Gustav Meyrink
Des Deutschen Spießers Wunderhorn
Gustav Meyrink

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Bal macabre

Lord Hopeleß hatte mich aufgefordert, doch an seinem Tisch zu sitzen, und stellte mich den Herren vor.

Es war spät nach Mitternacht, und ich habe mir die meisten Namen nicht gemerkt.

Den Doktor Zitterbein kannte ich schon von früher.

»Sie sitzen ja immer allein, es ist schade«, hatte er gesagt und mir die Hand geschüttelt, – »warum sitzen Sie immer allein?«

Ich weiß, daß wir nicht viel getrunken hatten und dennoch unter jenem feinen, unmerklichen Rausche standen, der uns manche Worte nur wie von weitem hören läßt, und wie Weiberlachen und seichte Musik uns umhüllt.

Da aus einer Cancanstimmung wie dieser – aus einer Atmosphäre von Zigeunermusik, Cake-Walk und Champagner ein Gespräch über phantastische Dinge auftauchen konnte?! Lord Hopeleß erzählte etwas.

Von einer Brüderschaft, die allen Ernstes existiere, – von Menschen, besser gesagt, von Toten oder Scheintoten, – Leuten aus besten Kreisen, die im Munde der Lebenden schon seit langem gestorben seien, sogar auf dem Friedhof Leichensteine und Grüfte mit Namenszug und Todesdatum besäßen, in Wirklichkeit aber in jahrelangem, ununterbrochenem Starrkrampfe irgendwo in der Stadt, im Innern eines altmodischen Hauses, bewacht von einem buckligen Diener mit Schnallenschuhen und gepuderter Perücke, den man den gefleckten Aaron nenne, – empfindungslos, geschützt vor Verwesung, in Schubladen lägen. – In gewissen Nächten trete ihnen ein mattes, phosphoreszierendes Leuchten auf die Lippen, und damit sei dem Krüppel das Zeichen gegeben, eine geheimnisvolle Prozedur an den Halswirbeln dieser Scheinleichen vorzunehmen. Sagte er.

Frei könnten ihre Seelen dann umherschweifen – auf kurze Zeit von ihren Leibern gelöst – und sich den Lastern der Großstadt hingeben. Mit einer Intensität und einer Gier, die selbst nicht für den Raffinierten ausdenkbar sei.

Unter anderem fände da ein vampyrartiges, zeckenhaftes Sichansaugen an die von Laster zu Laster taumelnden Lebenden statt, – ein Stehlen, ein Sichbereichern am Nervenkitzel der Massen. Sogar Satzungen habe dieser Klub, der übrigens den kuriosen Namen Amanita führen solle, – und Statuten und strenge Bestimmungen, die Aufnahme neuer Mitglieder betreffend. Doch darüber läge ein undurchdringlicher Schleier des Geheimnisses.

Das Ende dieses Gespräches des Lord Hopeleß konnte ich nicht mehr verstehen, zu laut fielen die Musikanten mit dem neuesten Gassenhauer ein:

»Ja, ja die Kla–re
Ist mir die wah–re.
Trala, trala, trala,
Tra–lalala–la.«

Die grotesken Verrenkungen eines Mulattenpaares, das dazu eine Art Niggercancan tanzte, all dies wirkte wie die wortlose Verstärkung des verstimmten Einflusses, den die Erzählung auf mich genommen.

In diesem Nachtlokal mitten unter geschminkten Straßendirnen, frisierten Kellnern und brillant-hufeisengeschmückten Zutreibern bekam der ganze Eindruck etwas Lückenhaftes, Verstümmeltes und gerann in meinen Sinnen zu einem grauenvollen, halblebenden Zerrbild.

Wie wenn die Zeit in unbewachten Momenten plötzlich einen geräuschlos hasteten Schritt tue, verbrennen Stunden in unserm Rausche zu Sekunden, wie Funken in der Seele aufglimmend, um ein krankhaftes Geflecht kurioser, waghalsiger Träume, geschlungen aus wirren Begriffen, aus Vergangenheit und Zukunft zu beleuchten.

So höre ich noch aus dem Dunkel der Erinnerung heraus eine Stimme sagen: »Wir sollten den Klub Amanita eine Karte schreiben.«

Wie ich jetzt schließen kann, muß also das Gespräch immer wieder zum selben Thema zurückgekehrt sein.

Dazwischen dämmern mir Bruchstücke kleiner Wahrnehmungen zu, wie das Zerbrechen eines Likörglases, ein Pfiff, – dann, daß eine Französin auf meinem Knie gesessen, mich geküßt, mir Zigarettenrauch in den Mund geblasen und die Zungenspitze ins Ohr gesteckt habe. Später wieder schob man mir eine verschnörkelte Karte hin, ich solle mitunterschreiben, und mir fiel der Bleistift aus der Hand, – und dann ging es wieder nicht, weil mir die Kokotte ein Glas Champagner über die Manschette goß.

Deutlich weiß ich nur, wie wir alle mit einem Schlage ganz nüchtern wurden und in unseren Taschen, auf und unter dem Tische nach der Karte suchten, die Lord Hopeleß mit aller Gewalt zurückhaben wollte, die aber spurlos verschwunden blieb.

