Koloman Mikszáth
Melchior Katánghy
Koloman Mikszáth

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Hundert Napoleons.

Das war kein schlechter Rat, sondern er war es wert, befolgt zu werden. Nur daß auch die Badeärzte schwer auf einen grünen Zweig kommen, wenn sie sich nicht ein bißchen auf »Barnum-Reklame« verstehen. Ein Badearzt, dem es gut geht, ist ein »Herr«, denn im Winter hat er absolut nichts zu tun, kann sich in irgendein Städtchen zurückziehen und dort sein Leben genießen. Dieser Rat gefiel denn auch unserm Melchior ausnehmend gut. Wenn es aber doch nicht gut geht? Ei was, man muß eben irgend etwas ersinnen, um das Glück zu zwingen. Es gilt, irgendwie ein berühmter Mann zu werden. Einem berühmten Doktor strömt das Geld nur so zum Fenster herein. Aber auch der Weg zum Ruhm ist lang. Wer könnte das abwarten?

Melcherl hätte es am liebsten so gehabt, daß er gleich mit der Berühmtheit begonnen hätte. Das wäre viel bequemer gewesen. Er grübelte denn auch darüber nach, ebenso wie diejenigen, die um das »perpetuum mobile« oder um die Quadratur des Zirkels ihre Phantasien weben. Warum sollte es ihm nicht glücken?

Wie wäre es, wenn er mit einem Aplomb aufträte, der das Publikum überrascht und ihm imponiert? Er hatte noch 2000 Gulden Kapital; das ist nicht viel, aber man kann damit doch das gehörige Tempo einhalten. Schlägt's ein, gut, schlägt's nicht ein, so ist's wohl wahrlich nicht gut; aber wenigstens hat er dann sein Blut nicht tropfenweise verspritzt, sondern er hat der Geschichte mit einem Schlage ein Ende gemacht.

Natürlich ist ja ein solches Verfahren ein Schwindel; kann man sich denn aber heutigentags ohne ein klein bißchen Hochstapelei überhaupt durchbringen?

Die Welt ist modern, auch auf das Moderne muß man sich verstehen; wer dumm ist, geht zugrunde, so wie das welk gewordene Laub vom Baume abfällt.

So philosophierte unser Held und fand auch sehr schnell den Ort, an dem er sich niederlassen wollte: Bad Prixdorf, das jährlich 5000 Kurgäste und nur zwölf Ärzte hat. Melchior machte eine kleine Berechnung. Ungefähr 400 Seelen fallen auf jeden Arzt; von diesen kommt, sagen wir, jeder Zweite, um sich kurieren zu lassen; also fallen auf jeden 200 Kranke. Jeder Kranke zahlt dem Arzt für die ganze Badesaison durchschnittlich 20 Gulden, das macht also 4000 Gulden. Das ist doch schon etwas. Wenn wir jetzt noch dazugeben, was er – wenn er geschickt auftritt – den übrigen Kollegen vor der Nase wegfischt, so kann er eventuell in Bad Prixdorf sogar zu Vermögen kommen.

Sofort reiste er hin, um mit dem Badedirektor Fühlung zu nehmen.

Der Direktor, ein Deutscher, namens Krüger, schien – trotzdem er den Ärzten spinnefeind war, denen von Prixdorf aber ganz besonders – auf den ersten Blick Sympathie für unseren Helden zu empfinden und gab ihm die Erlaubnis, sich da niederzulassen, nachdem er ihn freundlich darauf aufmerksam gemacht hatte, daß es ihm schwer fallen dürfte, sich zu erhalten, weil es in Prixdorf ohnehin schon zu viele Doktoren gebe. Ein, zwei Ärzte, die gerade in Mode sind, fangen die fetten Bissen ab, den anderen bleiben nur die Knochen.

Melchior lächelte überlegen.

»Bitte das nur ruhig mir zu überlassen.«

»Ich wünsche Ihnen viel Glück.«

Später äußerte sich Herr Direktor Krüger vor Freundesohren, daß er dem scharmanten Dr. v. Katánghy nur deshalb gestattet habe, sich zu etablieren, weil er der dreizehnte sein werde, woraus man folgerichtig schließen könnte, daß einer aus dem »Status der Doktoren« innerhalb eines Jahres sterben werde.

Katánghy ließ sich also zu Beginn der Saison in Prixdorf nieder.

Ich will meinen geehrten Leser nicht durch die Beschreibung des Bades Prixdorf langweilen, denn er hat sicherlich schon Beschreibungen von Kurorten gelesen und ist auch wohl selbst zu dem Schlusse gekommen, daß in der Beschreibung alle Bäder der Welt gleich sind. Ozonreiche Luft, schöne reine Wohnungen, schattige Promenaden, wundergute Kost, lächerlich billige Preise, herrliche Bedienung, erfrischende Mineral- und Heilquellen, wundervolle Ausflugsplätzchen, Lawn-Tennis, Tombola usw.

Eine solche Kurortbeschreibung ähnelt in der Tat jenem Pferde, das in dem von den Krankheiten der Pferde handelnden wissenschaftlichen Buch auf der ersten Seite abgemalt ist, mit der Andeutung aller jener Krankheiten, die nur jemals bei allen Pferden insgesamt vorgekommen sind, bei einem einzigen Pferde jedoch niemals – nur daß bei der Kurortbeschreibung die Vorzüge sämtlicher Kurorte in diesem einen Bade vereint sind.

Ich unternehme es also nicht, Prixdorf zu beschreiben, obgleich es ein ganz hübscher Ort ist und viele ungarische Gäste hat. Wie denn auch nicht! Ungarn gibt es überall, nur zu Hause gibt es deren nicht genug. Wenn man sich in ein ausländisches Bad verirrt, so müßte man, nach der dort befindlichen Menge Ungarn zu urteilen, glauben, zu Hause seien deren noch mindestens 50 Millionen zurückgeblieben! ...

In jener Saison ging es recht lebhaft in Prixdorf zu. Tausende und aber Tausende drängten sich um den Brunnen; schöne Weibchen mit schwarzen Wachsleinentaschen an der Seite, in denen sie ihre Trinkbecher und ihre Glasröhren tragen, durch die sie das kohlensaure eisenhaltige Wasser schlürfen, um ihre Zähne nicht zu verderben; gelbbeschuhte Herrchen, die trotz ihres Lungenkatarrhs Abenteuer suchen. Der Badetratsch – eine ganz besondere Spezialität – ist in vollstem Schwange. Im Kurort durchlebt der Mensch Jahrzehnte in zwei Monaten. Das Publikum geht und kommt unbemerkt, der Wechsel vollzieht sich ohne Unterlaß. Das Bild ist immer dasselbe, am Brunnen, im Kursalon, bei der Musik und überall, aber die Personen sind immer andere. Die Bekannten vom vorigen Monat kommen dem Menschen so vor, wie bekannte Gestalten aus längst verflossenen Zeiten, deren verschwommenes Bild nebelhaft im Gedächtnis aufblitzt. Und welche Wandlung machen die Menschen an solchem Platze durch! Im Kurort und überhaupt auf Reisen liebt es jeder, sich als größeren Herrn zu zeigen, als er zu Hause ist. (Ausgenommen die wirklich großen Herren, die sich hier kleiner machen, weil sie dies als ein Ausruhen betrachten; den Rang des »großen Herrn« genießen sie ja zu Hause bis zum Überdruß.

Diese ganze Masse ist eitel Lug und Trug. Der eine lügt mehr, der andere weniger. Es gehört ein sehr scharfer Blick dazu, hier entsprechend zu reduzieren, gleichwie ein sicheres Urteil dazu gehört, aus den Mitteilungen einer Zeitung die Ereignisse in ihrer wirklichen Gestalt herauszufinden. Es gibt keine Lügen mehr, es gibt nur ein schlechtes Augenmaß und ein schwaches Urteilsvermögen.

