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2. Kapitel

Fünf Jahre sind seit jenem Tage verflossen, da Otto Brandt sein junges Leben verlor. Schwer nur hatten sich seine Eltern über den Verlust getröstet. Freilich war ihr Töchterchen Else ein Sonnenstrahl des Hauses geworden und mit ihrem heiteren Wesen verscheuchte sie die trüben Erinnerungen. Else war aber auch ein gar hübsches Kind, an dem Jedermann sein Wohlgefallen hatte. Täglich wanderte das kleine Mädchen nach dem etwa eine halbe Stunde entfernten Dornheim zur Schule. Die gräflichen Kinder, es waren deren vier, drei Söhne und eine Tochter, wurden im Schlosse unterrichtet. Udo, der älteste Sohn, diente bereits als Fähnrich in München. Die Zwillinge Graf Wilhelm und Graf Oskar wurden mit ihrer Schwester Helene in manchen Fächern zusammen unterrichtet. Sie waren 12, Helene 10 Jahre alt. Else Brandt und zwei Pfarrkinder aus der Nachbarschaft waren ihre einzigen Gespielen. –

Carlo Cartano, der kleine Italiener, um deßwillen damals seine Eltern in Waldenberg zurückbleiben durften, hatte sich zu einem bildschönen, prächtigen Knaben entwickelt. Er war das einzige Kind und die einzige Freude seiner Eltern. Sonderbarerweise war der um einige Jahre ältere Carlo von jeher der Freund von Else Brandt gewesen. Er beschützte sie ritterlich auf dem Wege zur Schule und half ihr beim Aufgabenmachen. Die Eltern von Else hegten stets einen Groll gegen alles, was italienisch war, aber sie wehrten dem harmlosen Verkehre der beiden Kinder nicht. Für Else war Carlo ein Ideal. Der Junge besaß in der Tat ganz außerordentliche Geistesgaben und es zeigte sich bei ihm sehr frühe die Begabung für Musik. Seine liebste Beschäftigung war Geige zu spielen. Bald erlangte er eine solche Fertigkeit in dieser Kunst, daß der Dornheimer Lehrer, welcher Carlo unterrichtete, erklärte, der kleine Italiener müsse sich ausbilden lassen. Die Eltern Carlos hingegen wehrten sich gegen diesen Vorschlag, fürchteten sie doch, den Sohn fortgeben zu müssen und ihn durch Welt und Menschen sich entfremdet zu sehen. Graf Herzfeld aber legte sich ins Mittel. Carlo, der mit Begeisterung den Plan seiner Ausbildung ergriffen hatte, kam nach der Konfirmation nach Leipzig auf das Konservatorium. Der Graf trug die Kosten seines Studiums. Der strebsame Jüngling machte bald große Fortschritte, seine Lehrer weissagten ihm eine glänzende Künstlerlaufbahn. Als er nach zwei Jahren zur Erholung nach Hause kam, ließ ihn Gras Herzfeld alsbald aufs Schloß bitten. Er sollte ihm eine Probe seines Könnens geben. Carlo widmete seiner äußeren Erscheinung die größte Sorgfalt, als er sich zum Besuch in der gräflichen Familie rüstete. Der sechzehnjährige, schlanke Bursche sah für sein Alter schon recht erwachsen aus, sproßte ihm doch bereits ein dichter, dunkler Flaum auf der Oberlippe. Carlo hatte einen seinen Rassekopf. In dichten, schwarzen Ringellocken umgab das glänzende Haar sein edelgeformtes, bleiches Gesicht, in dem zwei große, schwärmerische blaue Augen unter langen, dunklen Wimpern strahlten. Der modische Anzug, den sich der junge Mensch von Leipzig mitgebracht hatte, saß ihm vorzüglich und in nichts verriet das Aeußere Carlos, daß er nur der Sohn eines armen Arbeiters war. Sein ganzes Wesen machte einen durchaus vornehmen, sympathischen Eindruck. Diesem konnten sich auch Graf und Gräfin Herzfeld nicht entziehen, die mit Staunen sahen, was aus dem kleinen Italiener geworden war. Die Zwillinge Wilhelm und Oskar waren nicht mehr in Waldenberg, sie besuchten höhere Unterrichtsanstalten. Nur Komtesse Helene, die vor ihrer Konfirmation stand, war noch zugegen. Sie nahm indessen wenig Notiz von Carlo, der in ihren Augen doch nicht ebenbürtig war. Sie ärgerte sich, daß sie mit ihm musizieren sollte. Helene hatte sich nämlich bereits eine große Fertigkeit im Klavierspiel angeeignet. Das musikalische gräfliche Ehepaar freute sich auf das Zusammenspiel der beiden jungen Leute. Zuerst mußte Carlo dem Grafen noch eine Menge Fragen über seine Ausbildung und die Leipziger Verhältnisse beantworten, dann packte er sein geliebtes Instrument, eine alte Amati, aus. Diese Geige war ein Erbstück in der Familie Cartano und der kleine Carlo hatte schon darauf die ersten Uebungen gespielt. Es war ein weicher Ton, wie Gesang, den der Künstler jetzt seiner alten Violine zu entlocken verstand. Der Graf und die Gräfin waren entzückt. Das Spiel Carlos übertraf ihre kühnsten Erwartungen, verfügte er doch gleichzeitig über eine Feinheit der Technik, wie man sie nur bei ausgezeichneten Spielern antrifft. Carlo hatte zuerst allein gespielt. Wie ein süßes Lied durchzogen die Töne das hohe Gemach. Als er geendet, spendete der Graf seine volle Anerkennung.

