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Menschen-Erziehung

Schulplan und Unterrichtsreform. – Wert der Sprachbildung. – Zeit-Oekonomie. – Uebung im Handwerk. – Das Anschaulich-Interessante. – Die Kunst des Lehrvortrags. – Auslese durch Begabten-Prüfung. – Frauenstudium. – Soziale Schwierigkeiten. – Die Not als Erzieherin.

Wir gelangten an eine Reihe pädagogischer Fragen, denen Einstein starke Teilnahme entgegenbringt. Denn er selbst entwickelt eine rege Lehrtätigkeit und er verhehlt niemals die Freude, die ihm deren Ausübung verursacht. Zweifellos versteht er es auch, durch das lebendige Wort auf größere Kreise Lernbegieriger zu wirken, nicht nur auf die Studenten der Hochschule, sondern weit darüber hinaus. Als in letzter Zeit Volkskurse auf breiter Grundlage eingerichtet wurden, war er einer der ersten, die ihre Kraft diesem heilsamen Unternehmen widmeten. Er sprach vor Leuten aus dem Arbeiterstande, bei denen er keinerlei akademische Vorkenntnisse voraussetzen durfte, und er wußte seine Vorträge so zu gestalten, daß ihnen auch die minder gebildeten Massen gut zu folgen vermochten.

Sein Verhalten zu allgemeinen Fragen der Schulerziehung wird naturgemäß durch seine Persönlichkeit und Arbeitsvergangenheit bestimmt. Ihm kommt es zunächst darauf an, daß der junge Mensch Einsichten in den Zusammenhang der Naturvorgänge gewinnt, daß also bei Aufstellung der Lehrpläne das Realwissen in den Vordergrund gestellt wird.

Es liegt mir fern, so erklärte mir Einstein, die Grundlinien der alten Lateinschule durch eine überstürzte Reform glattweg fortwischen zu wollen. Allein ebenso fern liegt es mir, mich für die sogenannte humanistische Schule zu begeistern. Hiervon würden mich schon gewisse Erinnerungen an meine eigene Schulzeit abhalten, und in noch stärkerem Grade mein Vorgefühl für die erzieherischen Aufgaben der Zukunft. »Ganz aufrichtig gesagt, finde ich, daß der Bildungswert der Sprachen im Allgemeinen erheblich überschätzt wird.«

Ich erlaubte mir, auf ein Merkwort zu verweisen, das bei gewissen Gelehrten noch heute als unbestreitbar gilt. Karl der Fünfte hat es ausgesprochen: »So viele Sprachen einer versteht, so viele Male ist er ein Mensch«; und um zugleich auf die Wurzel der Sprachbildung zu deuten, hat er es auf Lateinisch gesagt: › Quot linguas quis callet, tot homines valet‹ Ein Wort, das sich in der Umformung »Soviel Sprachen, soviel Sinne« durch die Zeiten fortgesetzt hat.

Einstein entgegnete: Ich bezweifle die Allgemeingültigkeit dieser Sentenz, denn ich glaube, daß sie einer Realprobe zu keiner Zeit standgehalten hätte. Ihr widerspricht alle Erfahrung. Andernfalls wären wir genötigt, Sprachathleten wie Mithridates, Mezzofanti und ähnliche an die Spitze der geistigen Menschheit zu stellen. Ganz im Gegenteil läßt es sich nachweisen, daß bei den stärksten Persönlichkeiten und Erkenntnisförderern die Vielfältigkeit der Sinne durchaus nicht auf umfassender Sprachkunde beruhte, vielmehr darauf, daß sie den Kopf frei hielten von Belastungen, die einseitig das Gedächtnis in Anspruch nehmen.

Gewiß, sagte ich, kann man zugeben, daß hier der Anlaß zu mancher Übertreibung vorliegt, und daß der Sprachbetrieb manches gelehrten Herren in sportmäßige Vielwisserei ausartet. Eine wirklich nachhaltige Geistestat hat recht selten oder nie ihren Ausgang von der Überfülle der erlernten Sprachstoffe genommen, und um ein Beispiel zu nennen, das mir grad' einfällt: Nietzsche wurde erst dann der weitwirkende Philosoph, als er den Philologen in sich überwunden hatte. Für unser eigentliches Thema schränkt sich die Frage jedoch merklich ein, sie reduziert sich wesentlich auf die Angelegenheit des altklassischen Unterrichts, also darauf, ob wir in Latein und Griechisch genug, zuviel oder zu wenig tun. Da möchte ich zuerst erwähnen, daß sich die Schulanforderung ehedem doch bedeutend weiter erstreckte als heutzutag, wo unter den Schülern der Oberklasse der perfekte Lateiner und Grieche kaum noch angetroffen wird.

Gerade darin erblickt Einstein das Anzeichen einer Besserung und einer erfreulichen Besinnung auf die eigentlichen Ziele der Schule. Er sagte: der Mensch muß dazu erzogen werden, »subtil zu reagieren«; er soll gleichsam »geistige Muskeln« bekommen und ausbilden! Und hierfür sind die Methoden des Sprachdrills weit weniger geeignet, als die einer allgemeinen Bildung, die das Schwergewicht auf die Ertüchtigung zum eigenen Nachdenken legt. Freilich wird dabei die Berufsneigung des Zöglings nicht außer Ansatz bleiben dürfen, zumal sich diese Neigung schon sehr früh anzukündigen pflegt, hervorgerufen durch eigene Begabung, durch Vorbilder in der Familie und durch andere Umstände, die auf die Wahl des künftigen Fachstudiums Einfluß haben. Deshalb trete ich durchaus dafür ein, daß in den Lehranstalten, besonders in Gymnasien, eine Gabelung stattfinde, etwa von der Tertia ab, wonach sich der junge Mensch am Teilungspunkte für die eine oder andere Linie zu entscheiden hat. Die allerersten Grundlagen, bis zur Tertia, können gleichmäßig gestaltet werden, denn sie betreffen Elemente der Bildung, die der Gefahr einer einseitigen Überspannung kaum ausgesetzt sind. Bemerkt der Zögling in sich ein besonderes Interesse für das, was der Schulmann Humaniora nennt, so soll es ihm unbenommen bleiben, das latein-griechische Garn weiterzuspinnen und zwar unter Entlastung von Arbeiten, die ihn nach seiner besonderen Natur nur drücken und ängstigen ...

Sie denken da besonders – schaltete ich ein – an die Ängste in den Lehrstunden der Mathematik. Tatsächlich gibt es ja viele sonst recht intelligente Köpfe, die in mathematicis vollkommen wie mit Blödheit geschlagen sind, und denen die ganze Schule durch die Plage dieser Lektionen vergällt wird. Es leben in Menge Ärzte, Juristen, Historiker; Literaten, die bis ins späte Alter hinein von den mit mathematischen Greueln erfüllten Träumen heimgesucht werden. Deren Entsetzen war nur zu wohl begründet. Denn während der schlechte Lateiner immer noch eine Ahnung vom Latein bewahrt, der in Geschichte mangelhaft Beschlagene wenigstens weiß, wovon die Rede ist, schindet sich der Ungeometrische durch zahllose Mathematikstunden wie durch Unbegreiflichkeiten aus einer anderen Welt, die ihm in einer gänzlich unverständlichen Sprache vorgetragen werden. Er soll Fragen beantworten, deren Sinn er nicht einmal ahnt, Aufgaben lösen, in denen ihn jedes Wort und jede Ziffer wie unheilschwangere Rätsel anstarren. Und rechts wie links sitzen Schüler, denen das alles Spielerei ist, ja sogar einzelne, die alle Schulmathese binnen wenigen Monaten im Sturmschritt durchmessen könnten. Das ergibt einen Kontrast zwischen den Zöglingen, der den Betroffenen für die Dauer der Schuljahre geradezu mit tragischer Wucht bedrücken kann. Deshalb wäre allerdings eine Reform zu begrüßen, die bei Zeiten trennt, was getrennt zu werden verdient, und die den Lehrplan möglichst getreu den Begabungen anpaßt.