Die Prixdorfer Badegäste hatten auch in diesem Jahre alle Vergnügungen, wie in anderen Jahren: Scheibenschießen, Forellenfang, Ausflüge hoch zu »Esel« und andere unschuldige Freuden, die ein paar tausend Menschen ohne Beschäftigung nur ersinnen können. Hundert geringfügige Sachen dienen diesen Leuten als Zerstreuung; sogar der Anblick der Wäscherinnen, die die schöngewaschene und geplättete Wäsche in großen Körben auf ihren Köpfen in die Villen tragen, wirkt erheiternd auf sie. Die herumlungernden jungen Herrchen erkennen sie gewöhnlich.

»Schau, schau, der Unterrock der kleinen Försterin.«

»Richtig. Die andere dort bringt der blonden Frau Konsul ihre Sachen nach Hause. Sehen Sie nur, erkennen Sie nicht, die lila Batistbluse, dort an der Seite, über den Hemden? Ach, die Hemden der Frau Konsul!«

Nur im Kurort kann man sehen, welch ein dummes Vieh der Mensch ist, wenn man ihm seine gewohnte Beschäftigung nimmt, wenn er die Hülle abgeworfen hat, in der er sich gescheit zu benehmen weiß.

Zu Hunderten sind sie hier, sie, die Monate hindurch von nichts anderem reden, als von ihrem Magen und von ihrem Schlaf; immer über diese beiden Gegenstände in verschiedenen Variationen: »Heute fühle ich mich etwas wohler als gestern.«

»Ich habe auch viel besser geschlafen. Vor Mitternacht bin ich nur ein einziges Mal erwacht.«

»Ich verspürte so gegen drei Uhr einen kleinen Krampf im Magen.«

»Mir kommt es vor, als hätte ich seit gestern Rheumatismus im Nacken.«

»Gestern hatte ich sehr guten Appetit. Ich habe ein ganzes Beefsteak verspeist. Und es war wirklich ein sehr großes Stück.«

»Mir verursachen Fleischspeisen abends immer Alpdrücken.«

»Wahrhaftig, der Rostbraten am verflossenen Freitag abend war schuld daran, daß ich die ganze Nacht von Ochsen träumte.«

Und so geht das fort, die ganze Saison hindurch. Die vielen Menschen reden gewöhnlich darüber. Ein wahres Glück, daß zu diesen allgemeinen Dingen doch auch so manches Besondere dazukommt. Ein paar Abenteuer gibt es immer, um die sich dann naturgemäß unbedingt ein kleiner Tratsch dreht; und dann ist auch das Durchhecheln der Doktoren stets ein Hauptvergnügen. Sie sind Esel, Charlatane, kümmern sich nicht um die Kranken. Dieser hat die und die Patienten, jener hat das und das ordiniert. Dr. H. schneidet einer schönen Patientin die Cour, läßt das junge Frauchen sich bei jeder Visite bis aufs Hemd entkleiden, damit der Schlingel sein Ohr an ihren Busen drücken kann, wenn er ihre Brust auskultiert. Von Dr. Z. wußten die Klatschbasen zu erzählen, daß er aus kleinen Krankheiten große mache wie der Bader von Klemenberg, der seinen Gehilfen, als dieser aus dem wunden Finger eines Bauern den Dorn entfernt hatte, auszankte: »Du bist ein Esel! Du hättest den Dorn tiefer hineintreiben sollen, damit wir mehr Geld herausschlagen.«

Das ausgiebigste Tratschthema in dieser Badesaison bildete aber doch der neue Arzt; über ihn redete nicht nur das Kurpublikum, sondern auch die Ärzte und sogar die Einwohner von Prixdorf.

»Ein hübscher Mensch,« sagten die Vertreterinnen des schwächeren Geschlechtes.

»Er ist sehr stark beschäftigt,« sagten die Einwohner erstaunt.

»Er kocht uns alle ab,« meinten die Kollegen voller Schrecken. »Eine ganz unbegreifliche Sache!«

»Es geht ihm sehr gut. Sicher versteht er seine Kunst,« so dachten die Laien.

Kurz, man sprach von ihm. Er erregte Aussehen. Er gehörte zu den Neuheiten der Saison: Ein neuer Arzt, ein ungarischer Arzt. Ein Adeliger: Herr v. Katánghy.

Näheres über ihn wußte keiner; die Frauen, die ihn als hübschen Menschen priesen, konnten nichts erfahren, weil er immer in seinem Wagen saß und rasch über die Gassen und Plätze jagte, als ob er immer zu todkranken Patienten eilte. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend sah man ihn; bald hier, bald dort tauchte das ernste, einfache und doch so elegante Gespann auf, immer im Galopp. Hie und da hielt es vor einer Villa; der Doktor sprang herab (er war von schönem, schlankem Wuchs), stieg mit fieberhafter Eile die Treppen hinan, nahm oft zwei Stufen zugleich; er mußte gräßlich viel zu tun haben. Nach einigen Minuten kam er zurück, müde, keuchend und schnaubend, mit seinem Taschentuch sich den Schweiß von der Stirne wischend. Dann fuhr der Wagen wieder weiter, nach einer am entgegengesetzten Ende des Kurortes gelegenen Villa. Unterwegs hielt der Doktor seine im Sonnenscheine glänzende goldene Uhr in der Hand, als ob selbst das schnelle Schwinden der Sekunden ihn alterierte, und oft, besonders wo er ein größeres Publikum sah, trieb er den Kutscher an: »Rasch, rasch, wir verspäten uns!«

Die Frauen, sage ich, konnten von ihm nichts erlangen, weil er keine Zeit hatte, sich mit ihnen zu beschäftigen. Bedauernswerter Mann, dachten sie, der ein Sklave der Arbeit ist. Mittags verschlang er hastig sein Essen, dann fuhr er wieder in diesem verdammten Wagen (wann mögen nur seine Pferde fressen?); auch das Abendbrot stürzte er in sich hinein und jagte wieder weiter. Sogar nachts konnte man oft das Rollen seines Wagens hören. Es war ein eigentümliches, seltsames Geräusch, das sein schwarzgepolsterter »Brummer« verursachte. Wenn die Schläfer durch dieses Geräusch geweckt wurden, murmelten sie, sich auf die andere Seite wendend: »Herr Dr. v. Katánghy muß sehr schwer Kranke haben.«

Es wurde dann auch beim Frühstück als nächtliches Ereignis erwähnt: »Katánghy muß Schwerkranke behandeln, ich hörte heute nacht seinen Wagen ein paarmal unter meinem Fenster vorbeifahren.«

Wer waren aber diese Kranken? Ja, das wußte niemand. Im übrigen jedoch kam es gar nicht zu dieser Frage. Ein jeder begnügte sich damit, daß der Doktor sehr viele Kranke haben müsse; was sollte man sich den Kopf darüber zerbrechen, wer sie seien? Er – der Wortführer – war es nicht, auch nicht sein Freund Paul, noch die Frau Rechtsanwalt aus Györ; alle übrigen Leute kümmern ihn herzlich wenig.

Wer hätte aber auch eine solche schlaue List vermuten können! Nur ich und der Apotheker, der während des ganzen Sommers alles in allem fünf von Katánghy geschriebene Rezepte abgegeben hatte, wußten, daß unser Freund Melchior überhaupt keine Kranken hatte, sondern nur mit englischem Raffinement den mit Arbeit überhäuften Menschen so meisterhaft spielte, daß ihm kein Teufel auf die Schliche hätte kommen können; meinte doch selbst der Apotheker mißtrauisch: »Am Ende kuriert er gar mit Hausmitteln?«

Jawohl, Melchior v. Katánghy nahm all seinen Witz zusammen. War er ja doch auch ein Sohn des ›fin de siècle!‹ Und schließlich, wenn ein aus Sáros stammender Mensch sich für einen Amerikaner ausgeben will, so braucht er dazu durchaus keine Vorstudien zu machen; die aus Sáros sind immer »fertige« Leute!

Wie ein verbitterter Spieler setzte Melchior alles auf eine Karte. (Dieses »Alles« waren seine 2000 Gulden.)

