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X.

3. November

Nichts macht mir solches Vergnügen, wie in einem Tagesjournal die Namen von Leuten zu entdecken, bei denen ich einmal gedient habe. Diesen Spaß hatte ich heute morgen, als ich im Petit Journal las, daß Victor Charrigaud vor kurzem einen neuen Roman veröffentlicht hat, von dem mit großer Bewunderung gesprochen wird. Der Titel dieses Buches »Zwischen fünf und sieben« hat einen aufsehenerregenden Wirbel hervorgerufen. Der Zeitungsartikel nennt das Buch eine originelle, glänzend geschriebene Folge sarkastisch geschilderter Szenen aus der mondänen Welt, deren morbide Verworfenheit hier mit geradezu profunder Kenntnis analysiert wird. Da weiß man natürlich gleich, woran man ist! Aber nicht nur das Talent von Charrigaud wird in den höchsten Tönen gelobt, sondern man rühmt gleichzeitig seine vorbildliche Eleganz, seine großartigen Beziehungen und vornehmen Empfänge.

Alle Welt kennt heute Victor Charrigaud. Er hat eine Fülle von Reißern geschrieben; »Ihre Strumpfbänder«, »Wie sie schlafen«, »Sentimentale Lockenwickler«, »Kolibris und Papageien« sind am bekanntesten und beliebtesten. Dieser Mann hat unleugbar Geist und Talent, aber sein Unglück waren allzu schnelle Berühmtheit und zuviel Geld. Seine Anfangserfolge versprachen eine hoffnungsvolle Entwicklung. Jedermann war frappiert von seiner ungewöhnlichen Beobachtungsgabe, seinem Sarkasmus und von seiner gerechten, unübertrefflichen Ironie, die das Lächerliche im Menschen so bestechend enthüllt. Er erwies sich als kluger Freigeist, der die moderne Konvention als Lüge und klägliche Servilität entlarvte. Eine großzügige Seele, die niemals auf das gemeine Niveau der Vorurteile hinabsinkt, mit einem Wort eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die sich unerschrocken den reinsten und kühnsten sozialen Idealen verschrieb. Wenigstens hörte ich so über Victor Charrigaud einen Maler sprechen, den ich hie und da aufsuchte, weil er in mich vernarrt war, und von ihm übernahm ich die seltsamen Details aus Leben und Büchern jenes berühmten Literaten.

Von allen menschlichen Schwächen, die ihn reizten, hatte es Charrigaud auf den Snobismus abgesehen. Seine diesbezüglichen Attacken und unwiderlegbaren Äußerungen enthüllten in seinen Büchern die feige, dekadente Moral aller Snobs. Mit rauher, scharfer Stimme ließ er auch in Gesellschaften einen Sturzbach vernichtender Bonmots über sie ergehen, sie wurden von den einen gesammelt, von anderen weiterkolportiert und am Ende in Paris als in ihrer Art klassisch bezeichnet. Man lernte von ihm eine völlig neue psychologische Beurteilung des Snobismus kennen, die er seinem Publikum in verblüffenden Karikaturen vorsetzte.

Wenn einer über ein Antiseptikum zur Verhütung der in allen snobistischen Salons grassierenden moralischen Influenza verfügte, dann konnte es nur Charrigaud selbst sein. Tatsächlich war ja seine Ironie das beste Mittel gegen Ansteckung. Aber die Entwicklung des Menschen besteht aus Selbsttäuschungen, unerklärlichen Widersprüchen und Narrentum. Hätte er diesen Typus so glänzend zeichnen können, ohne die geheimsten Kenntnisse dieses Charakters zu besitzen? Als er die ersten Liebkosungen des Erfolges gekostet hatte, begann der Snob, der in ihm steckte, zu explodieren. Es begann damit, daß er Freunde, die ihm lästig wurden, treulos im Stich ließ. Mit anderen aber, die über die nötigen Beziehungen verfügten, um seinem jungen Ruhm dienlich zu sein, pflegte er engen Kontakt, wer eine einflußreiche Stelle bei der Presse besaß, durfte seiner Freundschaft sicher sein. Gleichzeitig fing er an, sich intensiv mit der Mode und seiner Kleidung zu befassen. Plötzlich trug er Redingotes mit Kragen und Krawatten im verwegenen Stil der dreißiger Jahre, er bevorzugte Samtwesten von aufdringlicher Eleganz, auffallenden Schmuck und die närrischesten Hüte. Wo er sich in Gesellschaft blicken ließ, zog er silberne, mit Edelsteinen besetzte Tabatieren hervor und rollte seinen Tabak in Goldpapier. Trotz aller Bemühungen, ein Dandy zu werden, blieb er der Typ eines Bauern aus der Auvergne, er bewegte sich weiterhin schwerfällig und ungeschickt, kurz, er blieb, was er war, ein linkischer Tölpel, ohne vornehmes Auftreten, ohne gepflegte Sprache. Weil er so bar jeder Vorbereitung in die Welt des eleganten Paris eingedrungen war, fühlte er sich in diesem Milieu ziemlich fremd, und obwohl er ununterbrochen bemüht war, den Pariser Chic und dessen routinierteste Repräsentanten zu studieren und nachzuahmen, erreichte er nie die selbstverständliche Eleganz und die delikate, geschmeidige Silhouette, um die er die jungen Lebemänner auf dem Rennplatz, im Theater und in den Klubs beneidete. Er fragte sich selbst, woran das eigentlich lag, schließlich bezog er für sein Äußeres alles nur von den besten Lieferanten, er bemühte die berühmtesten Schneider, die gesuchtesten Hemdennäher und wahre Künstler als Schuhmacher. Wenn er sich so im Spiegel kritisch betrachtete, stieß er Verwünschungen aus:

»Und wenn ich noch mehr Samt und Seide, Moiré und Brokat in Anspruch nehme, ich sehe stets wie ein Flegel aus. Woher das bloß kommen mag? Das ist bestimmt nicht normal!«

Madame Charrigaud, bisher sehr einfach und zurückhaltend geblieben, entdeckte nun ebenfalls plötzlich ihr Herz für auffallende Toiletten, für rotes Haar, für knalligen Schmuck, für schockfarbene Seiden, sie nahm die Allüren einer Zirkuskönigin an und das Auftreten einer Fastnachtprinzessin. Man mokierte sich über sie, man kolportierte grausame Späße. Die verratenen Freunde der beiden rächten sich und sagten scheinheilig:

»Der arme Victor Charrigaud! Welch ein Schicksal! Der große Ironiker verliert den Verstand. Aus ist es mit seiner Ironie! Das kommt davon, wenn ein Ironiker zu den mondänen Schneidern geht ...«

Schließlich hatten sie es soweit gebracht: sie wurden von der großen Welt empfangen. Allerdings nach schmachvollen Bittgängen; unter diplomatischen Kunststückchen schafften sie sich Eingang bei den jüdischen Bankiers, bei den Herzögen von Venezuela, bei heimatlosen Erzherzögen und überspannten alten Damen, die etwas für die avantgardistische Literatur übrig hatten, und vielen anderen unseriösen Salons. Aber diese neue Welt und ihre Beziehungen dazu wollten sie erobern und Umgang mit ihr pflegen.

