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VIII.

25. Oktober

Endlich! Heute bekam ich einen Brief von Monsieur Jean. Ein ziemlich trockener, nichtssagender Brief, und wenn man den so liest, würde kein Mensch glauben, daß wir einmal intim miteinander waren. Kein Wort von Freundschaft, keine zärtliche Anspielung auf das Gewesene! Dieser Mensch redet nur von sich. Wenn alles wahr ist, was er mir da schreibt, dann ist er inzwischen eine bedeutende Persönlichkeit geworden.

Jean ist noch immer Erster Kammerdiener bei der Comtesse Fardin, und sie ist die Frau, von der man zur Zeit am meisten in Paris spricht. Seiner Kammerdienerrolle fügt er jetzt noch die eines politischen Verschwörers und offenkundigen Royalisten hinzu. Er demonstriert mit Leuten wie Coppée, Lemaitre und Quesnay de Beaurepaire, und er konspiriert mit dem General Mercier: das alles geschieht in der Absicht, die Republik zu stürzen, sich wichtig zu machen und Eindruck zu schinden. Unlängst begleitete er Coppée zu einer Réunion der Patrie Française, er durfte hinter dem großen Patrioten auf der Estrade stehen und dessen Überrock halten. Oh, er kann sagen, daß er schon allen großen Patrioten dieser Zeit den Überrock gehalten hat. Das kann nicht jeder von sich behaupten, das wird sich einmal auf sein Leben auswirken. An einem anderen Abend schickte ihn die Comtesse zu einer Dreyfus-Versammlung, um allen Kosmopoliten ordentlich eines aufs Maul zu schlagen. Dort schrie er wie besessen: »Tod den Juden! ... Es lebe der König! ... Es lebe die Armee!« Da wurde er verhaftet und auf die Wache geführt. Die Comtesse hatte umgehend eine Erklärung für diesen skandalösen Vorfall unter Drohung anbefohlen, und Jean wurde sogleich auf freien Fuß gesetzt. Für sein mutiges Auftreten erhielt er von der Comtesse sogar eine Lohnerhöhung von zwanzig Franc, und Monsieur Arthur Meyer erwähnte seine Person mit vollem Namen im Gaulois, und auch im Libre Parole stand einmal sein Name. In einer Subskriptionsliste für den Oberst Henry zeichnete er hundert Franc. Von Coppée wurde er zum Ehrenmitglied der Patrie Française ernannt. Alle Domestiken der großen französischen Häuser sind Mitglieder dieser Liga. Natürlich kommen darin auch Grafen und Herzöge vor, und neulich soll bei einem großen Festessen für den General Mercier ein hoher Offizier zu Jean gesagt haben: »Nun, mein tapferer Jean?« Mein tapferer Jean, das will was heißen! Jules Guérin schrieb in einem Antijudenblatt unter dem Titel: »Wieder ein Opfer der Semiten!« – »Unser heldenmütiger, antisemitischer Kamerad Monsieur Jean ...«

