finden, niemals schließbare Denkzirkel abzustreifen, während er gradlinig fortschreitet, getragen von dem Bewußtsein: mag auch das Ziel nicht zu gewinnen sein, – die Richtung dahin ist nicht mehr zu verlieren!


 << zurück weiter >>