Einstein machte darauf aufmerksam, daß solche Trennung bereits in vielen Schulen des Auslands, wie in Frankreich und Dänemark, durchgeführt sei, wenn auch nicht mit restloser Ausschließlichkeit. Übrigens, so fügte er hinzu, ist für mich noch keineswegs ausgemacht, ob die Greuel, von denen Sie sprachen, wirklich nur in der Nichtbegabung des Schülers ihren Urgrund haben. Ich bin vielmehr geneigt, in vielen Fällen der Nichtbegabung des Lehrers die Verantwortlichkeit zuzuschieben. Die meisten vertrödeln die Zeit mit Fragen, und sie fragen, um herauszubekommen, was der Schüler nicht weiß; während die wahre Fragekunst sich darauf richtet, zu ermitteln, was der andre weiß oder zu wissen fähig ist. Wo gesündigt wird – und die Sündentabelle erstreckt sich über alle Lehrfächer – da trägt zu allermeist die Persönlichkeit des Lehrers die Hauptschuld. Das Ergebnis in der Klasse liefert den Maßstab für die Tauglichkeit des Präzeptors. Alles in allem gerechnet bewegt sich die Quersumme der Fähigkeit in der Klasse selbst mit unerheblichen Schwankungen um Mittelwerte, mit denen man leidlich befriedigende Resultate erzielen kann. Bleiben die Fortschritte der Klasse darunter –, so sage man nicht, ein schlechter Jahrgang, sondern ein ungenügender Herr auf dem Katheder. In der Regel kann man annehmen, daß der Lehrer den Gegenstand, soweit er ihm anvertraut ist, versteht und als Lektionsstoff beherrscht; nicht aber, daß er ihn interessant zu machen versteht. Hier sitzt fast durchweg der Grund des Übels. Wenn der Magister einen Odem der Langeweile um sich verbreitet, so verkümmern die Resultate in der Stickluft. Lehren-können heißt interessant belehren, den Vortragsstoff, auch einen abstrakten, so vortragen, daß die Resonanzsaiten in der Seele des Schülers mitschwingen und daß seine Neugier lebendig bleibt.

Das ist eine Idealforderung für sich. Nehmen wir an, sie wäre erfüllt, wie denken Sie sich dann die Verteilung des Stoffes im Lehrplan selbst?

– Dies bis ins einzelne zu erörtern, wollen wir uns für ein andermal vorbehalten. Eine Hauptsache bliebe nur die Zeitökonomie, insofern als alles Überflüssige, Quälerische, auf Dressur gerichtete fortfallen müßte. Vorläufig gilt noch immer als Ziel der ganzen Übung die Schlußprüfung. Diese muß fortfallen!

Wahrhaftig, Herr Professor? Sie wollen das Abiturientenexamen abschaffen?

– Allerdings. Denn es steht wie ein schreckhaftes Turnier am Ende der Schulzeit, wirft seine Schatten weit voraus und zwingt Lehrer wie Zöglinge, sich dauernd auf eine forcierte Paradeleistung einzurichten. Dieses Examen steht auf einem künstlich hochgeschraubten Niveau, das die hinaufgepeitschten Teilnehmer nur für wenige Stunden innehalten, und das sie später niemals wiedersehen. Fällt es, so fällt damit auch der leidige Gedächtnisdrill, es braucht nicht mehr in Jahren eingepfropft zu werden, was nach dem Abitur mit Sicherheit in Monaten radikal vergessen wird und vergessen zu werden verdient. Kehren wir zur Natur zurück, die das Prinzip aufrechthält, mit dem geringsten Arbeitsaufwand die größte Wirkung zu erzielen, während die Maturitätsprüfung genau das entgegengesetzte Prinzip befolgt.

Ja aber, wer soll denn nun zur Universität entlassen werden?

– Jeder, der sich als fähig bewährt hat, nicht in einer vom Zufall abhängigen Feuerprobe, sondern in seinem ganzen Verhalten. Dieses ist dem Lehrer bekannt, und wenn es ihm nicht bekannt ist, liegt die Schuld wiederum bei ihm. Um so mehr wird er entlassungsreif finden, je weniger der Lehrplan als solcher auf die jungen Leute gedrückt hat. Sechs Stunden am Tage müßten vollauf genügen, davon vier für die Schule und zwei für häusliche Arbeit, und das wäre schon das Höchstmaß. Sollte Ihnen dies zu wenig erscheinen, so bedenken Sie, daß der junge Geist auch in der Muße eine starke Anstrengung erfährt, da er eine ganze Welt in Wahrnehmungen aufzunehmen hat. Und wenn Sie fragen, wie der ständig wachsende Lehrplan in so mäßiger Stundenzahl untergebracht werden soll, so sage ich: Platz wird genug sein, werft nur erst das Entbehrliche über Bord! Zum Entbehrlichen zähle ich den weitaus größten Teil des Lehrbetriebes, der sich »Weltgeschichte« nennt und in der Regel nichts anderes ist, als eine in öde Tabellenform gepreßte Geschichtsklitterung. Dieses Lehrfach ist auf das Alleräußerste einzuschränken und dürfte nur in ganz großen Zügen vorgetragen werden, ohne jede Jahreszahlpaukerei. Laßt Lücken darin, so viel ihr mögt, zumal in der alten Geschichte, sie werden sich im Leben nicht fühlbar machen. Ich halte es für durchaus kein Unglück, wenn der Schüler nichts von Alexander dem Großen erfährt, nichts von Dutzenden anderer Eroberer, deren archivarischer Nachlaß sein Gedächtnis als toter Ballast befrachtet. Soll schon in die graue Vorzeit hineingestiegen werden, so erspare man ihm den Cyrus, Artaxerxes, Vercingetorix und erzähle ihm etwas von den Kulturträgern Archimedes, Ptolemäus, Heron, Appollonius, von Erfindern und Entdeckern, um nicht das ganze Pensum als eine Folge von Abenteuern und Blutbädern abzurollen.

Wäre es nicht zweckmäßig, warf ich ein, vom Geschichtsunterricht einige Stunden für die Einführung in die wirkliche Staatenbildung mit Einschluß der Soziologie und der Gesetzeskunde abzuzweigen?

Dies hält nun Einstein nicht für wünschenswert, obschon er persönlich allen Gestaltungen des öffentlichen Lebens das lebhafteste Interesse entgegenbringt. Eine schulmäßig betriebene politische Vorbildung lehnt er ab; vornehmlich wohl deshalb, weil sich auf diesem Gebiet der sachliche Unterricht von der amtlichen Beeinflussung nicht trennen läßt, und weil ihm die Beschäftigung mit politischen Dingen für ungereifte Geister als verfrüht erscheint. Die Verknüpfung des Jünglings mit den Anforderungen des modernen Lebens denkt er sich ganz anders, abseits jeder Theorie, wie er ja durchweg einen Ausgleich für die einseitige Belastung des jugendlichen Intellekts erstrebt. »Ich verlange die obligatorische Einführung einer praktischen Betätigung. Jeder Schüler muß ein Handwerk lernen. Die Wahl stehe ihm frei, aber keiner dürfte mir aufwachsen, der es nicht zu einer Handfertigkeit gebracht und als Schreiner, Buchbinder, Schlosser oder was es sei, ein brauchbares Gesellenstück geliefert hätte.«

Legen Sie dabei den Hauptwert auf die Fertigkeit selbst oder auf das Gefühl einer sozialen Zusammengehörigkeit mit den breiten Schichten des Volkes?

– Beide Gesichtspunkte sind mir gleich wichtig, sagte Einstein, und noch andere treten hinzu, um meinen Wunsch zu rechtfertigen. Das Handwerk braucht für den Schüler der höheren Lehranstalt nicht einen goldenen Boden zu bedeuten, aber es wird das Fundament verbreitern und festigen, auf dem er als sittliche Persönlichkeit zu stehen hat. Zunächst sollen auf der Schule nicht zukünftige Beamte, Gelehrte, Dozenten, Rechtsanwälte und Bücherschreiber geformt werden, sondern Menschen, nicht bloße Gehirnexistenzen. Prometheus fing bei der Menschenerziehung nicht mit der Astronomie an, sondern mit dem Feuer und der bildnerischen Werktätigkeit ...

