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XI.

10. November

Jetzt wird von der kleinen Claire kaum noch gesprochen. Wie vorauszusehen, war die Sache irgendwie in den Akten verschwunden. Der Wald von Raillon und Joseph werden ihr fürchterliches Geheimnis für immer bewahren. Von der armen kleinen menschlichen Kreatur wird bald kaum noch die Rede sein. Der Vater der Kleinen arbeitet wieder im Steinbruch, als wäre überhaupt nie etwas geschehen, und das Dorf, für einige Wochen von der Brandung der Empörung aufgewühlt, kehrt jetzt zu seinem winterlichen Einerlei zurück. In diesem Monat sieht alles noch viel trostloser aus als sonst. Beinharter Frost hält die Menschen fast den ganzen Tag über in ihren Häusern. Hinter ihren vereisten Fensterscheiben unterscheidet man kaum ihre blassen, stumpfen Gesichter. Und auf den Straßen sieht man meist nur Bettler in Lumpen und frierende Hunde.

Madame schickte mich heute einkaufen. Die Hunde begleiteten mich. Während ich beim Schlächter war, schlich sich eine arme alte Frau zaghaft in den Laden und bat um ein paar Brocken Fleisch. Sie wollte für den kranken Sohn eine Bouillon kochen. Der Fleischhauer holte aus einem breiten Kupferbecken zwischen anderen Abfällen ein ganz miserables Stück hervor, halb Knochen, halb Fett, und warf es mißgelaunt auf die Waage:

»Fünfzehn Sou!« erklärte er grob.

»Fünfzehn Sou!« meinte die Alte bestürzt, »das kann doch nicht sein! Und wie soll ich daraus eine Bouillon kochen?«

»Na, dann nicht«, sagte der Fleischer und warf das Stück in das Becken zurück. »Und damit Sie es wissen, ich schicke Ihnen heute die Rechnung zu. Und wenn bis morgen die Schulden nicht bezahlt sind, kommt der Gerichtsvollzieher!«

»Also geben Sie schon her«, murmelte die Alte eingeschüchtert.

Als sie fort war, sagte der Fleischhauer zu mir:

»Was wollen Sie? Wenn wir nicht die Armen für die Abfälle hätten, könnten wir doch an einem Tier überhaupt kaum etwas verdienen. Dieses Pack wird ja heutzutage auch schon anspruchsvoll!«

Und während er ein paar Brocken vom besten Fleisch zurechtschnitt und unserem Hund zuwarf, sagte er:

»Zum Teufel, die Hunde der Reichen sind mir lieber als die armen Leute!«

In Prieuré werden jetzt die tragischen Ereignisse von komischen abgelöst. Man kann nicht tagtäglich erschauern. Angewidert von den ewigen Schikanen des Hauptmanns Mauger, hat sich Monsieur auf den Rat von Madame endlich entschlossen, den Friedensrichter in dieser Angelegenheit zu bemühen. Er will jetzt den Hauptmann der vielen Schäden wegen, die er an seinen Glashäusern angerichtet hat, und wegen der boshaften Verwüstung seines Gartens klagen. Es scheint, als sei das Zusammentreffen der beiden Feinde vor dem Amt des Friedensrichters ein richtiges Spektakel gewesen, Sie haben sich gegenseitig angebrüllt wie die Lumpensammler. Selbstverständlich leugnete der Hauptmann, Steine oder andere harte Gegenstände in den Garten der Lanlaires geschleudert zu haben. Lanlaire sei derjenige gewesen, der immer wieder des Hauptmanns Garten mit Steinwürfen bombardiert habe.

»Haben Sie dafür Zeugen? Wo sind Ihre Zeugen? Sie wagen es ja gar nicht, Zeugen beizubringen!« brüllte der Hauptmann.

»Die Zeugen?« brüllte Monsieur zurück, »brauche ich andere Zeugen als die Steine selbst? Und alle Schweinereien, die Sie sonst auf meinem Grundstück unaufhörlich anrichten. Jeden Tag werfen Sie mir alte Hüte, alte Pantoffeln herüber, und ich bin gezwungen, jeden Tag die Lumpen aufzusammeln, wobei ich ganz genau erkenne, daß sie von Ihnen stammen!«

»Sie lügen!«

»Sie sind eine Kanaille – ein Lumpenkerl ...«

Aber Monsieur, unfähig, annehmbare Zeugen herbeizuschaffen, sah sich genötigt, seine Klage zurückzuziehen, da der Friedensrichter mit dem Hauptmann eng befreundet war.