Damit nicht genug der Auszeichnungen: schließlich hat Meister Forain, der sein Haus nicht mehr verlassen kann, Jean gebeten, ihm für eine Skizze zu sitzen, die die Seele des Vaterlandes symbolisieren soll. Forain ist nämlich der Meinung, Jean habe dazu genau die richtige Schnauze. Es ist erstaunlich, welch berühmte Männer ihn zur Zeit freundschaftlich umarmen, welche gewichtigen Trinkgelder ihm zugesteckt werden, lauter äußerst schmeichelhafte Auszeichnungen. Und wenn der General Mercier tatsächlich die Absicht hat, Jean im Zola-Prozeß für eine falsche Zeugenaussage zu gewinnen, dann steht dem Ruhm des eitlen Burschen wirklich nichts mehr im Wege. Die falschen Zeugenaussagen gelten in diesem Jahr und bei diesem Prozeß für die oberen Zehntausend als ungemein chic und als letzter Schrei. So eine Zeugenaussage bedeutet in dieser Zeit so viel wie das große Los. Monsieur Jean merkt recht gut, daß er von Tag zu Tag mehr die Sensationslust der Champs-Elysées beschäftigt. Wenn er abends im Café in der Rue François I. beim Spiel sitzt oder wenn er die Hunde der Comtesse zum Pissen ausführt, ist er Gegenstand allgemeiner Neugierde und fühlbaren Respektes. Die Hunde übrigens auch. Aus diesen und noch verschiedenen Gründen darf man erwarten, daß sich sein Ruhm bald über ganz Paris und schließlich über ganz Frankreich verbreiten wird, deshalb habe er, genau wie die Comtesse, den Argus de la Presse abonniert. Die besten Artikel, die über ihn erschienen, wird er mir zuschicken lassen. Das und nicht mehr ist er imstande, für mich zu tun, und ich müsse verstehen, daß er einfach keine Zeit habe, sich um eine Stellung für mich zu kümmern. Später vielleicht ... »Wenn wir erst an der Macht sind«, schreibt er. Alles, was mir bisher zugestoßen war, ist natürlich meine Schuld. Ich habe nie gewußt, worauf es im Leben ankommt, ich habe ziellos dahingelebt und meine guten Stellungen ohne den geringsten Profit vertan. Hätte ich mich nicht so geziert, könnte auch ich heute mit dem General Mercier freundschaftlich verkehren, sozusagen auf du und du. Sogar mit Coppée und Déroulède, und vielleicht – obwohl ich nur eine Frau bin – könnte auch ich heute meinen Namen in den Spalten des Gaulois entdecken, weil es das einzige Blatt ist, das sich für die Lage aller Angestellten interessiert.

Bei der Lektüre dieses Briefes war ich dem Weinen nahe, denn ich fühlte recht gut, daß Monsieur Jean sich von mir abgewendet hat und daß mit ihm nicht mehr zu rechnen war. Nicht mit ihm noch mit sonst jemandem. Ich kann mich auf niemanden mehr verlassen. Und von meiner Nachfolgerin sagt er kein Wort! Ach, ich kann sie mir lebhaft vorstellen, alle beide in dem Zimmer, das ich so gut kenne, wie sie einander umarmen und einander schöntun. Wie sie miteinander ins Theater gehen und Bälle besuchen. Und ich sehe ihn, wie er im Gummimantel von den Einkäufen nach Hause kommt und wie er, nachdem er sein Geld verloren hat, jetzt zu der anderen, wie ehemals zu mir, sagt: »Geh, leih mir dein bißchen Schmuck und deine Uhr, damit ich sie ins Versatzamt trage!«

Aber es kann auch sein, daß seine neuen politischen Ansichten und umstürzlerischen Ideen ihn dazu gebracht haben, den Schauplatz seiner amourösen Abenteuer aus der Küche in den Salon zu verlegen, nicht wahr?