Er mietete in Prixdorf eine elegante Wohnung, möblierte sie sehr hübsch, ließ sich ein Täfelchen anfertigen, auf dem in Goldbuchstaben zu lesen stand: »Dr. Melchior v. Katánghy, Brunnenarzt«, kaufte ein schönes Gespann (zwei gute graue Traber), setzte auf den Kutschbock einen Kutscher in Frack und Zylinderhut und überredete den guten Michel Varga, den er einst auf der Universität lebendig geredet hatte, sich den Schnurrbart abrasieren zu lassen. Er steckte ihn in eine pompöse Kammerdienerlivree und betrat, so ausgerüstet, die tollkühnen Wege zum gewaltsamen Erjagen des Glückes so geschickt, daß man ihn schon nach sehr kurzer Zeit in ganz Prixdorf für den am meisten gesuchten Arzt hielt.

Große Geschicklichkeit gehörte besonders zur Markierung der Besuche in den Villen. Denn unser biederer Landsmann machte natürlich keine Visiten, sondern ging nur in den ersten Stock hinauf und lungerte dort herum, oder versteckte sich an einem geeigneten Orte, bis einige Minuten verstrichen waren. Die vorwitzige Dienerschaft der Villen hätte leicht bemerken können, daß er nur »den Wind vor sich hertrieb«; aber seine Haltung war so imponierend, sein Auftreten so würdevoll, und seine geschäftige Eile war so natürlich, daß es niemand in den Sinn gekommen wäre, so etwas zu denken.

Und welche Ausdauer zeigte er! Immer wieder konsequent täglich dasselbe tun, ohne jeden Erfolg!

Denn er hatte keinen Erfolg. Michel, der unterdessen zu Hause in seiner Kammerdienerlivree auf die Patienten wartete, hatte stets nur das eine zu berichten: »Niemand hier gewesen!«

Das ist auch ganz natürlich. Die Badegäste wählen gleich am Tage ihrer Ankunft ihren Arzt, entweder den vom vergangenen Jahre, oder den, den sie schon im Vorjahre »ausersehen« hatten; das findige Manöver des neuen Arztes ist demnach eine Saat, die erst nach einem Jahre zur Ernte reif ist. Wer sich eventuell jetzt in ihn verliebt, oder wen sein modernes Wesen blendet, der wird ihn erst in der künftigen Saison aufsuchen. Aber die künftige Saison ist noch fern; bis dahin vermag sich unser Doktor nicht, auf der Höhe zu halten.

Eines Tages jedoch, als der Arzt nach Hause kam, – denn um den vollen Anschein zu wahren, mußte er die großen Wagentouren gelegentlich unterbrechen und nach Hause schauen, um die inzwischen im Wartezimmer angesammelten Patienten abzufertigen, in Wahrheit jedoch, um auf dem Diwan ausgestreckt ein oder zwei Tschibuks zu rauchen –, zwinkerte ihm Michel schon von weitem bedeutungsvoll zu.

»Ist jemand drinnen?« fragte der Doktor leise.

»Eine Baronin mit ihrer Tochter,« flüsterte der Kammerdiener vertraulich.

»Eine Baronin?! Alle Wetter!«

Wie elektrisiert öffnete Katánghy die Tür des Wartezimmers.

Vom Diwan erhob sich eine ältere Dame von übervoller Gestalt und mit so enormem Busen, daß man sich unwillkürlich fragte: wie kann wohl diese hochbusige Matrone ihre Suppe essen? Gewiß nur, wenn sie den Teller über die Hügel ganz hinauf bis unter ihr Kinn hebt. Übrigens war ihr Gesicht sehr intelligent, und weder das Doppelkinn noch ihre Verwelktheit vermochten sie alles Interessanten zu berauben. Ihre Augen waren aber noch sehr schön.

»Mein Name ist Baronin Blandi.«

Der Arzt verbeugte sich mit tiefer Achtung, die Matrone aber zeigte auf die etwas entfernter stehende jüngere Dame: »Meine Tochter Klara, derentwegen wir den Herrn Doktor bemühen wollen.«

»So? Das Fräulein ist die Kranke?«

Er maß sie mit einem flüchtigen Blick vom Scheitel bis zur Sohle. Das blonde Fräulein war von hohem, schlankem Wuchse, nicht mehr jung, jedoch noch keine alte Jungfer. Ihr ruhiger, tiefer Blick hatte einen Zug voll Schlauheit. Ihr Antlitz schien etwas leidend, um die Lippen schwebte ein mattes, farbloses Lächeln; aber das stand ihr recht gut und verlieh ihr ein sehr vornehmes Aussehen.

»Bitte sich in mein Arbeitszimmer zu bemühen, meine Damen!«

Während er sie voranschreiten ließ, unterzog er die Toiletten der Damen einer gründlichen Musterung.

Welchen Arzt würde wohl sein erster Patient nicht interessieren? Besonders wenn es eine Baronin Blandi ist! Ob es wohl nur so eine »Talmi«, so eine »Kurortsbaronin« war? Die Augenblicksrevue fiel gut aus. Melchior verstand sich auf Toiletten. Diese Spitzen waren echt, in den Ohren der Baronin glitzerten sehr schöne Brillanten, das einfache Batistkleid des Fräuleins stammte aus einem sehr vornehmen Salon; alles an ihnen war außerordentlich elegant und geschmackvoll, von den Strohhüten und schwedischen Handschuhen angefangen, bis zum letzten »Joujou«. Und die Eleganz und die wirkliche Vornehmheit kann man an Kleinigkeiten erkennen. Mit einem Wort, Melchior war sehr zufrieden. Der erste Patient ist außerordentlich befriedigend, und das ist als Prognostikon sehr viel wert. Er begann schon, sich für den Arzt der aristokratischen Welt zu halten und sah eine strahlende Zukunft vor sich. Er sah im Geiste vor seiner Wohnung glänzende Equipagen, aus denen Lakaien in funkelnden Livreen die kränklichen Ladies und Marquisen heraushoben.

»Was fehlt der Baronesse eigentlich?« fragte er, nachdem er den Damen in seinem Arbeitszimmer Sitze angeboten hatte, während er selbst aus Höflichkeit stehen blieb.

»Meine Tochter ist nicht Baronesse,« sagte die Baronin in strengem Tone.

»Wie das?«

»Mein erster Mann hieß Paul v. Bodrogßeghy. Erst lange nach der Geburt meiner Tochter ward ich die Gemahlin des Barons Blandi. Aber das spielt ja in diesem Falle durchaus keine Rolle. Die Hauptsache ist, daß meine Tochter seit einiger Zeit hüstelt und auch manchmal fiebert. Ich möchte bitten, sie ganz gründlich zu untersuchen.«

»Jedenfalls, Frau Baronin. Seit wann machen sich diese Erscheinungen geltend?«

»Ungefähr seit dem Februar. Aber so antworte doch selbst, mein Herzchen!«

»Ja, Mama.«

»Pflegen Sie nachts zu schwitzen?«

»Nein,« entgegnete Fräulein Klara.

»Haben Sie Schmerzen in der Brust?«

»Gar nicht.«

»Sehr gut. Wann pflegt das Fieber aufzutreten?«

»Das Fieber verschwindet oft für Wochen, um dann ohne erkennbare Ursache wieder aufzutreten,« nahm die Baronin das Wort, sich dabei unausgesetzt fächelnd, was ganz natürlich war bei der Vollblütigkeit der Baronin, die einen kurzen Hals hatte, da von draußen durch die Fensterjalousien die Augusthitze so glühend hereinströmte, als käme sie aus einem Backofen.

»Wir werden dann also etwas Chinin verschreiben.«

»Wir haben heute sicherlich Sirocco,« bemerkte die Baronin Blandi, stark pfauchend.

Der Arzt konnte sich eines Lächelns nicht enthalten.

»Ach Gott, ich bin so furchtbar beschäftigt, daß ich gar nicht weiß, was für Wetter wir haben.«

In seinem Ausrufe lag so viel Bitterkeit christlicher Selbstverleugnung, als hätte er damit sagen wollen: O, gnädigste Frau, welch' ein Unglück ist es, berühmt zu sein!