»Schließlich gestatten Sie mir folgende Feststellung«, sagte der Beamte abweisend, »es scheint mir nicht glaubwürdig und höchst übertrieben, einen tapferen Soldaten, der im Kampf gegen den Feind große Auszeichnungen errungen hat, wie einen dummen Jungen hinzustellen, der zum puren Zeitvertreib alte Hüte und Steine auf Ihr Grundstück werfen soll.«

»Na und ob, so und nicht anders verhält sich die Sache«, schrie der Hauptmann wütend, »dieser Mann da ist ein ganz infamer Dreyfus-Anhänger. Er beschimpft ja unsere Armee ...«

»Ich?«

»Jawohl, Sie! Sie – Sie dreckiger Jude, haben es ja nur darauf abgesehen, die Armee zu beleidigen. Es lebe die Armee!«

Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten sich gegenseitig bei den Haaren gepackt, wenn nicht der Friedensrichter sie mit großer Mühe getrennt hätte. Seither hat Monsieur in seinem Garten immer zwei Zeugen versteckt, die hinter einem Bretterverschlag, in dem sie runde Löcher in Augenhöhe angebracht haben, das Gartenterrain überwachen. Aber der Hauptmann muß irgendwie gewarnt worden sein, denn er verhält sich fortan ruhig, und Monsieur ist der Hereingefallene.

Inzwischen habe ich ein- oder zweimal den Hauptmann jenseits der Hecke gesehen. Trotz des Frosteinbruchs rührt er sich kaum aus dem Garten und arbeitet dort mit Feuereifer. Augenblicklich ist er damit beschäftigt. Rosenstöcke mit Ölpapier zu umwickeln, und dabei klagt er mir sein Leid. Rose ist krank, sie hat eine Influenza erwischt, und das bei ihrem verflixten Asthma. Bourbaki ist eingegangen, denn er hat während einer Lungenentzündung zuviel Kognak getrunken. Meiner Treu, der Hauptmann hat Pech. Und das alles kommt davon, weil der gemeine Schweinehund Lanlaire ihm ununterbrochen Unglück wünscht. Der Kerl müßte beiseite geschafft werden, man wäre verpflichtet, die Welt und vor allem den Ort von diesem Pack zu befreien. Und er unterbreitet mir einen phantastischen Schlachtplan:

»Hören Sie zu, Mademoiselle Célestine, so müßte es gemacht werden: Sie müßten gegen Lanlaire Klage erheben, wegen Verletzung Ihres Schamgefühls unschicklicher Anträge am laufenden Band. Was halten Sie davon?«

»Ich? Aber, Herr Hauptmann, niemals wurde von Monsieur mein Schamgefühl verletzt, nie hat er mir schweinische Anträge gemacht …«

»Na und? Was macht das schon?«

»Nein, das kann ich nicht!«

»Das können Sie nicht? Wieso? Nichts wäre einfacher als das. Sie brauchen nur eine Klage einzureichen und Rose und mich als Zeugen anzugeben. Wir werden kommen und beschwören, daß wir alles gesehen haben. Alles – alles – alles ... Das Ehrenwort eines Soldaten ist in der heutigen Zeit schon etwas wert. Donnerwetter nochmal! So etwas ist schließlich nicht von gestern, so etwas gilt! Zum Donnerwetter! Wenn Sie nur ein bißchen geschickt sind, dann können wir die Affäre mit dem Kindesmord und der Vergewaltigung wieder aufwärmen und damit Lanlaire einen Strick um den Hals hängen. Wenn das keine gute Idee ist! Denken Sie einmal darüber nach, Mademoiselle Célestine ... Denken Sie gut nach!«

Ach herrje, augenblicklich bin ich wirklich mit viel zuviel Dingen beschäftigt, ich kann an so etwas nicht auch noch denken. Joseph drängt auf eine Entscheidung, er sagt, er könne nicht länger warten. Er hat aus Cherbourg Nachricht bekommen, daß das kleine Café in der nächsten Woche verkauft werden soll. Ich bin noch zu unruhig, zu verwirrt. Ich möchte ganz gern, und ich möchte auch wieder nicht. Heute gefällt mir der Vorschlag, und morgen gefällt er mir wieder gar nicht. Ich glaube, daß ich Angst vor Joseph habe, ich habe das Gefühl, daß er mich zu fürchterlichen Dingen verleiten wird. Ich kann mich noch nicht entschließen. Ich kann weder nein noch ja sagen. Er erpreßt mich nicht, er versucht nicht, mich zu überreden, aber er verspricht mir schöne Kleider, Freiheit und ein sicheres, glückliches Leben.