Ist es denn wirklich ganz allein meine Schuld, daß ich in einem so üblen Kaff gelandet bin? Vielleicht! Eher aber möchte ich glauben, daß eine gewisse Fatalität auf meinem Leben lastet, weshalb ich ja niemals Herrin über mein Schicksal war, und daß ich verurteilt bin, nie länger als sechs Monate in einer Stellung zu bleiben, weil sich jeder Entschluß meiner Einflußnahme entzieht. Wirft man mich nicht hinaus, dann gehe ich selbst, weil ich es einfach nicht mehr aushalte. Das klingt ein wenig komisch, aber zugleich auch traurig. Mich treibt es immer woanders hin, und dieses anderswo gaukelt durch meine Träume, und dann verliere ich mich in Illusionen. Besonders seit dem Aufenthalt in Houlgate bei dem armen Monsieur Georges bin ich seltsam unruhig und entschlußlos. Irgendwie komme ich nicht zur Ruhe, irgendwie verrenne ich mich immer wieder aufs neue in verrückte, unerfüllbare Wünsche. Ich glaube, es wäre besser gewesen, wenn ich die Welt des armen Monsieur Georges niemals kennengelernt hätte, dieses heftige und kurze Zwischenspiel hat mir kein Glück gebracht. Die Wege ins Unbekannte, das uns wie ein Paradies vorkommt, sind dornenvoll und deprimierend. Man wandert und wandert, und immer ist es dasselbe. Man sieht den rosigen Horizont, das blaue Firmament, und alles scheint uns frisch und rosig und heiter wie ein Traum. Dort möchte man leben können, das wäre das Glück – bald wird es so sein. Aber wenn man näher und näher kommt – wenn man plötzlich da ist –, findet man nichts, nichts als Sand und Steine, traurige Küsten und graue Mauern, nichts sonst. Und über dem Sand, über den Steinen und über diesen Küsten ein dunkler, lastender Himmel, der das Licht verschlingt, weil es der Regen verschluckt. Man findet nicht, was man suchte, und die Wanderung war umsonst. Offen gesagt, ich weiß nicht einmal, was ich suche, ich weiß nicht einmal, wer ich bin.

Ein Dienstbote ist kein normales soziales Geschöpf. Es ist aus verschiedenen zusammengetragenen Stücken gemacht, die sich weder verschmelzen noch zusammenfügen lassen. Man ist ein Zwitter von monströser Art. Man gehört nicht mehr zum Volk, auch nicht zur Bourgeoisie, der man dient und zu der es einen hinzieht. Das Volk, dem man sein gesundes Blut und die unverbrauchten Kräfte verdankt, verleugnet man, von der Bourgeoisie übernimmt man zwar die Laster, aber ohne die dazugehörigen Mittel, sie gründlich zu genießen. Was kann man schon mit der schamlosen Berechnung, den feigen Ängsten, den kriminellen Neigungen ohne den Reichtum, der alles kaschiert und entschuldigt, anfangen? Die bürgerliche Welt hat unzweifelhaft meine Seele auf dem Gewissen. Denn hat der Zwitter erst einmal die Fäulnis der bürgerlichen Kloaken eingeatmet, dann ist es um ihn geschehen, für immer sind naive Sicherheit und bodenständiges Wesen verloren. Diesem Zwitter, dem Gespenst seiner selbst, bleibt nichts mehr anderes übrig, als im Schmutz zu wühlen und Leiden zu ertragen. Er lacht oft, aber es ist ein krampfhaftes Lachen. Niemals lacht er aus wirklicher Heiterkeit oder weil er vielleicht sich einer Hoffnung nahe glaubt, immer ist sein Lachen die bittere Grimasse der Revolte, das erkünstelte Grinsen des Sarkasmus. Nichts ist schmerzhafter und schauerlicher, als so zu lachen, es ist gleichzeitig ein Verbrennen und ein Verdorren. Besser wär's für mich, ich könnte weinen. Warum? Wozu? Schwamm darüber! Was kommen muß, kommt.

Hier geschieht nie etwas, nicht das geringste. Und daran kann ich mich überhaupt nicht gewöhnen. Diese Monotonie, dieses unbewegte Leben werden langsam unerträglich für mich. Ich würde zu gerne von hier durchgehen. Durchgehen? Wie und zu wem? Ich weiß es nicht, also bleibe ich.