Ich denke dabei noch an einen andern Vergleich, ergänzte ich: nämlich an die alten Meistersinger, die da allesamt tüchtige Schmiede, Spengler, Schuhmacher waren und sich doch eine Brücke zur Ausübung der Künste bauten. Und im Grunde gehören ja auch die Wissenschaften zu den freien Künsten. Aber ich komme hier doch an eine Schwierigkeit. Indem Sie das obligatorische Handwerk fordern, betonen Sie nützliche Praxis, während Sie sonst in Ihren Ausführungen die Wissenschaft an sich als etwas von der Praxis ganz Unabhängiges erklären.

Das tue ich nur, sagte Einstein, wenn ich von den allerletzten Zielen der reinen Forschung spreche, also von Zielen, die nur einer verschwindenden Minderheit erkennbar werden. Es wäre völlig weltfremd, diese Ansicht auch dort zu vertreten und ihr regulative Wirksamkeit zu wünschen, wo es sich im besten Falle um die Vorbereitungen zur Wissenschaft handelt. Im Gegenteil halte ich dafür, daß auf der Schule das Wissenschaftliche weit praktischer betrieben werden könnte, als heute der Fall, wo mir das Doktrinäre noch viel zu viel überwiegt. Um beispielsweise nochmals auf den mathematischen Unterricht zurückzukommen, so erscheint er mir fast durchweg schon deshalb verfehlt, weil er nicht auf dem Praktisch-Interessanten, sinnlich Erfaßbaren, Anschaulichen, aufgebaut wird. Man füttert Kinder mit Definitionen, anstatt ihnen etwas Begreifliches zu zeigen, und man verlangt von ihnen Verständnis für rein Begriffliches, ohne daß man ihnen die Möglichkeit gibt, vom Konkreten zum Abstrakten zu gelangen. Das läßt sich aber sehr gut bewerkstelligen. Die ersten Anfangsgründe müßten gar nicht in der Schulstube gelegt werden, sondern in freier Natur. Man zeige dem Knaben, wie eine Wiesenfläche ausgemessen, mit einer andern verglichen wird, man lenke seine Aufmerksamkeit auf die Höhe eines Kirchturms, auf die Länge des Schattens, den er wirft, auf den zugehörigen Sonnenstand, und er wird die mathematischen Zusammenhänge weit rascher, sicherer und zudem begieriger erfassen, als wenn ihm mit Worten und Kreidestrichen die Begriffe der Dimension, des Winkels oder gar einer trigonometrischen Funktion eingetrichtert werden. Wie sind denn solche Disziplinen tatsächlich entstanden? In der Praxis, als zum Beispiel Thales zuerst die Höhe der Pyramiden maß mit Hilfe eines kleinen Stabes, den er am Endpunkt des Pyramidenschattens einstellte. Gebt dem Jungen so einen Stock in die Hand, leitet ihn zum kinderspieligen Experiment damit, und wenn er nicht ganz vernagelt ist, geht ihm die Sache von selbst auf. Es wird ihm Freude machen, wenn er die Höhe des Turmes ermittelt, ohne hinaufgeklettert zu sein, und in dieser Freude steckt die Lust an der planimetrischen Erkenntnis der Dreiecks-Ähnlichkeit und der Proportionalität der Dreiecks-Seiten.

Was die Physik betrifft, fuhr Einstein fort, so darf für den ersten Unterricht überhaupt gar nichts in Frage kommen, als das Experimentelle, anschaulich-Interessante. Ein hübsches Experiment ist schon an sich oft wertvoller, als zwanzig in der Gedankenretorte entwickelte Formeln; einen jungen Geist vollends, der sich in der Welt der Erscheinungen erst zurechtfinden will, soll man mit den Formeln gänzlich verschonen. Sie sind in seiner Physik genau dieselben unheimlichen und abschreckenden Gespenster wie die bezifferten Daten in der Weltgeschichte. Einen sinnigen und geschickten Experimentator vorausgesetzt läßt sich dieses Fach schon in den Mittelklassen beginnen, und man darf dabei auf eine Empfänglichkeit und ein Verständnis zählen, das den Übungen in der lateinischen Grammatik nur selten entgegengebracht wird.

Es liegt mir nahe, sagte Einstein, bei dieser Gelegenheit auch eines Lehrmittels zu gedenken, das sich bis jetzt erst probeweise in die Klasse gewagt hat, von dessen Ausbau ich mir aber sehr Ersprießliches verspreche. Ich meine den Lehrfilm. Der Siegeszug des Kino wird sich auch in das pädagogische Gebiet fortsetzen, und hier findet es Gelegenheit, durch Tugenden wettzumachen, was es an tausend öffentlichen Schaustätten durch Kitsch, Sittenwidrigkeit und Sensation sündigt. Durch den Lehrfilm, unterstützt vom einfachen Projektionsbild, könnten sich erstlich gewisse Disziplinen, wie die Geographie, die heute als tote Wortbeschreibungen abgehaspelt werden, mit dem pulsierenden Leben einer Weltwanderung erfüllen. Und die Linien auf der Landkarte würden für den Schüler eine ganz andere Physiognomie erhalten, wenn er wie auf einer Reise erfährt, was sie in Wirklichkeit umschließen, und wie es zwischen den Strichen aussieht. Eine Fülle der Belehrung bietet der Film ferner, wenn er dem Schüler in Beschleunigung oder Verzögerung vorführt: Wie wächst eine Pflanze, wie schlägt ein Tierherz, wie bewegt sich ein Insektenflügel. Wichtiger noch erscheint mir der Lehrfilm als Einführer in die wichtigsten Betriebe der industriellen Technik, deren Kenntnis Allgemeingut werden sollte. Wie entsteht ein Kraftwerk, eine Lokomotive, eine Zeitung, ein Buch, eine farbige Illustration, was begibt sich in einem Dynamobetrieb, in einer Glasfabrik, in einer Gasanstalt – wenige Stunden würden genügen, um dem Schüler dergleichen einprägsam darzustellen. Und um auf die Naturkunde zurückzugreifen: Viele der schwereren, mit den Mitteln der Schule nicht darstellbaren Experimente lassen sich filmtechnisch fast mit demselben Deutlichkeitsgrade aufzeigen. Alles in allem: das erlösende Wort im Schulwesen bleibt für mich: die erhöhte Anschaulichkeit. Wo es nur irgend geht, muß das Erlernen zum Erleben werden; und dieses Prinzip wird sich in einer künftigen Schulreform durchsetzen.

* * *

Das höhere Universitätsstudium wurde in diesem Gespräch nur lose gestreift. Es ist bekannt geworden, daß Einstein sich mit äußerster Liberalität für allgemeine Lernfreiheit einsetzt und am liebsten die reglementierten Passierscheine zur Teilnahme an den Hörkursen beseitigen möchte. So zu verstehen, daß die Zulassung gewährt werden müßte, sobald der Studienbeflissene seine Fähigkeit für das Verständnis eines bestimmten Vortrags dartut, zum Beispiel durch seminaristische Übungen oder Betätigung im Laboratorium. Den üblichen Nachweis »allgemeiner Bildung« würde Einstein nicht fordern, sondern nur den der speziellen Eignung; zumal nach Einsteins Erfahrung gerade die tüchtigen, zielbewußten Menschen häufig zur Einseitigkeit neigen. Demzufolge wären die Mittelschulen sogar mit der Befugnis auszurüsten, das zur Universität berechtigende Reifezeugnis für eine bestimmte, einzelne Disziplin auszustellen, sobald nur der Zögling für dieses Einzelfach den ausreichenden Befähigungsnachweis erbracht hat. Wenn er sich zuvor für die Abschaffung des Abiturs aussprach, so ist ja auch hierin sein Bestreben erkennbar, möglichst alle Pforten zur höheren Bildung für jedermann aufzusprengen. Trotzdem bemerkte ich, daß er auch für den Verlauf der Hochschulstudien selbst nicht auf all und jede Kontrolle der Fähigkeiten verzichten will; wenigstens denjenigen Studiosen gegenüber, die sich später dem Lehrfach zu widmen beabsichtigen. Er wünscht zwar kein Zwischenexamen (nach Art des für Ärzte vorgesehenen tentamen physicum), allein er hält es für ersprießlich, wenn der künftige Lehrer schon in frühen Semestern Gelegenheit erhält, seine Eignung für den Lehrvortrag zu beweisen. Auch hierin offenbart sich Einsteins liebevolle Sorge für das junge Geschlecht, dessen Entwicklungsmöglichkeit durch nichts so sehr bedroht wird, als durch unzulängliche Magister; wobei es denn herauskommt, daß der Schüler möglichst wenig, der Lehrer aber dafür desto schärfer geprüft wird. Ein Lehramtskandidat, der nicht schon in erster Frühe der akademischen Studien seine Eignung, seine persönliche facultas docendi dartut, soll von der Universität entfernt werden.