Eines Tages schrieb Charrigaud an einen unbedeutenden Freund, dessen Einladung zum Essen er ohne Überlegung angenommen hatte, weil er ihn aus Berechnung noch nicht völlig aufgeben wollte, folgenden Brief:

»Mein Lieber, es tut uns furchtbar leid, wir sind verzweifelt, weil wir unser Versprechen, Euch zu besuchen, wirklich nicht halten können. Aber just am Montag erhielten wir eine Einladung von Rothschilds zum Diner. Es ist die erste! Du verstehst sicher, daß wir nicht absagen können! Das wäre eine Katastrophe. Glücklicherweise kenne ich Dich und bin überzeugt, Du wirst es uns nicht übelnehmen, wenn wir nicht kommen. Ich bin sicher, daß Du unsere Freude und unseren Stolz teilen wirst.«

Und zu einem anderen Zeitpunkt erzählte er, daß er in Deauville ein Haus gekauft habe, und diesen Erwerb schilderte er so:

»Ich weiß wahrhaftig nicht, wofür uns diese Leute gehalten haben. Sie benahmen sich so, als hätten sie es mit Journalisten oder Bohèmiens zu tun. Ich habe ihnen aber sofort zu verstehen gegeben, daß ich einen Notar für meine Angelegenheiten beschäftige.«

Nach und nach eliminierte er aus seinem Kreis sämtliche Freunde, die ihm aus seiner Jugend und seinen Anfängen verblieben waren, denn ihre Gegenwart gemahnte ihn auf unerfreuliche Weise an seine Vergangenheit, an seine niedere Herkunft, die ihm plötzlich sozial anrüchig vorkam, und schließlich verstieg er sich sogar dazu, seine Begabung und seine Arbeit zu verleugnen. Die Flammen seines Geistes erloschen, er wagte nicht mehr zurückzudenken, die Erinnerungen an Beginn und Aufstieg waren ihm peinlich. Vor allem aber genügte es ihm mit der Zeit nicht mehr, von anderen eingeladen zu werden, er wollte selbst Hausherr spielen. Die Einweihung eines kleinen Palais in Auteuil gab ihm zunächst den ersten Vorwand für ein großes, mit viel Tamtam inszeniertes Diner.

Zur selben Zeit, als die Charrigauds sich zu diesem festlichen Ereignis entschlossen hatten, trat ich meine Stellung bei ihnen an. Keinesfalls sollte es Ähnlichkeit mit jenen intimen, heiteren Festen haben, die bei seinen alten Freunden so beliebt gewesen waren, diesmal sollte vielmehr ein wirklich feierliches offizielles Abendessen zustande kommen, eben eines von jenen, bei denen es steif und zeremoniell zugeht und zu dem einige Berühmtheiten der Literatur oder überhaupt aus Kreisen der Kunst und auch ein paar ausgezeichnete gefeierte Persönlichkeiten geladen werden sollten, deren Glanz auf die Gastgeber zurückstrahlen konnte.

»Es ist keine Kunst«, behauptete Victor Charrigaud, »seinen Freunden ein Diner in der Stadt zu geben, aber es gehört Feingefühl dazu, sie bei sich zu Hause einzuladen.«

Er brauchte eine Weile, um dieses Problem zu lösen, dann machte Victor Charrigaud seiner Frau folgenden Vorschlag:

»Hör zu, so wird es gehen! Ich glaube, wir laden fürs erste nur geschiedene Frauen mit ihren Liebhabern ein, denn schließlich muß man ja mit irgend etwas anfangen. Darunter gibt es wirklich Personen, die durchaus repräsentativ sind, die sogar die katholischen Zeitungen mit Bewunderung erwähnen. Später, wenn unsere gesellschaftlichen Beziehungen sich gefestigt haben, lassen wir die Geschiedenen wieder fallen.«

»Einverstanden«, gab Madame Charrigaud zu, »zunächst kommt es uns darauf an, die Elite der Geschiedenen auszuwählen. Übrigens, man kann sagen, was man will, heutzutage ist die Ehescheidung eine Tatsache.«

Charrigaud lächelte maliziös: »Die Scheidung hat immerhin den Vorteil, daß sie den Ehebruch überflüssig macht. Eine Angelegenheit von vorgestern. Daran klammert sich nur noch unser Freund Bourget, er glaubt an den christlichen Ehebruch und an englische Möbel.«

Madame Charrigaud konterte gereizt:

»Deine Bosheiten und Geistreicheleien gehen mir langsam auf die Nerven. Du wirst sehen, mein Lieber, du wirst es sehen, daß wir niemals einen kultivierten Salon haben werden, weil du immer wieder Porzellan zerbrichst.«

Und darauf folgte ihr klassischer Ausspruch:

»Du tätest besser daran, den Dummen zu spielen und den Mund zu halten, solange du den Ehrgeiz hast, ein Mann von Welt zu werden.«

Endlich wurde eine Gästeliste entworfen, verworfen und wieder neu angelegt, und nach vielen enervierenden Kombinationen stand endlich das Resultat fest:

Comtesse Fergus, geschieden, mit ihrem Freund, dem Volkswirtschaftler und Abgeordneten Joseph Brigard.

Die Baronin Henri Gogsthein, geschieden, mit ihrem Freund, dem Dichter Théo Crampp.

Die Baronin Otto Butzinghen mit ihrem Freund, dem Vicomte Lahyrais, Klubmitglied, Sportsmann, Spieler und Schwindler.

Madame de Rambure, geschieden, mit ihrer Freundin Madame Tiercelet, ebenfalls in Scheidung.

Sir Harry Kimberly, symbolistischer Musiker, enragierter Päderast, und sein junger Freund Lucien Sartorys, schön wie eine Frau, geschmeidig wie ein Wildlederhandschuh.

Die beiden Mitglieder der Akademie Joseph Dupont de la Brie, obszöner Numismatiker, und Isidore Durand de la Marne, Autor pikanter Memoiren, im Privatleben ernst zu nehmender Sinologe am Institut.

Der Porträtist Jacques Rigaud.

Der Romancier Maurice Fernancourt, Verfasser psychologischer Schriften.

Poult d'Essoy, der Chronist der mondänen Welt.

Die Einladungen wurden augenblicklich verschickt und dank einiger geschickter Interventionen ohne Ausnahme angenommen.