»Ich werde es kaufen müssen, das kleine Café«, sagte er immer wieder zu mir. »Eine derartige Gelegenheit kann man nicht vorübergehen lassen. Und wenn eine Revolution kommt, was dann? Denken Sie nach, Célestine, es wäre ein tolles Geschäft, ein todsicherer Erfolg, vor allem wenn die Revolution kommt. Lassen Sie sich das durch den Kopf gehen. Es gibt keine bessere Zeit für ein Café!«

»Kaufen Sie es, Joseph, komme ich nicht, kommt eben eine andere!«

»Nein, nein, nur Sie müssen es sein, nur Sie. Ich bin wie verrückt nach Ihnen, Célestine, aber leider haben Sie kein Zutrauen zu mir.«

»Nein, Joseph, ich versichere Ihnen ...«

»Doch, doch, Sie denken schlecht von mir.«

In diesem Augenblick überkam mich eine wilde Courage. Ich hatte plötzlich den Mut, ihn zu fragen:

»Also, jetzt können Sie mir doch sagen, Joseph, daß Sie es waren, der die kleine Claire vergewaltigt und im Wald umgebracht hat.«

Joseph nahm diesen Schock mit ungewöhnlicher Ruhe hin. Er hob nur die Achseln, schlenkerte ein bißchen mit den Armen und zog seine Hose hoch. Dann antwortete er:

»Sehen Sie, sehen Sie, es stimmt, was ich Ihnen gesagt habe. Ich weiß recht gut, was in Ihnen vorgeht. Ich kenne Ihre Gedanken.«

Er dämpfte seine Stimme, aber sein Blick wurde so furchterregend, daß ich nicht imstande war, das kleinste Wort hervorzubringen.

»Es geht ja gar nicht um die kleine Claire, Célestine, es geht um Sie – nur um Sie ...«

Und er nahm mich wie unlängst abends in seine Arme.

»Kommen Sie mit mir in das kleine Café? Ja oder nein?«

Erschauernd, stammelnd fand ich endlich die Kraft zu erwidern:

»Ich habe Angst – ich habe Angst vor Ihnen, Joseph. Warum habe ich denn nur solche Angst?«

Er wiegte mich in seinen Armen wie ein Kind. Und ohne auch nur den Versuch zu machen, sich zu verteidigen, vielleicht erfreut über meine Angst oder aber auch, um meinen Schrecken noch zu steigern, sagte er väterlich:

»Schon gut – schon gut. Wenn es sonst nichts ist. Nun, wir sprechen noch einmal darüber. Vielleicht schon morgen.«

 

Im Dorf zirkuliert eine Zeitung aus Rouen mit einem Artikel, der bei den Strenggläubigen große Aufregung verursacht. Es handelt sich um eine wahre Geschichte, eine ziemlich pikante Begebenheit, die vor kurzem in Port-Lançon passiert ist. Das Witzige an der Sache ist, daß alle Welt die handelnden Personen kennt. Endlich haben wir wieder einmal etwas, was die Gemüter für einige Tage beschäftigt. Gestern abend hat man die Zeitung unserer Marianne gebracht. Nach dem Abendessen trug ich den Artikel mit erhöhter Stimme vor. Schon nach den ersten Sätzen erhob sich Joseph sehr würdig, streng und sogar ein wenig verletzt. Er erklärte, daß er für Schweinereien absolut nichts übrighabe und daß er es nicht dulden wolle, daß man in seiner Gegenwart die Religion verunglimpft.

»Was Sie da tun, Célestine, gefällt mir gar nicht, das gehört sich nicht.«

Und nach diesem Verweis ging er schlafen.

Ich will hier schnell die Geschichte erzählen, denn es lohnt sich wirklich. Und dann habe ich mir gedacht, ich könnte mit einem fröhlichen Gelächter diese unerfreulichen Zeiten ein bißchen aufheitern.

Folgendes hat sich ereignet:

Der Dekan der Pfarrgemeinde Port-Lançon war ein schlauer, sehr aktiver Priester, dessen Rednergabe auch in den benachbarten Gemeinden so geschätzt war, daß selbst Ungläubige und Liberale sonntags den Gottesdienst in Port-Lançon besuchten, um seine Predigten zu hören. Sie entschuldigten sich für ihre Inkonsequenz mit ihrem lebhaften Interesse für seine rhetorische Begabung.

»Das heißt ja nicht gleich, seiner Meinung sein, aber es ist angenehm und aufschlußreich, einem solchen Prediger zuzuhören.«

Sie hätten es nicht ungern gesehen, wenn ihr Deputierter ein wenig von der verdammten Redekunst des Herrn Dekan besessen hätte, denn besagter Abgeordneter machte im Landtag niemals den Mund auf. Die Einsprüche des Herrn Dekan auf den Gemeindeversammlungen, die gewöhnlich höchst parteiisch und lautstark verliefen, ärgerten den Bürgermeister und beunruhigten die anwesenden Autoritäten, weil der Geistliche dank seinem verflixten Mundwerk in jeder Versammlung das letzte Wort behielt und alle überrumpelte. Eine seiner fixen Ideen war, daß man den Schulkindern beim Unterricht nicht genügend Wissenswertes beibringe.

