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Erster Teil


 

Erstes Kapitel

Ostwind, Wind aus dem Osten, ein mächtiger Hochdruck über dem ganzen Kontinent. Schon zwei Juni-Wochen hielt es an. Die alte Schlechtwetterhexe Europa strahlte in strammer Wolkenlosigkeit. Sie tat, als wäre sie jung und gesund wie am fünften Schöpfungstag, als wäre sie unberührt von dem Geschöpf des sechsten Schöpfungstages, unvergiftet von den Dünsten seiner Großhirnrinde, unverseucht von den Bazillen seiner Gier. Als wäre nichts geschehn, so tat die Dame Europa, und rollte frisch und naiv dahin, mit reinem Atem, auf ihrem kleinen Platz auf der großen Kugel.

Aber was für eine Figur sie hat, die gute Alte, auch beim besten Wetter! Ohne Grazie spreizt sie ihre drei Beine ins Mittelmeer, doch sie sind schmutzig geblieben trotz des klassischen Dauerbades. Plump ist ihr Leib und man kann nicht sehn, was Bauch ist und was Brust ist. Einst war Frankreich ihr süßer Bauch, Deutschland ihr bitteres Herz, Rußland ihr geheimnisvoller großer Arsch, zusammengewachsen mit Asien. Jetzt sind die Linien verwischt, viele politische Fettfalten laufen wirr über das welke Fleisch, überallhin und nirgendwohin, du kannst nicht mehr erkennen, wo diese Dame atmet und wo sie verdaut. Mit ihrem skandinavischen Fangarm klammert sie sich ans Eis des Nordpols, mit ihrem englischen Fangarm verkrallt sie sich im Ozean: wo aber ist ihr Kopf, ihre Augen, zu schauen, und ihre Ohren, zu hören? Wer weiß vielleicht ins Meer gestürzt, seit Äonen, untergegangen, dahin.

Gut erhalten ist ihr Schamhügel, die Alpen, wenigstens dort, wo noch keine Fremdenzentralen angesiedelt sind. Dort gibt es noch Landschaften, darin das Fleisch der alten europäischen Natur noch lebt. Dort lagert noch in versteckten Seitentälern jene körperliche Urhülle der Natur, darin der Mensch noch atmen kann ohne das Asthma des Verstandes, atmen kann ohne das Asthma der Ideen und Gegenideen. Es ist der Rest jener lebendigen Urhülle der Natur, die einst den ganzen Ball umspannte und ihn bewahrte vor der Nacktheit im All. In versteckten Seitentälern, über dem Boden der Erde, hoffnungsvoll dahinkeimend, ein geheimnisvoll-heidnischer Rest jener Urhülle der Natur, lebendiger Raum, dort ist es noch zu spüren. So auch im Tal der Glonn.

Die Glonn liegt am Nordhang der bayrischen Alpen, in einem kleinen südlichen Seitental des Tegernseer Tals, zwei Wegstunden vom See, zwei Wegstunden von der nächsten Poststation und Fremdenstation. Die Glonn besteht aus drei Höfen: Zum Krallen, Zum Sennen, Zum Lori. Beim Krallen und beim Sennen wohnen eingesessene Kleinbauern, sechs bis zehn Milchkühe stark, der Lori ist seit fünfundzwanzig Jahren in den Besitz norddeutscher Städter übergegangen. Er hat seinen alten Hausnamen allmählich verloren und ist jetzt fast nur noch unter dem Namen seiner städtischen Bewohner bekannt, als Hersehof. Er liegt ein wenig abseits vom Krallen und vom Sennen, am tiefsten bergwärts in der Glonn. Nach Süden ist dann diese kleine Landschaft zu Ende, ein paar steile Bergwiesen noch, danach Wald und Latschen und Geröll und Fels, meist im Schnee oder im Reif oder im Nebel, wenn nicht gerade ein kontinentaler Hochdruck auch bis hierher gedrungen ist.

Dies ist Lea Herses Heimat. Oder, wie die Schulkinder ihre ersten Liebesbriefe adressieren: Lea Herse, Hersehof, Glonn, Alpen, Europa, Erde, Welt.

 

Sie trat aus dem Haus und pfiff ihrem Hund. In ihrer Jackentasche kollerte ein dickes Stück Schinken, frisch heruntergesäbelt, ohne Einwickelpapier, gegen einen alten Militärrevolver, der mit sechs Schüssen geladen war.

Der Wolfshund Maffa, ein Greis von vierzehn Hundejahren, lag auf der andern Seite des Hersehofs in der Mittagsonne. Er überhörte mürrisch den Pfiff, der mit einem kleinen Echo aus dem Berg zu ihm drang. Um diese Stunde pfiff man ihm nicht, es war die Stunde der Reste-Fresserei, Maffas großer Leidenschaft, vollzogen an den Katzenschüsseln, am Pferdebottich, am Hühnertrog. Auf die eigene Schale mit Reis und Kalbsknochen konnte ein alter Herse-Hund verzichten, aber die Reste der andern Herse-Tiere mußte er haben, was es auch war, rohe Kleie, alte Fischköpfe, verfaulte Rübenstrunke, er hätte sich ohne dieses Zeug den ganzen Tag über so befangen gefühlt wie ein Städter, der seine Tageszeitung nicht gefressen hat.

Erst nach dem fünften Pfiff gab er es auf. Er stellte sich gähnend hoch und warf einen verzweifelten Blick auf den Trog, der noch immer von dreißig Hühnern umstellt war. Dann schlenkerte er verdrossen zu seiner jungen Herrin und verdrossen hinter ihr her: die Herse-Wiese entlang zum oberen Herse-Gatter, durch das obere Gatter zur Mooswiese, über die Mooswiese hinauf zum Herse-Wald, der außerhalb der Umzäunung gelegen war.

Kurz vor dem Waldrand, unter dem alten Kruzifix auf der Mooswiese, lag Terese Nüll, die frisch importierte Kusine aus der Stadt. Lea sah den farbenprächtigen Fleck schon vom Gatter aus. Sie ärgerte sich schon von weitem über die knallige Hingegossenheit, mit der sich ihre Kusine in die Landschaft drapiert hatte. Es war die übertriebene Natürlichkeit, mit der sich alle Städter der Natur entgegenstreckten, ohne zu fühlen, daß diese Aufdringlichkeit der Natur unangenehm war: aber daß auch Terese Nüll den Takt der Landschaft verfehlte, war besonders schlimm.

War es nicht zum Heulen, daß diese Schwärmerin im ladenblauen Leinen von morgen ab den Hersehof verwalten sollte? Das also war die Herrin über Leas Haus und Land und Getier für Monate, für Jahre vielleicht? Es war zum Heulen, aber es gab kein Zurück mehr, die große Expedition stand startbereit, nur keine Schwachheiten am Start. Es war ja ein Glück, daß Terese Nüll gerade frei war und die Verwaltung des Hofs auf unbestimmte Zeit übernehmen konnte.

Lea schob sich freundlich an die Hingegossene heran.

»Schöner Tag, was?«

»Märchenhaft.«

Terese wälzte sich auf die Seite und blinzelte verzückt zu ihrer Kusine empor. Sie war einunddreißig, fünf Jahre älter als Lea. An Lebenserfahrung dünkte sie sich tausend Jahre älter als Lea. Die wußte überhaupt nichts vom Leben außerhalb der Glonn. Die war durch die Zurückgezogenheit ihrer Mutter fast nie in die Stadt oder unter die Menschen gekommen. Tante Daniela hatte sich an ihrem Kind versündigt, das stand bei der jüngeren Generation der Familie fest. Lea galt als ein wenig zurückgeblieben bei ihren städtischen Vettern und Basen.

Trotzdem fühlten sie alle, wenn sie zu kurzem Besuch in die Glonn kamen, eine seltsame Neugier nach Leas Dingen, während Lea nicht im geringsten neugierig war nach ihren städtischen Dingen. So auch jetzt. Während Lea neben Terese Halt machte und ruhig über sie hinweg ins Tal sah, musterte Terese interessiert die Toilette zu ihren Häupten.

Warum hatte sich Lea nach dem Mittagessen umgezogen, obwohl kein Besuch zu erwarten war? Das hatte sie von ihrer Mutter geerbt, das kannte man. Tante Danielas fünfmaliger Umzug pro Tag, auch wenn jahrelang kein Besuch im Hersehof empfangen wurde, war in der Familie sprichwörtlich geworden: Stallhose, Reitkleid, Stallhose, Teekleid, Stallhose, Abendkleid. Und warum gerade dieses blendende Weiß, zehn Tage nach dem Begräbnis der Mutter? Extra? Echt »hersisch«! Mißtrauisch blickte Terese auf die champagnerfarbenen Strümpfe und sah sie hoch oben in einer champagnerfarbenen Schlupfhose verschwinden.