Nur die Comtesse Fergus zögerte:

»Die Charrigauds?« überlegte sie. »Ist das tatsächlich ein anständiges Haus? Hat der Mann nicht früher in Montmartre alle Arbeiten angenommen, die er bekommen konnte? Wurde nicht erzählt, daß er seinerzeit obszöne Photographien verkauft hat, für die er höchstselbst Modell stand? Und sie? Wie war das mit ihr? Da sind doch auch allerhand schmutzige Geschichten im Umlauf gewesen. Hatte sie vor ihrer Heirat nicht allerhand üble Abenteuer erlebt? Sagt man nicht, daß sie Modell gestanden hat – und nicht einmal allein, sondern daß sie für intime Aktaufnahmen zusammen mit einem Mann zu haben war? Wie abscheulich! Eine Frau, die sich vor Männern, die nicht einmal ihre Liebhaber sind, ganz nackt auszieht!«

Endlich nahm sie die Einladung an, nachdem man ihr versichert hatte, daß Madame Charrigaud für Aufnahmen immer nur ihren Kopf hergehalten hätte und daß der rachsüchtige Charrigaud imstande wäre, die Comtesse auf Grund ihrer Absage in einem seiner nächsten Bücher unmöglich zu machen. Und überdies kam ja auch Kimberly – er hatte versprochen zu kommen –, und wenn ein so perfekter Gentleman, ein so charmanter, delikater Mensch zugesagt hat, dann konnte man ruhig die Einladung annehmen.

Natürlich erfuhren die Charrigauds auf Umwegen von diesen Skrupeln und Beratungen. Weit davon entfernt, darüber gekränkt zu sein, beglückwünschten sie sich gegenseitig, daß man die einen angeführt, die anderen überrumpelt hatte. Nun handelte es sich nur noch um das Problem, sich in acht zu nehmen und, wie Madame Charrigaud sich auszudrücken pflegte, wie richtige Weltleute aufzutreten. Dieses Diner, mit soviel Aufwand inszeniert und kombiniert, bedeutete ja die erste förmliche Manifestation ihrer Absicht, sich die Zugehörigkeit zur großen Welt zu erobern. Es mußte also eine ganz außerordentliche Sache werden.

Bereits acht Tage vorher ging im Haus dieses Snobs und Neureichen alles drunter und drüber. Was sich hier abspielte, war für diese Modeaffen bezeichnend. Den Gästen sollte die Spucke wegbleiben. Man probierte x-mal die Tafeldekorationen und die Beleuchtung, unentwegt war man auf der Jagd nach besonderen Effekten. Und vor allem wollte man sich vor Überraschungsmomenten sichern. Über dieses Thema gerieten Madame und Monsieur aneinander, sie stritten sich wie Kutscher, denn sie hatten über ästhetische Wirkungen grundverschiedene Ansichten. Sie neigte zu sentimentalen Arrangements, er aber bevorzugte schlichte »künstlerische« Effekte.

»Du närrisches Frauenzimmer!« schrie er, »du kannst ihnen doch nicht so ein kitschiges Mischmasch aufwarten! Das würde sich wirklich bezahlt machen! Du hast Schnapsideen!«

»Brüll nur«, entgegnete sie zitternd und einem Nervenanfall nahe, »du bist der alte geblieben: ein schmieriger Herumtreiber in schäbigen Lokalen ... Überhaupt, ich habe genug – verstehst du mich, genug! Übergenug! Du kannst mich ...«

»Na also, sind wir endlich soweit, laß uns gleich die Scheidung einreichen, du schlaue Katze, dann passen wir wenigstens in dieser Beziehung zu unseren Gästen!«

Anschließend daran stellten sie fest, daß es an Silber, Kristall und Geschirr fehlte, also mußte man es ausleihen, und von den fünfzehn Stühlen, die sie einmal erworben hatten, waren nur die wenigsten von ähnlicher Stilart, so daß sie auch noch Stühle mieten mußten. Endlich war es soweit, daß man das Menü bei einem berühmten Küchenchef bestellte.

»Sorgen Sie dafür, daß es ultrachic wird«, befahl Madame Charrigaud, »man darf überhaupt nicht erkennen, was bei uns serviert wird. Besorgen Sie Hühnerkeulen aus Krabbenfleisch, Koteletts aus Leberpastete, Wild in Schinkenform, Schinken wie Kuchen, Trüffeln als Schaum und Püree als Astwerk. Zum Schluß wünsche ich eckige Kirschen und Pfirsiche in Spiralenform. Kurz und gut, arrangieren Sie das Menü ultrachic!«

»Oh, seien Sie unbesorgt, Madame«, beruhigte sie der Restaurateur, »auf außergewöhnliche Dinge verstehe ich mich ganz besonders, ich garantiere Ihnen, niemand wird erkennen, was er ißt. Das ist unsere Spezialität.«

Und der große Tag kam heran.

Monsieur erhob sich als erster, unruhig, nervös, ganz aus dem Häuschen. Madame hatte die ganze Nacht kein Auge geschlossen, übermüdet von den Rennereien am Vortag und etwas durcheinander von den vielen Vorbereitungen schoß sie treppauf, treppab durch das ganze Haus, atemlos, mit Kummerfalten auf der Stirn und schließlich so erledigt, daß ihr das Herz in die Hosen rutschte. Völlig sinnlos rückte sie Möbel hin und her, schob Nippes von einem Platz auf den anderen, riß ebenso unsinnig sämtliche Zimmertüren auf und stieß sie wieder zu, kurz, sie gebärdete sich wie toll. Sie hatte Angst, daß der Küchenchef nicht rechtzeitig eintreffen würde, sie zitterte vor Aufregung, ob der Blumenhändler pünktlich liefern würde, am meisten fürchtete sie, daß die Tischordnung nicht ganz der Etikette entsprechen könnte. Monsieur rannte wie ein Hündchen hinterdrein, unbeschreiblich komisch anzusehen in seiner rosaroten Seidenunterhose, und lobte dort oder kritisierte da.