Madame ist immer die gleiche: mißtrauisch, hart, ohne Schwung, ohne Phantasie, verschlossen und gemein. Freude kennt sie anscheinend überhaupt nicht. Nie erkenne ich eine Spur davon auf ihrem Marmorantlitz. Monsieur hat auch wieder seine alten Gewohnheiten aufgenommen, und ich glaube, daß mir sein indifferenter Gesichtsausdruck zeigen soll, daß er mir meine Ablehnung nicht vergessen wird. Aber sein Groll ist für mich nicht gefährlich. Gestiefelt und gespornt geht er nach dem Mittagessen auf die Jagd, und wenn er abends zurückkommt, bittet er mich nicht mehr, ihm beim Stiefelausziehen zu helfen. Um neun Uhr geht er schlafen. Er bleibt in seinem Wesen genauso tolpatschig und unsicher wie vorher. Und er wird dick. Wie können wohlhabende Leute ein so eintöniges Dasein ertragen? Unwillkürlich denke ich doch manchmal über Monsieur nach. Hätte ich wirklich mit ihm etwas anfangen sollen? Nein. Er hat kein Geld, und amüsant ist er auch nicht. Übrigens ist Madame nicht eifersüchtig.

Am schwersten ist es für mich, die Stille im Haus zu ertragen. Diese Unbewegtheit geht einem auf die Nerven. Daran werde ich mich nie gewöhnen. Und dennoch nehme ich schon unwillkürlich und widerwillig etwas von dem hier üblichen gleichen Gang an. Das nennt Joseph »durch die Luft gehen«. Wenn ich dann so langsam und lautlos an den feuchten Wänden entlang durch die düsteren Gänge gleite, komme ich mir tatsächlich wie ein Gespenst vor. Ich ersticke hier – aber ich bleibe. Die einzige Zerstreuung gewährt mir der Sonntag, an dem ich nach Besuch der Messe Madame Gouin, die Gewürzhexe, besuche. Der Ekel treibt mich dann bald wieder weg, doch die Langeweile ist stärker und treibt mich wieder zu dem Laden. Da sitzen sie dann alle beisammen, man schwatzt, man klatscht, man kichert und schlürft den guten Cassis, den uns die Hexe anbietet, aus kleinen Gläsern. Das gibt einem dann für Augenblicke die Illusion von weltmännischer Atmosphäre. Und vor allem vergeht die Zeit schneller. Am letzten Sonntag war die kleine Schwarze mit dem Rattenschnäuzchen nicht dabei. Ich erkundigte mich nach ihr.

»Ach, das hat nichts auf sich«, sagte die Krämerin sehr geheimnisvoll.

»Ist sie denn krank?«

»Ja, aber nichts von Belang. In zwei Tagen ist alles vorbei.«

Und Mamsell Rose sieht mich jetzt mit Augen an, als wollte sie mir einschärfen und sagen: Sehen Sie! Ich habe es Ihnen ja gesagt. Sie ist eine sehr geschickte Person.

Heute erfuhr ich von der Krämerin, daß am Vorabend im Wald von Raillon Jäger zwischen Dornenhecken und Laub die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden haben – vergewaltigt und grauenhaft zugerichtet. Offenbar handle es sich um die Tochter des Bahnwärters. Sie hieß Claire. Kleine Claire rief man sie. Sie war ein wenig zurückgeblieben, aber lieb und sanft und kaum elfjährig. Das wird den Klatschbasen wieder reichlichen Gesprächsstoff geben. Sie werden sich darauf stürzen. Schließlich kann man nicht andauernd dieselben Geschichten erzählen.

Rose, immer besser informiert als alle anderen, wußte zu berichten, daß man der kleinen Claire den Bauch aufgeschlitzt habe, so daß die Eingeweide aus der Wunde hervorquollen; außerdem wiesen Kehle und Nacken des Kindes deutliche Würgespuren auf. Der arme kleine Körper war eine einzige Wunde, als habe ein Holzhauer das Kind zu Boden geschlagen. Im Heidekraut war eine zertrampelte Stelle, wo sich offenbar der Überfall abgespielt hat. Das Verbrechen muß ungefähr vor acht Tagen verübt worden sein, denn die kleine Leiche ging bereits in Verwesung über.