»Was lernen sie denn schon bei euch in der Schule? So gut wie nichts! Wenn man sie nach den elementarsten Dingen des Lebens fragt, bleibt ihnen das Wort stecken. Es ist zum Erbarmen!«

Diesen unhaltbaren Zustand kreidete er den Werken Voltaires und der Revolution an, er schob diese totalen Versäumnisse der Regierung und den Dreyfus-Anhängern in die Schuhe, zwar nicht in aller Öffentlichkeit, sondern nur vor erprobten Freunden, denn so radikal und fanatisch der Dekan auch zu seiner Überzeugung stand, sosehr hütete er sich doch, seinen Lebensabend zu gefährden, das will heißen, seine Pension lag ihm sehr am Herzen. Jeden Dienstag und Donnerstag versammelte er um sich möglichst viele Kinder und unterrichtete sie im Hof seines Pfarrhauses zwei Stunden lang in den elementaren Gegenständen, was die staatliche Erziehung leider versäumte.

»Nun, meine Kinder, kann mir einer von euch sagen, wo einst das irdische Paradies auf unserer Erde war? Wer es weiß, erhebe die Hand. Also ...«

Niemand meldete sich. Aber in aller Augen war ein Fragezeichen. Da rief der Herr Dekan:

»Das ist ja ein Skandal! Was bringen euch denn eure Lehrer bei? Ach, das nenne ich ein famoses kostenloses und dazu obligatorisches Erziehungssystem! Ihr wißt also nichts! Nun, dann werde ich euch sagen, wo das irdische Paradies lag. Aufgepaßt!«

Lebhaft gestikulierend und nicht minder kategorisch begann er nun mit dem Unterricht:

»Das Paradies auf Erden, meine Kinder, lag trotz gegenteiliger Behauptungen weder in Port-Lançon noch im Département der Seine-Inférieure noch in Paris. Überhaupt nicht in Frankreich, nicht einmal in Europa. Sogar nicht in Afrika oder in Amerika, und in Übersee schon gar nicht. Ist das klar? Manche Leute behaupten, das irdische Paradies sei einmal in Italien gewesen, andere wieder entschieden sich für Spanien, weil dort Orangen wachsen ... Ach, diese Schleckermäuler! Das alles ist falsch, urfalsch! Denn im Paradies wuchsen keine Orangen, sondern Äpfel. Und das wurde uns zum Verhängnis. Na – und jetzt? Wird es etwas heller in euren Köpfen? Fällt euch vielleicht ein, wo das war?«

Niemand rührte sich.

»Es war in Asien«, wetterte der Dekan und schnaubte laut durch die Nase. »In Asien, jawohl, wo niemals Regen oder Schnee fiel, kein Hagel, kein Blitz und kein Donner, denn in Asien, wo alles blühte und duftete, wo es Blumen gab, hoch wie Bäume, und Bäume, hoch wie Gebirge, war alles wunderbar. Von all dem Schönen ist heute in Asien nichts mehr übrig. Das kommt von den Sünden, die wir uns zuschulden haben kommen lassen. Dort gibt es jetzt nur noch Chinesen und Türken, Nachkommen der schwarzhäutigen Ketzer, die unsere heiligen Missionare töten und dafür in die Hölle geworfen werden. Seht ihr, das sage ich euch. Und nun zu etwas anderem. Wißt ihr, was der Glaube ist?«

Ein Kind leierte im angelernten Ton seine Lektion:

»Glaube ... Hoffnung ... Liebe. Sie sind die christlichen Haupttugenden.«

»Das habe ich euch nicht gefragt«, schnauzte der Dekan, »ich fragte euch, wie man sich als gläubiger Christ verhalten soll. Nun, ihr wißt es nicht? Natürlich nicht. Aufgepaßt! Man muß alles glauben, was der gute Herr Pfarrer sagt, aber nicht ein Wort von dem, was euer Lehrer behauptet, denn dieser Lehrer weiß nichts, und was er euch erzählt, das gibt es einfach nicht.«

 