»Wenn ich es ganz ruhig, ich meine, ganz sachlich überlege«, sagte er, »dann war die Idee, Flockenblumen für die Tischdekoration zu wählen, ziemlich albern. Sie werden im Lampenlicht schwarz aussehen und eine fatale Ähnlichkeit mit gewöhnlichen Kornblumen bekommen. Als wären wir in einem Feld gewesen, um Kornblumen zu pflücken.«

»Was sagst du da? Kornblumen zu pflücken?! Gott, bist du gemein!«

»Aber es sind doch nun einmal Feldblumen! Und Feldblumen – das hat Kimberly erst unlängst bei den Rothschilds gesagt – sind keine Blumen für Leute von Welt. Warum hast du nicht gleich Klatschmohn bestellt?«

»Laß mich in Ruhe«, keifte Madame, »du bringst mich um den Verstand mit deinen stupiden Sticheleien. Hältst du das für das richtige im Augenblick?«

Aber Monsieur gab nicht nach:

»Jawohl, Kornblumen! Du wirst schon sehen – und ob du es sehen wirst. Mein Gott, der Himmel gäbe, daß alles noch gut vorübergeht. Und hoffentlich ohne Pannen! Wäre nur schon alles vorüber! Nie hätte ich gedacht, daß es so anstrengend und so kompliziert ist, die vornehme Welt zu erobern! Dazuzugehören! Vielleicht hätte ich lieber ein literarischer Herumtreiber bleiben sollen?«

Madame stichelte:

»Bleiben sollen? Du bist doch einer geblieben, mit dir kann man wahrhaftig keinen Staat machen.«

 

Weil meine Herrschaft mich niedlich und recht attraktiv fand, wurde mir in dieser Komödie eine besondere Rolle zugedacht. Zunächst einmal sollte ich die Gäste in der Garderobe in Empfang nehmen und dann die vier Kellner überwachen und dirigieren. Das waren vier große, durchtriebene Kerle mit riesigen Koteletten, aus verschiedenen Stellenvermittlungsbüros in größter Eile zusammengelesen, sie sollten dieses piekfeine Diner servieren.

Zuerst ging alles gut. dennoch kam es zu einer kleinen Stockung, weil die Comtesse Fergus um dreiviertel neun noch nicht erschienen war. Hatte sie am Ende im letzten Augenblick beschlossen, nicht zu kommen? Welche Blamage! Welch ein Unglück! Die Charrigauds waren nahe dem Überschnappen. Joseph Brigard beruhigte sie. Es war ja der Tag, an dem die Gräfin mit den Mitgliedern des von ihr eigens gegründeten Wohltätigkeitsverbandes zusammenkam und bei einer besonderen Sitzung präsidierte: Aufgabe dieses Verbandes war es, Zigarrenstummel für Heer und Marine zu sammeln! Solche Sitzungen dauerten gewöhnlich recht lange.

»Welch reizende Frau!« schwärmte Madame Charrigaud, als läge in solcher Lobhudelei eine beschwörende Kraft, die säumige Aristokratin, die sie im stillen die dreckige Gräfin nannte, herbeizuzaubern.

»Und welch geistreicher Kopf!« versicherte Charrigaud, der in dieser Situation die gleichen Gefühle für die Dame hegte wie seine Gattin. »Unlängst bei Rothschilds hatte ich den überwältigenden Eindruck, man müsse ins vorige Jahrhundert zurücksteigen, um eine Frau von ähnlicher Überlegenheit und von solch hinreißender Anmut zu finden.«

»Und das ohne Übertreibung!« ergänzte Joseph Brigard. »Sehen Sie, mein lieber Charrigaud, in der heutigen demokratischen Gesellschaft, wo soviel von Freiheit und Gleichheit geredet wird …«

Und er begann eine seiner halb galanten, halb soziologischen Ansichten zum besten zu geben, wie er es bei jeder Gesellschaft tat und sich dabei ständig wiederholte, als die Comtesse Fergus in imponierender Aufmachung hereinrauschte: schwarzes Abendkleid, mit Straß bestickt, und ein Dekolleté, das ihre vollen weißen Schultern raffiniert zur Geltung brachte. Unter bewunderndem Gemurmel und erregtem Geflüster begab man sich langsam in den Speisesaal.

Der Auftakt zu diesem Diner verlief frostig. Trotz ihres erfolgreichen Auftretens, vielleicht aber sogar deswegen, zeigte sich die Comtesse vorläufig sehr zurückhaltend und selbstbewußt. Die meisten Anwesenden hatten den Eindruck, sie wolle mit dieser Reserviertheit zu verstehen geben, wie tief sie herabgestiegen sei, um mit ihrem Erscheinen das Haus dieser bescheidenen kleinen Leute zu beehren. Charrigaud glaubte zu bemerken, daß sie mit einer kaum verhohlenen Verachtung das geliehene Silber, die Tafeldekoration, das grüne Abendkleid der Madame Charrigaud und die unanständig langen Koteletten der vier Kellner musterte, deren Bartspitzen beim Servieren fast in die Schüsseln hingen. Einen peinvollen Augenblick lang überfielen ihn drückende Zweifel über den Ablauf seines Diners und die Haltung seiner Frau. So verlief eine qualvolle Minute!

Endlich, nach einigen peinlichen Banalitäten über den Tagesablauf, wurde das Gespräch allgemeiner und breitete sich schließlich über das Thema der Reform des mondänen Lebens und dessen Gesetze aus.

Plötzlich vergaßen diese armen Teufel und Teufelinnen ihre eigenen zweifelhaften Existenzen, nämlich ihre angreifbare Lebensführung, und entpuppten sich zu grausamen, seltsam intoleranten Leuten gegenüber Personen, denen man Verfehlungen gegen die Gesetze der Gesellschaft nachsagte. Der kleinste Fleck einer bisher untadeligen Weste wurde unnachsichtig besprochen. Wer den Regeln der Gesellschaft nicht gehorchte, versündigte sich gegen das allererste Gebot. Das mit anzusehen und mit anzuhören, entbehrte nicht einer gewissen Komik. Sie teilten gleichsam die Welt in zwei Hälften, die eine bestand aus denen, die sich den Regeln fügten, die andere aus denen, die es nicht taten. Hier die gesellschaftsfähigen Personen, drüben die anderen. Also Leute, die man empfangen konnte oder Leute, die man ablehnen mußte. Und dann zerlegten sie die beiden großen Hälften in Stücke, diese wieder verteilten sie in Scheiben bis ins Unendliche. Wer nicht dabei war, wer es nicht mit angehört hatte, hielt dieses Feilschen und Verteilen nicht für möglich. Da gab es Leute, bei denen man zur Not dinieren konnte, dann gab es andere, zu denen man erst nach dem Diner ging, und schließlich jene, mit denen man unter gar keinen Umständen an einem Tisch sitzen wollte. Daneben gab es andere, denen man nur unter ganz besonderen Umständen Zutritt zu seinem Salon erlauben konnte. Selbstverständlich gab es auch Leute, die man überhaupt nicht empfangen konnte. Andererseits gab es wieder welche, die man wohl empfangen konnte, zu denen man aber besser selbst nicht ging. Man feilschte darum, wen man wohl zu einem Frühstück, aber keinesfalls zum Diner einladen konnte, mit wem man in einem ländlichen Restaurant, doch niemals in Paris offiziell speisen durfte. All das wurde durch Beispiele und bekannte Namen illustriert.