»Warum so elegant, Leachen?«

»Wieso? Mein Tenniskleid vom vorigen Jahr.«

»Wohin damit?«

»In den Wald, Maffa totschießen.«

»Im Ernst?«

Terese setzte sich mit einem Ruck hoch.

»Hab ichs Dir noch nicht erzählt?«, fragte Lea kühl.

Sie wußte ganz genau, daß sie es Terese noch nicht erzählt hatte. Alle Dinge, die mit ihrer großen Expedition zusammenhingen, behielt sie bis zur letzten Minute für sich.

»Der Krallenpeter hat doch schon gestern das Grab gegraben, ganz hoch oben, bei der Grenztanne, es ist alles bereit.«

Terese starrte mit entsetzten, blauen Glotzaugen auf Maffa, der sich neben seiner Herrin auf die Hinterhand gesetzt hatte. »Und Du mußt ihn selbst erschießen? Steht das im Testament?« Sie witterte überall eine Apartität Tante Danielas.

»Du bist ja verrückt«, sagte Lea. »Im Testament stehn andere Dinge, keine solchen Kinkerlitzchen, die Du glaubst.«

»Bitte, laß es, Leachen, laß ihn mir, ich will ihn gut pflegen, den armen Kerl.«

»Ach was! Daß Du ihn gut pflegen willst, glaub ich Dir. Er würde trotzdem den ganzen Tag am Gatter sitzen und nach mir heulen. Er ist seit seiner Geburt bei mir … Besser so, Maffa, was?«

Maffa wedelte freudig mit dem Schwanz, dann lugte er wieder gespannt ins Tal. Schon verschwammen vor seinen Augen die Linien der Landschaft, doch er konnte noch jene Stelle dort unten ahnen, wo sich das Hühnervolk um den Trog drängte. Er sog nervös die Luft auf, aber er bekam nichts in die Nase. In jungen Jahren hätte er bis hierher gewittert, ob es dort unten um Fleischreste oder um Fischreste ging, jetzt bekam er nichts mehr in die Nase. Nur ganz schwach den Dunst seiner nahen Herrin, aber das war keine Neuigkeit für ihn, das war sein Lebenselement wie Luft, Wasser, Erde.

»Ja, ja«, sagte Lea, »das Grab ist ein wenig zu klein geraten, weil so dicke Wurzeln kamen, das ist dumm, ich muß ihn zusammenrollen«.

Terese hielt sich die Ohren zu, entsetzt über soviel Roheit, und kreischte auf, als hörte sie schon den Schuß. »Schrecklich, schrecklich!«

»Na für Dich doch nicht, Du blödes Huhn!«

»Bitte nicht in meiner Nähe!«

»Keine Angst! Du merkst nichts davon. Zum Tee bin ich zurück … Komm, Maffa, komm!«

Sie schritt weiter, empor zum Wald, Maffa hinterher.

Das Loch, das der Krallenpeter ausgeworfen hatte, war wirklich zu klein. Es enttäuschte, wie jedes offene Grab enttäuscht. Ein Grab sollte keine gewöhnliche Grube sein, dachte sie, ein Grab sollte tief hinunter reichen, tief bis zum Mittelpunkt der Erde hinunter, auch wenn es nur ein ordinäres kleines Hundegrab war. Aber das Begräbnis kam später. Vorerst mußte sie sich ganz darauf einstellen, Maffa auf die beste Weise zu töten. Sie hatte ihren festen Plan.

Zuerst gab sie ihm das dicke Stück Schinken aus der Jackentasche. Sie warf es ihm in hohem Bogen zu, fang, Maffa, fang. Aber Maffa war kein gewandter Fänger mehr, er ließ das kostbare Stück auf den Boden klatschen, ehe er sich langsam und erstaunt darüber hermachte. Dann wollte sie ihn ermüden, indem sie ihm kleine Äste schleuderte, bring, Maffa, bring. Aber Maffa war ohne Lust beim Spiel, er schleppte die interessantesten Schleudergeschosse nur aus altem Anstand zurück. Schließlich legte sie sich neben die frische Grube aufs Laub und simulierte Müdigkeit und Mittagsschlaf. Vielleicht half das, vielleicht schlief er so am schnellsten ein. Denn sie hatte sich vorgenommen, ihn im Schlaf zu erschießen. Wenn er ganz in sich selbst hineingerollt war, wenn die Welt bereits von ihm gegangen war, ein kurzer Knall zwischen Schlaf und Tod, das war das beste.

Tatsächlich wirkte ihr Trick. Er legte sich friedlich neben sie und schien einschlafen zu wollen. Sie kratzte ihn sanft an seiner Lieblings-Kratzstelle im Kreuz. Doch es dauerte noch eine Ewigkeit, bis er nicht mehr wedelte und nicht mehr blinzelte, bis er ganz in sich selbst hineingerollt war, bis der Revolver gezogen werden konnte.

 

Das Vorspiel zu dieser kleinen Hunde-Tragödie im Herse-Wald lag weit zurück. Es war gespielt worden am 29. September 1901, die Szene war die Gruttenhütte im Kaisergebirg gewesen, die Spieler Leas Mutter und Leas Vater.

Frau Daniela Herse hatte damals noch Daniela Oldenkott gehießen und die Durchquerung des Kaisergebirgs über die Steinerne Rinne und das Ellmauer Tor hatte damals noch als schwierige alpine Tour gegolten. Tatsächlich war es für ein fünfundzwanzigjähriges Ding von der Wasserkante eine Leistung gewesen, diese Tour auf Daniela Oldenkotts Art durchzuführen: ohne Training, ohne Führer, allein. Aber der Hauptspaß war gewesen, daß die Eltern Oldenkott der Schlag getroffen hätte, hätten sie eine Ahnung gehabt, was damals von ihrer Tochter als geheimer Abschluß einer Italienreise selbständig unternommen worden war. Die Eltern hätte der Schlag getroffen und den Onkel und die Tante, von denen Daniela Oldenkott in den Schnellzug Bozen-Hamburg verfrachtet worden war, hätte ebenfalls der Schlag getroffen: das war der Hauptspaß jener Tour gewesen, denn es war die Zeit der ersten Korsett-Revolution der jungen Mädchen.

Stolz und erhitzt ruhte Daniela Oldenkott um die Mittagszeit jenes Septembertags in dem kleinen Geröllfeld unterhalb des Ellmauertors, nachdem sie die Hauptschwierigkeit der Tour, die plattigen Wandstufen der Steinernen Rinne, glücklich hinter sich hatte. Hier war der Blick nach Süden, nach den Gletschern und nach den Keesen der Zentrale, noch von den letzten Stufen des felsigen Tors versperrt. Doch gewaltig genug stürzten rechts und links von der romantischen Ausreißerin die Wände des Predigtstuhls und der Fleischbank in die Tiefe. Daniela hatte das Gefühl, allein auf der Welt zu sein, eine einsame Heldin auf totem Mond, siegreich über die Götter, abgesondert von den Menschen – bis plötzlich aus dem senkrechten Gestein des Predigtstuhls ein menschlicher Ruf zu ihr drang. Das gab eine kleine Ernüchterung. Vor den Augen eines Menschen, der in jenen gewaltigen Abstürzen steckte, zerschmolz ihr stolzer Höhenweg zu einer Alten-Leute-Promenade. Dennoch war sie begeistert von der Kühnheit des Rufers, sie nahm ihr Glas und tastete das Gemäuer zu ihrer Rechten ab.

Lange Zeit bekam sie nur Fels ins Glas, glatten Fels und zerklüfteten Fels, nassen Fels und ausgedörrten Fels, weißen und roten und schwarzen und gelben Fels, dann eine tiefe Schlucht, einen senkrechten Kamin, ein Seil-Ende, das zu einer kleinen Geröllstufe in diesem Kamin herabpendelte, endlich einen Menschen, der neben dem Seil-Ende an der Kaminwand lehnte. Ein junges Männergesicht, das sie plötzlich zum Greifen nah ins Glas bekam.