Obwohl die Nachricht dieser greulichen Tat allgemeines Entsetzen hervorgerufen hat, fühlte ich mit Bestürzung, daß die meisten Leute von der Vergewaltigung und den obszönen Bildern, die sich unwillkürlich daraus ergeben, fasziniert waren. Vergewaltigung ist ja auch eine Art von Liebe. Jeder wußte etwas dazu zu sagen. Viele erinnerten sich, daß das Kind sich oft tagelang im Wald aufhielt, im Frühling Narzissen, Anemonen und Maiglöckchen pflückte, aus denen sie für die Stadtdamen reizende kleine Sträuße band. Manchmal suchte sie auch Morcheln, die sie später auf dem Markt verkaufte, im Sommer sammelte sie Pilze und Blumen. Aber was hatte die Kleine in dieser Jahreszeit im Wald zu tun, wo es nichts mehr zu suchen gab?

Eine Überschlaue äußerte scharfsinnig:

»Warum hat sich denn der Vater um das Verschwinden der Kleinen nicht gekümmert? Vielleicht war er selbst der Mörder?«

Und eine andere, nicht weniger scharfsinnige, antwortete:

»Aber wenn er das gewollt hätte, hätte er sie doch nicht in den Wald zu schleppen brauchen, nicht wahr?«

Da griff Rose in die Debatte ein:

»Die ganze Geschichte kommt mir faul vor! Ich für meinen Teil ...« Sie machte eine geheimnisvolle Geste, als sei sie Mitwisserin eines schrecklichen Geheimnisses, und fuhr dann leise und bedeutungsvoll fort:

»Ich – ich weiß natürlich nichts. Ich will gar nichts behaupten, aber ...« Und dieses Aber sagte sie mit so seltsamer Betonung, »ich wäre nicht überrascht – wenn ... Nun ja, wenn ...«

Atemlose Stille.

»Wenn Monsieur Lanlaire ...« fuhr sie mit wilder Entschlossenheit fort, »also wenn Sie es genau wissen wollen ... Ich halte ihn dazu für fähig.« Ihre Stimme klang dunkel und drohend. »So, das ist wenigstens meine Meinung.«

Einige protestierten. Andere wußten nicht recht ... Ich versicherte, daß Lanlaire eines solchen Verbrechens nicht fähig wäre, und rief:

»Der? Herr Jesus, der arme Mann hätte viel zuviel Angst!«

Aber Rose bestand darauf mit gesteigertem Haß.

»Nicht fähig? Na, na, na! Und die Geschichte mit der kleinen Jésureau? Und die kleine Valentine? Und die kleine Dougère? Erinnern Sie sich nicht? Wie war es denn mit denen? Und da sagt eine, er habe Angst!«

»Das war doch nicht dasselbe, das war etwas ganz anderes!«

Aber Rose in ihrem Haß gegen Monsieur Lanlaire findet trotzdem keinen Beistand bei den Klatschbasen. Ihm in aller Öffentlichkeit einen Mord zuzuschieben! Daß er kleine Mädchen vergewaltigt und nachher umbringt? Die Vergewaltigung mag hingehen, aber das Verbrechen! Nein, nein! Das klingt doch reichlich übertrieben. Die aufgebrachte Rose aber bestand darauf. Sie wurde immer wütender und schlug mit ihren großen, dicken Händen auf den Tisch, um sich Gehör zu verschaffen. Halb irre vor Wut keifte sie:

»Wenn ich es euch aber doch sage! Wenn ich es doch weiß, was dann?«

Madame Gouin, die ihre Ruhe bewahrt hatte, beendigte schließlich mit teilnahmsloser Stimme das Gezeter:

»Aber, meine Damen, bei solchen Dingen heißt es vorsichtig sein. Man weiß doch nichts Genaues. Was nun die kleine Jésureau betrifft, so hat er damals bestimmt Glück gehabt, und es war tatsächlich ein Wunder, daß sie daran nicht verreckt ist.«