»In der Tat, Sie sind über Gebühr in Anspruch genommen. Man sagte uns das auch in der Villa, aber wir ließen uns nicht entmutigen. Meine Tochter wünschte Sie um jeden Preis zu konsultieren.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden ... wirklich sehr verbunden. Doch, gehen wir ans Werk, die Zeit verstreicht. (Nervös warf er einen Blick auf die Uhr.) Bitte sich zu entkleiden, mein Fräulein.«

Klaras Gesicht ward flammendrot; verschämt senkte sie die Augen. Jetzt war sie wirklich sehr hübsch.

»Aber sei doch nicht töricht, Klärchen. Schäme dich nur nicht vor dem Herrn Doktor; schnüre deine Taille auf, mein Kind. Aber vielleicht sollte sie kein Mieder tragen, Herr Doktor? Ei was du für ein großes Kind bist, Klara! Der Herr Doktor sieht dich doch nicht mit solchen Augen an wie ein anderer Mann; man pflegt den Herrn Doktor als nicht anwesend zu betrachten. Allerdings, er ist noch ein junger Mann, aber wie ich glaube, verheiratet. Nicht wahr, Sie sind verheiratet, Herr Doktor? Wie, noch nicht verheiratet?! Na, einerlei, schließe die Augen, und dann herunter mit der Taille, eins, zwei drei ...«

Klärchen drückte die Augen zu, während sie mechanisch ihre Taille aufschnürte ... Armes Lämmchen. Sie zitterte heftig während dieses aufregenden Vorganges.

Als der Doktor sein Ohr über dem dünnen Batisthemd an ihr Herz drückte, zuckte sie zusammen und biß sich in die Lippe.

»Bitte tief Atem zu holen. Nicht gar so tief ... So, so.«

Dann beklopfte er die Brust und den Rücken an mehreren Stellen.

»Hier, an dieser Stelle ist der Ton ein wenig dumpf,« sagte er. »Wollen Sie sich wieder ankleiden!«

Er schaute sie nicht einmal an, zeigte kein sonderliches Interesse; ihn alterierte der Duft durchaus nicht, den ihr feiner Körper ausströmte; kalt, gleichgültig sagte er: »Wollen Sie sich wieder ankleiden«, als würde er täglich Hunderte von Frauen untersuchen.

»Nun?« fragte die Baronin begierig.

»Ich finde einen kleinen Lungenspitzenkatarrh zwischen der dritten und vierten Rippe,« erwiderte der Doktor in unheilkündendem Tone.

»Heiliger Gott. Es wird doch nicht schlimm werden?!«

»Wir werden alles tun, damit es nicht geschehe.«

Der Arzt setzte sich an seinen Schreibtisch, schrieb in ein großes altes Buch irgendwo in der Mitte den Namen der Kranken, die Villa, in der sie wohnte (sie hieß die »Marmorbraut«), die Symptome, die er gefunden hatte, verschrieb ein Pulver gegen das Fieber, ordinierte dem Fräulein, jeden Morgen 100 Gramm Wasser aus der Katharinenquelle zu trinken, viel in freier Luft zu sitzen, am Nachmittag ein bißchen Fichtenduft zu inhalieren und wenig zu reden. »Nie war das Schweigen so echtes Gold,« sagte er, »wie es bei Ihnen sein wird.«

So verlief die erste Visite. Die hundertmal erträumte erste Patientin entfernte sich mit einem leichten, fast hochmütigen Kopfnicken.

Drei Tage später machte der Doktor einen Besuch in der »Marmorbraut« (einer der teuersten Villen), wo Blandis im ersten Stock zwei sehr elegant eingerichtete Zimmer bewohnten.

Fräulein Klara lag draußen im Garten in einer unter den Platanen angebrachten Hängematte und streckte dem Doktor beide Hände entgegen.

»Ihre Pulver haben mich vom Fieber befreit!«

»Ja? Also fühlen Sie sich wohler?«

»Unvergleichlich wohler; als ob man mich ausgetauscht hätte.«

»Appetit?«

»Wie ein Wolf! Ihre Medizin hat Wunder getan!«

Das Fräulein warf unserem Helden dankbare Blicke zu, ihre großen blauen Augen schwammen in feuchtem Glanze, als ob sie in Tränen gebadet wären.

Herr Melchior schlug die Augen nieder. Obschon er ein rechter Schlaumeier war, beschämte ihn dennoch eine so außerordentliche Dankbezeigung. Für ein paar Chininpulver ist das denn doch zuviel!

»Nicht der Rede wert!« murmelte er und legte unwillig die Stirn in Falten.

Es kam ihm nämlich in den Sinn, daß die gar so dankbaren Patienten gewöhnlich schlecht zahlen. Der Wortschwall wird verschwendet, um die Gulden zu sparen.

»Wie geht es mit dem Husten?«

»Der ist noch da.«

»Der wird ausbleiben, wenn die Ursache dazu verschwindet. Nun, und die Mama?«

»Die ist oben im Zimmer.«

»Ich habe gerade noch fünf Minuten Zeit, um auch ihr meine Aufwartung zu machen.«

»Mein Gott, so eilig haben Sie es?«

»Ja, die Pflicht, mein Fräulein. Aber morgen oder übermorgen habe ich vielleicht Zeit, wieder herzuschauen. Also gehen wir hinauf. Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?«

Eine eigentümliche Weichheit und Milde ergoß sich über Klaras ganzes Wesen, etwas Rhythmisches lag in ihren Schritten. Ihr Gang war wie Musik.

Die ganze Fassade der Villa war mit Heckenrosen bewachsen. Tausende und aber Tausende von Rosen hingen an der Wand, auch am Eingang hingen welche. Der Doktor pflückte unwillkürlich eine halb erblühte Knospe ab und steckte sie ins Knopfloch.

»Sie Böser,« sagte Klara schmollend, als sie die Treppe hinaufgingen, »gerade meine Knospe haben Sie abgepflückt. Schon seit zwei Tagen lauere ich auf sie; heute ließ ich sie noch am Stengel, damit sie ein bißchen erstarke, und siehe da, er nimmt sie mir vor der Nase weg.«

Melchior war vom Klange dieser mutwilligen Stimme ganz betroffen. Was konnte er anderes tun, als die Knospe aus dem Knopfloch nehmen? Aus seiner Rolle des ernsten Äskulap fallend, reichte er mit der Allüre eines Hofmachers Klara die Knospe und sagte: »Da ist sie! Weinen Sie nur nicht!«

Klara steckte sie lächelnd in ihr üppiges blondes Haar.

Als Melchior am anderen Tage bei den Damen Besuch machte, stand die bereits etwas welk gewordene gestrige Knospe in einem Glase Wasser. Aber Melchior dachte in seiner kritischen Lage ans Hofmachen und an die Liebe ebensowenig wie der dem Henker Verfallene in der Armesünderzelle an die nächstjährige Ernte. Es ist sogar möglich, daß er die der Knospe widerfahrene Ehrung nicht einmal bemerkte.

Blandis wollten sechs Wochen in Prixdorf bleiben; inzwischen kamen sie häufig mit dem Doktor in Berührung, der fast jeden zweiten Tag bei ihnen erschien, stets mit seiner gewohnten Hast. Manchmal trafen sie sich beim Speisen im Korridor des Hotels »Zum goldenen Apfel«, hier natürlich nur ganz flüchtig. Der Doktor aß furchtbar schnell, und schon beim zweiten Gang stürzte gewöhnlich sein Kammerdiener keuchend herein, um ihn abzurufen. Der Baronin, die eine vortreffliche Suada hatte, gelang es niemals, sich mit ihm ordentlich auszusprechen. Oft hatte sie gerade irgendeine Unterhaltung angefangen, die sie aber nicht beendigen konnte, weil Katánghy nicht solange blieb, weshalb sie ihm gegenüber nach und nach immer kühler wurde.