Sie hätte dieses Gesicht mit dem Glas abtasten können, aber sie scheute sich, in die übermenschliche Einsamkeit jenes Menschen einzudringen, während er ahnungslos vor sich hin döste im heiligen Glotzen des müden Pioniers. Sie setzte schnell das Glas ab und machte sich wieder auf den Weg.

Als nach einigen Minuten der Ruf wieder kam, fühlte sie, daß der Mensch in dem schwarzen Riesenkamin nach ihr rief. Sie stoppte und erschrak. War es ein Hilferuf? Wie hätte sie hier Hilfe bringen können? Sie rief ein schrilles Wie zurück, Wie – Wie – Wie, aber sie verstand die Antwort nicht, das Echo überschlug die Worte von allen Seiten her.

Erst als der Mensch im Kamin hinter jedes Wort eine lange Pause setzte, um das Echo abklingen zu lassen, konnte sie verstehn. Ob sie den Schlüssel zur Gruttenhütte hätte? Natürlich, die Gruttenhütte war ihr Ziel für diese Nacht, sie hatte sich den Schlüssel in der Talstation verschafft, sie schrie ein verwirrtes Ja zurück, Ja – Ja – Ja hallte es von der Fleischbank wider, und floh.

Es dämmerte schon, als sie vor der Gruttenhütte Schritte hörte. Sie hatte die Hütte längst instand gesetzt, alle Türen und Läden waren geöffnet, der Schmutz der letzten Besucher war weggekehrt, sie hatte sich gewaschen, sie hatte das Hüttenbuch studiert, sie hatte sich schon zur Genüge an ihrer Einsamkeit erbaut, Holz war gespalten und Feuer war gemacht und Tee war gekocht, als endlich jener Mensch anmarschiert kam.

»Großartig«, sagte er, während er in der kleinen Küche seinen Rucksack abwarf und sich mühsam das riesige Seil, das er in losen Schlingen umgehängt hatte, über den Kopf zog. »Ich hätte sonst ins Tal tippeln müssen – ich hab nämlich keinen Schlüssel für diese Hütte – großartig – Himmelherrgottsakrament, geh runter, altes Biest –«

»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten«, sagte Daniela und stierte ihm, ohne es sich bewußt zu werden, ununterbrochen ins Gesicht.

»Nur her damit!« Er plumpste am Tisch nieder und trank drei Tassen von ihrem Tee.

Er dankte ihr nicht, er beachtete sie nicht, er war noch völlig benommen und ausgepumpt von seiner Fahrt. Er mochte ungefähr in ihrem Alter sein. Die kastanienroten Bartstoppeln zeigten an, daß er mindestens schon eine Woche lang nicht mehr unter Menschen gekommen war.

Erst als es dunkelte und sie die Lampe richtete, riß er sich zusammen und torkelte mit seinem Rucksack aus der Küche. Sie hörte ihn lange Zeit im oberen Stockwerk herumpoltern. Aber zum gemeinsamen Abendessen trug er ein frisches Hemd zu seiner weiten langen abgescheuerten Manchesterhose, er war wieder ganz bei sich, seine Ausgepumptheit war wie weggeblasen.

Auch Danielas Müdigkeit war weggeblasen, sie horchte hingerissen auf seine Erzählungen, während sie mit ihm am Küchentisch saß. Die Vorräte aus den beiden Rucksäcken wurden zusammengetan: Sardinen, Speck, Reis, gedörrte Pflaumen, Pumpernickel, Kognak, Tee.

Der dunkle Kamin, den sie gesehn hatte, war der Botzong-Kamin gewesen. Schon vor sechs Jahren zum erstenmal bis zum nördlichen Vorgipfel des Predigtstuhls durchstiegen, aber erst heute zum erstenmal im freien Aufstieg bis zum südlichen Hauptgipfel bezwungen. Das Seil, das sie dort in der Ecke sah, war vierzig Meter lang. Menschen, die mit einem bezahlten Führer gingen, waren Schweine. Auch Italienreisende waren Schweine. Mit Ausnahmen natürlich, mit großartig blonden Ausnahmen. Kletterschuhe waren eine Selbstverständlichkeit. Es gab Alltagsmenschen und Höhenmenschen. Speck und Sardinen waren der beste Tourenproviant. Chemie war ein sehr interessantes Studium, ein weites Feld, die Professoren waren Schweine. Der größte deutsche Dichter hieß Heinrich von Kleist. Älter als dreißig Jahre sollte ein anständiger Mensch überhaupt nicht werden. Die Hamburger waren Spießer mit Krämergeist. Mit Ausnahmen natürlich, mit großartig blonden Ausnahmen. Er selbst hieß Anton Pasternak und stammte aus Franken. Die Franken waren Schweine. Mit Ausnahmen natürlich, mit kastanienroten Ausnahmen. Der größte lebende Mensch war Fritjof Nansen. Wenn im freien alpinen Gelände Einbruch von Nebel zu erwarten war, dann legte man sich grellrote Markierungsblätter. Man legte sie an möglichst markanten Stellen unter Steine, alle zehn Meter etwa, um sich den Rückzug zu sichern. Die schönste Oper war Aida. Die Pfote, die er ihr zum Gutenacht reichen mußte, war wund, zerfetzt vom Gestein, doch das war bei allen anständigen Menschen so, denn nur Huren, männliche oder weibliche Huren, trieben Maniküre, Gutenacht.

Gutenacht. Sie lag begeistert in ihrem Bett im kleinen Damenraum der Gruttenhütte und dachte über alle diese Dinge nach. Eine neue Welt tat sich wunderbar vor ihr auf, aber was männliche oder weibliche Huren war, wußte sie nicht. Durch die heuchlerischen Formen der Jahrhundertwende, durch die strengen Formen ihres puritanischen Elternhauses, vor allem durch eine fast krankhafte Scheu vor dem Gekicher ihrer Freundinnen, wenn von Liebesdingen die Rede war, war sie noch völlig naiv geblieben. Wäre sie Katholikin gewesen, sie hätte keine unkeuschen Gedanken beichten können. Wie ein verirrtes Enzian im Gemüsegarten war sie das seltene und ein wenig komische Exemplar geistiger Unbeflecktheit inmitten ihrer tuschelnden Freundinnen. Wohl ahnte sie geheime Dinge zwischen Weib und Mann, aber sie schob ihre Neugier von sich, wo immer sie auf das purpurne Geheimnis stieß. Manchmal fühlte sie, daß ihre Freundinnen hinter ihrem Rücken über sie lachten und sie für zurückgeblieben hielten in irgend einem wichtigen Punkt des Lebens, aber sie fühlte sich bei allen Sports und bei allen Tanzereien, durch ihren natürlichen Witz und durch die vielen Anträge, die sie zurückweisen konnte, allen diesen Kicher-Freundinnen und Tuschel-Freundinnen so weit überlegen, daß sie das seltsame Geflüster hinter ihrem Rücken schnell verdrängte, so oft sie es zu spüren bekam. So kam es, daß sie nicht verstand, was manikürte männliche oder weibliche Huren waren. So kam es auch, daß sie keine große Angst empfand, als nach einer halben Stunde die Tür neben ihrer Bettstatt leise geöffnet wurde und der herrliche fremde Felskletterer in das dunkle Zimmer trat.

»Ich wollte nur nochmal sehn, ob Sie gut untergebracht sind in diesem geheimnisvollen Damenraum«, sagte der Student der Chemie Anton Pasternak.

»O ja, danke«, erwiderte Fräulein Daniela Oldenkott, die Ausreißerin aus dem Schnellzug Bozen-Hamburg.

»Haben Sie genug Decken?«

»Danke, ja.«

»Es wird sehr kalt werden.«

»Besten Dank.«

»Ich hab nämlich noch eine Masse Wolldecken gefunden«, kam es durch die Dunkelheit.

»Ach was?«

»Im Führerraum. Dort liegt noch ein ganzes Lager voll. Soll ich welche bringen?«

»Nein, danke.«

Ihre Stimme versagte nun doch ein bißchen. Er sprach in so zartem Ton, ein wenig bebend, ganz anders wie zuvor in der Küche. Sie hörte, daß er verliebt war, und sie war entzückt davon. Aber sie erschrak, als sie ihn näher auf ihr Lager zutreten hörte. Sie spürte plötzlich durch das Dunkel, daß er nackt war.

»Noch ein wenig plaudern schadet doch nicht? Oder?«

»Nein, nein –«

»Sagen Sie nur ganz offen, wenn ich gehn soll?«

»Nein, nein –«

»Ich verschwinde auf der Stelle, wenn Sie es wünschen?«

»Nein, nein, warum denn –«

Er stand über sie gebeugt, ohne sie zu berühren, und schwieg. Da fühlte sie, daß jetzt die Reihe an ihr war, und sie schlang mutig ihre Arme um ihn.