Aber selbst die Autorität der Krämerin beschwichtigte den Aufruhr nicht. Obwohl Rose es nicht dulden wollte, daß man noch andere Mutmaßungen über den unbekannten Mörder anstellte, hechelten sie nun der Reihe nach alle männlichen Dorfbewohner, die für eine solche Tat in Frage kommen konnten, mit bewundernswerter Unsachlichkeit durch. Natürlich gibt es einen Haufen Leute, die unbeliebt sind, entweder auf die eine oder auf die andere Art, auf den einen war man seit langem böse, auf den anderen eifersüchtig. Kurz, über andere zu sprechen ist ja schließlich ein Hochgenuß. Und das kleine Rattenschnäuzchen entwickelte eine ganz ausgefallene Idee:

»Ihr erinnert euch, daß in der vorletzten Woche zwei Kapuziner mit schmutzigen Bärten durch die Gegend streiften, ihr wißt doch! Und überall haben sie gebettelt. Die könnten es doch auch gewesen sein?«

Da gab's wieder allgemeine Entrüstung:

»Diese braven, harmlosen Mönche! Gottesfürchtige Männer! Das wäre zu entsetzlich!«

Und als wir uns endlich verabschiedeten und zum Schluß wirklich jeder verdächtig war, wiederholte Rose erbost:

»Wenn ich es euch doch sage! Er war es bestimmt!«

 

Bevor ich ins Haus zurückgehe, werfe ich einen Blick in die Sattelkammer, wo Joseph gerade die Sättel putzt. Über einem Schrank steht ein Wandbrett. Darauf sind peinlich sauber Lackflaschen und Wachsdosen aufgestellt. Und darüber hängt, von flackernden Kienspänen beleuchtet, das Porträt von Drumont. Um ihm noch mehr Gewicht zu verleihen, hatte Joseph ihm vor kurzem einen Kranz von Küchenlorbeer umgehängt. Diesem Porträt gegenüber hängt eines vom Papst, halb verborgen von einer Pferdedecke. Überall auf den Brettern Stapel von antisemitischen Hetzschriften und patriotischen Liedern. Und in der Ecke zwischen den Stallbesen steht gelangweilt Josephs Gummiknüppel.

Plötzlich, aus purer Neugierde, reizt es mich, Joseph zu fragen:

»Haben Sie schon von der kleinen Claire gehört? Man hat sie vergewaltigt und ermordet im Wald aufgefunden!«

Zunächst konnte Joseph seine Überraschung nicht unterdrücken. Oder war es für ihn gar keine Überraschung? So flüchtig seine Reaktion auch gewesen war, ich bilde mir ein, daß er bei der Erwähnung des Namens Claire zusammenzuckte. Aber er gewann schnell wieder seine Fassung.

»Ich weiß«, erklärt er mit ruhiger Stimme, »ich habe bereits heute morgen davon gehört – unterwegs.«

Er sagt es teilnahmslos, gleichgültig. Er fährt fort, das Zaumzeug zu glänzen, und, er benützt dazu einen großen schwarzen Fetzen. Er macht alles sehr genau und methodisch. Ich bewundere die Muskulatur seiner nackten Arme, die kräftige, geschmeidige Harmonie seines Bizeps und die Weiße seiner Haut. Aber ich sehe nicht seine auf die Arbeit gerichteten Augen, doch um so deutlicher sehe ich seinen großen Mund und den tierhaft grausamen Unterkiefer. Ich bekomme ein unangenehmes Gefühl im Magen. Doch ich frage noch einmal:

»Weiß man denn, wer es getan hat?«

Er zuckt mit den Schultern. Ein wenig spöttisch, ein wenig ernst erwidert er:

»Wahrscheinlich irgendwelche Vagabunden. Vielleicht so ein dreckiges Judenschwein ...«

Und nach einer kleinen Pause:

»Verduftet natürlich! Sie werden erleben, daß man sie nicht erwischt! Die Herren vom Magistrat sind alle bestochen!«

Er hängt das Geschirr über die Sättel, weist mit einer herrischen Kopfbewegung auf den mit einem Kranz aus Küchenlorbeer geschmückten Drumont und fügt hinzu:

»Der müßte ans Ruder kommen! Dann wäre alles anders!«

Ich weiß nicht, warum ich ihn mit einem so merkwürdig beklemmenden Gefühl im Herzen verließ. Jedenfalls haben wir seit dem kleinen Gespräch in der Sattelkammer einen neuen Gesprächsstoff. Endlich einmal Abwechslung in dem ewigen Einerlei.