»Geh doch mit deinem Doktor,« sagte sie öfter zu ihrer Tochter, »das ist ein so unangenehmer, kalter Geselle, der so fest an seinem Berufe hängt, wie die Schlange am Stabe Äskulaps.«

»Aber er ist ein sehr hübscher Mensch. Und hat gewiß sehr viel Geld.«

»Wer weiß.«

»Wenn er jetzt noch nicht viel hat, so wird er doch sicherlich einmal viel haben. Außerdem hat er anständige Manieren und einen schönen adeligen Namen. Er würde in König Johanns Händen einen mächtigen ›Stoff‹ abgeben.«

»Na na, wenn du nur nicht daneben schlägst!«

»Wer wagt, gewinnt!«

Die alte Baronin schüttelte mißbilligend den Kopf.

Fräulein Klara wendete trotzig den Kopf ab.

»Du hast absolut keine Ausdauer, Mama. Du liebst nur die gebratenen Tauben, wenn sie gleich fertig sind, aber sie sollen auch noch gut gespickt sein.«

»Nun, mein Kind, an deiner gebratenen Taube würde ich nicht einmal Geschmack finden, wenn ich mit ihr allein auf einer kahlen Insel wäre.«

»Das ist Geschmacksache.«

»Dein Plappermäulchen ist vortrefflich im Gange.«

»Ich bin dir nachgeraten, Mamachen.«

Solche Wortgeplänkel fanden öfter zwischen Mutter und Tochter statt, welch letztere in zwei oder drei Wochen von ihrem Lungenspitzenkatarrh gänzlich befreit war; ihr Gesicht hatte eine frische, rosige Farbe bekommen, sie sah jetzt aus wie »eine gefüllte Taube«. (So behauptete wenigstens ein Offizier, der ihr den Hof machte.) Die Wage des Bademeisters zeigte eine Zunahme ihres schlanken, biegsamen Körpers um 10 Kilogramm.

»Wenn die Kost hier nur besser wäre!« polterte die Baronin vor dem Doktor. »Es ist ja fürchterlich, was den Leuten hier als Essen vorgesetzt wird. Im künftigen Jahre, wenn ich da noch lebe, bringe ich einen Koch mit.«

Bei diesem Worte gab der Doktor seiner Brille einen lebhaften Ruck. Klara aber warf der Mutter einen dankbar gerührten Blick zu, der zu sagen schien: »Mamachen, du hilfst mir gut.«

Baronin Blandi empfand im allgemeinen einen großen Abscheu gegen die Gastwirte von Prixdorf, und es machte ihr viel Spaß, wenn sie das »Menü« des anderen Tages nach dem jeweiligen Wetter voraussagen konnte, weil sie die Schlauheit der Gastwirte herausgefunden hatte; war es windig, so prophezeite sie, daß auf der morgigen Speisekarte Apfelstrudel stehen wird, damit die vielen unreifen Äpfel, die der Wind von den Bäumen herabgeschleudert hatte, Verwendung fänden; stellte sich plötzlich Regenwetter ein, so hätte sie darauf geschworen, daß es am nächsten Tage »Kaiserschmarren« geben wird, denn diese Art von Verwertung der vielen auf den Tischen durchnäßten Semmeln ist bei diesen verfluchten »Blutegeln« unabwendbar.

Unser Held verriet niemals Neugierde betreffs der Privatverhältnisse der Baronin. Warum, ließ sich nicht feststellen. War es bloß Gleichgültigkeit oder feine Lebensart? War er sehr raffiniert, oder interessierten ihn Blandis absolut nicht? Klara grübelte oft darüber nach.

Da aber die Baronin manchmal gar zu mitteilsam war, mußte er notwendigerweise dies und jenes erfahren; manchmal stellte er Fragen, aber nur dann, wenn das allgemeine Gesprächsthema diese zufällig aufs Tapet brachte.

So erfuhr er, daß Blandis in Klagenfurt lebten (kein gutes Zeichen, denn Klagenfurt wird »Vize-Graz« genannt, die Stadt der gern reich scheinenden armen Leute). Daß Baron Blandi so liebenswürdig war, schon vor ein paar Jahren zu sterben, ... wenn er überhaupt jemals gelebt hatte (in einem Kurort wird jeder Mensch zum ungläubigen Thomas); daß Frau Blandi oft nach Ungarn zu ihrem Bruder fährt, der kinderlos ist, und – so nebenher wurde ihm dies mitgeteilt – daß Klara dessen Patenkind und einzige Erbin sei. – Arme Klara, wie schade, daß sie kein Mann ist!

Der Doktor war neugierig, zu erfahren, warum dies gar so bedauerlich sei.

»Weil der Onkel eine Ware auf Lager hält,« sagte die Baronin gemütlich lächelnd, »die nur für Männer gut ist.«

»Ist er Kaufmann?«

»Nein, Fabrikant.«

Der Doktor fragte nicht, was für ein Fabrikant. Er dachte, sicher ist der Onkel Pfeifenfabrikant; und als hätte sie in seiner Seele gelesen, fügte die Baronin zu Klärchen gewendet hinzu: »Die Fabrikate des Alten finden jetzt reißenden Absatz. Heute kostet das Stück schon 20 000 Gulden.«

Alles vergeblich, der Doktor erkundigte sich doch noch immer nicht; er gab sich mit dem Gedanken zufrieden, daß der Onkel gewiß kein Pfeifenfabrikant, sondern vielleicht ein Werftbesitzer sei.

Als der Doktor fort war, konnte die Baronin sich nicht enthalten, die übrigens gerechtfertigte Bemerkung zu machen: »Schade, an den Worte zu verschwenden. Der wird nie Feuer fangen. Punktum.«

»Ei, feuchter Tabak brennt auch, Mamachen. Ich habe das schon hundertmal gesehen, nur mit dem Unterschied, daß mehr Zündhölzer dazu nötig sind.«

»Die heutigen Zündhölzer haben nicht gezündet.«

»Weil mehr Phosphor dazu nötig gewesen wäre.«

Tatsache jedoch war, daß die Erwähnung des Fabrikanten von sehr günstiger Wirkung auf Dr. v. Katánghy war, natürlich nur in gewissem Sinne, weil seine an Blandis sich knüpfenden Gedanken niemals über die Honorarfrage hinausgingen. Er dachte sich: Diese Blandis müssen doch solide Leute sein, da sie einen Fabrikanten als ihren Onkel erwähnen, während sie doch gerade so gut auch den Fürsten Lobkowitz hätten nennen können. Blandis sind reelle Leute und werden mir sicherlich ein hübsches Honorar zahlen.

Wieviel? Unser Held rechnete auf 50 Gulden, das wäre anständig, aber nicht nobel; eine freigebige Bezahlung wäre ein Hunderter.

Auf diesen Hunderter würde er bald angewiesen sein. Von den vierzig »Fünfzigern«, die er mitgebracht hatte, war »der letzte Mohikaner« bereits eingewechselt. In einigen Tagen konnte das ganze Räderwerk mangels Schmieröls stillstehen.

Es ist wohl wahr, daß gerade die Badeärzte am leichtesten den Hahn des Geldstromes aufdrehen können. Sie brauchen dem Kranken nur zu sagen: »Sie sind vollkommen hergestellt, Sie können morgen abreisen«; oder wenn der Kranke Lust zeigt, noch länger zu verweilen, sagt er ihm: »Ihnen schadet dieses Klima«, worauf dann das unausbleibliche »Briefkuvert« eintrifft. Nur braucht man dazu eine Klientel; Katánghy hatte aber außer Blandis kaum vier, fünf Patienten, und auch diese waren kaum erst angekommen.

Es blieb ihm also kein anderer Ausweg übrig, als Blandis eines schönen Tages nach Hause zu schicken.

»Das Fräulein ist gänzlich geheilt. Sie braucht keinen Arzt mehr,« sprach er.

Sein Antlitz zeigte dabei große Traurigkeit. Klara war seine erste Patientin, er empfand daher eine gewisse Vorliebe für sie. Es würde ihr vielleicht gut tun, noch ein, zwei Wochen hier in der Fichtenluft zu bleiben, und dennoch schickte er sie fort. Aber was sollte er tun? Not kennt kein Gebot.

