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Kritik der Zeit

1896

Das einzige, was uns in die Zukunft hineinhelfen mag, sind einzelne glückliche Geburten; ein tragischer Trost für einen allgemeinen Mißwachs.

1904

Lustspielfigur. Letzte Menschen (Erfüllung des historischen Zeitalters). Professor, der eine Geschichte des Wörtchens ›und‹ schreibt. Der Historiker des Wörtchens ›und‹.

1905

Muß nicht der Tod etwas sein, ohne das der Mensch nicht leben möchte? Ohne das er es nicht aushielte zu leben? Nein, ich will nicht unwillig sterben, ich will freudig und dankbar sterben, dankbar für die Möglichkeit, mich denen anreihen zu dürfen, welche als Opfer gefallen sind, um mit ihnen und für sie gegen die Lebendigen zu protestieren, welche die Erde zu einem schlechteren und unanständigeren Aufenthalt machen als das Grab.

1906

Der Tag ist abgegriffen, laßt uns in den Morgen zurücksteigen.

*

Welcher Mensch kann das Große und Echte lieben, ohne das Kleine und Unechte zu hassen? Antwort: Der ›moderne‹ Mensch.

*

Das Resignieren der heutigen Menschen ist bereits eine Gewohnheit geworden wie Essen, Trinken und Schlafen; und deshalb ist es so gemein. Was für ein träges, ungeistiges Tier ist doch noch der Mensch und wie sehr bedarf es großer und größter Schrecken und Trübsale, damit er nicht immer wieder in Schlaf versinke!

*

Man könnte Kulturperioden von ungeheurer Größe träumen: Aber, so wie die Masse der Menschen bewillt und begabt ist, wird sie zur Weisheit wohl erst durch Müdigkeit kommen, erst dann, wenn es sich der Weisheit nicht mehr verlohnt.

Oder sollte sie jemals (wieder) einsehen, daß Größe nicht so nebenbei im Weiterabwickeln täglicher Geschäfte und Notdürfte erreicht werden kann? Frage doch herum, wer sich heut noch für solche Riesenorganisationen, bei deren Heraufführung ganze Generationen keine Rolle spielen dürften, erwärmen möchte? Der eine wird dich verständnislos anblicken, der andere seine Geschäfte, den täglichen Zwang seines Lebens vorschützen, der dritte wird gerade verliebt sein, der vierte ist Künstler und hat keine Zeit, der sechste glaubt nicht an deinen Traum, der siebente sagt: er interessiere sich lediglich für sich selbst und seine eigene Vervollkommenung, in ihm könne Gott allein verwirklicht werden, es gäbe kein Ziel für ›die Menschheit‹, nur sein Ziel und darum sei er für keine Utopie, als welche den Menschen nur von sich und seiner innersten eigentlichsten Aufgabe, sich in sich selbst zu vollenden, weglocken könne. Und dieser siebente hat vielleicht Recht. Jedenfalls solange Recht, bis ihm ein höheres Recht, das heißt eine höhere Macht das Heft aus der Hand nimmt. Nämlich der Despot, der zugleich Genie, das Genie, das zugleich Despot ist. Der König Platons.

Der einzige Baumeister, den es noch geben kann. Wo ist er? Wo kann er kommen? Der letzte Ort, wo er noch möglich gewesen wäre, war Rußland. Aber mit der Unfähigkeit der dort Regierenden hat der Mensch eine seiner außerordentlichsten Möglichkeiten verloren. Denn freiwillig wird kein Volk mehr zur Kastenbildung zurückkehren; dafür ist es das Ungetüm mit Millionen Köpfen, das nur Sinn für sich und seine nahen Interessen, das keinen Ehrgeiz und keine Schöpfersehnsucht hat. Das Wirtschaftliche tritt mit ihm in sein Recht. Das Ideal eines bequemen Erdenlebens anstelle jeder Ambition, etwas Höheres aus ihm zu machen, aus ihm, das als solches doch nur Stoff ist, Material, aber kein Ziel. Der Mensch sinkt damit auf die Stufe der Tierheit zurück, während er sich zum Bürger eines irdischen Himmelreichs zu erheben glaubt. Das Volk will endlich nur noch sich selbst allein. Eine Herde, kein Hirt. Damit dankt der Mensch als Schöpfer ab. Der Geist wird über diese endlose Horde noch ein letztes Abendrot ergießen, dann wird auch er dumpf und verstört die Höhlen der Einzelseele aufsuchen und eine Gemeinde von Mystikern und Sektierern erwecken. Eine Anzahl wunderbarer Individuen werden dann vielleicht noch über die Erde wandeln: Die großen Verzichter und Durchschauer des Traumes Mensch, einsame Halbgötter, inmitten des Fiaskos des Versuchs der Erde, im Menschen zum Kunstwerk zu werden. Ja, vielleicht werden diese Menschen, die wie riesenhafte Heilige dann das Fazit aller irdischen Historie in sich tragen, die größten und erschütterndsten Menschen sein, die je gelebt haben. Aber kein Tempel ist um sie – auf unendlichen Trümmern schlagen sie ihre Harfen der auch sie einst verschlingenden Nacht entgegen.