»Ja, ja die Kla–re
Ist mir die wah–re«,

kreischten die Geigen den Refrain und versenkten unser Bewußtsein immer wieder in tiefe Nacht.

Wenn man die Augen schloß, glaubte man auch auf einem dicken, schwarzen Samtteppich liegen –, aus dem nur vereinzelte rubinrote Blumen aufleuchteten.

»Ich will etwas zu essen haben«, hörte ich jemand rufen, – – »was, – was? – – Kaviar – Blödsinn. Bringen Sie mir – bringen Sie mir, na – bringen Sie mir eingemachte Schwämme.«

Und wir aßen alle saure Schwämme, die mit einem würzigen Kraut in einer fadenziehenden, wasserhellen Flüssigkeit schwammen.

»Ja, ja, die Kla–re
Ist mir die wah–re.
Trala, trala, trala,
Tra–lalala–la.«

Da saß plötzlich an unserem Tische ein seltsamer Akrobat in einem schlotterigen Trikot und rechts daneben ein maskierter Buckliger mit einer weißen Flachsperücke.

Neben ihm ein Weib; und alle lachten.

Wie ist er nur hereingekommen, mit – denen? und ich drehte mich um; außer uns war niemand mehr im Saal.

Ach was, dachte ich mir, – – ach was.

Es war ein sehr langer Tisch, an dem wir saßen, und der größte Teil des Tischtuches schimmerte weiß, – leer von Tellern und Gläsern.

»Monsieur Palloides, tanzen Sie uns doch etwas vor«, sagte einer der Herren und schlug dem Akrobaten auf die Schulter.

Sie sind vertraut miteinander, träumte ich mir zurecht, wahr– – wahrscheinlich sitzt er schon lange hier, der – der – – – das Trikot.

Und dann sah ich den Buckligen zu seiner Rechten an, und seine Blicke begegneten meinen. Er trug eine weißlackierte Maske und ein verschossenes, hellgrünes Wams, ganz zerlumpt und voll aufgenähter Flecken.

Von der Straße!

Wenn er lachte, war es wie ein schwirrendes Rasseln.

»Croatalus! – Croatalus horridus«, fiel mir ein Wort aus der Schulzeit ein; ich wußte seine Bedeutung nicht mehr, aber ich schauderte, wie ich es mir leise vorsagte.

Da fühlte ich die Finger der jungen Dirne unterm Tisch an meinem Knie.

»Ich heiße Albine Veratrine«, flüsterte sie stockend, als wolle sie ein Geheimnis verraten, wie ich ihre Hand faßte. Sie rückte dicht neben mich, und ich erinnerte mich dunkel, daß sie mir einmal ein Glas Champagner über die Manschette gegossen hatte. – – Ihre Kleider strömten einen beißenden Geruch aus, man mußte fast niesen, wenn sie sich bewegte.

»Sie heißt natürlich Germer, – Fräulein Germer, wissen Sie«, sagte der Doktor Zitterbein laut.

Da lachte der Akrobat kurz auf und sah sie an und zuckte mit den Achseln, als ob er etwas Entschuldigendes sagen wollte.

Ich ekelte mich vor ihm, er hatte handbreite Hautentartungen am Halse – wie ein Truthahn, aber krausenartig – ringsherum und von blasser Farbe.

Und sein mattfleischfarbenes Trikot schlotterte an ihm von oben bis unten, weil er engbrüstig und mager war. Auf dem Kopfe trug er einen flachen, grünlichen Deckel mit weißen Tupfen und Knöpfen. Er war aufgestanden und tanzte mit einer, die hatte eine Kette gesprenkelter Beeren um den Hals.

Sind neue Frauenzimmer hereingekommen? fragte ich Lord Hopeleß mit den Augen.

»Es ist die Ignatia – meine Schwester«, sagte Albine Veratrine, und wie sie das Wort »Schwester« sagte, blinzelte sie mich aus den Augenwinkeln an und lachte hysterisch.

Dann streckte sie mir plötzlich die Zunge heraus, und ich sah, daß sie einen trockenen, langen, roten Streifen darauf hatte, und entsetzte mich.

Es ist wie eine Vergiftungserscheinung, dachte ich mir, warum hatte sie einen roten Streifen? – – Es ist wie eine Vergiftungserscheinung.

Und wieder hörte ich wie von weitem die Musik:

»Ja, ja die Kla–re
Ist mir die wah–re«,

und ich wußte bei geschlossenen Augen, wie alle im Takt dazu mit den Köpfen nickten. – – –

Es ist wie eine Vergiftungserscheinung, träumte ich und wachte in einem Kälteschauer auf.

Dann stand Doktor Zitterbein mühsam auf und knüpfte ihr die Achselbänder los.

»Zwischen Sekunde und Sekunde liegt immer eine Grenze, die ist nicht in der Zeit, die ist nur gedacht. Das sind so Maschen, wie bei einem Netz« – hörte ich den Buckligen reden, – »und diese Grenzen zusammengezählt sind noch immer keine Zeit, aber wir denken sie doch, – einmal, noch einmal, noch eine, eine vierte – –

Und wenn wir nur in diesen Grenzen leben und die Minuten und Sekunden vergessen und nicht mehr wissen, – dann sind wir gestorben, dann leben wir den Tod.