»Die Nuance«, sagte der Vicomte Lahyrais, Sportsmann, Mitglied eines Klubs und Falschspieler, »nur auf die Nuance kommt es an. Die strikte Achtung der Nuance macht den Weltmann erst zu dem, was er ist oder nicht ist.«

Niemals, glaube ich, habe ich in meinem Leben traurigere Geschichten mit angehört. Und so, als unbeteiligte Zuhörerin, empfand ich aufrichtiges Mitleid mit diesen armen, hohlen Menschen.

Charrigaud aß fast nichts, trank auch nicht und verhielt sich stumm. Vielleicht fühlte er in seinem Kopf die haarsträubende Dummheit der Tischkonversation. Ungeduldig, fieberhaft, sehr, sehr bleich verfolgte er die Bedienung, oder er gab sich Mühe, auf den Gesichtern seiner Gäste etwas abzulesen, das für ihn günstig oder vernichtend sein könnte. Mechanisch und immer schneller und unruhiger rollte er, trotz drohender Blicke seiner Frau, Brotkügelchen zwischen seinen Fingern, und auf Fragen oder Anreden antwortete er zerstreut, sichtlich abwesend und mit unsicherer Stimme:

»Gewiß – gewiß – gewiß ...«

Direkt ihm gegenüber, schrecklich steif in ihrem grünen, perlbesäten Kleid mit roten Federn im Haar, saß Madame Charrigaud, phosphoreszierend in der Abendbeleuchtung wie ein Bild von zu grellen Farben. Sie neigte sich nach rechts und nach links, sie lächelte, ohne ein Wort hervorzubringen, sie lächelte krampfhaft und verzerrt.

»Wie eine Dirne«, dachte Charrigaud, »welch dumme, lächerliche Person! Und wie aufgedonnert! Diese Federn im Haar! Wie ein Zirkuspferd! Ach, wenn wir morgen in ganz Paris verrissen werden, dann geht das auf ihr Konto.«

Und was dachte Madame Charrigaud unter ihrem maskenhaften Lächeln?

»Dieser Victor ist doch wirklich ein Idiot! Nein, mit ihm ist kein Staat zu machen! Morgen werden sie uns nach Strich und Faden durchkämmen – vor allem ihn mit seinen Brotkügelchen!«

Inzwischen hatte sich die Diskussion über das mondäne Leben ziemlich erschöpft, man kam auf kleinen Umwegen über die Liebe auf antike Nippes zu sprechen. Das war ein Thema, über das der junge Lucien Sartorys als Fachmann das Wort führen durfte, denn er besaß selbst einige fabelhafte Stücke. Er war ein geschickter, erfolgreicher Sammler. Seine Vitrinen waren berühmt.

»Aber wo entdecken Sie solche Schätze?« wollte Madame de Rambure wissen.

»In Versailles«, antwortete Sartorys, »bei schwärmerischen aristokratischen Witwen und bei sentimentalen Stiftsdamen. Niemand kann sich vorstellen, was für Kostbarkeiten bei diesen alten Damen zum Vorschein kommen ...«

Madame de Rambure wollte noch mehr erfahren:

»Und wie bewegen Sie die Damen, Ihnen ihre Kostbarkeiten zu verkaufen?«

Geschmeidig und kokett lehnte er sich zurück und gab eine – offenbar mit Absicht gewählte – verblüffende Antwort:

»Ich mache ihnen ein bißchen den Hof, und später erzähle ich ihnen Perversitäten.«

Man schrie vor Begeisterung über soviel Kühnheit auf. Da man diesem Burschen rein alles verzieh, war man einfach verpflichtet zu lachen.

»Und was verstehen Sie unter Perversitäten?« fragte die Baronin Gogsthein teils neckisch, teils ironisch, denn sie liebte gewagte Gespräche.

Aber Sartorys hatte einen Blick von Kimberly aufgefangen und schwieg.

Maurice Fernancourt sagte mit einer Wendung zur Baronin ganz sachlich:

»Zuerst müßte man wissen, was Sartorys unter natürlich und was er unter pervers versteht.«

Alle Gesichter wurden wieder heiterer, und kühn geworden durch den Erfolg, wandte sich Madame Charrigaud direkt an Sartorys und fragte mit erhobener Stimme:

»Also stimmt es? ... Sie gehören auch zu der Bruderschaft?«

Eine eiskalte Dusche hätte die Zuhörer nicht mehr zum Erstarren bringen können, als diese Worte. Nach einer peinlichen Stille bewegte die Comtesse sehr ostentativ ihren Fächer, man sah einander fragend an, zunächst noch immer etwas schockiert, doch dann hörte man hie und da einen Gickser, Anzeichen eines unterdrückten Lachens.

Bleich wie ein Toter saß Charrigaud da, kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn, er vergaß ihn abzutupfen, mit verkniffenen Lippen und stumm vor Wut begann er abermals Brotkügelchen zu drehen. Oh, ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn Kimberly nicht in diesem kritischen Augenblick mit der Erzählung von einer Reise nach England begonnen hätte:

»Ich verbrachte also acht berauschende Tage in London und durfte dort einem einzigartigen Ereignis beiwohnen. Ich wurde zu einem Diner eingeladen, das der große Poet John-Giotto Farfadetti einigen Freunden gab, als er seine Verlobung mit der Frau seines lieben Freundes Frédéric-Ossian Pinggleton feierte.«

»Das muß himmlisch gewesen sein!« miaute die Comtesse Fergus.

»Sie können es sich unmöglich vorstellen!« antwortete Kimberly, dessen Blicke und Gesten bis zur Orchidee im Knopfloch seines Fracks glühende Begeisterung ausdrückten.

Und er fuhr fort:

»Chère amie, stellen Sie sich einen großen Saal vor, dessen leicht getönte blaue Wände weiße und goldene Pfauen schmücken. Ein undeutliches, delikates Licht leuchtet auf dem hinreißend zarten Oval eines unvorstellbar kostbaren Jadetisches. Auf ihm harmonieren einige Schalen mit gelben und violetten Bonbons. Inmitten dieser Schalen steht ein rosenfarbenes Kristallbecken voll mit kaledonischen Konfitüren. Sonst nichts. Alle Gäste waren in lange weiße Gewänder gehüllt, schritten gemessen an der Schale vorbei. Sie nahmen mit der Spitze ihrer goldenen Messer ein wenig von diesen geheimnisvollen Konfitüren ... Benetzten sich damit die Lippen – sonst nichts.«

»Oh! Wie aufwühlend!« seufzte die Comtesse.