 

Erst seit dem Tod ihrer Mutter wußte Lea Herse, wer ihr Vater war. Sie verübelte es ihrer Mutter ein wenig, daß dieses Lügengewebe des Hersehofs nicht schon längst zerrissen war. Sie erinnerte sich jetzt ganz deutlich, daß die Mutter in den letzten Jahren oftmals angesetzt hatte, das Geheimnis zu lüften. Wenn der Schnee hoch gelegen war in der Glonn und der Gang um das Haus wie zwischen Festungswällen lief, wenn die Geburt eines neuen Füllen oder die Abreise eines lästigen Besuchs den Abend zwischen den zwei Frauen intimer gemacht hatte, oftmals hatte Frau Daniela Herse zu irgend einer Beichte angesetzt. Aber immer wieder hatte sie abgebrochen. Was mochte sie abgehalten haben?

Ach, sie hatte zu den Müttern gehört, die das weiche Gewebe ihrer Babies nicht vergessen können und die noch an ihren erwachsenen Kindern das weiche Baby-Gewebe zu verspüren glauben, auch wenn die Babies längst härter gewebt sind als sie selbst. Sie hatte der Unverwundbarkeit ihrer Tochter nicht getraut. Sie hatte gewartet und gewartet, bis es zu spät gewesen war. Genau wie sie mit ihrer Blinddarmoperation gewartet hatte, bis es zu spät gewesen war: schon im April und Mai hatte sie ständig über Schmerzen geklagt, aber noch am Tag vor Durchbruch und Tod hatte sie ihren Hengst Carlo geritten statt zum Arzt zu gehn.

Jetzt mußte Lea alle diese wichtigen Dinge und brennenden Dinge und doch auch für ihre Generation ein wenig lächerlichen Dinge aus dem dicken Brief zusammenlesen, den Frau Daniela Herse in einer bedrängten Stunde aufgeschrieben hatte, um ihn der Tochter außer dem Hersehof und einem kleinen Betriebskapital in Pfandbriefen zu hinterlassen.

Nach ihren zwei Hochzeitstagen auf der Gruttenhütte hatte Daniela Oldenkott weder ihren Vater noch ihre Mutter ins Vertrauen gezogen, sondern ihre Patentante, die ältere Schwester ihrer Mutter, Fräulein Lily Gezelle. Die war damals in der ganzen Familie Oldenkott-Gezelle-Nüll gefürchtet und belächelt gewesen als überspannte alte Jungfrau und als eine der ersten Sozialistinnen inmitten einer bombensicheren Krämerzeit. Zu ihr war Daniela Oldenkott gelaufen, als sie sich nach ihrer Heimfahrt nach Hamburg geschwängert fühlte. Fräulein Lily Gezelle hatte zuerst ein krasses Donnerwetter losgelassen, nicht gegen Daniela, sondern gegen die Heuchelei der ganzen Familie, dann hatte sie sich mit ihrer Nichte auf die Bahn gesetzt und war mit ihr nach München zurückgedampft. Den Eltern war vorgeschwindelt worden, Daniela müßte auf Einladung der Outsider-Tante und zu deren Gesellschaft ein paar wichtige Wagner-Opern in München hören.

Aber die Expedition zu Lohengrin und dem Fliegenden Holländer war gescheitert. Man hatte zwar sofort Anton Pasternaks Adresse im Studentenverzeichnis der Universität gefunden, aber als er beim ersten Stelldichein ziemlich fremd getan hatte, war es um Daniela geschehn gewesen. Keine Macht der Welt hatte sie zu einem zweiten Zusammentreffen und zu einer klaren Aussprache mit ihrem Helden bewegen können. Vielleicht war es nur seine Ahnungslosigkeit gewesen und seine Scheu in der fremden Hotelhalle, vielleicht war er in dem steifen Kragen noch der gleiche Mensch gewesen wie in der verschabten Manchesterhose, ihr immer noch zugetan wie zwischen Fels und Kar: aber ihr Stolz hatte sich durch seine zurückhaltende Art zu einer Mauer aufgeworfen, die auch Fräulein Gezelles tagelanges Gekeif nicht mehr hatte stürmen können. Nein, sie wollte ihn nicht mehr sehn, sie wollte sich ihm nicht aufdrängen, sie wollte sich nicht an ihn hängen, das war ihr letztes Wort gewesen.

Und sie hatte ihn nicht wieder gesehn. Erst als Fräulein Gezelle den verkrampften Stolz ihrer Nichte als Tatsache hingenommen hatte, hatte sich ihr glänzendes Outsidertum bewähren können und ihr glänzendes Organisationstalent, darauf Daniela vertraut hatte. Noch in München war ein Windhund von verabschiedetem Kavallerie-Offizier aufgegabelt worden, Herr Karl Herse, der kurz darauf Daniela Oldenkott in Brüssel geheiratet hatte, um sich sofort nach der Trauung wieder von ihr scheiden zu lassen. Die dicke Abfindungssumme hatte Fräulein Gezelle durch telegraphischen Verkauf einiger ihrer Seefahrts-Aktien beschafft. Sämtliche Mitglieder der Familie Oldenkott-Gezelle-Nüll hatten aufs tiefste Danielas Ehe-Skandal beklagt, doch waren ahnungslos geblieben. Auch Anton Pasternak war ahnungslos geblieben und hatte nie mehr ein Wort von seiner großartig blonden Dame aus dem Damenraum der Gruttenhütte gehört.

Das Kind, das dann im Hersehof von der geschiedenen Frau Daniela Herse geboren wurde, hatte einen Vater und einen Vaternamen gehabt. Fräulein Gezelle war zur Geburt dieses neuesten Patenbabys angefahren gekommen, um ihm noch ein paar Monate lang mit tiefer Freude das Ärschchen einzupudern, kurz danach war sie gestorben. Herr Herse war im Weltkrieg gefallen, ohne Frau Herse noch einmal gestört zu haben. So hatte sie ihre Lüge durchgehalten und ihren Stolz gerettet. Tausend miserable Tricks hatte sie dazu gebraucht, aber tausend bunte Märchen hatte sie der Tochter von dem toten Vater erzählen können.

Auch der Militärrevolver, den Lea in der Jackentasche trug, um Maffa zu erschießen, war einer von diesen vielen Tricks. Die Mutter hatte ihn stets als Andenken an den toten Vater ausgegeben, vom Regiment der Witwe zugesandt. Es war alles Lüge gewesen, Lüge und Stolz, ein bißchen Melancholie und ein bißchen Lächerlichkeit und viel Lüge und viel Stolz. Leas Vater lebte, er leitete eine große chemische Gesellschaft in Berlin, sie hatte sich schon ein Bild von ihm verschafft und seine Züge studiert, in einer illustrierten Zeitung hatte sie ihn gesehen: Herrn Professor Doktor Anton Pasternak, einen der leitenden Köpfe der chemischen Industrie, im Kreis seiner Familie …

Maffa war eingeschlafen, es war Zeit. Der Hersehof war in Verwaltung gegeben, die geerbten Pfandbriefe waren flüssig gemacht und reichten aus, die Expedition in die Stadt des Vaters auf lange Sicht zu finanzieren – auch Maffa mußte daran glauben, was war dabei! Sie zog leise den Revolver und entsicherte ihn mit einem dünnen Knack. War es nicht die einfachste Sache der Welt? War es nicht lächerlich, schon bei den ersten Vorbereitungen für die große Fahrt schwach zu werden? Sie drückte ab.

Sie drückte ab, doch es war ein grausamer Fehler gewesen, daß sie nicht zuvor den Krallenpeter um Rat gefragt hatte, wohin der Schuß gehn mußte. Nachdem sie es verworfen hatte, Maffa mit Blausäure zu vergiften, hätte sie wenigstens wissen müssen, daß ein blitzschneller Tod nur durch einen guten Schuß hinters Ohr zu erwarten war. Aber sie schoß nach eigener Berechnung, sie schoß von oben her durch die Stirn. Der alte Hund sprang hoch und stand vor ihr, er spreizte zitternd die Vorderhand, aus seiner Nase floß Blut, er starrte mit großen Augen auf seine Herrin. »Maffa, Maffa, mein Maffa, mein einziger Maffa«, schrie sie entsetzt und warf die Waffe weit von sich, aber die heilige Sekunde zwischen Schlaf und Tod war schon zerschossen. Maffa blieb zitternd stehn, er begann zu röcheln, er sah sie mit vollem Bewußtsein an. Sie sank dicht vor ihm auf den Waldboden und wimmerte ihm hilflos entgegen. »Maffa, Maffa, Maffa, Maffa«. Bis er endlich mit der Hinterhand einknickte und sich langsam umlegte und die vier alten Beine zu strecken begann.