Die Kirche von Port-Lançon ist den Kunsthistorikern bekannt und wird auch von Touristen gerne besucht. Sie ist eines der interessantesten Bauwerke der Normandie, wo es doch eine Menge schöner kleiner Kirchen gibt. An ihrer Ostfassade über einem Spitzbogenportal befindet sich eine Rosette, ein wahres Wunder an Anmut und unbeschreiblicher Leichtigkeit. Die Außenfront des nordseitigen Seitenschiffes, wo ein dunkler überdachter Flur entlangführt, ist mit verschwenderisch gestalteten, aber wenig züchtigen Ornamenten dekoriert. Dort findet man recht seltsame Fabelwesen, Dämonen, Tiersymbole, aber auch Heilige in Bettlergestalt, die in den ungewöhnlichsten Stellungen auf diesem Fries abgebildet sind. Nur sind die meisten enthauptet oder verstümmelt. Die Zeit und vor allem der Vandalismus der sittenstrengen, unverständigen Küster haben nach und nach diese heiteren Plastiken, die so unzüchtig lebendig und saftig waren wie ein Kapitel von Rabelais, zerbröckelt und entstellt. Moos hat sich in den mürbe gewordenen Steinkörpern eingenistet, sie überzogen, und bald wird man an dieser Stelle nur mehr Steinruinen vorfinden. Das Kirchenschiff ist auf beiden Seiten durch Arkaden, hohe schlanke Säulen, in zwei Hälften geteilt. Die Fenster der Südfassade sind frühgotisch, die des Nordschiffes locker und leuchtend. Die Hauptrosette über dem Portal lodert und glüht wie ein Sonnenuntergang im Herbst.

Der Herr Dekan konnte aus seinem Hof mit altem Kastanienbestand direkt in die Kirche gehen. Und zwar benützte er dazu eine kleine, niedere Tür, die in eines der Seitenschiffe führte, zu der aber außer ihm nur noch die Schwester Angélique einen Schlüssel besaß. Sie war die Oberin des Hospizes, eigentlich noch jung, aber mager und vertrocknet wie eine alte Ziege, geschwätzig und bescheiden, doch mit Augen und Ohren überall und die intimste Freundin des Herrn Dekans. Und mehr als das, sie wurde seine Beraterin. Gemeinsam hockten sie Tag für Tag beisammen und heckten die boshaftesten Manöver aus, um den behördlichen Instanzen ein Schnippchen zu schlagen. So bereiteten sie ohne Unterlaß neue Gemeindewahlen vor, sie erzählten sich die Geheimnisse der dörflichen Haushalte und waren ständig bemüht, für sich und die Pfarre den größten Profit herauszuschlagen. Die niederträchtigsten Geschichten, die im Lande kursierten, stammten aus dieser Quelle. Keiner zweifelte an ihrem Ursprung, aber niemand hätte es gewagt, gegen den stimmgewaltigen Dekan oder gegen die als boshaft verschriene Schwester aufzumucken. Sie leitete ihr Hospiz je nach Laune oder Berechnung, sie galt als heimtückisch und gefährlich, und sie war es auch.

Letzten Donnerstag versammelte der Dekan wieder die Kinder in seinem Hof, in der Absicht, ihnen die erstaunlichsten Begriffe der Meteorologie beizubringen. Er erklärte ihnen den Donner, den Hagel, auch Wind und Blitze.

»Und der Regen? Wißt ihr eigentlich, was der Regen ist – wo er herkommt – und wer ihn schafft? Die heutigen Wissenschaftler werden euch einreden wollen, daß der Regen nichts anderes sei als kondensierter Dampf. Sie werden euch dieses oder jenes einreden wollen. Sie lügen, sie sind abscheuliche Ketzer – Handlanger des Teufels ... Denn der Regen, meine Kinder, ist nichts anderes als der Zorn Gottes. Gott ist mit euren Eltern unzufrieden, die seit Jahren die Zehn Gebote nicht mehr halten, also sagt er sich: ›Ihr laßt jeden Sonntag euren guten Pfarrer in der Kirche ganz allein mit seinem Sakristan und den Chorknaben, die sich dort erkälten. Gut, gut! Nehmt euch in acht, ihr Taugenichtse! Wehe euren Ernten!‹ Und hierauf befiehlt er dem Regen, auf die Erde zu fallen. Wären eure Eltern folgsame Christen und würden sie ihre religiösen Pflichten erfüllen, dann gäbe es niemals Regen.«

Gerade in diesem Augenblick erschien Schwester Angélique im Rahmen der kleinen Tür, die zur Kirche führte. Sie war womöglich noch blasser als sonst und schien ganz aus dem Häuschen. Ihre weiße Haube war verrutscht, und die beiden gestärkten Flügel flatterten, als wehte starker Wind. Als sie die Kinderschar bei dem Dekan erblickte, schreckte sie zurück und wollte die kleine Tür wieder schließen. Aber der Herr Dekan, sichtlich überrascht von ihrem stürmischen Erscheinen und ihrer schiefen Haube, lief, die Lippen verkniffen, mit neugierigem Blick auf sie zu.