Es steht außer Zweifel, daß Einstein beanspruchen darf, in all diesen Dingen als Autorität gehört zu werden. Wenige existieren in der Gelehrtenrepublik, denen der Beruf durch das lebendige Wort die Wißbegier zu entzünden und zu befriedigen so leuchtend wie ihm auf dem Gesicht geschrieben steht. Wenn sich heute die Scharen zu ihm drängen, wenn so viele ausländische Institute die Fangarme nach ihm ausstrecken, so zeigt dies eine magnetische Wirkung, die nicht bloß von dem berühmten Forscher ausgeht, ihn umspielt auch der Namensglanz eines Lehrmeisters von hinreißender Persönlichkeit. Man erwäge, was das in seinem Fach besagen will. Dem Philosophen, Historiker, Juristen, Mediziner, Theologen stehen zahllose menschliche Töne zur Verfügung, die er nur anzuschlagen braucht, um des Kontaktes mit der Hörerschaft gewiß zu sein. In Einsteins Fach, der theoretischen Physik, verschwindet der Mensch, und auf ihrem Register ist für die Tasten der Empfindung kein Platz. Ihr Rüstzeug, die Mathematik – und was für eine! – strotzt von formalen Schwierigkeiten, deren Bewältigung nur in Zeichen möglich ist, in einer Sprache, die von Eloquenz in Satzbau, Ausdruck, Erregung nichts weiß. Und da steht ein Physiker, ein Mathematiker, der vom ersten Wort an eine vielköpfige Menge im Bann hält, der aus ihren Intelligenzen sozusagen herausholt, was doch er allein vor ihnen entwickelt. Er klebt nicht am Blatt, nicht an einer im Voraus bis ins Einzelne vorbereiteten und festgelegten Disposition, er gestaltet frei; ohne die mindeste rhetorische Absicht, aber mit der Wirkung, die sich von selbst einstellt, wenn der Hörer sich von einer Strömung getragen fühlt. Er braucht das Wort nicht leidenschaftlich zu unterstreichen, seine leidenschaftliche Liebe zum Lehrfach bleibt unverkennbar. Noch in Denkregionen, in denen sonst nur die vergletscherte Formel als Kennzeichen der Höhe dasteht, findet er Gleichnisse und Bilder von menschlicher Prägung, und mit ihrer Hilfe hilft er manchem Teilnehmer über die mathematische Bergkrankheit. In seinem Vortrag stecken zwei Elemente, die man sonst wohl kaum bei abstrakten Forschern antrifft: das Temperament und die Liebenswürdigkeit. Nie redet er monologisch vor sich hin, wie in ein Vakuum hinein, stets spricht er als einer, der Beziehungen spinnt. Und diese weben sich fort über den Stundenschluß des Tagespensums. Man weiß, Einstein läßt keinen eisernen Vorhang fallen; jeder Hörer, der noch dies und das auf dem Herzen hat, Zweifel, Klarheitsbedürfnisse, Rückstände unbegriffener Ausführungen, hat das Interpellationsrecht. Und Einstein hält jedem Fragesturm Stand. Gerade am Tage, da wir jenes Gespräch führten, kam er direkt aus seiner Vorlesung über den vierdimensionalen Raum, an deren Ende ihn die Hochflut der Fragenden umbrandet hatte. Er erzählte davon nicht wie von einer überstandenen Mühseligkeit, sondern wie von einem Fest. Und mit solchen Erfreulichkeiten ist seine Lehrbahn übersät.

* * *

Es war das letzte Kolleg vor seiner Abreise nach Leyden (im Mai 1920), wo ihn die berühmte Fakultät unter den Auspizien des großen Physikers Lorentz zur Übernahme einer Ehrenprofessur erwartete. Das war nicht der erste derartige Akt und wird nicht der letzte bleiben. Es geht für ihn wie eine Welle der Auszeichnungen durch die Welt. Gewiß, die Hochschulen, die ihm das Diplom »honoris causa« verleihen, ehren sich selbst damit. Aber Einstein hat ein offenes Herz für den Wert dieser Auszeichnungen, die er nur als der Sache geltend auffaßt. Ihm macht es Freude der Prinzipien wegen, die gekrönt werden, und er betrachtet sich dabei im wesentlichen nur als den vom Geschick bestimmten persönlichen Exponenten dieser Prinzipien.

Mir, als dem bescheidenen Teilnehmer dieser Gespräche, kommt es vielleicht noch stärker als ihm selbst zu Bewußtsein, was dieser Sturm und Drang um einen Gelehrten bedeutet. Denn ich bin ein alter Herr, der – leider – in Hochschuldingen sehr viel weiter zurückdenkt und Vergleiche aufzustellen vermag, die Einstein fehlen. Vordem, anno olim, aber schon zu meiner Zeit, gab es in Berlin ein Auditorium maximum, das eigentlich nur ein einziger zu füllen vermochte, Eugen Dühring, der bedeutende ewige Privatdozent, der später in Zwistigkeiten mit überlegenen Größen akademischen Schiffbruch erlitt. Aber bevor er gegen Helmholtz anrannte, galt er als der beispiellose Magnet, da er in seinen philosophischen und volkswirtschaftlichen Vorträgen die damals unerhörte Zahl von dreihundert Hörern versammelte. Heute, bei Einstein, ist die vierfache Zahl erreicht worden, so daß das Scherzwort in Umlauf kam: Sein Auditorium ist nie zu verfehlen –, wo alle hinwollen, dort ist es! Will man vergleichen, so hat man außer der Fülle auch die Treue der Gemeinde zu bewerten. Mancher Hervorragende von ehedem hatte Ursache faustisch zu klagen: »hab ich die Kraft dich anzuziehn besessen, so hatt' ich dich zu halten keine Kraft«. Helmholtz fing regelmäßig im Semester vor übervollem Hörsaal an, allein sehr rasch wurde es einsam um ihn, und er selbst wußte es am besten, daß ein Lehrfluidum von ihm nicht ausging. Aber die Universitätsgeschichte erzählt noch von einem Glänzenden, der in diesem Betracht aus dem Jubel in die Enttäuschung fiel. Ich nenne den in diesem Zusammenhang gewiß sehr überraschenden Namen –: Schiller! Der hatte als Geschichtsdozent seine erste Vorlesung in Jena angesetzt, mit einer Erwartung von etwa hundert Studiosen. Aber Trupp auf Trupp wälzte sich heran, und Schiller, der die Flut vom Fenster aus beobachtete, hatte den überwältigenden Eindruck, das wolle gar kein Ende nehmen. Die ganze Straße kam in Alarm, man glaubte anfangs, es wäre ein Feuertumult, und am Schlosse geriet die Wache in Bewegung – und bald darauf trostlose Ebbe – die erste Neugier war gestillt, die Hörerschaft verdunstete, ein Beweis, daß der Nimbus des Namens nicht ausreicht, um das Interesse von der Lehrkanzel zum Saale aufrechtzuerhalten.

Ich erwähnte jenes Beispiel gerade damals, da Einstein als Lehrer die Rekordziffer von 1200 in aufsteigender Linie erreicht hatte, ohne daß es mir an diesem Tage gelang, eine auffällige Freude darüber bei ihm selbst festzustellen. Ich erhielt den Eindruck, daß er sich in dem ungeheuren Raume stimmlich überanstrengt hatte. Davon war in der Stimmung der Ansatz einer leise nachwirkenden Unbehaglichkeit spürbar. Er ließ sogar in einer skeptischen Anwandlung das Wort »Modesache« fallen. Damit, so nehme ich an, wird es ihm nicht völlig Ernst gewesen sein. Daß ich gegen den Ausdruck opponierte, versteht sich von selbst. Aber auch dann, wenn er einen berechtigten Kern enthielte, könnte man sich eine solche Mode auf rein geistigem Gebiet, die nun schon so lange anhält und gesegnete Dauer verspricht, schon gefallen lassen. Die Welt könnte genesen, wenn Moden dieser Art recht kräftig in Schwang kämen. Psychologisch ist es ja durchaus begreiflich, daß Einstein sich selbst gegen seinen Ruhm in eine Art von Notwehr versetzt; und daß er ihm gelegentlich mit Sarkasmus beikommen möchte, da er in sachlichem Ernst nichts gegen ihn ausrichten könnte.

