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Erziehung Selbsterziehung

1895

Jeder Jüngling mag von sich denken, er sei der Messias, aber er muß nicht Messias sagen, sondern nur Messias tun.

1896

Man müßte sein Ich nicht immer mit sich identifizieren, sondern wie eine Mutter ihr Kind behandeln.

*

Faß das Leben immer als Kunstwerk.

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Umschnalle dein Herz mit Schweigen.

1905

Wir brauchen nicht so fort zu leben, wie wir gestern gelebt haben. Macht Euch nur von dieser Anschauung los und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein.

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Wenn man zum Leben ja sagt und das Leben selber sagt zu einem nein, so muß man auch zu diesem Nein ja sagen.

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Man kann nur als Totschläger leben.

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Höher als alles Vielwissen stelle ich die stete Selbstkontrolle, die absolute Skepsis gegen sich selbst.

*

Jeden Tag seines Lebens eine feine, kleine Bemerkung einfangen – wäre schon genug für ein Leben.

1906

Nur im Fluß bleiben, nur nicht zur Spinne eines Gedankens werden.

*

Sei mit dir nie zufrieden, außer etwa episodisch, so daß deine Zufriedenheit nur dazu dient, dich zu neuer Unzufriedenheit zu stärken.

*

Ich schreibe der Gegenwart schön gebildeter Gegenstände einen großen Einfluß auf den Menschen zu. So sollten wir die Möbel unserer Kinderzimmer mit außerordentlicher Sorgfalt auswählen. Irgend ein schöner, schlichter, ehrwürdiger Schrank, auf den der Blick unsres Kindes von seinem Lager aus fällt, ja kunstvolle Modelle bedeutender Bauwerke, z.B. eine kleine Nachbildung der Peterskuppel, eines griechischen Tempels, einer modernen Eisenbrücke würden ihm zweifellos eine Ahnung von großem Stil geben, die es sein ganzes Leben hindurch nachspüren und weiterentwickeln würde.

1907

Ich lese von einer Spielzeugausstellung in Berlin. Und zwar einer Ausstellung von Dilettanten verfertigter Dinge, als da sind Dörfer aus Streichholzschachteln, rollendes Material aus Garnspulen, ein Haus aus einer Eierkiste und Zigarrenbrettchen usw. Mir lacht das Herz. Seit manchem Jahre schmähe ich das luxuriöse moderne Spielzeug, diese echte Aus- und Nachgeburt einer materialistischen Periode, – und nun erhebt endlich wieder das Spielzeug unserer Kindheit das bescheidene und phantasievolle Köpfchen. Man sieht den Geist wieder bei der Arbeit, nach und unter so viel ödem Bildungsphilistertum wieder den Geist und die Liebe.

*

Alle Erziehung, ja alle geistige Beeinflussung beruht vornehmlich auf Bestärken und Schwächen. Man kann niemanden zu etwas bringen, der nicht schon dunkel auf dem Wege dahin ist, und niemanden von etwas abbringen, der nicht schon geneigt ist, sich ihm zu entfremden. Der bedeutende Mensch ist ein Mensch, an dem viele andre sich klar werden. Er greift in ihr Unbewußtes und Unterbewußtes und stärkt dort das ihm Verwandte. Wenn Lichtenberg von seinem Aberglauben redet, so schwächt er damit die Mannhaftigkeit vieler; denn ihre heimliche Neigung zum Unkontrollierbaren fühlt sich durch einen solchen Mann ein wenig gerechtfertigt, die strenge Zucht scheint ein wenig im Werte sinken zu dürfen. Wenn er aber von einem geläuterten Spinozismus als der Religion der Zukunft spricht, wie fällt da sein Wort bei manchem wie ein Frühlingsregen auf Saatfelder. Wie stärkt er da unser Feinstes, Tiefstes, Geistigstes.

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Es gibt keinen strengeren Erzieher als den Ehrgeiz. Wobei freilich außer Betracht bleibt: wozu?

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Wer möchte die Furcht in seiner Erziehung entbehren?

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Jeder muß seinen Mann haben, der ihm über die Schulter sieht, und dieser wieder seinen und so fort. Das ist nur gut und billig; so allein kommt der Mensch vorwärts.

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Wir freien Geister von heute sind nicht mehr der Gefahr ausgesetzt, gekreuzigt oder verbrannt zu werden. Um so mehr will es der Anstand und die Solidarität, aufs neue Gefahren zu suchen und zu schaffen, und sollten es die der Selbstkreuzigung, der Selbstverbrennung sein.