Klara schien unter der Wucht dieser Worte fast zusammenzubrechen.

»Wie denn,« sagte sie entsetzt, »sind Sie unser schon überdrüssig geworden?«

»Wie können Sie das glauben?« entgegnete der Doktor heiter, man hörte aber aus seiner Stimme seine Verlegenheit und seinen Mißmut heraus. »Ihre Gesundheit ist der Gesichtspunkt, den ich über alles stelle. Ihnen tut diese Luft jetzt nicht mehr gut, die Tage sind schon kurz, und da der Tau jetzt sehr stark ist, sind die Abende feucht und schädlich für Sie. Sie haben, wie die Biene aus der Blume, aus Prixdorf aufgesogen, was gut und belebend war, was schädlich ist, lassen Sie nun hier.«

»Sehr richtig, Herr Doktor,« sagte die Baronin. »Künftige Woche werden wir abreisen.«

»So viel Aufschub kann ich Ihnen nicht gewähren. Gehen Sie lieber irgendwohin zur Nachkur.«

»Wohin würden Sie uns raten zu gehen?«

»Zum Beispiel nach Ungarn. Um diese Zeit ist es in der Tiefebene am besten.«

»Wäre das Széklerland nicht gut?«

»Hm. Meinetwegen. Dorf oder Stadt?«

»Eine kleine Stadt.«

Das Mädchen wandte sich fragend an die Mutter, während eine Träne über ihre Wange rollte.

»Wir gehen zu Onkel Johann,« sagte sie gleichsam als Antwort auf den fragenden Blick ihrer Tochter.

Der Arzt sah Tränen in Klaras Augen und wendete gerührt den Kopf ab.

»Ich sehe, es tut Ihnen sehr leid, Prixdorf zu verlassen ... ich bedaure gewiß auch, daß Sie scheiden, aber die Gesundheit ist das Wichtigste.«

So ward beschlossen, daß Blandis übermorgen reisen.

Am nächsten Tage fuhr der Doktor während seiner zum Schein unternommenen Wagenfahrten jede halbe Stunde nach Hause. Er erwartete ungeduldig Blandis mit dem Honorar. Mit ungefähr solchen Gefühlen hatte er als Hörer der Medizin dem Geldbriefträger aufgelauert.

Auch die Mittagszeit ging vorüber; nichts; die Vesperstunde nahte, und Blandis hatten sich noch immer nicht gezeigt.

»Waren sie nicht hier, Michel?«

»Nein.«

»Warst du die ganze Zeit über zu Hause?«

»Ja.«

»Bist du nicht vom Hause weggegangen, auch nicht für eine Minute? Aber antworte auf dein Gewissen, du Spitzbube!«

»Nein.«

»Komm her, hauche mich an!«

Der Kammerdiener hauchte den Herrn an, der nicht den leisesten Schnapsduft verspürte, ergo hatte Michel sich nicht vom Hause weggerührt.

»Unbegreiflich.«

Der Doktor wurde ungeduldig und aufgeregt. Er säße schön in der Patsche, wenn ... Aber daran wagte er nicht einmal zu denken. Es wäre fürchterlich, denn morgen hatte er einige kleine Rechnungen zu zahlen und konnte selbst diese nicht mehr begleichen. Es ist ja wahr, es handelt sich nur um ein paar Gulden. Aber was will das sagen? Manchmal kommt es just auf ein Kilo Kohle an, wenn der Mensch nicht unrettbar erfrieren und zugrunde gehen soll.

Er wollte eben in den Wagen steigen und zur »Marmorbraut« fahren, um sich zu erkundigen, als er Klara erblickte, die gerade am Anfang der gegenüberliegenden Allee auftauchte.

Sie trug ein leichtes, schwarzes Spitzenkleid, einen Strohhut von der gleichen Farbe, den zwei winzige Sonnenblumen zierten. Jetzt erst fiel dem Doktor auf, welch eine vornehme Gestalt sie hatte! Schlank, hoch, kerzengerade, wie ein junger Hirsch.

Sie kam direkt auf ihn zu.

»Welches Glück,« sagte sie, und eine leichte Röte überzog den milchweißen Teint, »welch ein Glück, daß ich Sie zu Hause finde.«

»Wünschen Sie vielleicht einzutreten?«

»Ich will Sie Ihren Kranken nicht vorenthalten. Ich kam nur, um Abschied zu nehmen ...«

»Ja, richtig, richtig, morgen reisen Sie ja ...«

»Und ich bringe eine Kleinigkeit, die Mama Ihnen sendet.«

Mit diesen Worten überreichte sie dem Doktor eine kleine Papierschachtel, welche dieser mit vornehmer Gleichgültigkeit in seine Tasche gleiten ließ.

»Bitte dies als ein bescheidenes äußeres Zeichen unserer Dankesschuld anzunehmen,« fuhr das Mädchen in fast übertrieben weichem Tone fort. »O, wenn ich nur in der Lage wäre, Ihnen unseren Dank besser zu bezeigen. Haben Sie doch mein Leben gerettet, und wenn wir die Sache ganz genau nehmen, so sollte dieses Leben Ihnen gehören.«

»Ich tat von Herzen gern, was nur möglich war, mein Fräulein. Wann fahren Sie morgen?«

Er unterbrach sie, um den konventionellen Phrasen vorzubeugen, in die gut gekleidete Menschen das Geld zu hüllen pflegen.

»Mit dem Mittagszuge.«

»Dann werde ich noch vormittags meine Aufwartung machen. Aber wollen Sie denn nicht einen Augenblick Platz nehmen?«

In dem gartenartigen Hofe luden bequeme Bänke unter großen Fichtenbäumen zu einer gemütlichen kleinen Plauderei ein.

Klara schüttelte melancholisch den Kopf, während sie ihre Hände schlaff herabhängen ließ.

»Nein, nein, ich setze mich nicht,« sagte sie mit unendlicher Traurigkeit.

»Ei, ei, Sie wollen mir doch nicht den Schlaf rauben, wie man bei uns in Ungarn sagt?«

»Doch, das will ich.«

Sie lächelte sanft, halb schalkhaft, halb vorwurfsvoll, machte einen Knicks wie ein kleines Mädchen und verließ dann raschen Schrittes den Doktor, der ihr überrascht nachblickte.

»Potztausend! Was für ein appetitliches Ding das ist!«

Kaum aber war ihre Gestalt zwischen den alten Kastanienbäumen verschwunden, die über die Wiese zur »Marmorbraut« führten, so entschwand für den Doktor mit ihrer Gestalt auch die Erinnerung an sie; er fühlte nichts anderes, als die kleine Schachtel in seiner Tasche, diese aber fühlte er sehr, denn sie war schwer. Vielleicht hatte man sie mit Silbergulden gefüllt? Er begab sich schnell in sein Zimmer, um sie vorsichtig zu öffnen, wobei sein Herz heftig klopfte.

Doch plötzlich begann er sich die Augen zu reiben: war es ein Trugbild, was er da sah, oder war es ein Traum? ... denn Wirklichkeit konnte es nicht sein!

Funkelnde Goldstücke fielen aus dem zerrissenen Papieretui. Lauter neugeprägte Napoleons! Er ward erst starr, dann fing er an zu zählen. Es waren hundert Stück. Das Wort allein ist schon viel für einen jungen Doktor, einen Anfänger. Hundert Napoleons!

Wer hätte das gedacht? Die Augen quollen ihm förmlich aus dem Kopfe, und er konnte sie nicht von den Goldmünzen, seinem ersten Verdienst, abwenden.