* * *

Ob Einsteins Gedanken und Vorschläge in Sachen der Unterrichtsreform auf ganzer Linie durchführbar sein werden, mag dahinstehen. Wir wollen uns darüber klar sein, daß ihre freigeistige Verwirklichung auch gewisse Opfer erfordern würde; und von dem Ausmaß dieser Opfer wird es abhängen, wie die nächste und übernächste Generation hinsichtlich ihrer Geistesbildung aussehen wird.

Mit einer merklichen Einschränkung des Sprachbetriebes wird man sich abzufinden haben. Es fragt sich nur, wie weit hiervon die Grundlagen betroffen werden, die durch Jahrhunderte unter dem Sammelbegriff Humaniora das Bildungswesen der höheren Schulen gestützt haben. Die Grundansichten der Reform, die schon aus Gründen der veränderten Zeiteinteilung und der Kraftersparnis nicht mehr sprachbetont auftritt, weisen darauf hin, daß von den lateinischen und griechischen Fundamenten nicht sonderlich viel übrig bleiben wird.

Wir haben erfahren, daß Einstein, ohne sich grundsätzlich gegen die Altklassizität auszusprechen, doch kein sonderliches Heil mehr von ihr erwartet. Heute liegen die Dinge aber so, daß man kaum noch vor die Frage gestellt wird, ob man sie allenfalls noch in Resten erhalten will. Wer sich nicht mit ganzer Überzeugung für sie einsetzt, der verstärkt in der Wirkung den mächtigen Chor derjenigen, die sie radikal bekämpfen. Und zu den Mitgliedern dieses Chores gehören, merkwürdig genug, viele sprachbeflissene Autoritäten, die auf unserem Boden Einfluß besitzen, da sie mit dem Programm der Sprachrettung auftreten.

Nicht die Sprache an sich wollen sie retten, sondern die deutsche, und als deren Feind und Verderber bezeichnen sie die gymnasialen Humaniora, oder wie sie es ausdrücken: die »Humanisterei«. Wie sie das auffassen, ergibt sich aus ihren Leitsätzen, von denen ich einige nach den Originalworten ihres Parteiführers anführen möchte:

»Bis zu dem Wagnis des Thomasius (der zuerst 1687 Vorlesungen in deutscher Sprache ankündigte), war die deutsche Gelehrsamkeit die Hauptfeindin der deutschen Sprache. – Nicht von den humanistischen Affen der alten Lateiner hat Luther seine Vorbilder fürs Deutsche genommen. Bei vielen neben Lessing und Goethe gewahren wir das deutliche Bestreben, sich von dem Wust der deutschen Humanistenzeiten zu befreien. – Die Überlieferung des scheingelehrten Wortgeschwöges reicht, wie die meisten Grundlaster des Gelehrtenstils, bis in die Humanisterei. – Die tiefe, bleibende Deutschverderbung durch das lateinische Blutgift hat erst der Humanismus des 16. Jahrhunderts dem Körper der deutschen Sprache eingeträufelt.«

Und ganz folgerichtig verbreitern diese Wortrufer ihre Attacke gegen die ganze Front der Gelehrsamkeit überhaupt. Denn die gesamte Gelehrtenwelt steckt nach ihrer Ansicht tief im Sprachmorast der überlieferten latein-griechischen Humanisterei. »Das ganze Sprachunheil unserer Zeit«, so sagt jener Führer, »kommt im Grunde von der Wissenschaft her, die mit ihrer Kastendünkelsprache, ohne die geringste Begriffsbereicherung durch bloßes Wortgeklingel den Schein einer besonders neuen, besonders tiefen Geheimwissenschaft erzeugen will und bei den Unkundigen leider oft wirklich erzeugt ... Behörden und Sprachvereine mögen noch so viele schmutzige Zuläufe reinigen und verstopfen, aus immer neuen Schlammgruben und Sielen sickert ununterbrochen üble Jauche in den stolzen Strom unserer Sprache«.

So identifiziert sich der Angriff auf das latein-griechische Sprachfundament in den Schulen mit dem Kampf gegen die Gelehrtenwelt im allgemeinen, und ein Gelehrter, der das altklassische Bildungsmittel nicht bis zum äußersten verteidigt, gerät unbewußt in die Bundesgenossenschaft der Kämpen, die im letzten Grunde ihm selbst an die Gurgel wollen.

Diese Gefahr darf nicht unterschätzt werden. Sie, als eine Kulturgefahr ersten Ranges, ist es vornehmlich, die mich veranlaßt, hier offen Farbe zu bekennen. Ich stütze kein schulpaukerisches, noch pennälerhaftes Bewußtsein. Allein ich wende mich, wie ich nur kann, in Wort und Schrift gegen die Antihumanisten, deren Losung »Für die Sprache« letzten Endes bedeutet »gegen die Wissenschaft«!

Ihnen dürfen keine Waffen geliefert werden, und das einzige Mittel, sie ihnen vorzuenthalten, besteht meines Erachtens in dem nachdrücklichen Bekenntnis, wie es die Klassiker unseres Schrifttums fast ohne Ausnahme auf offener Fahne vor sich hergetragen haben.

Dieses Bekenntnis ist sprachlich wie sachlich durchaus als ein lateinisch-griechisches zu verstehen. Es bildet Stern und Kern des Lebens und der Werke der Männer, um derentwillen Bulwer unser Land als das Land der Dichter und der Denker ausgerufen hat. Die Überfülle ist so groß, daß es kaum angeht, einzelne Namen wie Goethe, Lessing, Schiller, Wieland, Kant, Schopenhauer herauszugreifen. Wir besäßen eine Provinzialliteratur, und nicht eine weltgültige, wenn nicht jenes Bekenntnis allzeit durchgegriffen hätte.

Taucht die Frage auf: wo sollen die jungen Leute in der Stoffbedrängung die Zeit für altklassische Spracherlernung hernehmen? so soll die verbesserte Methodik die Antwort erteilen. Ich persönlich stehe auf dem Standpunkt, daß schon die alte nicht so übel war. Goethe ist zur Erwerbung von allerlei Kenntnissen und Geistesfertigkeiten nicht in Verlegenheit gekommen, obschon er schon als achtjähriger Knabe ein Latein schrieb, das uns im Vergleich zu manchem Gestümper moderner Primaner direkt ciceronianisch anspricht. Montaigne vermochte sich früher auf lateinisch als auf französisch auszudrücken und er wäre ohne das »lateinische Blutgift« in seinen Adern nicht Montaigne geworden.

Es ist mir noch gar nicht erwiesen, ob die gebildete Menschheit nicht eines fernen Tages zum ehedem selbstverständlichen altklassischen Sprachboden zurückkehren wird, und zwar gerade aus Gründen verschärfter Zeitökonomie. Falls nicht etwa die von Hebbel ersehnte Universalsprache – nicht zu verwechseln mit einem künstlich gedrechselten Esperanto – Wirklichkeit wird. Aber auch diese völkerverbindende, heute noch utopische Universalsprache wird in ihrem Zellenbau das antike Muster erkennbar machen. Die Wissenschaftssprache von heute zeigt, wohin der Weg geht. Und der wird sich erschließen trotz aller Verrammlungsversuche teutonischer Sprachheiliger und Humanistentöter.