1907

Ich glaube, wir haben alle als Erbe unserer Zeit eine schlimme Laxheit mitbekommen. Das Verständnis für unerbittliche Forderungen ist mehr und minder gesunken. Beweist das nicht, daß der Mensch die Vorstellung eines gerechten Gerichts nach dem Tode (vollstrecke sich das nun selbst mit Naturnotwendigkeit oder werde es vollstreckt) – braucht? Braucht – und sei es nur: um nicht unter seiner eigenen Möglichkeit zu bleiben? Wird man wirklich seine Persönlichkeit mit solcher Inbrunst ausbilden, wenn man sie nicht – für eine unbekannte Zukunft ausbilden zu müssen meint? Was sind alle Appelle der Erde gegen jenen einen schauerlichen Appell der Ewigkeit?

Also Furcht, wird mancher sagen. Nun ja, auch das. Wie wäre Großes entstanden, ohne dies Ingrediens? Und wäre es etwas Schimpfliches, sich vor dem Fürchterlichen – und ist das Geheimnis der Welt, des Lebens nicht fürchterlich? – zu fürchten? Man führt heute die ›Entstehung der Religion‹ (welch ein Ausdruck!) vielfach auf Furcht zurück. Nun, ihr armseligen Psychologen: nicht diese Furcht war das Trübselige, sondern euer Mangel an Furcht ist es, euer Mangel an Gefühl, Phantasie, Überlegenheit. Jawohl, Überlegenheit. Ich kenne nichts Untergeordneteres als den Menschen, dem Wissenschaft irgend etwas erklärt. Der Wissenschaft nicht bloß als eine gewaltige und fruchtbare Übung des Menschengeistes betrachtet, nein: als etwas, das ihm wirkliche Wesensaufschlüsse über Welt und Leben gibt. Denn dies etwa, daß alles nach denselben gleichen Gesetzen vor sich gehe, ist doch kein Wesensaufschluß! Oder den Bau des Menschen etwa bis auf seinen letzten Zellenbaustein beschrieben haben, ist doch noch kein Wesensaufschluß! Das ist Handwerkerei, eine Sache mit goldenem Boden, ganz gewiß; aber Joseph war Tischler, nicht Jesus. Was weiß Joseph, der Handwerker, vom Geist und Wesen der Dinge?

*

›Geist‹ ist heute Marktware, wer redet noch davon? Ein wirklich eigener Gedanke aber ist immer noch so selten wie ein Goldstück im Rinnstein.

1908

Wir müssen aus der wissenschaftlichen Idylle endlich wieder ins Große kommen. Wieder Atem holen lernen, das ist es. Das Netz, das die ›Geschichte‹, die ›Weltgeschichte‹ über uns geworfen, als Netz erkennen und seine Maschen so weit machen, daß wir jeden Augenblick frei sein können, den wir frei sein wollen.

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Machen wir uns doch von der Tyrannei der Geschichte frei. Ich sage nicht: von der Geschichte, ich sage: von der Tyrannei der Geschichte.

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Die Zärtlichkeit, womit sich der moderne Mensch behandelt, ist erstaunlich. Was alles ist nicht ›für sein Innenleben wichtig‹! Man liegt heute auf den Knien vor diesem seinem ›Innenleben‹. Aber es ist nur eine andre Art Mops oder Affenpintscher, wofür nun die ganze Welt als Kißchen und Zuckerchen gerade gut genug ist.

*

Unsere Zeit, welche die interessanten ›Aberglauben‹ früherer Zeitalter selbstbewußt entwertet, ist selbst nur weniger interessant, keineswegs weniger abergläubisch, und wird einst ungleich anderer Nachsicht der Betrachtung bedürfen, wenn spätere Geschlechter eingesehen haben werden, daß dem Menschen, unbeschadet aller begreiflichen und jeweils sogar notwendigen Vordergrundsoptiken, als letzte Hintergrundstimmung doch nur Eines ziemt: Bei Gott kein Ding für unmöglich zu halten.