»Schicken Sie die Kinder fort – augenblicklich«, flehte sie, »es sind schlimme Dinge passiert.«

»Mein Gott! Was ist denn geschehen? Was ist los? Weshalb diese Aufregung?«

»Schicken Sie die Kinder fort«, wiederholte Schwester Angélique, »ich sagte Ihnen ja – sehr, sehr schlimme Dinge sind geschehen ...«

Sobald die Kinder verschwunden waren, ließ sie sich auf eine Bank fallen und spielte eine Weile nervös mit dem kupfernen Kreuz, das auf den geweihten Medaillen, die sie auf ihrer platten, unfruchtbaren Brust trug, leise klirrte. Der Dekan wurde ängstlich und fragte mit stockender Stimme:

»Schnell, Schwester, sprechen Sie. Sie machen mir Angst. Was ist denn los?«

Da riß sich Schwester Angélique zusammen und sagte sehr mutig:

»Als ich vorhin durch den gedeckten Gang ging, da sah ich auf Ihrer Kirche – einen ganz nackten Mann!«

Der Herr Dekan riß das Maul auf, ohne einen Ton hervorzubringen. Er sah die Schwester entgeistert an und wiederholte stammelnd:

»Einen ganz nackten Mann? Sie haben, Schwester, haben auf meiner Kirche einen – einen ganz nackten Mann gesehen? Sind Sie auch sicher?«

»Ich habe ihn gesehen.«

»In meiner Gemeinde sollte es einen derart schamlosen, lüsternen Burschen geben, der es wagt, sich ganz nackt auf meiner Kirche zu zeigen? Aber das ist doch unglaublich! Oh! Oh!«

Sein Gesicht wurde vor Wut dunkelrot. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, er kochte vor Empörung.

»Ganz nackt, auf meiner Kirche? Oh! In welch einem Jahrhundert leben wir? Und was tat er da, ganz nackt auf meiner Kirche? Trieb er Unzucht vielleicht?«

»Sie verstehen mich nicht«, unterbrach ihn Schwester Angélique. »Ich habe nicht behauptet, daß dieser Mann – dieser nackte Mann ein Mitglied unserer Gemeinde ist ... Er ist ja aus Stein.«

»Wie? Aus Stein? ... Das ist natürlich nicht dasselbe.«

Und er seufzte erleichtert auf. »Sie haben mir einen schönen Schrecken eingejagt, Schwester!«

Schwester Angélique wurde angriffslustig. Zwischen ihren blassen, schmalen Lippen zischte sie hervor:

»So? Das ändert also alles? Und Sie finden ihn womöglich weniger nackt, weil er aus Stein ist?«

»Das habe ich nicht gesagt. Aber schließlich ändert das alles.«

»Und wenn ich Ihnen nun versichere, daß dieser Mann nackter ist, als Sie vermuten, daß er ein – ein geradezu monströses Ding besitzt, das riesig und furchtbar in die Luft ragt? Hören Sie, Herr Pfarrer, zwingen Sie mich doch nicht, schweinische Worte auszusprechen!«

Sie sprang auf, aufgeregt und atemlos, eine Beute ihrer Empörung. Der Herr Dekan war niedergeschmettert. Diese Enthüllung versetzte ihm einen Schlag. Seine Gedanken verwirrten sich zu unzüchtigen Höllenvisionen. Er stotterte wie ein Kind:

»Oh, wahrhaftig? Ein monströses Ding, das in die Luft ragt? Ja! Ja ... Das ist allerdings sehr unschicklich, das ist allerdings eine schlimme Sache, Schwester Angélique. Wenn Sie sicher sind, ganz sicher, daß dieses monströse Ding in die Luft – wirklich in die Luft ragt? Täuschen Sie sich nicht? Handelt es sich nicht nur um einen Scherz? Oh! Auf jeden Fall ist es unschicklich.«

Schwester Angélique stampfte mit dem Fuß.

»Seit Jahrhunderten also steht er dort oben und besudelt Ihre Kirche, und Sie haben niemals etwas bemerkt? Da muß erst ich, eine Frau, ich, eine Nonne, kommen, um Sie auf diese skandalöse Sache aufmerksam zu machen! Ausgerechnet ich, die ich das Keuschheitsgelübde abgelegt habe, ich muß Ihnen erst den Hinweis auf diese schreckliche Sache bringen, ich muß Ihnen ins Gesicht schreien: ›Herr Pfarrer, in Ihrer Kirche ist der Teufel!‹«

Unter diesen aggressiven Worten hatte der Herr Dekan seine Geistesgegenwart schnell zurückerlangt.