Aus der Gedankenarbeit der Forscher strahlt Sprachwirkung. Und da sie, wie ganz natürlich, antike Ausdrucksformen reichlich in Anspruch nehmen, so treten sie damit eigentlich als Anwälte eines Unterrichts auf, der diese Ausdrücke nicht nur als Bestandteile eines Volapük, sondern organisch verständlich macht. So verfahren sie, wenn sie forschen, schreiben und aus ihrem eigenen Fach vortragen. Sollen sie aber entscheiden, wie die Schule in wirklicher Ausübung zu verfahren hat, so tritt wiederum die Zeitsorge für sie in den Vordergrund, das heißt die Pflicht, das ihnen Wichtigere zu bevorzugen. Und hieraus ergibt sich der Wunsch, die Sprachfächer auf möglichst karge Stundenration zu setzen.

Wir besitzen hierüber eine Auseinandersetzung des hier schon mehrfach mit größtem Respekt erwähnten Ernst Mach, die das obwaltende Dilemma in reinster Form aufzeigt. Er behandelt die eminent bedeutungsvolle Frage mit der größten Eindringlichkeit und gelangt ungefähr zu dem gleichen Ergebnis wie Einstein. Freilich intoniert er zunächst einen höchst ergreifenden Latein-Psalm, beinahe in Schopenhauerischer Tonart. Im Unterton klingt die Elegie darüber, daß das Latein nicht mehr, wie im 15. bis 18. Jahrhundert, das allgemeine Verständigungsmittel der Kulturellen darstellt. Seine Eignung hierzu ist völlig unbestreitbar, denn es vermag sich jeder Begriffsbildung, selbst der feinsten und modernsten, anzupassen.

Wie hat Isaac Newton die Naturwissenschaft mit neuen Begriffen bereichert, die er allesamt ganz korrekt und scharf in lateinischer Sprache zu bezeichnen wußte! Schon vermeint man die Folgerung zu hören: »also lerne der junge Mensch die alten Sprachen«! – aber nein, es kommt anders. Es soll genügen, wenn er die Weltworte versteht, ohne philologisch ihre Herkunft zu erfahren.

Man braucht kein Oberlehrer zu sein, um sich von diesem Schluß wenig befriedigt zu fühlen. Gewiß, man kann ohne Kenntnis des Arabischen den Sinn und die Bedeutung des Wortes »Algebra« erfassen; und so mag man auch eine Reihe griechisch-lateinischer Ausdrücke dem Inhalt nach in sich aufnehmen ohne ihre Wurzel etymologisch zu beschnüffeln. Aber diese Ausdrücke gehen in die Hunderte und Tausende, vermehren sich noch täglich, und es fragt sich doch, schon rein zeitlich genommen, ob es praktisch ist, sie als sprachfremde Einzelwesen kennen zu lernen oder als Erzeugnisse eines Sprachbodens, auf dem man sich einmal fürs ganze Leben heimisch gemacht hat.

Ich brauche kaum besonders zu betonen, daß Einstein selbst mit diesen Fachworten nicht spart, auch da nicht, wo er sich volksverständlich ausdrückt. Er setzt voraus oder führt ein, um nur ganz wenige zu nennen: Kontinuum, Koordinatensystem, dimensional, Elektrodynamik, kinetische Theorie, Transformation, kovariant, heuristisch, Parabel, Translation, Aequivalenzprinzip, und er wird mit vollem Recht annehmen, daß jedermann die Worte geläufig sind, die Allgemeingeltung erlangt haben wie: Gravitation, Spektralanalyse, Ballistik, Phoronomie, Infinitesimal, Diagonale, Komponente, Peripherie, Hydrostatik, Zentrifugal und dazu zahllose andere, welche die gebildete Vulgärsprache nach allen Richtungen durchsetzen. Alle zusammen stellen ein Fremdland dar, in dem sich der Eindringende allenfalls zurechtfindet, wenn er Erläuterungen, Auskünfte, Übersetzungen erhält, während er sich bei leidlicher sprachlicher Vorbildung durchweg heimatlich angesprochen fühlt, wobei der allgemeine Bildungswert der Sprachkunde in Betracht der Erschließung antiken Schrifttums und der hellenischen Kultur noch gar nicht in Ansatz gebracht wird.

Möglich, daß ich hier allzusehr als laudator temporis acti spreche dem ganz modernen Empfinden Einsteins gegenüber. Wir befinden uns hier eben auf einem Gebiet, wo nichts unter Beweis zu stellen ist, alles vielmehr von Stimmung und eigenem Erleben abhängt. Zu diesem Erleben gehört für mich, daß ich in frühester Jugend trotz damaliger geradezu abschreckender Schulmethode mit Liebe Latein und Griechisch trieb, daß ich Horazische Oden auswendig lernte, nicht weil ich mußte, sondern weil sie mir klangen, und daß mir im Homer eine Welt aufging. Wenn Einstein dem Drill flucht, so fluche ich gern mit; jene Sprachen brauchen nicht parademarschmäßig betrieben zu werden. Aber das betrifft die Methode, nicht die Sache. Und in der Sache öffnet ja Einstein einen Ausweg, indem er die Klassengabelung befürwortet. Er trennt die Pfade, gibt dem einen seinen besonderen Segen, hindert aber die Pilger auf dem andern nicht, auf ihre Weise glücklich zu werden.

* * *

Wir sprachen vom Frauenstudium, und Einstein äußerte sich zu diesem Kapitel, wie zu erwarten war, durchaus tolerant, allein ohne die Geberde eines Vorkämpfers anzunehmen. Es war nicht zu verkennen, daß er sich bei aller Zustimmung leise Klauseln theoretischer Art vorbehielt.

Man soll den Frauen, sagte er, wie überhaupt, so auch für ihre wissenschaftlichen Studien alle Wege ebnen. Aber man soll es mir nicht verdenken, wenn ich den möglichen Resultaten mit einiger Skepsis entgegensehe. Ich denke dabei an gewisse Widerstände in der weiblichen Organisation, die wir als naturgegeben zu betrachten haben und die uns verwehren, denselben Erwartungsmaßstab wie beim Manne anzulegen.

»Sie glauben also, Herr Professor, daß Höchstleistungen von Frauen nicht erzielt werden können? Um bei der Naturkunde zu bleiben: wäre nicht eine Erscheinung wie Frau Curie als Gegenbeweis auszuspielen?«

– Wohl doch nur als Beweis einer glänzenden Ausnahme, deren noch mehrere auftreten können, ohne das geschlechtliche Organisationsstatut zu erschüttern.

»Vielleicht wäre dies doch möglich unter Zubilligung längerer Zeiträume für die Entwicklung. Die Genies mögen drüben viel seltener sein, die Talente haben sich doch merklich gehäuft. Oder anders ausgedrückt: die weiblichen Garnichtswisser sind seltener geworden. Sie, Herr Professor, können ja zu Ihrem Glück eine Gesellschaft mit jungen Damen von heute nicht mit einer vor vierzig Jahren oder länger vergleichen. Ich aber kann es, und wie ich es ehedem selbstverständlich fand, daß es von Gaken und Puten wimmelte, so staune ich heute unablässig über das Maß der erworbenen Bildung bei der jungen Weiblichkeit. Oft muß man sich gehörig zusammennehmen, um sich nicht von der Tischnachbarin allzusehr überflügeln zu lassen. Je mehr sich nun die Talentschicht verbreitert, desto mehr Genialität ist doch auch für die Zukunft zu erwarten.