Terese Nüll wartete seit dem Schuß, der durch die stille Glonn gedröhnt war, mit Ungeduld auf die Rückkehr ihrer Kusine. Sie hatte sich bereits eine Menge Trostworte zurechtgelegt. Da sie schon zwei auseinandergegangene Verlobungen erlitten hatte, hielt sie sich für eine Autorität in tragischen Dingen. Sie freute sich schon darauf, ihrer süßen kleinen Kusine mit literarischer Überlegenheit zeigen zu können, wie man solch ein trauriges Ding dreht.

Nach zwei Stunden wurde es ihr zu dumm. Sie lief in den Hof hinab, Tee zu trinken. Nana servierte den Tee mit bösem Gesicht. Nana war schon seit Leas Geburt im Hersehof bedienstet, man konnte nicht unterscheiden, ob ihr böses Gesicht noch zur allgemeinen Trauer über Leas Abreise gehörte oder ob es schon auf den speziellen Fall, daß der Tee ohne Lea genommen wurde, zugeschnitten war. Jedenfalls fühlte Terese Nüll Unbehagen, als sie allein vor dem Tee saß, sie bereute ihre Treulosigkeit und packte Tee und Toast aus Tante Danielas japanisches Lackbrett, um zur Mooswiese zurückzupilgern. Kaum war das Picknick auf einer hübschen bunten Decke unter dem Christus aufgestellt, da kam Lea aus dem Wald herabgeschlenkert.

Als wäre nichts geschehn, so schlenkerte sie daher. Nach Maffas Begräbnis war sie bergwärts gelaufen, bis zu der kleinen Quelle in dem kühlen Graben, wo die Glonn entsprang. Dort hatte sie sich ausgeheult und dann die Tränen abgewaschen. Jetzt war nichts mehr zu sehn. Die Lider waren abgeschwollen. Nur in den blauen Augensternen zündelte ein kleines Flämmchen, ein feindseliges schlimmes kleines Flämmchen, das Terese Nüll warnte vor allzu eifrigem Zuspruch.

»Na?« Sie plumpste munter ins Moos. »Hast Du Dich unterdessen gut mit Jesus Christus unterhalten?« Sie zog einen weißen Kamm aus der Jackentasche und kämmte sich. Ihr Haar war ziemlich in Anordnung geraten. Als einziges Mitglied der Familie Oldenkott-Gezelle-Nüll hatte sie kastanienbraunes Haar mit rötlichem Schimmer, die eisblauen Augen der Oldenkotts, doch fremdes kastanienbraunes Haar.

Terese goß den Tee ein, ohne aufzublicken.

»Hast Du alles so schön drapiert?«, sagte Lea und strich sich durchs Haar, daß es nur so knisterte.

»Noch ganz heiß,« sagte Terese, »glänzend erraten.«

»Sehr malerisch drapiert! Das ist die Hauptsache.«

»Zucker?«

»Nein, danke.«

»Zitrone?«

»Danke.«

»Trinkst Du keinen Tee?«

»Später vielleicht.«

»War es schlimm?«

»Vorbei ist vorbei.«

»Aber ein schönes Brot darf ich meinem Leachen streichen?«

»Sag doch nicht immer Leachen! Sowas Blödes! Leachen! Du sagst Leachen und Deine Mutter sagt Lealein und Onkel Gezelle sagt Leamaus, das ist ja zum Verzweifeln!«

»Das ist alles nur Liebe.«

»Liebe! Hühnerdreck, die ganze Familie!«

»Na Lea, benimm Dich doch«, schrie Terese Nüll.

Lea lachte.

»Alle Welt ist außer sich über die Sprache, die Du von Deinen Stallmägden und Holzknechten annimmst!«

»Ja?«

»Wirklich, Du mußt Dir diese Sprache abgewöhnen! In der Stadt machst Du Dich unmöglich damit! Und wie Du von unsrer Familie sprichst ist direkt zum Heulen, wirklich zum Heulen.«

»Ne pleure pas, ma pauvre Térèse«, sagte Lea mit dem klingenden Ouchy-Akzent, den sie von ihrer Mutter übernommen hatte. »Ne pleure pas, si je parle comme ça de ma famille. Moi, je parle au figuré, dans d'absolu, c'est la langue de Glonn, chacun suit sa ligne.«

Terese wußte keine Antwort, da sie nicht mitgekommen war. Außerdem war doch alles verkehrt, was man diesem Bock entgegensetzte. Sie legte sich zurück und grub ihren semmelblonden Nüllschen Schopf ins Moos. Traurig starrte sie in den Himmel und wünschte, Lea möchte auf sie schaun und ihre Melancholie bemerken.

»Was ich noch sagen wollte, Du«, kam es nach einiger Zeit aus der gefährlichen Ecke, »ich glaube, Du hast doch recht mit dem künstlichen Dünger. Warum soll man es nicht doch einmal mit diesem chemischen Zeug probieren?«

Terese schnellte hoch und griff freudig nach dem friedlichen Thema und nach dem ausgekühlten Tee.

»Unser eigener Mist«, sagte Lea, »reicht höchstens für unseren halben Wiesengrund. Es war immer eine Riesengeschichte, fremden Naturmist aufzutreiben. Und teuer, sag ich Dir! Und die schwere Zufuhr! Aus hundert Kilometer im Umkreis sind wir die einzigen Leute, die noch niemals Kunstdünger auf die Wiesen gelassen haben.«

»Das habe ich doch immer gesagt, mein Kind! So was Unrationelles! Es war eine fixe Idee von Deiner Mutter.«

»Fixe Idee! Mutter wußte ganz genau, warum sie gegen den chemischen Dünger war! Soviel wie die Professoren auf Deiner landwirtschaftlichen Hochschule verstehn wir hier auch noch vom Wiesenbau und von der Viehzucht, kannst Dich draus verlassen. Mußt Dir nicht einbilden, daß Du auf Deiner Schule irgendwas gelernt hast! Wirst ja sehn, wie das dann in der Praxis aussieht. Wenn meine Hühner nur nicht Bauchweh kriegen bei Deiner neuen Futtermethode! Vielleicht legen sie Herings-Eier, bis ich zurückkomme?«

Terese lachte. Klar, daß sie nach ihrem zweijährigen Studium besseren Bescheid wußte. Tante Daniela hatte den Hersehof ganz stur nach den uralten Bauernregeln der Glonn weiterbewirtschaftet, Pferdezucht und Hühnerzucht, Milchwirtschaft und Wiesenbau. Was war hier nach den neusten wissenschaftlichen Methoden herauszuholen! Aber sie wollte das abziehende Gewitter nicht wieder beschwören und ging freundlich auf die Laune ihrer Kusine ein. »Thomasmehl und Kainit nimmt doch selbst der alte Krallenbauer. Und es gibt doch jetzt so wunderbare neue Salze und künstliche Dungmittel. Du glaubst wirklich, Deine Mutter hatte einen bestimmten Grund dagegen?«