Sie müssen reich, sehr reich sein! murmelte er. Hundert Goldstücke für eine Behandlung von einigen Wochen zu zahlen! So etwas ist in Prixdorf sicherlich noch nicht vorgekommen! Und dabei sagte das Fräulein: »Wollte Gott, ich wäre in der Lage, unserem Danke besseren Ausdruck verleihen zu können!« Ich mußte annehmen, daß die Schachtel sehr spärlich gefüllt sei – am Ende habe ich ein saures Gesicht dazu geschnitten! Im ganzen war das Betragen des Mädchens so sonderbar. Wie sagte sie doch? »Sie haben mir das Leben gerettet, dieses Leben sollte eigentlich Ihnen gehören.« Oho, das ist doch beinahe ein Geständnis. O, ich einfältiger Tölpel!

Der Doktor schlug sich vor die Stirn. (Denn das tut seit Jahrhunderten jeder halbwegs ordentliche Mann, der eine Eselei begangen hat, wenn er in die Hände eines Novellisten gerät.) Er rief sich alle Erinnerungen an Blandis ins Gedächtnis zurück, von der Stunde ihres ersten Besuches bis heute, und machte sich Vorwürfe.

Hätte ich ihnen nicht mehr Beachtung schenken sollen? Sicherlich hätte ich's wissen können; hat denn nicht Frau Blandi erwähnt, sie würde künftig ihren eigenen Koch mitbringen? O, wo hatte ich nur meinen Verstand, daß es mir nicht einfiel, ich hätte es mit reichen Leuten zu tun! Donnerwetter! Einen Koch hierherbringen! Ei, ei, Melchior! Fast unglaublich, daß du das mit eigenen Ohren hörtest, ohne daß deine findige Seele darauf reagiert hätte. Und alles andere erst! Bist du denn taub und blind, Melchior? (Er stellte sich vor den Spiegel, strich sein Haar in die Höhe und sprach so mit sich selbst, Auge in Auge:) Du verdientest wirklich, daß dir das Glück den Rücken wende, statt dir in den Schoß zu fallen. Bewahrte nicht das arme Mädchen deine lumpige Rosenknospe gleich einem Kleinod im Wasserglase? (Melchior steckte seine beiden Daumen in seine beiden Ohren und machte dem anderen Melchior im Spiegel lange Eselsohren.) Perlte ihr nicht eine Träne aus dem Auge, als ich erklärte, es sei für sie an der Zeit abzureisen? Und ich schicke sie noch weg! Das ist einfach unerhört! Aus mir kann unmöglich jemals etwas Rechtes werden! Wenn ich mir nur ihren Blick vergegenwärtige, ihr häufiges Erröten! ... Ja, wenn ich kein Tölpel gewesen wäre ... Jetzt aber ist alles zu Ende! Sie gehen. Sie gehen, weil ich sie vertrieb!

Er ergriff seinen Hut und rannte wie wahnsinnig zu seinem Wagen.

»Zur Marmorbraut!« befahl er dem Kutscher.

Unterwegs legte sich seine Aufregung ein wenig, er sah, daß ein so schneller Besuch sehr auffallend wäre und die Sachlage nur verschlechtern konnte.

Dort angelangt, schickte er den Wagen fort und ging nicht in die Villa, sondern lungerte nur in der Umgebung derselben zwischen den riesigen Platanenbäumen herum; an einem derselben war ein großes Plakat mit dem Programm des übermorgigen Konzerts angeschlagen.

Erregt ging er auf und nieder, hielt immer wieder inne, las das Plakat, mit einem Auge nach der Pforte der Villa spähend, ob nicht irgendwo Blandis auftauchten. Eine zufällige Begegnung auf neutralem Gebiet wäre jetzt unbezahlbar. Er hatte zwar durchaus keinen festen Plan, das käme aber von selbst, wenn er sie nur treffen würde; dann könnte man vielleicht der Situation diplomatisch eine günstige Wendung geben.

Er hatte schon das ganze Plakat auswendig gelernt, als ihm das Glück in ziemlich hinterlistiger Weise zu Hilfe kam.

Aus einem Fenster des ersten Stockwerkes der Villa »Posen« flog ein grüner Papagei heraus und ließ sich auf der höchsten Platane nieder, gerade auf jener, an der das Plakat angeschlagen war.

Die unglückliche Besitzerin des herzigen Papageis (eine Tuchhändlersgattin aus Brünn) und ihre Tochter, ein zartes, schmächtiges Geschöpf, deren mit Sommersprossen besprenkeltes Gesicht aussah wie ein Wachtelei, versuchten den Flüchtling mit Jammern und Wehklagen vom Baume herabzulocken.

»Komm, du liebes Gigerl! Komm, du liebes Gigerl!«

Gigerl jedoch bezeigte auch nicht die geringste Lust, herunterzukommen. Er schaukelte und wiegte sich gleichmütig auf einem dünnen Aste hin und her.

Die Tuchhändlersgattin spitzte ihre welken Lippen, um ihm Küsse zuzuschmatzen.

Die Antwort des Papageis war, daß er noch etwa drei Äste höher flog – eine große Unhöflichkeit, aber zugleich ein Beweis von Charakter. Man mußte nun für etwas sorgen, das noch süßer ist als ein Kuß.

»Lauf hinauf, hole die Zuckerdose, Blanka!«

Während Fräulein Blanka ging, um die Zuckerdose zu holen, hörte die Frau nicht auf, das eigensinnige Gigerl anzuflehen: »Komm herunter, mein Liebling, komm herunter, mein Glück, meine einzige Freude! Verlaß mich nicht, ich würde mich in Kummer verzehren; komm herunter, mach' keine Geschichten, mein Gigerl!«

Die Vorübergehenden blieben bei diesem ungewohnten Anblick neugierig stehen. Die Frau klagte tränenden Auges: »Sehen Sie nur, meine Herren und Damen, wie er mit mir umgeht! Er ist entflohen! Er hat alles gehabt, niemand hat ihm etwas zuleide getan! O Gigerl! Du Undankbarer!«

Wo zehn bis zwanzig Menschen stehenbleiben, bildet sich rasch ein Menschenknäuel. Die kleine Gruppe zieht die Gesamtheit gleich einem Magnet an. Als Fräulein Blanka mit der Zuckerdose herunterkam, war schon das ganze Badepublikum versammelt. Kein Menschenkind ist so neugierig, wie der sogenannte »Kurgast«, auch dann, wenn er keine Unterröcke trägt. Auf den in allen Richtungen einander kreuzenden Spazierwegen ergossen sich sozusagen die Menschenströme, Leute, die ihre Schritte beschleunigend einander fragten: »Holla! Was geschieht denn dort?«

»Man macht Jagd auf einen entflohenen Papagei.«

»Hoho! Ein entflohener Papagei! Potztausend, das kriegt man nicht alle Tage zu sehen!«

Die Brünner Tuchhändlersgattin öffnete die silberne Zuckerdose und begann unter dem Baum mit dem Zucker zu klappern.

»Zucker! Zucker! Zucker!« rief sie Gigerl zu.

»Troll dich! Troll dich! Troll dich!« kreischte der Papagei vom Baume herunter, ohne sich zu rühren.

Das Publikum brach in Lachen aus, amüsierte sich ganz vortrefflich, die verzweifelte Dame aus Brünn hingegen versprach den im Klettern bewanderten Straßenjungen Belohnungen aller Art, wenn sie ihr den Papagei lebendig vom Baum herunterholen.

Mittlerweile hatten sich aber auch die Einwohner von Prixdorf schon angesammelt und gaben ihre Weisheit, jeder in einer anderen Form, zum besten.

»Was sollen wir nur tun?« jammerte händeringend die unglückliche Herrin des Vogels.

»Das klügste wäre, den Baum zu fällen,« meinte der Apotheker, »dann könnte man den Vogel schön ruhig einfangen.«

»Dummheit!« sagte ein untersetzter Kommis aus dem Juweliergeschäft »Zum blauen Storch«. »Ich beordere einen Feuerwehrmann mit einer Handspritze her, der kann den Vogel mit dem Wasserstrahl herunterholen. Mein Gott, welches Glück, daß es Feuerwehrleute gibt!« (Notabene: er war der Feuerwehrkommandant von Prixdorf.)