1909

Optik! Optik! Wenn ihr euren ganzen ›heutigen‹ Geist nur einmal von oben sehn könntet. Eure Wissenschaft, eure Kunst, euer tägliches Leben! Nicht um dies alles gering schätzen, o nein, nichts weniger als gering, sondern um es richtig schätzen zu lernen. Eine Menschheit, die zu sich selbst und ihrem Treiben noch keine wirkliche Distanz gewonnen hat, ist unreif, so erwachsen sie sich auch sonst gebärden mag.

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In und trotz aller Geschäftigkeit – wieviel Verschlafenheit, wieviel Verträumtheit! Das wacht oft ein ganzes Leben lang nicht auf. Rüttelst du aber zu unsanft, so magst du leicht einen Stoß vor die Brust bekommen, wie von einem Schlaftrunkenen, den man vorzeitig stört. Tröste dich mit diesem ›vorzeitig‹. Und wer nicht aufstehen will, kann es wohl auch noch nicht, muß wohl noch – schlafen.

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Hüte dich, heute zu sterben! Sonst wirst du unvermeidlich Gegenstand einer – Trauerfeier. Du bist vielleicht dein ganzes Leben dem feiernden Volke aus dem Wege gegangen; stirbst du zur Unzeit, das heißt heute, so hilft dir kein Todesgott vor dem endlichen ›Theater über Dir‹, an dem der Philister sich sättigen muß, soll er von dir überhaupt etwas haben.

1910

Man kann nicht bescheidener sein als der ›gute Europäer‹, der vor einem Universum voll Sternen, den tadellosen Zylinderhut seiner Wissenschaft in der Hand, ein Bild weltmännischer Reserve hochachtungsvoll und ergebenst verbleibt.

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Der moderne Mensch ›läuft‹ zu leicht ›heiß‹. Ihm fehlt zu sehr das Öl der Liebe.

1911

Man muß die Gegenwart von ihrer Wissenschaft reden hören, um zu wissen, was ein Parvenü ist.

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Es gibt wenig Groteskeres als diese Ehe von: Ich weiß, daß ich nichts bin und Ich befinde über alles – in der Riesen-Zwerg-Brust des aufgeklärten, des ›guten‹ Europäers. ›Ein Irrtum‹ wird erwidert. ›Wir befinden über keine letzten Dinge, wir lassen sie einfach auf sich beruhen, als etwas menschlicher Erkenntnis nicht Zugängliches. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß! – sollte das nicht ein männlicher, ja ein heldischer Wahlspruch sein? Genug, er ist unser Wahlspruch, und er deckt sich mit dem des Peer Gynt: Jeg er mig selv nok‹. (Ich bin mir selbst genug.)

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Es wäre außerordentlich merkwürdig, daß so viele selbst der Geistigsten weit unter dem Niveau leben, das der Geist auf Erden schon einmal erreicht und aufgestellt hat, – wenn nicht jede Zeit ihre eigene Aufgabe hätte und die heute verkörperten Seelen eben durch die Entwickelung dazu bestimmt wären, sich gewissen Erkenntnissen ebenso entschieden zu verschließen wie andern vorbehaltlos Tür und Tor offen zu halten.

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Es gibt ein Wort aus der Stimmung des Jahrhundertanfangs: ›Man darf jetzt schon wieder – nun z.B. von – Gott sprechen.‹

›Man darf jetzt schon wieder‹ – das Siegel einer ›großen‹, ›freien‹ Zeit.

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Für jeden Menschen, sagt Goethe, kommt der Zeitpunkt, von dem an er wieder ›ruiniert‹ werden muß. So auch: für jede Kulturperiode. Die unsrige hat diesen Zeitpunkt bereits überschritten. Sie kann trotz allem, was dagegen einzuwenden ist, in einem gewissen sehr hohen Sinne nicht mehr ein ausschließliches Interesse beanspruchen. Das Hauptaugenmerk richtet sich über ihren mehr oder minder glänzenden Abklang hinweg auf den folgenden Abschnitt, dessen Aufbau, dessen Aufgaben. Ihr bleibt noch vieles zu tun; freilich aber auch dies: sich möglichst unmißverständlich und allseitig ad absurdum zu führen.


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