»Kann ich Dir genau erklären«, sagte Lea und trank jetzt doch eine Tasse Tee und aß mit Appetit ein paar Toasts. Sie vergaß für eine kleine Weile Maffas Augen und setzte Terese Nüll die Kunstdünger-Theorie ihrer Mutter auseinander. Frau Herses Idee war gewesen, daß alle diese neuen chemischen und maschinellen Dinge für die Menschheit und für die Erde noch nicht praktisch erprobt waren. Zehn, dreißig, fünfzig Jahre Erfahrung, was war das viel? Wußte man denn, ob nicht alle Großstädter mit der Zeit geisteskrank wurden oder sonstwie krank, ohne die Krankheit aufziehn zu fühlen? Warum zum Beispiel sollte nicht in allen Automobilisten oder in deren Samen irgendetwas Lebenswichtiges absterben, absterben durch die gestohlene Geschwindigkeit, die nicht von ihnen kam und die ihnen nicht zustand? Klappten nicht schon jetzt alle Männer in den amerikanisierten Betrieben mit vierzig Jahren zusammen? Viele Jahrtausende hatte die menschliche Natur gebraucht, um sich die Technik des Feuers zu erobern, und jetzt sollte sie sich von einem Tag zum andern Tag an ähnlich eingreifende Dinge gewöhnen? Wußte man denn, ob nicht im Kuhmist oder im Pferdemist trotz der besten chemischen Analyse irgendein geheimnisvolles Etwas steckte, wohlverborgen vor der Wissenschaft, jenseits aller Chemie, und der Boden der Erde liebte gerade dieses geheime Etwas und wollte es schlucken? Die Wiese dort unten, Jahrtausende lang hatte sie dicken, warmen, tierischen Mist geschluckt, um blühen zu können, und jetzt plötzlich sollte sie sich mit chemischem Ersatz abspeisen lassen? Vielleicht ließ sie sichs fünfzig Jahre lang gefallen, vielleicht hundert Jahre lang, weiterblühend aus der gesammelten alten Kraft, so wie die Großstädter noch immer Kinder zeugten aus der geborgten Kraft der Väter – aber dann war es eines Tages aus, Streik gegen die Chemie, Hohn gegen die Wissenschaft, war denn nicht stets im Triumphzug der Wissenschaft der Hohn aus das Gestern mitgeschritten? Dann war es zu spät. Dann stand das chemische Gelände der rollenden Kugel kahl. Dann konnten die letzten Großstädter mit ihren Wochenendkarren auf einer Mondkrater-Landschaft herumgondeln.

Das war Frau Herses Idee gewesen. Daher ihre Feindschaft gegen den künstlichen Dünger. Lea selbst war nicht mehr so ganz dieser Ansicht. Ihre Lebensanschauung hatte in den letzten Tagen ein wenig umgeschlagen.

»Interessant«, sagte Terese Nüll. »Sehr interessant, Sektierertum, retournons à la nature, aufgewärmter Rousseau, Deine Mutter war eine großartige Frau, bei ihr wirkten diese altväterlichen Spleens ganz reizend. Aber wir Jungen sollten doch ein wenig fortschrittlicher denken, Leachen, was?«

»Schon wieder Leachen!«

»Le–ha! Freut mich wenigstens, daß Du erstmal zum chemischen Dünger bekehrt bist, Le–ha!«

»Ich bin gar nicht bekehrt, Du Affe!« Lea erhob sich und dehnte sich mit Lust und streckte sich mit Lust. »Aber nimm nur Kunstdünger dieses Jahr, meinetwegen, es ist wahr, ich bin auch für die Chemie.«

 

Auf der kleinen Landstraße im Tal war ein Radler zu sehn. Im Tempo eines Rennfahrers kam er auf die Glonn zu. In vollem Schwung stieß er mit seinem Vorderrad das angelehnte untere Gatter des Hersehofs zurück, daß es nur so knallte. Vor dem Haus sprang er ab, ohne zu bremsen. Sämtliche Herse-Hühner flohen mit Gegacker bergwärts.

»Wer ist das«, frug Terese Nüll und starrte neugierig auf den Bravour-Fahrer im Tal. Man sah Nana aus dem Haus treten und mit ihm sprechen.

»Quirin Linsinger«, sagte Lea. Es klang nicht besonders erfreut.

»Hast Du gesehn, wie er das Gatter aufgestoßen hat?«

»Er macht immer solche Geschichten. Wenn zugeriegelt gewesen wär, hätt es ihn geschmissen.«

»Großartig war das.«

»Er weiß ganz genau, daß der Riegel kaputt ist.«

»Das ist Quirin Linsinger?«

»Ja, das ist er.«

Der junge Mann hatte sein Rad an die Hauswand gelehnt und einen dichten roten Blumenstrauß, der an die Lenkstange geschnürt war, losgebunden. Nana brachte ihm ein großes Glas Wasser aus dem Haus. Er stürzte es mit einem Zug hinunter. Dann marschierte er mit seinem Blumenstrauß los: die Herse-Wiese entlang, zum oberen Herse-Gatter, zur Mooswiese.

Er trug weite graue Flanellhosen, scharf gebügelt, am Knöchel mit Radfahrer-Klammern zugesteckt, dazu eine enge Wollweste in hübschem Beige. Die Mütze hatte er beim Rad zurückgelassen. Man sah schon von weitem, daß sein glattes schwarzes Haar sehr windsicher zurückpräpariert war. Auch daß sein Gesicht außergewöhnlich stark eingebräunt war, sah man schon von weitem.

Terese Nüll kannte ihn dem Namen nach. Er galt als der einzige Freund des Hersehofes, als Leas Tennispartner, als der beste Schispringer im Gau. Wenn die alten Tanten in Hamburg über Leas weltfremde Erziehung klagten, hieß es stets: »Ihr einziger Verkehr sind diese wilden Linsingers, wenig anziehende Leute.« Man hatte sich schon oft den Kopf zerbrochen, ob nicht zwischen Lea und einem der Linsinger-Söhne eine Liebschaft bestände. Aber man war noch zu keinem festen Resultat gekommen. Jedenfalls wurde Terese Nüll von einem Anfall von Diskretion überkommen, als sie den jungen Mann so selbstsicher näherstapfen sah: sie sprang auf und trat zu Lea, die an dem morschen Kruzifix-Balken lehnte und ihrem Freund ein kleines kühles Halloh entgegenrief, als er vorn oberen Gatter aus winkte.

»Du, ich gehe, Lea, ich drücke mich.«

»Unsinn, Du bleibst! Weiß der Teufel, woher er meine Abreise erfahren hat!«

»Er will sich verabschieden, er will Dich allein sprechen, ich verschwinde.«

»Du bist ja verrückt, Du bleibst, Du mußt ihn kennenlernen, ich hab wirklich kein Geheimnis mit ihm.«

Die Linsingers waren Bayern. Sie betrieben eine kleine rentable Silberfuchszucht, eine halbe Stunde westlich von der Glonn. Der Verkehr zwischen den alten Linsingers und Frau Daniela Herse war ursprünglich durch den Austausch von Bruteiern entstanden. Doch Frau Herse war stets sehr zurückhaltend geblieben, sie haßte jeden gesellschaftlichen Verkehr wie die Pest. Noch kurz vor ihrem Tod konnte sie sechs Stunden im Sattel durchhalten und acht Stunden auf Schiern, aber an einem runden Teetisch mit durcheinanderquatschenden Damen und Herren klappte sie prompt nach zehn Minuten zusammen. Außerdem vertrug sie nicht den starken Fuchsgeruch, der die ganze Linsinger-Farm durchschwelte. Erst als die beiden alten Linsingers schnell hintereinander gestorben waren und die Geschwister Linsinger, zwei Söhne und zwei Töchter, Leas ausgesprochene Sportskameraden geworden waren, hatte der Verkehr zwischen den zwei Höfen freundschaftliche Formen angenommen.

Daß Lea kein Geheimnis mit Quirin Linsinger hätte, war eine krasse Lüge. Er hatte sie gehabt. Aber vielleicht war es auch keine Lüge, sie fühlte kein Geheimnis mehr mit ihm, sie war ihm längst entglitten, sie hatte sein Manntum längst wieder vergessen. Sie sah jetzt nur noch den guten lieben Sportsbubi in ihm, den sie ein wenig bemuttern mußte, obwohl er fünf Jahre älter war als sie.

Sie hatte sich in ihn verliebt, als er vor vier Jahren nach seinem Londoner Winter ins Tal zurückgekehrt war, um seine Erbfarm zu übernehmen und seinen jüngeren Bruder ins Ausland zu schicken. Sie hatte sich heimlich mit ihm verlobt, als im März jenes Jahres die Füchse ranzten und als sie ihn eines Tages inmitten seiner ranzenden Füchse besucht hatte, auf dem kleinen Holzturm über dem Auslauf der Fehen und Rüden, wo er während der Ranzzeit tagelang ausharren mußte, um zu kontrollieren, welche Fehen belegt wurden und welche Rüden taugten. Und er hatte sie gehabt im darauffolgenden Sommer, als der junge Wurf jener Ranzzeit bereits entwurmt war und als er an einem heißen Heu-Tag angefahren gekommen war, um ihr beim Einbringen ihrer entlegensten Bergwiese zu helfen. Ein paar Heu-Wochen lang hatte er sie gehabt, dann war sie ihm wieder entglitten. Sie gehörte ihm längst nicht mehr, sie hatte ihm nie gehört. Wie zuvor trainierte sie auf dem Linsingerschen Platz Tennis mit ihm, wie zuvor half sie ihm im Winter die Sprungschanze einzustampfen, aber nie mehr hatte er gewagt, sich ihr mit einem einzigen intimen Wort oder Blick zu nähern, seitdem sie damals ganz ohne äußeren Grund plötzlich Schluß gemacht hatte. Sie spielte nicht mit ihm, sie hatte sein Manntum wirklich vergessen, das fühlte er und das nahm ihm jede Hoffnung auf ein Wiedergewinnen des verlornen Spiels. So war er ihr erst richtig verfallen, seitdem er wußte, daß es ihm nicht gelungen war, sie wahrhaft zu besitzen und zu erwecken.