»Selbstverständlich können wir diesen Skandal nicht länger dulden. Man muß den Teufel vertreiben. Ich werde das besorgen. Kommen Sie um Mitternacht wieder, wenn Port-Lançon im Schlafe liegt. Sie werden mich führen, ich werde dem Küster Bescheid sagen, damit er uns eine Leiter beschafft. Liegt das Ärgernis sehr hoch oben?«

»Sehr hoch.«

»Und Sie können die Stelle wiederfinden, Schwester?«

»Ich könnte sie mit geschlossenen Augen finden. Also bis Mitternacht, Herr Dekan!«

»Der Herr sei mit Euch!«

Schwester Angélique bekreuzigte sich und verschwand eiligst hinter der kleinen Pforte.

Es wurde eine finstere und mondlose Nacht. Durch die Fensterluken des überdeckten Ganges erblickte man im Dorf längst kein Licht mehr. Die dunklen Gaslaternen klirrten im Nachtwind. Sonst regte sich nichts in Port-Lançon. Alles schlief.

»Hier ist es«, murmelte Schwester Angélique.

Der Sakristan lehnte seine Leiter gegen die Wand, bis zu einem Fensterbogen, durch dessen Scheiben man an der Hochaltarstätte das ewige Licht schwach schimmern sah. Die dunkle, zackige Silhouette des Kirchendachs türmte sich in den violetten Hintergrund des Himmels, an dem da und dort ein Stern blinkte. Der Herr Dekan, mit Stahlschere, Blendlaterne und Hammer bewaffnet, erklomm die Leiter, Sprosse für Sprosse, gefolgt von der Nonne, deren weiße Haube von einem ärmellosen Kapuzenmantel verborgen war. Er murmelte:

»Ab omni peccato.«

Die Nonne antwortete:

»Libera nos, Domine.«

»Ab insidiis diaboli.«

»Libera nos, Domine!«

»A spiritu fornicationis.«

»Libera nos, Domine.«

In der Firsthöhe angekommen, gleich oberhalb des Frieses, hielten sie inne.

»Da ist es ...« flüsterte Schwester Angélique, »hier links, Herr Dekan!«

Und dann, von der Stille und Dunkelheit eingeschüchtert, begann sie wieder zu murmeln:

»Agnus Dei, qui tollis peccata mundi.«

»Exaudi nos, Domine«, antwortete der Dekan, der jetzt das Licht seiner Laterne auf die Heiligen und Dämonen lenkte, die in der Steinumrahmung des Frieses teils gräßliche Verrenkungen, teils unzüchtige Stellungen aufwiesen. Plötzlich stieß er einen Schrei aus. Er entdeckte das abscheuliche Abbild der Sünde unmittelbar vor sich.

»Mater purissima ... Mater castissima ... Mater inviolata«, leierte die Schwester hinter ihm auf der Leiter.

»Oh! Dieses Schwein! Dieses Schwein ...«, intonierte der Dekan wutschnaubend in der Art eines Ora pro nobis.

Er hob seinen Hammer. Indes die Nonne hinter ihm die Litanei leierte und der Sakristan am Fuß der Leiter ihr in klagendem Predigerton sekundierte, versetzte der Priester dem schändlichen Heiligenbild einen ordentlichen Hieb. Man hörte es krachen. Einige Steinsplitter sprangen ihm ins Gesicht, und schließlich hörte man etwas Hartes aufs Dach plumpsen, in die Regentraufe gleiten und unten im gedeckten Flur aufschlagen.

Am nächsten Morgen kam Mademoiselle Robineau, eine fromme Seele, aus der Messe und bemerkte auf dem Fußboden einen Gegenstand, der ihr seiner ungewöhnlichen Form wegen auffiel und sie an gewisse Reliquienstücke erinnerte. Sie hob den Stein auf und drehte ihn umständlich zwischen den Fingern, dabei sagte sie sich:

»Sicher der Knochen eines Heiligen, und vermutlich eine sehr seltene, wertvolle Reliquie, vielleicht in einer wundertätigen Quelle versteinert. Ja, Gottes Wege sind wirklich voll von Geheimnissen.«

Zuerst dachte sie daran, die Reliquie dem Herrn Dekan anzubieten, aber nachher kam ihr die Idee, daß dieser Fund ihr Haus vor Unglück und Sünde bewahren würde. Sie nahm sie also mit.

Zu Hause angekommen, schloß sie sich in ihr Zimmer ein. Auf einem kleinen Tisch breitete sie ein weißes Deckchen aus, trug ein rotes, mit Goldborten verziertes Samtkissen herbei, dann bettete sie behutsam die kostbare Reliquie darauf und deckte das Ganze mit einem Glassturz zu, neben den sie rechts und links je eine Vase mit künstlichen Blumen stellte. Schließlich kniete sie vor diesem improvisierten Altar nieder und rief mit großer Andacht den verehrungswürdigen unbekannten Heiligen an, dem ohne Zweifel vor grauen Zeiten dieser profane, nunmehr geläuterte Gegenstand gehört hatte.