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Übung ist alles, und insofern ist Genie Charakter.

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Sieh dir ein gut beschicktes Trabrennen an. Und du wirst merken, worauf's ankommt, auch bei dir.

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Zu einem andern Ende kommen wir nicht als zu dem: im Begonnenen unermüdlich weiter zu arbeiten, aber nicht in Verzweiflung und Selbstbetäubung, sondern indem wir jede Sekunde dieser Arbeit immer mehr durchseelen, immer innerlicher bejahen, immer entschiedener vergeistigen. Was denn schließlich auch unserer Hände Werk sich wunderlich wandeln machen wird, so daß, wenn einer etwa im Kriegshandwerk begann, er, wer weiß, als Kolonisator endet, oder als Kriegsmann irgend einer andern höheren Kriegsidee, als es die der bisherigen Kriege war.

*

Wenn wir bedenken, wieviel hunderttausend Jahre wir wohl alt sein mögen, werden wir geduldiger gegen das Tempo unserer heutigen Entwickelung werden. Die von uns heute so ungestüm begehrte edlere Zukunft unseres Geschlechtes wird sich vielleicht schon noch einmal verwirklichen, aber statt in Jahrhunderten erst in Jahrtausenden. Das ist freilich kein Trost für den Lebenden; aber der Lebende hat einen andern Trost: daß ihm für seine Person schon heute die Möglichkeit gegeben ist, sich selbst so edel zu verwirklichen, wie er nur kann. Die Insichvollendung des Menschen ist jederzeit und überall möglich; zuletzt bleibt doch diese Erkenntnis und was sie fruchtet, der einzige wahre Fortschritt.

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A. Zukünftige Ideale ziehen den Menschen davon ab, sich selbst als sein einziges Ideal, im ethischen Sinne, zu setzen. In dem Moment, wo jeder bei sich anfinge, wäre die schönste Zukunft vorweggenommen.

B. Ich will dir etwas sagen, Lieber: statt so zu theoretisieren, fange doch gleich bei dir selbst an. Auch dein Reden ist nämlich nur ein Umgehen deiner Pflicht. Bilde, Künstler, rede nicht.

*

Sich immer am Leben korrigieren.

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Es ist hart, aber es gibt nur einen Weg, als Kämpfer für das Echte zuletzt den Erfolg an sich zu fesseln: So lange zu schweigen, Geduld zu haben, Menschen und Dinge gehen zu lassen, bis man durch die Treue gegen sich selbst und die äußeren Umstände eines Tages ein Faktor geworden ist, mit dem gerechnet werden muß. Dann endlich mag man dem Zorn und der Liebe in sich nachgeben, wann und wo es auch sei. Dann erst hat es, sie rückhaltlos zu äußern, Sinn und Wert: Für einen selbst, für den Getroffenen, für den Verteidigten, für alle andern.

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Man soll auch seine Liebe und Leidenschaft noch mit kühlen Blicken unter sich sehen lernen. Man sei stolz darauf, wenn man die Welt nicht mit jener brünstigen Liebe mancher Mystiker liebt, die nichts ist als versetzte Erotik. Man gebe dem Weibe, was des Weibes, und Gott, was Gottes ist.

1908

Von sich zurückzutreten wie ein Maler von seinem Bilde – wer das vermöchte!

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Jeder von uns hat etwas Unbehauenes, Unerlöstes in sich, daran unaufhörlich zu arbeiten seine heimlichste Lebensaufgabe bleibt.

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Darin kann man Tolstoi unbedingt Recht geben: Was man Taugliches wird, wird man in der Regel trotz der Schule, nicht durch die Schule.

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Gute Erziehung – ein zweischneidig Schwert. Mancher wird nie ein wirklicher Mensch, ein Mensch von Umfang, infolge seiner guten Erziehung.

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Suche allem nach Möglichkeit eine Folge zu geben. Nichts macht das Leben ärmer als vieles anfangen und nichts vollenden.

Aber ebenso gewiß ist, daß wenn auch kein Schuß ins Schwarze trifft, unzählige es wie ein Sternenhimmel umschreiben.

1909

Es ist der Schritt, der erobert. ›En marche‹ – ist eines der schönsten Worte der Welt.