»Almrausch!« Sie war ehrlich begeistert von dem frischen Strauß, den er ihr entgegenhielt. »Gibt's schon Almrausch? Wo haben Sie ihn gefunden?«

»Am Plankenstein. Dort blüht er immer zuerst.«

»Das ist Herr Linsinger, das ist meine Kusine aus Hamburg – na so was, gibt's schon Almrausch, besten Dank –« »Entzückend«, sagte Terese Nüll. »Ich dachte, Alpenrosen blühn erst im Spätsommer?«

»Das sind doch keine Alpenrosen, Du Kalb, das ist Almrausch, ganz was anderes.«

»Das wird immer verwechselt, gnädiges Fräulein«, erklärte Quirin Linsinger verbindlich, »der Almrausch blüht zwei Monate vor der Alpenrose und ist kleiner und buschiger –«

»Und tausendmal würziger, ganz was anderes – trinken Sie eine Tasse Tee, Quirin, er ist zwar schon kalt –«

Sie lagerten sich wieder um das Teegeschirr und sprachen vom Wetter, vom Heu, von den Füchsen. Leas Abreise wurde weder von ihm noch von ihr mit einem Wort erwähnt. So sprach auch Terese Nüll nicht davon. Aber sie wurde in ihrem Verdacht bestärkt, daß die beiden Eingeborenen allein sein wollten. Nach zehn Minuten lief sie zum Hersehof hinunter, um Nana und dem Krallenpeter beim Abendstall zu helfen.

»Was ist, Lea? Sie verreisen?«

»Woher wissen Sie?«

»Aus der Post haben die Leute gesagt, Sie haben den Hersehof verkauft und Sie treten eine Weltreise an, weil Sie eine Million geerbt haben.«

»So ein Zimt! Neunzehntausend Mark hab ich geerbt, wenn Sie es ganz genau wissen wollen. So eine Affenbande! Auf ein paar Monate nach Berlin fahre ich und meine Kusine verwaltet inzwischen den Hof, das ist alles.«

»Was wollen Sie denn in Berlin, Lea?«

»Luftveränderung. Der Arzt sagt, ich muß nach diesen letzten Wochen meine Nerven wieder aufpäppeln.«

»Sie und Nerven? Und ausgerechnet in Berlin?«

»Selbstverständlich! Das Ei des Columbus, daß der Arzt mich nach Berlin schickt! Die Großstädter gehn aufs Land, wenn sie zusammenknaxen, wir müssen in die Stadt, wenn wir zusammenknaxen. Das ist doch klar!«

Gegen diese Lüge vom ärztlichen Befehl gab es keinen Einwand, das wußte sie. Von ihrer Mutter hatte sie beizeiten gelernt, daß man den Menschen stets mit dem Ausspruch einer fremden Autorität kommen mußte, wollte man nicht, daß sie einem die eigene Willensfreiheit wie die Ratten beknabberten.

»Außerdem kann ich in Berlin doch endlich mal was für meine arme Bildung tun, Quirinchen. Stellen Sie sich vor, wie fein ich dort aufgebügelt werde. Alle meine Hamburger Tanten und Kusinen stehn sowieso schon auf dem Kopf und wackeln mit den X-Beinen, weil ich so ungebildet bin. Bei Tante Nüll sind schon beide Strumpfhalter abgerissen, so stark wackelt sie über mich.«

Aber Quirin Linsinger war heute nicht für schlechte Witze empfänglich. Als er von ihrer Abreise gehört hatte, hatte er sich vorgenommen, noch einmal aufs Ganze zu gehn und ihr einen neuen Antrag zu machen. Wie alle Dreißigjährigen seiner Generation pendelte er hilflos zwischen Minderwertigkeitsgefühlen hin und her, zwischen Kleinheitswahn und Größenwahn, zwischen Melancholie und Frechheit. Wie alle jungen Männer seiner Zeit konnte er sein wahres Manntum und seine männliche Form nicht finden. So griff er, nachdem er eine Zeitlang über die Großstadt geschimpft hatte, verzweifelt nach dem alten Spruch aus der Großväterzeit und sagte plötzlich: »Darf ich um Ihre Hand bitten, Lea?«

»Bitte«, sagte Lea und streckte ihm über das Teegeschirr hinüber die Hand hin.

»Machen Sie keinen Unsinn, Lea. Sie wissen, was ich meine.«

»Sind Sie doch nicht kindisch, Quirin.«

»Also nein?«

»Was für eine Frage! Nein! Das wissen Sie selbst ganz genau.«

»Sie sind ein verdammtes Luder, Lea.«

»Warum denn? Wieso denn?«

Er schwieg.

»Warum bin ich denn ein Luder?«

Er verweigerte die Auskunft.

»Wissen Sie, was ich am meisten in meinem Leben bereue«, frug er nach einiger Zeit. Er hatte den Ton gewechselt. Man konnte deutlich hören, daß die männliche Unterwürfigkeit jetzt der männlichen Frechheit Platz machte.

Sie war auf dem qui-vive. »Na, was denn? Was bereuen Sie denn am meisten, Quirin?«

»Daß ich Ihnen damals kein außereheliches Kind gemacht habe, meine kleine Maus.«

»Dummes Schwein!«

Sie dachte an das Schicksal ihrer Mutter: süß und zart hatte die stolze Daniela Oldenkott die Blume ihres Leibes überwintert, bis sie im Hersehof aufgeblüht war. Er klammerte sich an den Gedanken, daß es auf der Welt noch andere Frauen gab: die Welt war voll von Weibern und alle trugen die gleiche Unterwäsche und waren gleich gebaut. So schwiegen sie eine Zeitlang, Weib und Mann, kleine Maus und dummes Schwein.

»Also Verzeihung, gnädiges Fräulein, und gute Reise!«

»Gut, Schluß!«

»Vielleicht gibt es in Berlin nettere junge Männer als hier?«

»Leicht möglich. Ein Mann ist gewiß dort, der mir gefällt, doch das ist ein alter Mann –«

Da sie aber mit diesem Spruch schon an ihr Geheimnis rührte, brach sie schnell ab und schwätzte darüber hinweg. Daß sie in Berlin Theater sehn wollte, Tanzen lernen, sich die Lippen anschmieren, daß es nur so knallte. Und wenn gerade die Mode aufkäme, daß man Halsketten aus getrocknetem Kuhmist trüge, dann müßte sie eben auf Befehl ihrer alten Wackeltanten eine Halskette aus getrocknetem Kuhmist umlegen. Sie kälberte, bis das Böse vergessen war. Nein, sie wollte sich nicht im Bösen von Quirin verabschieden, sie wollte keine Rückwärts-Gedanken mit sich schleppen, keine guten und keine bösen Gedanken, keine guten Gedanken an Nana und an Maffa, keine bösen Gedanken an Quirin und an Terese, Gut und Bös war die gleiche Fessel, sie aber mußte frei sein für die Fahrt zu ihrem Vater, sie brauchte freien Raum um sich herum, Raum, Raum, Raum. Zum Schluß bat sie Quirin, hie und da nach Nana zu sehn, nach dem Krallenpeter, vor allem nach den Tieren im Stall, sie hatte ein wenig Angst vor dem landwirtschaftlichen Eifer ihrer Kusine.

»Wird besorgt«, sagte Quirin und stand auf. »Sonst kann ich nichts für Sie tun?«

»Doch«, sagte sie und lachte. »Schaun Sie mal, wie morsch das Kruzifix ist! Schmeißen Sie es zum Abschied um!«

»Ich werd mich hüten.«

»Warum nicht? Es ist ganz morsch.«

»Es hält noch hundert Jahre.«

»Mit einem richtigen Fußtritt werfen Sie es um, Quirin.«

»Kann sein. Ich will aber nicht.«

Sie versuchte selbst, das alte Kreuz zu stürzen. Es wackelte und ächzte nur ein wenig, ohne einzufallen.