Wenn Madame hie und da nicht zu Hause ist, und ich mich zum Sterben langweile, gehe ich zum Gartengitter, bei dem sich Rose bald zu einem Geplauder einfindet. Sie ist ja immer auf der Lauer, damit ihr ja nichts entgeht von dem, was bei uns geschieht. Sie wird immer dicker, röter und unappetitlicher. Ihre wulstigen Lippen hängen, und ihr Mieder kann die unförmigen Fettmassen kaum noch zusammenschnüren. Ärger denn je ergeht sie sich jetzt in obszönen Erzählungen, sie ist direkt besessen davon und denkt an nichts anderes mehr, sie lebt in Zwangsvorstellungen. Ihr Leben ist ganz davon erfüllt. Sooft wir einander treffen, gilt ihr erster prüfender Blick meiner Taille, und ihre erste Frage in dem ihr eigenen fetten Ton lautet:

»Vergessen Sie nie, was ich Ihnen empfohlen habe. Sobald Sie etwas bemerken, gehen Sie sofort zu Madame Gouin. Sie dürfen dann keine Minute verlieren.«

Das wurde bei ihr langsam zur Manie. Etwas gereizt antwortete ich:

»Warum wollen Sie denn unbedingt, daß ich etwas Derartiges bemerke? Ich kenne hier niemanden.«

»Ach!« sagt sie besserwissend, »so ein kleines Malheur passiert schnell. Ein kleiner Augenblick des Selbstvergessens – absolut natürlich –, und schon ist es geschehen. Ich kannte so manche, die sich ebenso sicher glaubte wie Sie, aber dann war es mit einemmal soweit. Darum denken Sie an Madame Gouin – dann können Sie beruhigt schlafen. Diese Frau ist ja ein wahrer Segen für unser Dorf, so geschickt und verschwiegen! Früher traf man hier auf Schritt und Tritt kleine Kinder – das Land war wie von einer Seuche verpestet, das krabbelte und wimmelte in den Gassen und Straßen, ein Hühnerhof war nichts dagegen. Das quoll aus den Häusern, besetzte Stufen und verstopfte Ausgänge. Heute ist das gottlob anders. Sie haben es ja wohl selbst schon bemerkt. Man sieht kaum noch Kleinkinder, wie?«

Und mit einem widerlichen Lächeln versicherte sie:

»Das soll nicht etwa heißen, daß die Mädels nicht mehr auf ihre Kosten kommen. Ach, du lieber Gott, daran fehlt's ihnen gewiß nicht! Im Gegenteil! Leider gehen Mademoiselle selbst abends nie aus, aber wenn Sie so gegen neun Uhr abends unter den Kastanienbäumen spazierengingen, dann könnten Sie etwas erleben! Auf allen Bänken sitzen die Liebespaare, küssen und streicheln sich, einfach süß! Ja, ja, die Liebe, die kann schon himmlisch rührend sein. Ich zum Beispiel verstehe nicht, wie man ohne Liebe leben kann. Andererseits ist es natürlich schrecklich lästig, wenn einem dauernd so ein Rudel Kinder am Rockzipfel hängt! Also diese Sorge wären wir hier los. Und wem verdanken wir das alles? Allein Madame Gouin. Ein kleiner, unangenehmer Augenblick ist durchzustehen, aber immer noch besser, als ein Meer von Unannehmlichkeiten. Ich an Ihrer Stelle würde, wie gesagt, keine Minute versäumen, denn um so ein hübsches Mädchen wie Sie, so gut gewachsen und von so feinen Allüren, wäre es jammerschade. Alles, nur kein Kind!«