– Sie ergehen sich gern in Prognosen, sagte Einstein, und rechnen dabei mit Wahrscheinlichkeiten, für die eine genügende Unterlage fehlt. Die vermehrte Bildung und selbst die Zunahme der Talente sind quantitative Voraussetzungen, die einen Schluß auf gesteigerte Qualitätsgrade bis hinauf zum Genie sehr gewagt erscheinen lassen. In Einsteins Gesicht zuckte es wetterleuchtend, und ich merkte, daß er zu einem sarkastischen Aphorismus ausholte. Dieser entlud sich auch wirklich, denn ich bekam zu hören: »Es wäre doch möglich, daß die Natur ein Geschlecht ohne Hirn erschaffen hätte!«

Ich verstand den Sinn dieser keineswegs in wörtlichem Ernst zu nehmenden Groteske. Sie sollte in lachender Übertreibung eben nur verstärken, was er schon vorher als den Grund seiner mangelnden Erwartung bezeichnet hatte: die organische Differenz, die vom Körperlichen ausgehend sich irgendwo im Geistigen äußern müsse. Die weibliche Psyche, als im Triebleben wurzelnd, wird Feinheiten des Gefühls zu Tage treten lassen, die uns Männern unerreichbar bleiben, während die stärksten Leistungen des Verstandes vielleicht von einem Überschuß der Gehirnsubstanz abhängen. Ein solches Plus über das Normalmaß gibt die Anwartschaft zu den großen Entdeckungen, Erfindungen und Schöpfungen. Man kann sich einen weiblichen Galilei, Kepler, Descartes ebensowenig vorstellen, wie einen weiblichen Michelangelo oder Sebastian Bach. Denkt man aber an solche Extremfälle, so steige vor uns auch die Gegenrechnung auf: eine Frau vermochte nicht die Differentialrechnung, wohl aber den Leibniz zu schaffen; nicht die Kritik der reinen Vernunft zu erzeugen, wohl aber den Kant. Die Frau, als die Verfasserin aller Geistesgrößen, hat zum mindesten Anrecht auf alle Bildungsmittel, auf alle Förderung im Bereich der Hochschule. Und in dieser Hinsicht hat ja auch Einstein seinen Willen klar genug ausgesprochen.

* * *

Zu den meisterörterten Themen der Neuzeit im Kreise der Schulfragen gehört: »die Begabten-Auslese«. Es hat sich zu einem Prinzip ausgewachsen, das von der großen Mehrheit als gültig anerkannt wird, und im wesentlichen nur über das Mehr oder Minder eine Debatte zuläßt.

Der durchgreifende Gedanke ist der aus der Darwinschen Selektionstheorie abgeleitete: Der Mensch vervollständigt die Methode der auswählenden Natur; er sichtet und siebt, läßt die besser beanlagten rascher und deutlicher hervortreten, begünstigt sie im Fortkommen und erleichtert ihnen den Aufstieg.

Dieses Prinzip hat eigentlich schon immer bestanden, angefangen von der Preisverteilung im alten Olympia bis zu sämtlichen Prüfungen, die ja offensichtlich auf eine Begabtenauslese hinauswollen. Seine verschärfte Handhabung mit durchreglementierter Talentsuche blieb der Gegenwart vorbehalten. Es war mir kaum zweifelhaft, wie Einstein sich zu dieser Angelegenheit stellen würde. Ich hatte schon kräftige Worte von ihm gegen das Examenwesen vernommen und kannte seine Vorliebe für freie Auswirkung im natürlichen Spiel der Kräfte.

Tatsächlich erklärte mir Einstein, daß er von einer quasi sportmäßig gehandhabten Begabtenzüchtung nichts wissen wolle. Die Gefahr des Sportbetriebs läge hier nahe und müsse zu Schein- und Fehlresultaten führen. Für möglich hält er es indes, diese Auslese in minder hitziger Weise durchzuführen. Die Summe der vorliegenden Erfahrungen gestatte noch keinen Endspruch. Denkbar sei es jedenfalls, daß eine sinnvoll betriebene Auslese der Erziehung im allgemeinen zum Nutzen gereichen könne; wesentlich insofern, als manche Begabung, die sonst im Schatten verkümmern müßte, nunmehr Aussicht gewänne, zum Licht emporgezogen zu werden.

Hieraus entspann sich eine beziehungsvolle Unterredung, deren Hauptmotive ich hier mitteilen möchte. Sie sollen vornehmlich den Typus des Sportmäßigen verdeutlichen, der Einstein verwirft, und dessen Gefährlichkeit mir noch um einige Grade drohender erscheint, als ihm.

Ginge es nach gewissen Gewaltpädagogen, so könnten oder müßten die »Höchstbegabten« in einem wahren Sturmtempo die Schule durchsausen und in einem Alter, in dem die Genossen noch in den Mittelklassen die Hosen durchsitzen, zu allen akademischen Sprossen aufrücken. Möglich ist ja alles, und die Geschichte liefert sogar Beispiele für das Vorkommen solcher Gewaltmärsche. Luthers Freund Melanchthon konnte mit 13 Jahren die Universität Heidelberg beziehen und wurde mit 17 Jahren Magister in Tübingen, wo er über die höchsten Probleme der Philosophie, sowie über römische und griechische Klassiker Vorlesungen hielt. Diese vereinzelte Laufbahn braucht bloß verallgemeinert zu werden, und das neue Ideal steht fertig vor unsern staunenden Augen: ein Professorengeschlecht von Jünglingen, denen noch kaum der erste Flaum auf den Lippen sprießt. Es kommt nur darauf an, die Höchstbegabten durchweg zu entdecken und dann das Klettergerüst für die genialen Grünschnäbel möglichst praktisch in der Schule aufzubauen.

[Zwischenbemerkung und Zwischenfrage: Wo sitzen eigentlich die Talentfinder und wie beweisen sie ihre eigene Begabung? Sie hätten dazu Gelegenheit gehabt in einem Fall, den ich erwähnen will. Einstein erzählte mir in anderem Zusammenhange, er habe schon 1907, also sehr jung an Jahren, einen der Hauptpunkte des Allgemeinen Relativitätsprinzips, die »Äquivalenz«, nicht nur fertig dargestellt, sondern sogar veröffentlicht, ohne daß es auf die Gelehrten den allermindesten Eindruck machte. Keiner ahnte die Tragweite, niemand wies auf die aufflammende Hochbegabung. Und wenn diese dem gelehrten Welt-Areopag damals verborgen bleiben konnte, so wird sich wohl ähnliches Nichtverstehen auch im verkleinerten Verhältnis der Schule ereignen. Tatsächlich wissen wir, daß sich unter den anerkannten Größen der Wissenschaft zahlreiche befanden, die in der Schule nur höchst mäßig bestanden. So Humphrey Davy, so Robert Mayer, so Justus Liebig und viele andere. Wilhelm Ostwald behauptet geradezu: »Die künftigen Entdecker sind fast ohne Ausnahme schlechte Schüler gewesen! Gerade die begabtesten jungen Menschen widersetzen sich der Form der geistigen Entwicklung, die ihnen die Schule vorzuschreiben versuchte! Die Schule erweist sich immer wieder als ein zäher, unerbittlicher Feind der genialen Begabung!« – mit aller Auslese, die ja in der Form der Klassenversetzung schon immer geübt worden ist.]

Aber die neue Auslese mit ihrer veränderten Gestaltung will ja eben die Mißgriffe und das Übersehen verhüten. Wärs möglich? Schrecken nicht die Spuren? Es gab einmal eine sehr ideale Auslese, die sich an einem der vornehmsten Institute der Welt zu bewähren hatte, an der französischen Akademie. Sie hätte auf einem unvergleichlich höheren Niveau Genies zu entdecken gehabt. Dagegen wies sie zurück oder übersah sie: Molière, Descartes, Pascal, Diderot, beide Rousseau, Beaumarchais, Balzac, Béranger, die Goncourt, Daudet, Emile Zola und viele andere Höchstbegabte, die sie eigentlich hätte finden müssen. Die einzig wirkliche, zugleich notwendige, wie ausreichende Züchtung besorgt die Natur selbst, im Bunde mit gesellschaftlichen Einrichtungen, die um so eher den Erfolg verbürgen, je weniger sie den Charakter von Brutanstalten und Züchtungshöfen annehmen. Wollt ihr in irgendwelcher Klasse Scharfsinnsproben vornehmen? Gut, prüft, so weit ihr mögt, regt an, befruchtet den Ehrgeiz, verteilt sogar Preise, aber nicht zu dem Zweck, in kurzfristigen Abständen die Schlaufüchse und Springböcke von den Schafen abzusondern. Und glaubt einstweilen, daß unter denen, die sich bei schematisierten Scharfsinnsproben zunächst als die Schafe zeigen, sich sehr viele befinden, die nach zehn oder zwanzig Jahren ihren Rang als Höchstbegabte einnehmen.

Im Grunde ist es mit der forcierten Hinaufpflanzung des Schülers nicht anders als mit der Züchtung des Übermenschen nach Nietzsche-Zarathustras Rezept.