Aber nur zu bald fühlte sie sich von der Gegenwart dieser Reliquie seltsam irritiert. In ihre inbrünstigen Gebete schlichen sich höchst menschliche Gedanken, die Freude an ihrem Fund trübte sich. Zweifel bestürmten ihre fromme Seele, und sie begann sich zu fragen:

»Ist es auch wirklich eine heilige Reliquie?«

Ihre reine Verehrung erlitt einen Stoß, und obwohl sie ihre Paternoster und ihre Ave verdoppelte, konnte sie das Aufkommen sündiger Vorstellungen nicht länger verhindern, sie vernahm immer wieder eine Stimme aus ihrem Innern, die viel mächtiger als ihre Gebete sagte:

»Einerlei ... Welch ein schöner Mann muß das gewesen sein!«

Arme Mademoiselle Robineau! Sie erfuhr schließlich, was dieses steinerne Ding eigentlich darstellte, und wurde ob solcher Belehrung beinahe ohnmächtig. Purpurrot vor Scham stammelte sie immer wieder:

»Und ich – ich habe dieses Ding so oft geküßt …«

 

Heute, am 10. November, haben wir den ganzen Tag das Tafelsilber gereinigt. Das spielt sich wie ein großes Ereignis ab, ungefähr so traditionell wie das Einkochen der Marmelade. Die Lanlaires besitzen prachtvolles Tafelsilber. Darunter einige sehr seltene, antike Stücke, einfach herrlich anzusehen. Es stammt vom Vater der Madame, der, wie behauptet wird, es seinerzeit als Pfand für eine hohe Summe von einem Adeligen aus der Nachbarschaft bekommen hat. Er handelte also nicht nur mit jungem Menschenfleisch, dieser alte Schuft, jede Gaunerei, die sich lohnte, war ihm recht, und auf eine mehr oder weniger kam es ihm anscheinend nicht an. Und wenn man der Gewürzkrämerin glauben darf, dann ist der Erwerb dieses Tafelsilbers eine seiner abscheulichsten, aber auch durchsichtigsten Gaunereien. Denn es heißt, der Vater von Madame habe nicht nur sein geliehenes Geld zurückbekommen, sondern er habe es auch fertiggebracht, das Silber zu behalten. Das war wohl ein hervorragender, unnachahmlicher Gaunerstreich.

Die Lanlaires benutzen natürlich das Silber nie. Es ist immer in drei großen, mit rotem Samt ausgeschlagenen Lederkassetten, die mit Eisenbändern an der Holzwand gesichert sind, in einem mächtigen Wandschrank eingeschlossen. Die Kassetten werden einmal im Jahr, und zwar am 10. November, herausgenommen, und dann wird das Silber unter der strengen Aufsicht von Madame geputzt. Ist das geschehen, wandert es wieder in den Schrank zurück, und man bekommt es erst im nächsten Jahr wieder zu Gesicht. Herrgott, was macht Madame für Augen bei ihrem Silber! Sie heften sich an unsere Hände, und noch nie habe ich in den Augen einer Frau eine derart grenzenlose Habsucht gesehen.

Ist es nicht merkwürdig, daß diese Leute ihr Silber, ihren Schmuck, all ihren Reichtum und ihren Besitz, mit dem sie ein herrliches Leben führen könnten, verscharren und vergraben, um lustlos und einsam dahinzuvegetieren?

Als die Arbeit beendet und das Silber wieder für ein ganzes Jahr in den Kassetten verschwunden war, verließ uns Madame mit der Gewißheit, daß auch nicht das geringste von ihren Schätzen zwischen unseren Fingern geblieben war. Joseph sagte mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck:

»Verstehen Sie eigentlich, Célestine, daß unsere Herrschaft wirklich prachtvolles Tafelsilber besitzt? Da ist vor allem das Louis-Seize-Ölkännchen! Das hat ein Gewicht! Ich schätze, daß alles zusammen mindestens 25 000 Franc, vielleicht auch mehr, wert ist. Genau kann man es wirklich nicht sagen.«

Plötzlich sah er mir starr in die Augen, als wollte er mir bis auf den Grund der Seele blicken, und fragte:

»Werden Sie mit mir in das kleine Café kommen?«

Komisch! Was für einen Zusammenhang kann es zwischen dem Silber von Madame und dem kleinen Café in Cherbourg geben? Wahrhaftig, ich weiß nicht, warum, aber jede diesbezügliche Bemerkung von Joseph jagt mir einen Schauer über den Rücken.


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