»Zerbrechen Sie sich nicht Ihren Kopf, ich habe auf derartiges keine Lust.«

»Ja, ja, das kennt man schon, wer hat darauf Lust? Wer denn? Unter uns gesagt, hat Monsieur Ihnen noch nie so etwas vorgeschlagen?«

»Aber nein!«

»Das wundert mich, das wundert mich wirklich, denn er ist dafür bekannt. Nicht einmal damals am Morgen im Garten, wo er Ihnen so zugesetzt hat?«

»Ich versichere Ihnen ...«

Jetzt wirft Rose den Kopf in den Nacken.

»Ich merke schon, Sie wollen es mir nicht sagen! Sie mißtrauen mir. Na schön, na gut. Aber ich weiß, was ich weiß.«

Also diese Rose macht mich fertig. Ich habe genug. Ich schreie:

»Da hört sich doch alles auf! Sie haben ja eine hübsche Meinung von mir, Sie glauben wohl, daß ich mit jedem alten Wüstling ins Bett gehe, he?«

Da wird sie eisig und hochmütig und antwortet sehr von oben herab:

»Mein liebes Kind, spielen Sie nicht die Prüde, die Kostverächterin, haha! Es gibt alte Wüstlinge, die einen jungen überspielen. Schließlich sind das Ihre Angelegenheiten, die mich nichts angehen. Und vielleicht hat es noch einen anderen Haken. Der Lanlaire liebt anscheinend die unreifen Früchte. Jedem das Seine, meine Liebe!«

Bauern kommen des Wegs und grüßen Rose sehr respektvoll.

»Guten Tag, Mamsell Rose ... Wie geht's dem Hauptmann?«

»Oh, immer guter Dinge. Er ist gerade beim Weinabziehen.«

Einige Bürger kommen auf uns zu und grüßen Mamsell Rose ebenfalls sehr respektvoll.

»Guten Tag, Mamsell Rose, was macht der Hauptmann?«

»Oh, immer auf Draht, vielen Dank. Ihr seid wirklich sehr teilnahmsvoll.«

Dann kommt gemessenen Schrittes der Pfarrer vorbei, er wackelt ein bißchen mit dem Kopf. Als er Mamsell Rose erkennt, strahlt er über das ganze Gesicht, schließt sein Brevier und bleibt stehen.

»Ah, da sind Sie ja, meine Tochter! Wie geht's dem Hauptmann?«

»Danke, Herr Pfarrer, es geht ihm gut, recht gut. Heute arbeitet er im Keller.«

»Um so besser, um so besser! Ich hoffe, er hat heuer wieder recht feine Blumen gesät, damit wir nächstes Jahr zum Fronleichnamstag einen noch schöneren Altar haben!«

»Selbstverständlich, Herr Pfarrer!«

»Richten Sie ihm meine besten Grüße aus, mein liebes Kind!«

»Ihnen ebenfalls unseren Respekt, Herr Pfarrer.«

Und, schon im Weggehen, als er sein Brevier bereits wieder geöffnet hat, ruft er ihr zu:

»Auf Wiedersehen, mein Kind, auf Wiedersehen! Man müßte in seiner Gemeinde nur solche Leute haben wie euch!«

Ich verabschiede mich in einer unbegreiflich traurigen Stimmung. Bin ich neidisch? Nein. Ich überlasse diese gräßliche Rose ihrem Triumph, von allen gegrüßt und respektiert zu werden. Innerlich zerplatze ich vor Wut. Sicher wird sie der Herr Pfarrer in einer Nische seiner Kirche zwischen zwei Kerzen aufstellen, geschmückt mit einem Heiligenschein. Na ja.


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