»Ach, Sie machen sich davon überhaupt keine Vorstellung. Aber das Aufwühlendste an dieser Zeremonie erlebten wir, als Frédéric-Ossian Pinggleton uns das Poem auf die Verlobung seiner Frau mit seinem Freunde deklamierte. Unsere Ergriffenheit hatte sich bereits zu einem unerträglichen Seelenschmerz gesteigert. Ich kenne nichts, was so tragisch, so übermenschlich schön wäre ...«

»Oh, ich flehe Sie an«, bat die Comtesse, »rezitieren Sie uns dieses herrliche Gedicht, Kimberly.«

»Das Gedicht, teuerste Comtesse? Dazu bin ich nicht imstande. Ich könnte Ihnen höchstens einen Auszug davon vermitteln.«

»Ja, eine Essenz! Nicht wahr, das ist es!?«

Trotz seiner abwegigen Veranlagung brachte es Kimberly fertig, die Frauen zu begeistern, obwohl sie wahrhaftig nichts von ihm zu erwarten hatten. Sie waren wie verrückt nach ihm. Er verstand es auf eine besonders subtile Art, anstößige Geschichten zu erzählen und mit viel Charme selbst das Gewagteste vorzutragen. Mit einemmal überlief alle Anwesenden ein Schauer, rund um den Tisch breitete sich zitternde Erregung aus, sogar der Schmuck auf nackter Frauenhaut, selbst die Gläser auf dem Damasttischtuch gerieten in ein Glitzern und Funkeln, als wäre alles von dem nervösen Fieber, das die Gäste ergriffen hatte, angesteckt. Charrigaud war einer Ohnmacht nahe. Sein Verstand konnte da nicht mit. Plötzlich glaubte er, sich in einem Narrenhaus zu befinden. Dennoch brachte er es mit letzter Willensanstrengung fertig, zu sagen:

»Aber gewiß – gewiß ...«

Die Lohndiener reichten gerade etwas herum, was zwar einem Schinken ähnelte, aber von einer gelblichen cremeartigen Masse umgeben war, aus der merkwürdigerweise Kirschen wie rote Larven hervorquollen. Die Comtesse Fergus, schon halb entrückt, weilte bereits in höheren Regionen.

Kimberly begann:

»Frédéric-Ossian Pinggleton und sein Freund John-Giotto Farfadetti beendeten in ihrem Atelier ihr Tagewerk. Der eine war ein großer Maler, der andere ein berühmter Poet; der erste war kurz und gedrungen, der andere hager und lang. Beide waren in grobe Wollkittel gekleidet, sie trugen die gleichen florentinischen Kappen, sie waren beide neurasthenisch veranlagt, denn in ihren verschiedengearteten Leibern wohnten durchaus gleichgeartete Seelen und ein fast zwillingshaft ähnlicher Geist. John-Giotto besang in seinen Versen die wundervollen Symbole, die sein Freund Frédéric-Ossian auf die Leinwand zauberte, und zwar so untrennbar war der Ruhm des Dichters mit dem des Malers verbunden, daß man die beiden unsterblichen Genies mit analoger Anbetung vergötterte.«

Hier setzte Kimberly eine Zäsur. Das Schweigen kam religiöser Andacht nahe. Etwas Heiliges schwebte über der Tafel. Er fuhr fort:

»Der Tag ging zu Ende. Eine sanfte Dämmerung hüllte das Atelier in zartes Zwielicht und bleiche Mondschatten. Auf den jetzt violetten Wänden nahm man die langen goldenen Algen kaum wahr, die sich leise wie am Grund eines magischen Wassers bewegten. John-Giotto Farfadetti schloß den Folianten, in den er auf pergamentenen Seiten seine unsterblichen Verse, man kann nicht sagen schrieb, sondern gravierte. Frédéric-Ossian Pinggleton schob seine Staffelei in Leierform nahe an eine Draperie und legte seine lyraförmige Palette auf ein graziles Möbel nieder. Unendlich delikat, man könnte sagen mit königlich müden Gesten, streckten sie sich auf einer Liege von dreifach übereinandergetürmten meergrasfarbenen Kissen aus ...«

Madame Tiercelet räusperte sich leise warnend.

»Nein, nein«, versicherte Kimberly, »keine Sorge, nichts von alledem, was Sie jetzt denken!«

Und er fuhr fort:

»Dem Mittelpunkt des Ateliers, wo sich in einem Marmorbecken Rosenblüten badeten, entströmte mit einemmal ein betäubender Duft. Auf einem kleinen Tisch verwelkten langstielige Narzissen wie kleine Seelen in einer engen Vase, deren Öffnung sich nach oben hin wie der Blütenkelch einer obszön anmutenden Lilie ausbreitete ...«

»Unvergeßlich!« wisperte die Comtesse unter Schauern und kaum vernehmbar.

»Und draußen, auf der verlassenen Straße, wurde es still wie in einer Kirche. Nur aus der Ferne, von der Themse her, schwebten die ersterbenden Stimmen der Schiffssirenen und das Keuchen der Dampfkessel zu uns herein. Es war die Stunde, in der die beiden Freunde, ihren Träumen hingegeben, in unaussprechlichem Schweigen verharrten.«

»Oh! Ich sehe die beiden ganz deutlich!« versicherte Madame Tiercelet bewundernd.

»Wie vieldeutig, wie rein wirkt dieses unaussprechliche Schweigen«, lobte die Comtesse.

Diese schmeichelhaften Unterbrechungen gaben Kimberly Gelegenheit, seine Kehle mit etwas Champagner anzufeuchten, und erst als er spürte, wie sich die passionierte Aufmerksamkeit um seine Person noch erhöhte, wiederholte er:

»Ja, ihr Schweigen war tatsächlich unaussprechlich. Aber an diesem Abend hörte man plötzlich John-Giotto Farfadetti murmeln: ›In meinem Herzen wurzelt eine vergiftete Blume ...‹

Darauf Frédéric-Ossian: ›An diesem Abend singt ein trauriger Vogel in meinem Herzen ...‹ Der Atelierraum schien an diesem ungewöhnlichen Gespräch teilzunehmen. Auf den violetten Wänden, die mehr und mehr verblaßten, entfalteten und schlossen sich abwechselnd die goldenen Algen, öffneten sich wieder, sanken in sich zusammen, wie unter dem Rhythmus einer neuen, noch unbekannten Melodie. Damit wurde uns gewiß, daß die menschliche Seele mit der Seele der Dinge in untrennbarer Beziehung steht und die angeblich tote Umwelt durchaus teilnimmt an den Ängsten, Leidenschaften und Sünden, kurz am ganzen Leben der Menschen.«

»Wie wahr!« kam es wie ein einziger Schrei über viele Lippen, aber Kimberly brannte darauf, seinen Vortrag fortzusetzen, er war fest entschlossen, sich von keinerlei emotionellen Zurufen aufhalten zu lassen. Unter der atemlosen Spannung seines Auditoriums fuhr er fort, womöglich noch geheimnisvoller als bisher:

»Diese Minute tragischen Schweigens beendete John-Giotto Farfadetti mit dem dramatischen Flehen:

›Oh, mein Freund, der du mir alles gabst, du, dessen Seelenschwingungen so wundervoll auf die meinigen abgestimmt sind, du mußt mir etwas schenken, was mir bisher versagt war, und das ich brennend gerne besitzen möchte ...‹ – ›Du willst also, daß ich dir mein Leben gebe?‹ unterbrach ihn der Maler. ›Nimm es, es ist dein!‹ – ›Nein, es ist nicht dein Leben, worum ich dich bitte, es ist mehr als das – es ist mehr als das ... Ich verzehre mich nach deiner Frau!‹

›Botticellina!‹ schrie der Maler.