Quirin Linsinger lachte.

»Los, Quirin, Sie schaffen es mit Ihrer Bärenkraft!«

»Weshalb denn eigentlich? Es steht doch sehr schön hier?«

»Ja, finden Sie?«

Sie blickte prüfend auf den Gekreuzigten. Er hing unter einem kleinen Regendach aus Schindelbrettern, das Kreuz war zweieinhalb Meter hoch, ein primitiver Bauernchristus. Viele Menschenalter hing er schon so, wie er hing. Die Farben waren trotz des Regendachs stark verwischt.

»Überall hängt dieser Mann und verkündet, daß unser schönes Diesseits nichts wert ist. Überall hängt dieser Mann und verkündet den Tod. Werfen Sie ihn um, Quirin, werfen Sie ihn um!«

»Fällt mir nicht im Traum ein!«

»Halten Sie es für Sünde?«

»Ach was!«

»Sie glauben noch an ihn?«

»Nicht im geringsten.«

»Warum wird er dann nicht umgeschmissen?«

»Weil ich nicht will! Weil es nur eine blöde Laune von Ihnen ist!«

»Das ist keine Laune. Es ist schlimm, wenn man nicht mehr an ihn glaubt und doch nicht Schluß mit ihm macht.«

»Halb so schlimm.«

»Nein, sehr schlimm, das allerschlimmste. Das würde Christus selber sagen, wenn er wiederkäme.«

»Quatsch!«

»Ein großer Schwindel ist auf der Welt durch diese halbe Geschichte. Meine Mutter hat Recht gehabt, daß sie zur Heidin geworden ist, nachdem sie nicht mehr an ihn glauben konnte. Ich will eine richtige Heidin wie meine Mutter werden.«

»Warum hat dann Ihre Mutter ihn stehn lassen? Warum hat sie ihn nicht schon längst weggeschafft, wenn sie eine richtige Heidin war?«

»Ach, sie war eine zarte Seele – aber ich bin keine zarte Seele, ich werfe ihn um –«

Sie versuchte noch einmal, den Christus zu stürzen. Quirin Linsinger stand dabei und amüsierte sich über die erfolglosen Fußtritte, die sie dem alten Kreuz versetzte. Als sie sah, daß es umsonst war, stampfte sie mit dem Fuße auf den moosigen Boden. Quirin Linsinger brach in Gelächter aus.

»Sie Idiot,« schrie sie wütend, »Sie werfen ihn nicht um?«

»Nein, sag ich.«

»Dann lassen Sie ihn stehn, Idiot!«

Sie warf wenigstens noch das Regendach herunter, bevor sie ins Tal stieg. Mit ein paar hohen Luftsprüngen stieß sie die alten Bretter über dem Gekreuzigten herunter. Was brauchte der Gott des Todes ein Regendach!

Am nächsten Morgen fuhr sie. Sie wollte allein loskutschieren, so mußte der Krallenpeter schon drei Stunden vor ihrer Abfahrt zur Bahnstation tippeln, um dort den kleinen Landwagen mit der dicken Stute wieder in Empfang zu nehmen. Es gab ein großes Gewinke aus allen Häusern der Glonn, als sie dann endlich abfuhr. Nana hatte ein zuckendes Heul-Mäulchen, Terese Nüll machte innige Familien-Glotzaugen, der alte Krallenpeter humpelte aus dem Krallenhof und krächzte immerzu: »Bald wiedakumma, bald wiedakumma, bald wiedakumma!«, und die drei kleinen Buben vom Sennenhof rannten noch hundert Meter neben dem Wagen her. Dann sank die Glonn zurück, die Menschen zuerst, danach die Häuser, danach der lichtgrüne Wald, wo auf Maffas kleinem Hügel zum erstenmal der Tau lag. Die alte Landschaft glitt zurück, die dicke Stute fiel in vollen Trab und begann mit Gefühl zu furzen und zu misten, die neue Landschaft tat sich auf.

In München langweilte sie sich durch einen toten Nachmittag, weil vor Nacht kein Zug nach Berlin ging. Sie besah die Läden und die Menschen in den Straßen, sie trank viermal Kaffee zwischen grauen alten Damen und grünen jungen Zigarettenrauchern, graugrün zog sich ihr erster Reisetag zu Ende, bis endlich der Schlafwagenzug abgelassen wurde, der Stadt ihres Vaters entgegen, der Stadt ihres Vaters entgegen, der Stadt ihres Vaters entgegen.

Zum erstenmal in ihrem Leben fuhr sie Schlafwagen. Da sie mit einer jener alten Damen aus der graugrünen Welt zusammenschlafen sollte, löste sie beim Schaffner einen Zuschlag für ein freies Abteil erster Klasse. Das ging wider das Programm, aber als sie dann in ihrem eigenen Abteil lag und die Kirschkerne auf die Reiselektüre spuckte, konnte sie wenigstens wieder aus der graugrünen städternen Welt in die lichtgrüne Glonner Welt zurückfinden.

Es war sehr wohlig in dem kleinen Messingkäfig. Nirgendwo stand angeschrieben, daß man die Bettdecke nicht bis ans Fußende zurückstoßen durfte, wenn es zu heiß war. Es störte auch keinen Menschen, wenn man zum allgemeinen Getöse der Fahrt den bekannten gregorianischen Kirchenchor für Eisenbahnfahrten anstimmte, Korinther zwo dreiviertel einhalb:

Ein Mädchen klein und weiß wie Schnee,
So einst spazieren ging am Tegernsee,
Da fand es einen Kieselstein,
Da fiel ihm der Gedanke ein:
Ach – wärst – Du – doch –
Herr Jenkerlein,
Herr Ging – Gang – Genkerlein
Vom – Te – gern – see –

Hundertmal konnte man das in den Takt der Räder hineinplärren, ohne verhaftet zu werden. Dagegen war es verboten, im Nachthemd auf den Gang zu laufen und an alle Türen zu pumpern. Auch die geheimnisvolle Nachbartür durfte man nicht aufreißen, um zu rufen: »Her mit den Perlen, Frau Bankier, oder ich schieße!« Aber warum auch? Es waren lauter reizende Menschen in den Messingkäfigen ringsum. Nur die zwei Herren in den übertrieben schnittigen Sportshosen hatten ziemlich frech gegrinst. Vielleicht waren es zwei Chemiker, angestellt im Werk Pasternak? So konnte sie morgen früh zu ihnen treten und sprechen: »Meine Herren, grinsen können Sie, aber daß ich die Tochter Ihres Chefs bin, ist Ihnen offenbar unbekannt. Sie sind ja sehr nette Chemiker, meine Herren, aber Ihre Hosen sind ordinär, wenn Sie das noch nicht wissen sollten. Ich will Sie nicht noch einmal in diesen Hosen sehn, meine Herren, ich danke Ihnen, meine Herren.« Was taten die schneidigen Chemiker dann? Sie zogen natürlich sofort die Hosen aus. Lieber nicht, gluckste sie lachend und war schon halb hinüber. Lieber nicht, meine Herren, die Hosen sollen dran bleiben, alle Herren in Europa behalten bis auf weiteres die Hosen dran, Befehl von Lea Pasternak, wer in den nächsten drei Jahren noch einmal seine Hose abtut, wird schwer bestraft, rattapatta-rattapatta, aber richtig bestraft, rattapatta-rattapatta-rattapatta.

Sie erwachte mit einem kleinen Alp. Es war nicht der zentnerschwere Druck des erzenen Nichts, mit dem sie in den ersten Tagen nach dem Tod der Mutter aufgewacht war; es war nur der kleine Morgenalp, zwanzig Pfund schwer auf der Brust. Sie sprang aus dem Bett und stieß den Rollvorhang am Fenster hoch.

Bösartig und schmutzig sah der Messingkäfig im ersten Morgengrauen aus. Durch eine unerbittliche Ebene jagte der Zug. Die vorbeisausenden Häuser verkündeten die ungelüftete Melancholie einer hoffnungslosen Generation.

Aber nach dem Gepantsch am Wasserpatent wurde es besser. Und nach dem dicken Frühstück wurde es noch besser. Sie ließ die Fensterscheiben herab und begann mit Lust die fremde Luft der Ebene zu atmen. Auch in Berlin war Ostwind, Wind aus dem Osten, ein mächtiger Hochdruck auch hier.

Sie war in der Stadt ihres Vaters. Sie nahm einen charmanten alten Verlaß-Dich-drauf-Chauffeur und fuhr ins Hotel.


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