Vorausgesetzt, daß der Übermensch überhaupt daseinsberechtigt existieren kann, so wird er, aber er läßt sich nicht bewirken. Der Arbeiter, als Klasse, repräsentiert den Übermenschen schon deutlicher als die Einzelperson eines Napoleon oder Cesare Borgia. So ist auch der »Überschüler« vielleicht schon heute vorhanden, nicht als Einzelerscheinung, sondern als Ganzes, als Ausdruck seiner Klasse. Wer Erfahrung in diesen Dingen besitzt, der weiß, daß man heute in schwierigen Fächern an den Fünfzehnjährigen Anforderungen des Verstandes stellen darf, die ehedem weit über der Fassungsebene der Gleichaltrigen lagen; wenn man eben den Durchschnitt in Betracht zieht, ohne zufällige oder künstliche Sonderung, ohne geistreichelndes Gefrage und systematische Talentschnüffelei.

Uns genüge, wenn wir gewahren, daß sich das Gesamttalent dauernd erhöht. Dagegen ist es nicht erwiesen, ob man der Kultur einen Dienst erweist, wenn man sich auf das unmögliche Projekt versteift, den naturgewollten Kampf ums Dasein aus der Welt zu schaffen. Daß viele Begabungen unbemerkt erliegen, ist eine elementare, begreifliche Tatsache. Dagegen beachte man die lange Liste der Bedeutenden, die sich aus Tiefständen des Daseins emporrangen, um zu erkennen, daß die überwundene Schwierigkeit doch zumeist bei der Begabung selbst liegen muß, das heißt, in der Auslese der Natur, die Sorgen und Mühsal aufbaut, um an ihnen Kräfte zu erproben. Vom armen Brillenschleifer Spinoza bis zu Béranger, der Hilfskellner war, welche Kette von Trostlosigkeit, aber auch von Triumph! Herschel, der Astronom, war zu arm, um ein Fernrohr zu kaufen, und gelangte eben durch diese Armutssorge zur Konstruktion seines Spiegelteleskops; – Faraday, der Sohn eines mittellosen Hufschmieds, schlug sich jahrelang als Buchbindergeselle durch; – Joule, der Mitbegründer der mechanischen Wärmetheorie, begann als Bierbrauer; – Kepler, der Entdecker der Planetengesetze, stammte aus einer verarmten Gastwirtsfamilie; – aus dem Kreise um Goethe war der von Nietzsche so hoch verehrte Jung-Stilling Schneiderlehrling gewesen, Eckermann, Goethes Intimus, Schweinehirt, Zelter ein Maurer. Lang könnten wir die Liste fortsetzen und noch länger, wenn wir sie nach rückwärts verfolgten bis zu Euripides, dessen Vater ein Schenkwirt, dessen Mutter Gemüsehändlerin war. Mancherlei Betrachtungen ließen sich daran knüpfen über »Aufstieg der Begabten« und auch über die Kehrseite der Sache. Denn man könnte, anscheinend paradox, die Frage aufstellen, ob denn der Aufstieg sehr vieler oder aller Begabten wirklich eine Kulturnotwendigkeit sei; ob es sich nicht vielmehr empfehle, eine mit Talenten durchsetzte Unterschicht, eine Humusschicht zu bewahren, als dauernden Nährboden für die blühenden Gewächse der oberen Lage.

Optimum und Maximum ist tatsächlich nicht dasselbe, und wir erfahren ja an anderer Stelle, daß Einstein selbst weit entfernt davon ist, diese beiden Superlative gleichzusetzen. Damals handelte es sich um das Bevölkerungsproblem, und in der Erörterung ließ er einfließen, daß wir einem alten Betrachtungsfehler unterliegen, wenn wir durchweg die Höchstzahl der auf der Erde vegetierenden Menschen für das Erstrebenswerte halten. Es scheint sogar, daß die Korrektur dieses Denkfehlers bereits auf dem Wege ist. Wir stehen am Anfang neugegründeter, sehr rühriger Organisationen und Verbände, die eine Minderung der Zahl propagieren, um der verkleinerten Menschenmenge das Optimum erreichbar zu machen.

Verlängert man die Linie dieser Erwägung, so gerät man allerdings an die unheimliche Frage, ob nicht auch für die Emporhebung der Talente ein Zuviel eintreten könnte, nicht bloß durch eine planmäßige Züchtung, sondern schon durch Begünstigung der großen Anzahl. Es wäre immerhin möglich, daß wir dabei den Schaden übersehen, nicht genügend würdigen, der dadurch der Unterschicht zugefügt wird; daß wir sie von Kräften entblößen, die nach der Ökonomie der Natur im Verborgenen bleiben und dort wirken sollen.

Die so umschriebene Befürchtung wird von Einstein nicht geteilt. So schroff er auch die Züchtung ablehnt, der Begünstigung redet er das Wort. Ich glaube, so sagte er, daß eine sinngemäß betriebene Pflege der Allgemeinheit nützt und das Unrecht am Einzelnen verhütet. In den großen Städten mit ihren an sich so reichen Bildungsmöglichkeiten wird dieses Unrecht seltener zu Tage treten; desto häufiger aber auf dem flachen Land. Sicher wächst dort so mancher Begabte auf, der, wenn rechtzeitig erkannt, bedeutend werden könnte; der aber mit seinen Talenten verkümmert, ja zugrunde geht, wenn das Prinzip der Auslese gar nicht bis in seine Kreise dringt.

Damit gelangen wir an den schwierigsten und gefährlichsten Punkt. Die Verantwortlichkeit pocht an die Tore der Gesellschaft und hämmert ihr die Pflicht ein, dem möglicherweise vorhandenen Talent kein Unrecht zuzufügen. Und von dieser Pflicht ist nur ein kleiner Schritt bis zu der Forderung, dem Talent alle Lebensmühsal abzunehmen; denn, so argumentiert die Moral: das Talent wird um so sicherer seiner Vollendung entgegenreifen, je weniger es sich mit der Sorge des Tages auseinanderzusetzen hat.

Aber diese moralisch so einleuchtende These wird empirisch niemals zu erweisen sein. Im Gegenteil haben wir Grund zu der Annahme, daß die Not, die Mutter der Erfindungen im Großen und Ganzen, auch beim Einzeltalent häufig genug als die Mutter seiner besten Hervorbringungen auftritt. Ein Goethe brauchte das gesicherte Wohlleben, ein Schiller, der nicht aus der Misere herauskam, der sich bis zur Don Carlos-Zeit noch nicht einmal einen Schreibtisch erschreiben konnte, brauchte die Qual zur Entfaltung. Jean Paul hat diese Segnung der Düsternis erkannt und sie ins Licht gerückt, als er in seinen Romanen die Armut verherrlichte. Und Hebbel folgt ihm auf diesem Wege mit der Ansage, es sei ein besserer Zustand, wenn dem Begabtesten das Notwendige versagt, als wenn es dem Unbegabten gewährt wird. Diese Gewährung muß aber oft genug eintreten, wenn das Prinzip der Auslese siegt. Denn unter hundert in Sichtung Auserlesenen wird sich durchschnittlich nur einer befinden, der noch in der Prüfung durch die Nachwelt mit dem Zeugnis der Auserwähltheit davon kommt. Die Nachwelt siebt nach ganz anderen Methoden, als ein Kollegium von Revisoren, das auf präparierte Fragen schlagkräftige Antworten erwartet.

Das ergibt eine schlimme Antinomie, aus der wir uns kaum herauszuwickeln vermögen. Das Pflichtgefühl findet für das Optimum nur den einen Ausdruck in der maximalen Hilfe und überhört die Einrede des Verstandes, daß die Natur für ihre Zweckmäßigkeiten auch rauhere Mittel in Bereitschaft hält; in ihrer eigenen selektiven Grausamkeit bewahrheitet sie oft genug den Spruch des Menander: »ho me dareis anthropos ou paideuetai« – sehr frei übersetzt: »das Sichabschinden gehört mit zur Erziehung der Menschen«. Wenn Einstein – mit gewissen Einschränkungen – der hilfreichen Auslese das Wort redet, so erkenne ich darin, wie in so vielem anderen, das Zeichen einer gütigen Menschenliebe, die sein Herz allen Relativitäten zum Trotz, als ein Absolutes erfüllt.


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