›Ja, Botticellina ... Botticellinetta, Fleisch deines Fleisches … Seele deiner Seele ... Traum deiner Träume ... magischer Schlummer deiner Schmerzen! ...‹ – ›Botticellina! Wehe uns, es mußte so geschehen ... Du bist in ihr versunken ... und sie versank in dich ... sie ist in dir ertrunken wie in einem vom Mondlicht überfluteten See ... einem See ohne Grund. Wehe! Ach, wie schmerzlich! … Das also mußte geschehen.‹ Zwei Tränen phosphoreszierten im Halbschatten der Augen des Malers.

Der Dichter aber sprach: ›Höre mich an, mein Freund. Ich liebe Botticellina, und sie liebt mich – und wir sind des Todes, weil wir nicht wagen, uns unsere Liebe zu gestehen und uns zu vereinen. Sie und ich sind wie Schößlinge eines Stammes, vor Ewigkeiten getrennt, einander seit Jahrtausenden suchend und endlich findend. Ach, mein lieber Pinggleton, das Leben mit seinen unergründlichen Rätseln verbirgt in seinem Schoße seltsame, erschreckende, aber auch wunderbare Schicksale. Erleben wir nicht heute abend ein herrliches Gedicht?‹ Aber der Maler wiederholte mit immer schmerzlicherer Stimme: ›Botticellina! Botticellina!‹ Er erhob sich von den dreifach getürmten Kissen und durcheilte in fieberhafter Erregung das Atelier. Nach einigen Minuten angstvollen Schweigens sagte er: ›Botticellina war mein, jetzt soll sie fortan dir gehören?‹ – ›Sie soll die Unsere sein!‹ entgegnete der Dichter mit gebieterischer Stimme, ›denn Gott hat dich zur Nahtstelle unserer getrennten Seelen ausersehen, es ist deine Bestimmung, sie und mich zu vereinen. Botticellina besitzt die Zauberperle, die Träume verscheucht, und ich besitze den Dolch, der uns von den irdischen Fesseln befreit. Versagst du uns die Vereinigung, dann werden wir uns eben im Tode lieben ...‹ Und mit einer hohlen Stimme, die in das Atelier wie aus einem Abgrund widerhallte, fügte er hinzu: ›Vielleicht ist das unsere Bestimmung!‹

›Nein!‹ widersprach der Maler hingerissen, ›ihr sollt leben! Botticellina wird von nun an die Deine sein, wie sie bisher die Meine war! Ehe ich meinen Freund leiden lasse, reiße ich mir lieber das Fleisch vom Leib, lieber schneide ich mir das Herz aus der Brust, lieber zerschmettere ich meinen Schädel an einer Wand. Aber mein Freund soll glücklich sein ... Laßt mich leiden, auch der Schmerz ist eine Art von Lust!‹

›Oh, er ist vielleicht die mächtigste, bitterste und wildeste Wollust‹, rief John-Giotto begeistert, ›und ich beneide dich bereits um dein Schicksal! Ich selbst, so glaube ich, werde entweder aus Freude über die Erfüllung meiner Bitte oder über den Schmerz meines Freundes sterben. Die Stunde der Trennung naht, ich sage dir Lebewohl!‹ Dann erhob er sich wie ein Erzengel. Gleichzeitig öffnete sich die Draperie, und eine wunderbare Erscheinung trat hervor. Botticellina, in ein mondfarbenes, fließendes Gewand gekleidet. Ihr aufgelöstes Haar leuchtete wie lebendige Flammen. In der Hand trug sie einen goldenen Schlüssel. Ihre Lippen verrieten himmlisches Entzücken, und in ihren Augen glänzte der Nachthimmel. John-Giotto lief auf sie zu und verschwand mit ihr hinter der Draperie. Da ließ sich Frédéric-Ossian auf die dreifach übertürmten meerfarbenen Kissen zurücksinken, und während er sich die Nägel in sein Fleisch grub, und sein Blut wie eine Fontäne aufspritzte, erzitterten die goldenen Algen rings an den violetten Wänden, und magische Dunkelheit erfüllte den Raum. Im selben Augenblick begannen die harfenförmige Palette und die leierähnliche Staffelei zu singen und zu klingen und verschmolzen miteinander zu einem nächtlichen Gesang.«

Kimberly verstummte für einige Augenblicke, die Tafelrunde wirkte tief ergriffen, allen Anwesenden versagte die Sprache, und alle Herzen schlugen bang.

Endlich konnte er zum Schluß noch eine wirkungsvolle Erklärung abgeben, er sagte:

»Und darum habe ich bloß die Spitze meines goldenen Messers in die geheimnisvolle Konfitüre, die von kanakischen Jungfrauen bereitet wurde, getaucht, zur Feier eines Erlebnisses, das es in unserem Jahrhundert kaum noch gibt.«

Das Diner war zu Ende. Man erhob sich in andächtigem Schweigen, leise fröstelnd vor Erregung. Im Salon wurde Kimberly umringt und gefeiert. Alle anwesenden Frauen richteten ihre bewundernden Blicke auf sein geschminktes Gesicht und umgaben ihn fast wie ein Strahlenkranz.

»Ach, wie gerne würde ich mich von Frédéric-Ossian Pinggleton malen lassen«, rief Madame de Rambure zitternd vor Leidenschaft, »für ein solches Glück gäbe ich alles!«

»Leider, Madame«, antwortete Kimberly, »entschloß sich Frédéric-Ossian nach jenem schmerzlichen und erhabenen Ereignis, nie wieder ein menschliches Gesicht zu malen, auch wenn es noch so reizvoll wäre. Er malt nur noch Seelen.«

»Oh, wie recht er hat! Ich würde mich ebenso gerne als Seele malen lassen!«

»Und als Seele welchen Geschlechts?« fragte Maurice Fernancourt sarkastisch, aber alle merkten, er war eifersüchtig auf die Erfolge Kimberlys.

Dieser antwortete bescheiden:

»Seelen sind geschlechtslos, mein Lieber, sie sind ...«

»Haare an den Beinen«, sagte der Hausherr, aber so leise, daß er nur von dem psychologischen Romancier verstanden werden konnte, dem er just in diesem Augenblick eine Zigarre anbot.