Ihr lebet fünfzig Jahre lang, davon stiehlt euch die Schule zehn: sind vierzig.

Und zwanzig frißt der Schlaf: sind zwanzig.

Und zehn sind Sorgen, macht zehn.

Und fünf Jahre regnet es: bleiben fünf.

Von diesen fürchtet ihr euch vier hindurch vor morgen, so lebet ihr ein Jahr – – vielleicht!

Warum wollt ihr nicht sterben?!

Der Tod ist schön.

Da ist Ruhe, immer Ruhe.

Und keine Sorge vor morgen.

Da ist die schweigende Gegenwart, die ihr nicht kennt, da ist kein Früher und kein Später.

Da liegt die schweigende Gegenwart, die ihr nicht kennt! – Das sind die verborgenen Maschen zwischen Sekunde und Sekunde im Netz der Zeit.«

Die Worte des Buckligen sangen in meinem Herzen, und ich blickte auf und sah, wie dem Mädchen das Hemd heruntergefallen war und sie nackt auf seinem Schoße saß. Sie hatte keine Brüste und keinen Leib – nur einen phosphoreszierenden Nebel vom Schlüsselbein zur Hüfte.

Und er griff mit den Fingern in den Nebel hinein, da schnarrte es wie Baßsaiten, und rasselnd fielen Stücke Kesselstein heraus. – So ist der Tod, fühlte ich, – wie Kesselstein.

Da hob sich langsam die Mitte des weißen Tischtuches wie eine große Blase, – ein eisiger Luftzug wehte und verwehte den Nebel. Glitzernde Saiten kamen ans Licht, die zogen sich vom Schlüsselbein der Dirne bis zur Hüfte. Ein Wesen, halb Harfe, halb Weib!

Der Bucklige spielte darauf, träumte mir, ein Lied von Tod und Lustseuche, das klang in einem fremdartigen Hymnus aus:

»In Leiden kehrt sich um die Lust,
In Wohl gewiß nicht, – sicherlich!
Wer Lust ersehnt, wer Lust erkürt,
Erkürt sich Leid, ersehnt sich Leid:
Wer nimmer Lust ersehnt, erkürt,
Erkürt, ersehnt sich nimmer Leid.«

Und mir kam ein Heimweh nach dem Tode bei diesen Strophen und ich sehnte mich nach dem Sterben.

Doch im Herzen bäumte sich das Leben auf – ein dunkler Trieb. Und Tod und Leben standen drohend einander gegenüber; das ist der Starrkrampf.

Mein Auge war unbeweglich, und der Akrobat beugte sich über mich, und ich sah sein schlotteriges Trikot, den grünlichen Deckel auf seinem Kopf und die Halskrause.

»Starrkrampf«, wollte ich lallen und konnte nicht.

Wie er von einem zum andern ging und ihnen lauernd ins Gesicht blickte, wußte ich, wir sind gelähmt; er ist wie ein Giftschwamm.

Wir haben giftige Schwämme gegessen und Veratrum album dabei, das Kraut des weißen Germers.

Das alles sind Nachtgesichte!

Ich wollte es laut rufen und konnte nicht.

Ich wollte zur Seite gehen und konnte nicht.

Der Bucklige mit der weißlackierten Maske stand leise auf, und die anderen folgten ihm und ordneten sich schweigend in Paare.

Der Akrobat mit der Französin, der Bucklige mit der menschlichen Harfe, Ignatia mit Albine Veratrine. – So zogen sie im fersenzuckenden Cake-Walkschritt zu zwei und zwei in die Wand hinein.

Einmal noch drehte sich Albine Veratrine nach mir um und machte eine obszöne Bewegung.

Ich wollte meine Augen zur Seite drehen oder die Lider schließen und konnte nicht, – ich mußte immer die Uhr sehen, die an der Wand hing, und wie ihre Zeiger wie diebische Finger um das Zifferblatt schlichen.

Dabei tönte mir in den Ohren das freche Couplet:

»Ja, ja, die Kla–re
Ist mir die wah–re.
Trala, trala, trala, –
Tra–lalala-la«,

und wie ein Basso ostinato predigte es in die Tiefe:

»In Leiden kehrt sich um die Lust:
Wer nimmer Lust ersehnt, erkürt,
Erkürt, ersehnt sich nimmer Leid.«

Ich genas von dieser Vergiftung nach langer, langer Zeit, die andern aber sind alle begraben.

Sie waren nicht mehr zu retten, – hat man mir gesagt, – als Hilfe kam.

Ich aber ahne, man hat sie scheintot bestattet, wenn auch der Arzt sagt, Starrkrampf komme nicht von giftigen Schwämmen, Muskarinvergiftung sei anders; – ich ahne, man hat sie alle scheintot begraben und muß schaudernd an den Klub Amanita denken und den gespenstischen buckligen Diener, den gefleckten Aaron mit der weißen Maske.


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