Ja, das wird gut sein. Wahrlich, das Ei des Kolumbus! Schnell, hole jemand ein Leintuch, das man um er dem Baum ausgebreitet halten wird, damit der herabstürzende Papagei sich nicht verletze. Der untersetzte Kommis selbst rannte mit triumphierendem Gesicht davon, um einen mit der Handspritze ausgerüsteten Feuerwehrmann zu holen, und da bei diesem hochinteressanten Schauspiel eine stetig anschwellende Menschenmenge zusammenlief, hatte der Doktor in der riesigen Menge nur zu suchen, wo Blandis waren.

Sie standen an dem Springbrunnen der Villa »Posen«. Die Baronin starrte durch ihre Lorgnette den gefiederten Flüchtling an, sich mit ihrem saphirblauen Schirm gegen die Sonnenstrahlen schützend, Klärchen aber senkte traurig ihren Kopf, als suchte sie vierblätterige Kleeblätter in dem durch den Springbrunnen reichlich bewässerten, üppigen Grase.

»Ah, der Doktor!« sagte sie, zusammenfahrend wie ein aufgescheuchtes Vöglein.

»Merkwürdig!« rief die Mama. »Auch Sie schauen dem grünen Vogel zu?«

Beschämt zog der Doktor den Kopf zwischen die Schultern, wie einer, der auf irgendeiner Schwäche ertappt wird.

»So ist's. Auch mich packte die Neugierde, da ich hier einen solchen Auflauf sah.«

»Was glauben Sie,« fragte Klara, »wird der Vogel fortfliegen oder wird es gelingen, ihn herunterzulocken?«

Melchior trat näher an sie heran und sagte leise, viel weicher als gewöhnlich: »Was liegt mir daran, da mein Lieblingsvogel morgen leider bestimmt fortfliegt.«

Und er begleitete seine Worte mit einem vielsagenden Blick.

Ein triumphierender Glanz zuckte in den Augen des Mädchens auf, um gleich darauf wie eine ausgeblasene Kerze zu erlöschen.

»Warum ließen Sie den Käfig offen? Nein, Sie verschlossen denselben sogar,« bemerkte sie ruhig und gelassen.

Man sah, daß sie des Doktors Anspielung verstanden hatte.

Melchior kam in Verlegenheit. Darauf fand er keine Antwort.

Ein drückendes Schweigen trat ein.

»Der Feuerwehrmann kommt! Hier ist der Feuerwehrmann!« jauchzte die Baronin, die das Schicksal des Flüchtlings mit solchem Interesse verfolgte, als handelte es sich um die Entwicklung eines Theaterstückes.

Melchior beugte sich näher zu Klaras Ohr und wiederholte leise seine vorherige Frage.

»Was glauben Sie, wird der Vogel fortfliegen, oder wird es gelingen, ihn zurückzulocken?«

Klärchen lachte spöttisch auf, als ob die Sache ihr zu langweilig wäre. Sie fühlte, daß sie an Terrain gewonnen hätte.

»Aber so gehen Sie doch mit ihren Parabeln!« sagte sie schmollend.

Es waren zwei geriebene Diplomaten, die hier miteinander kämpften.

»Ja, oder nein?« flüsterte der Doktor in süßlichem Tone.

»Doktor, was ist Ihnen? Ich erkenne Sie nicht mehr?«

»Es ist auch nicht mehr der Doktor, der jetzt zu Ihnen spricht.«

»Aber wo ist denn der Doktor geblieben?«

Katánghy antwortete mit gemütlicher Bonhomie, die seinem bisherigen Wesen so fern stand: »Ei so erwähnen Sie mir doch gar nicht diesen dummen Doktor, der imstande war, die Kranke nach Hause zu schicken, obgleich ihm das im Herzen leid tat. Hiermit war aber auch seine Aufgabe beendet. Der Doktor existiert nicht mehr!«

»Armer Doktor!«

»Jetzt haben Sie nur Melchior Katánghy vor sich, dem die Abreise des schönsten Mädchens unendlich weh tut, und der sich erlaubt, einen untertänigen Rat zu geben: Bitte, hören Sie nicht auf den Doktor, bleiben Sie noch ein paar Tage hier.«

Es war ein halb scherzender Ton, und doch konnte man den Ernst herausfühlen. Klärchen antwortete in ähnlicher Weise.

»Also tut Ihnen das Herz weh?«

»Sie glauben es nicht?«

»Warum denn nicht! Es ist so köstlich, daß ich es schon deshalb gern glaube.«

»Was gibt es denn?« fuhr die Baronin erschreckt auf. »Was habt ihr vor?«

»Denke dir nur, Mama, der Doktor will uns überreden, noch ein paar Tage hier zu bleiben.«

»Er erlaubt sich vielleicht nur einen Scherz mit dir.«

»Mag sein, Mama.«

Darauf mußte der Doktor denn doch etwas sagen.

»Wahrhaftig, ich möchte die gnädige Frau und das gnädige Fräulein zum Bleiben bewegen.«

»O! O!«

Die Baronin war verblüfft. Sie sah bald den Doktor an, bald ihre Tochter, und fing an alles zu verstehen. Sie entnahm ihrem lilafarbigen Samtridikül ihre Tabakdose und überlegte, während sie ein Prischen nahm, wie sie sich verhalten sollte.«

»Ei, Doktor,« sagte sie mit einigem Spott. »Welch überraschenden neuen Rat Sie uns da geben! Also jetzt halten Sie das Bleiben nicht mehr für schädlich?«

»Doch, es ist schädlich, aber nur für mich.«

Auch das war nur ein Kompliment, das nicht ernst genommen werden durfte.

Die Baronin richtete ihre Antwort dementsprechend ein, indem sie, den Doktor mit dem geschlossenen Sonnenschirm scherzhaft bedrohend, sagte: »Man sollte gar nicht glauben, was für ein großer Duckmäuser Sie sind! Aber es könnte Ihnen noch leid tun, wenn wir, Ihrem schlechteren Rate folgend, hier blieben!«

»Ich werde glücklich sein!«

»Ach, gehen Sie doch. Sie Pharisäer! Haben Sie sich doch gar nicht um uns gekümmert!«

»Die berufliche Überbürdung, Frau Baronin ... Aber ich verspreche Ihnen, mich zu bessern.«

»Wir glauben Ihnen nicht!« warf Klärchen dazwischen.

Unter solchen Neckereien kamen sie bis zur »Marmorbraut«, während der Papagei, von einem Wasserstrahl getroffen, unter großem Gekreische auf das Dach der Villa »Posen« flog.

»Also bleiben Sie?« fragte der Doktor bei der Trennung noch einmal. »Versprechen Sie doch, zu bleiben.«

Er verneigte sich und küßte der Baronin die Hand.

»Wir werden sehen,« erwiderte diese unter frohem Gelächter.

»Wo soupieren Sie?«

»Wie gewöhnlich im ›Goldenen Apfel‹.«

»Ich möchte an Ihrem Tische Platz nehmen, wenn Sie es gestatten.«

»Es wird uns sehr freuen, also auf Wiedersehen!«

»Er verbeugte sich nochmals und streckte Klara die Hand hin, die mit kühler Koketterie ihre kleine Hand in die seine legte, wobei sie sich mit der Schüchternheit eines wohlerzogenen Backfisches an ihre Mutter anschmiegte, als fürchtete sie, daß der Doktor ihr etwas Keckes sagen könnte.

Armer Doktor! Seine Schritte waren noch nicht verklungen, als der wohlerzogene Backfisch sich schüttelte wie das Rößlein in der Sage und mit einem Male zu einer zornigen Furie wurde, deren Augen Blitze schossen und die, ihre Hände in den Hüften, die Worte hervorzischte: »Ein niederträchtiger Geselle!«

Die Mama schritt langsam auf dem weichen Mattenteppich neben ihr einher; auf jeder Treppenstufe blieb sie keuchend stehen. Oben angelangt, wandte sie sich fragenden Blickes an ihre Tochter: »Also was wird daraus werden?«

»Er wird mich heiraten,« sagte Klärchen triumphierend.


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