Und während er ihn mit sich in den Rauchsalon zog, sagte er schnaufend:

»Mein Lieber, wie gerne würde ich jetzt aus vollem Halse fluchen und diesen Leuten zeigen, was ich von ihnen halte. Diese Mondscheinlieben und Seelchen mit ihrem geheimnisvollen Getue können mir alle den Buckel herunterrutschen. Ich habe es satt! Jawohl, satt! Was wäre das für eine Wohltat, könnte man jetzt wenigstens eine Viertelstunde lang ordinäre Witze und richtige Gemeinheiten herausschreien. Das würde mich von diesen ekelerregenden Liliendüften, die sie uns da eingeflößt haben, richtig erlösen! Was meinst du dazu?«

Aber Kimberlys erschütternder Vortrag wirkte noch nach, und so wollte sich kaum jemand in dieser Stimmung für vulgäre Dinge interessieren, nicht einmal mondäne, ästhetisierende oder leidenschaftliche Diskussionen wären jetzt am Platz gewesen. Sogar der Vicomte Lahyrais, Klubmitglied, Sportsmann und Falschspieler in einer Person, hatte plötzlich den Eindruck, als wüchsen ihm Flügel. Alles sehnte sich nach Stille und Einsamkeit, um weiterzuträumen oder um unstillbare Träume versuchsweise zu realisieren. Trotz der Bemühungen Kimberlys, der von einem zum anderen ging und fragte: »Haben Sie schon einmal Zobelmilch getrunken? Nein? Oh, dann versuchen Sie es unbedingt, trinken Sie Zobelmilch, sie schmeckt einfach himmlisch!«, kam die Konversation nicht mehr in Gang. Und so verabschiedete sich einer nach dem anderen und verschwand unter Entschuldigungen. Um elf Uhr waren alle gegangen.

Als Madame und Monsieur sich mit einemmal im Salon allein fanden, musterten sie einander lange, stumm und feindselig, bevor sie ihre Ansichten austauschten.

»Jetzt hast du hoffentlich kapiert, was man unter einem Blindgänger versteht? Dein Diner war ein Versager, Madame, eine hübsche Pleite ...«

»So? Ich hatte den Eindruck, es war deine Schuld«, entgegnete sie spitz.

»Also das ist doch die Höhe!«

»Jawohl, einzig und allein deine Schuld. Du hast als Gastgeber versagt, du hast dich um nichts gekümmert, nur immerfort deine schmutzigen Brotkügelchen gedreht, und du warst nicht imstande, auch nur ein vernünftiges Wort herauszuquetschen. Du hast dich lächerlich benommen! Es ist eine Schmach!«

»Du hast es nötig, so zu reden«, gab er zurück, »ausgerechnet du mit deiner Toilette, deinem hilflosen Lächeln und dazu deine taktlose Bemerkung zu Sartorys. Und das alles wäre einzig und allein meine Schuld? Dann habe ich wohl auch die Geschichte über diesen idiotischen Pinggleton erzählt und an kanakischen Konfitüren genascht? Und anscheinend bin ich auch Päderast und Lilienfetischist?«

»Nicht einmal dazu wärest du imstande!« schrie sie erbost und einem Nervenkollaps nahe.

In dieser Tonart befetzten sie sich noch lange Zeit. Nachdem Madame das Silber und die Flaschen wieder in das Büfett gestellt hatte, verschwand sie in ihr Zimmer und schloß sich ein. Monsieur schlich schnaufend vor Erregung durch die Wohnung. Schließlich entdeckte er mich im Speisezimmer, wo ich Ordnung zu machen trachtete. Wie aus der Pistole geschossen kam er auf mich zu und umfaßte meine Taille.

»Célestine«, sagte er, »willst du ein bißchen lieb sein? Willst du mir einen großen Gefallen tun?«

»Gerne, Monsieur.«

»Nun gut, mein Kind, dann sage mir wenigstens zehn-, zwanzigmal, meinetwegen hundertmal ›Scheiße‹ ins Gesicht!«

»Aber, aber, Monsieur, das ist eine komische Idee! Das wage ich niemals ...«

»Wage es, Célestine, wage es ruhig. Ich flehe dich an!«

Und erst als ich ihm unter schallendem Gelächter seinen Wunsch erfüllt hatte, sagte er zu mir:

»Ach Célestine, du ahnst nicht, was für eine Riesenfreude du mir damit bereitet hast! Welch eine Wohltat, endlich eine Frau zu finden, die keine Seele hat, die keine Lilie darstellt! Küß mich, Célestine!«

Donnerwetter, das kam wirklich unerwartet.

Aber als am anderen Morgen meine Herrschaft einen Artikel las, in dem ihr Diner, ihre Eleganz, ihr Geist, ihr Geschmack und ihre Beziehungen in höchsten Tönen gepriesen wurden, vergaßen sie alles, was sie entzweite, und sprachen nur noch von ihrem großen Erfolg. Und sie waren bereit, nach weiteren Erfolgen und anderen Berühmtheiten auszuspähen.

»Nein, diese Comtesse Fergus ist doch eine höchst charmante Person!« sagte Madame beim Mittagessen, als sie die Reste vom gestrigen Diner verzehrten.

»Eine große Seele!« bekräftigte Monsieur.

»Und Kimberly, welch großartiger Plauderer – einzigartig!«

»Und dazu die vollendetsten Manieren!«

»Man sollte sich über solche Persönlichkeiten wirklich nicht lustig machen«, sagte Madame, »schließlich sind Passionen Privatsache. Das geht niemanden etwas an.«

»Goldrichtig!«

Und mit Nachsicht fügte sie hinzu:

»Ach, wenn man alle so streng beurteilen wollte!«

 

Den ganzen Tag über hatte ich in der Wäschekammer das Vergnügen, mir die drolligen Geschichten der Charrigauds und ihres komischen Haushaltes wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Und seither war Madame von einer wahren Manie für Reklame besessen. Der Salon, ihre Toiletten, die Bücher ihres Mannes und ihre Empfänge sollten den Inhalt noch vieler Artikel bilden. Sie prostituierte sich geradezu, für derartige Lobhudeleien ließ sie sich mit jedem kleinen, schmutzigen Journalisten ein. Hauptsache, er brachte in irgendeinem Blatt eine lobende Erwähnung über das Haus Charrigaud. Und Monsieur? Der wußte ganz genau, was sich abspielte, und schwieg dazu, aber mit einer geradezu entwaffnenden Offenheit fügte er hinzu:

»Was wollen Sie? Das kommt entschieden billiger, als wenn wir jede Redaktion bestechen.«

Monsieur seinerseits war auf die unterste Stufe der Gemeinheit herabgesunken. Er nannte das gesellschaftliche und diplomatische Politik.

Demnächst will ich nach Paris schreiben, um mir sein neuestes Werk zu beschaffen. Wahrscheinlich ist dieses Produkt meines früheren Brotherrn von A bis Z wieder eine einzige Schweinerei.


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