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Siehe eine Sanduhr: Da läßt sich nichts durch Rütteln und Schütteln erreichen, du mußt geduldig warten, bis der Sand, Körnlein um Körnlein, aus dem einen Trichter in den andern gelaufen ist.

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Was habe ich immer vor mir? Meine Hände. Darum möchte ich eine ›Erziehung zum Nachdenken‹ geschrieben sehen unter Zugrundelegung der Anschauung der Menschenhand.

1910

Die beste Erziehungsmethode für ein Kind ist, ihm eine gute Mutter zu verschaffen.

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Die kleinen Schwächen legt man am schwersten ab, so wie man der Moskitos weit schwerer Herr wird als des Skorpions oder der Schlange. Und so ist es recht eigentlich das Kleine, was den Fortschritt der Menschheit aufhält: Gedankenlosigkeit, Unaufmerksamkeit, Trägheit, Lauheit.

1911

Man möchte sich wie Bruder Bernardo auf irgend einem Marktplatz dem Gespött der Welt aussetzen, um gleich ihm ein jegliches um Christi Liebe willen geduldig und heiter zu ertragen – und leidet vielleicht schon darunter, wenn die Schaffnerin, die das Zimmer aufräumt, vergißt, guten Morgen zu wünschen, oder wenn der Türhüter des Hauses schlecht geschlafen hat.

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Du sollst nicht zu sein begehren, was du nicht bist, sondern nur einfach etwas von deiner Pflicht zu tun versuchen, Tag um Tag.

Denn es ist viel schwerer, einen Tag in wahrhafter Aufmerksamkeit und Wachsamkeit von Anfang bis Ende zu verleben, als ein Jahr in großen Absichten und hochfliegenden Plänen.

*

Jedem Menschen sein Recht lassen und wenn es uns noch so sehr als Unrecht erscheint. Den Kampf gegen dies sein Unrecht deshalb nicht aufgeben, aber ihn nicht außer sich führen, gegen jenen, sondern in sich, gegen sich, gegen das in sich, was, wenn auch noch so verborgen, jenem Unrecht entspricht. Oder könnten wir leugnen, daß wir innerlich an allem noch irgendwie teilhaben, was an Bösem außer uns geschieht? Daß in uns von dem z.B., was Millionen in Kriegsbegeisterung versetzt und zu unverantwortlichen Handlungen verführt, noch genug lebt, um unsere ganze Wachsamkeit und Tapferkeit gegen uns selbst aufzurufen, und sei es nur ein gewisses Sichfreuen bei dem ›Sieg‹ des schwächeren Gegners oder eine ›gerechte Empörung‹ über dies und das, was das blutige Handwerk nach sich zieht? Wir möchten allzugern wahrhaben, es sei menschlich schöner, mit dem Schwächeren sich zu freuen, als die gleichmäßige Trauer über Siegende wie Besiegte eine Quelle neuer Gelöbnisse vermehrter Anstrengung in uns selber werden zu lassen; es sei nicht leichter, empört über Grausamkeiten zu sein, als die Blitze der Entrüstung auf und in uns selbst abzuleiten, auf das Triebwesen, dessen feinere Wildheiten auch in uns noch nicht völlig gebändigt, noch nicht genug in rein dem vergeistigten Ich dienenden Kräften leben.

*

A. Sie sollten gerade da, wo Sie besondere Antipathie empfinden, doppelt streng gegen sich selbst vorgehen, nicht aber Ihrer Antipathie nachlaufen, wie der Student seiner Flamme.

B. Wie? Ich sollte mich auf meine Instinkte nicht mehr verlassen dürfen?

A. Ja und nein. Schauen Sie Ihren Instinkten zu wie Ihren Hunden, mit denen Sie über Land gehen. Aber behalten Sie sich stets vor, sie zurückzupfeifen, und pfeifen Sie gelegentlich auch einmal ohne Grund, einfach weil Sie der Herr sind und die Instinkte Ihre Diener.

*

›Daß du dann niemals mehr Wein anrührtest!‹ rief ein Knabe seinem Vater zu, der mit ihm die Wendeltreppe eines Turms emporstieg. ›Welche Selbstüberwindung! Welche – Entsagung!‹

Der Vater nickte lächelnd und wies dem Sohne die Aussicht, die das eben erreichte Treppenfenster erlaubte. Nachdem sie diese eine Weile bewundernd genossen, stiegen sie weiter und gelangten zum nächsten. Welche Entsagung! rief da der Vater verstellt. Hier haben wir nicht mehr den Blick von vorhin. Wie schön war es, auf all die nahen Dächer hinabzuschaun; da störte noch keine Landschaft wie jetzt ...

›– Störte?‹ fragte der Sohn –

... und sind wir erst droben, so werden wir auch diesem Rundbild entsagen müssen; denn droben, du weißt ja, schaut man bei hellen Tagen das Meer ... Des Jungen Augen leuchteten auf und dann, der Schelmerei gewahr, maßen sie lange und nachdenklich den Sprecher ... bis – hoch, ein Silberstreif – das Meer am Horizont erschien und sie mit Tränen füllte. (Denn wie liebte schon dieser Knabe das Meer!)

*

Sich bewußt ausweiten. Von Gegensatz zu Gegensatz gehen. Vom Ersten bis zum Letzten und umgekehrt. Keinen und nichts vergessen, übersehen, gering achten.

*

Wir sind allzumal träge; daraus entspringen die meisten Übel. In jedem schlägt das Gewissen und regt sich das Wissen, wie es im Kleinen und Großen sein müßte und wie es nicht ist. Aber die Faulheit, die Vergeßlichkeit, die Gewohnheit lassen es nicht dazu kommen, daß wir aus Gedanken zu Taten hervorschreiten. Wir kennen manches große innerliche Mittel, aber man sollte auch kleinere, mehr äußerliche schaffen. Alle, die gut sein möchten, aber es nicht so sein können, wie sie möchten, weil sie sich zu schwach dazu fühlen, sollten sich zusammentun und eine Hilfsbrüderschaft über sich setzen, die ihr lebendiges Gewissen darstellt. Eine Gruppe, der sie selbst das Recht einräumten, ja die Pflicht auferlegten, sie immer wieder wachzurütteln und mit dem problematischen Willensmaterial, das in ihnen ist, zu arbeiten – so wie ein treuer Diener, der uns zum Sonnenaufgang aus dem Bett rüttelt, so wie ein Staat, der mit unseren Steuern ›arbeitet‹. Eine Brockensammlung guter Willensregungen, sozusagen, das gälte es für diese Gruppe Tag für Tag. Des Menschen Wesen ist Schwäche; kann er nicht allein in die Höhe wachsen, so soll er sich an Stangen und Spaliere binden oder binden lassen. Ehre jedem, der statt auf dem Stroh zu verkümmern, zur Krücke greift, Ehre jedem tapferen Invaliden.

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Ein Hauptzug aller Pädagogik: Unbemerkt führen. Viele Menschen sind durchaus fähig und gewillt, der Wahrheit zu folgen, aber sie darf ihnen nicht geradezu gesagt, vor Augen gerückt werden. Sie verlieren in diesem letzteren Falle jede Freude an der Wahrheit; denn ihre Eigenliebe ist noch stärker als ihre Liebe zum Geiste, als ihr Geist, und so gefällt ihnen nur, wer und was sie – schont.

Und dann ist da noch etwas: Sie wollen mit Recht ihren Wahrheitsbesitz erarbeiten.

1912

Übe dich an dem Worte: Mit der einen Hand wird gegeben, mit der anderen genommen. Alle Erziehung verläuft unter diesem Pendelgesetz. Alles Erzogensein besteht in der endlich errungenen inneren Ruhe dem einen wie dem andern Schicksal gegenüber und einer Liebe und einem Vertrauen, die höher sind als alle Vernunft zwischen Geburt und Tod.

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Wer am Menschen nicht scheitern will, trage den unerschütterlichen Entschluß des Durch-ihn-lernen-Wollens wie einen Schild vor sich her.

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Wie mancher hat es schon ausgesprochen, daß Heldentum ebenso leichter sein kann als langsame, geduldige, unauffällige Selbsterziehung, wie eine Tat leichter sein kann als eine Handlung, ein Gefühl leichter als ein Empfinden.

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Habe die Gabe der Unbestechlichkeit. So sehr auch Liebe für dich Partei ergreifen mag: dein Sein gilt, nicht dein Schein.

1913

Sieh an, wie ein Zweirad in Bewegung und Fahrt gesetzt wird. Wenn du deinen Willen so in Bewegung und Fahrt zu setzen vermagst, so wirst du nach einigen Schwankungen wie ein Meister im Sattel sitzen.


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