»Meine Tochter ist ebenfalls musikalisch veranlagt,« fügte er dann hinzu. »Sie spielt Klavier mit ziemlicher Geläufigkeit.«

»O,« rief Carlo erfreut aus, »dann wäre vielleicht die Komtesse so freundlich, mich zu begleiten. Ich habe hier einige Sachen, die nicht schwer gesetzt sind. Ich glaube, daß Sie dies vom Blatt spielen können,« meinte er, sich zu Helene wendend und ihr die »Berceuse« von Godard reichend.

Die junge Gräfin schien wenig geneigt, dem Wunsche Carlos nachzukommen. Sie machte ein ziemlich unfreundliches Gesicht. Helene befand sich zur Zeit in den sogenannten weiblichen »Flegeljahren«. Es ist dies ein Uebergang vom wilden, fröhlichen »Backfisch« zur wohlgesitteten Jungfrau. Zudem war die Komtesse etwas launenhaft und von ihren Eltern als einzige Tochter und »Jüngstes« grenzenlos verwöhnt. Uebrigens war Helene von Natur gutmütig und es tat ihr hinterher immer leid, wenn sie unartig gewesen. Leider ließ sie sich aber von ihren trotzigen Regungen öfters hinreißen und war dann durchaus nicht liebenswürdig. Sie begriff nicht, daß man von einem einfachen Arbeiterssohn so viel Aufhebens machte, der obendrein noch ein Italiener, was hier so viel wie – »Zigeuner« war. Helene behagte es durchaus nicht, mit Carlo zu spielen.

»Nun Helene, mein Herz,« bat die Mama, »begleite Herrn Cartano dieses Stück wenigstens. Ich bin sicher, daß du es kannst!«

»Ich habe die Noten noch nie gesehen,« murrte Helene, »das wird was schönes geben!«

»Bitte, versuchen Sie es wenigstens, gnädiges Fräulein,« bat Carlo. »Es wird schon gehen!«

»Natürlich geht's,« sagte der Graf und öffnete selbst den prächtigen Bechstein-Flügel. »Komm nur, mein Kind!«

Helene setzte sich mit finsterem Gesicht ans Klavier, indes Carlo sich beeilte, ihr die Noten aufzustellen und seine Violine zu stimmen. Dann begannen die jungen Leute zu spielen und wirklich beherrschte Helene ihren Part vollkommen. Es war ein reiner, schöner Genuß, und widerwillig mußte die junge Gräfin sich gestehen, daß der Italiener doch ein ausgezeichneter Violinspieler war. Sie aber hatte sich absolut keine Mühe gegeben, auf seinen gefühlvollen Vortrag einzugehen. Trotzdem dankte ihr Carlo herzlich und ihre Eltern lobten ihre Begleitung.

»Noch ein Stück, bitte!« gebot der Graf. »Das war ja famos!« Er war stolz auf sein Töchterlein.

Auch die Mutter beeilte sich, ihm zu schmeicheln.

»Das ist ja so gut gegangen,« lobte sie, »man glaubt, Ihr beide hättet schon öfters miteinander gespielt.« – Helene blieb ungerührt. Auf Carlos Bemerkung hin »Sie spielen sehr taktfest, Gräfin,« – machte sie sogar eine ganz verächtliche Schulterbewegung, just, als wollte sie sagen: »Was mache ich mir aus deinem Urteil?« Der junge Mensch sah sie daraufhin ganz erschrocken an. Was hatte er der Komtesse nur zu leide getan, daß sie ihn so geringschätzig behandelte? – – Aber es sollte noch besser kommen! Auf nochmaliges Bitten der Eltern bequemte sich Helene endlich dazu, noch ein Stück zu begleiten. Es war ein Potpourri aus dem Tannhäuser von Singelee, das allerdings schon einige Kenntnisse für Klavier voraussetzt und für die Violine eine Glanznummer ist. Carlo wollte daran seine brillante Technik so recht zeigen. Anfänglich ging alles glatt. Dann aber begann Helene ein viel rascheres Tempo, das sich immer mehr überstürzte, so daß der Geiger unmöglich alle Läufer und Verzierungen zur richtigen Geltung bringen konnte. Carlo hielt inne und bat Helene, den betreffenden Abschnitt von vorne zu nehmen und langsamer zu spielen. Helene aber schien das zu überhören und hieb wütend auf das Klavier ein, so daß Carlo bedauernd den Bogen sinken ließ und sagte:

»Gnädiges Fräulein scheinen keine Lust mehr zum Weiterspielen zu haben.« – – Aber kaum war ihm das letzte Wort entflohen, so zischte ihm die Komtesse ein: »Frecher Zigeunerbub'« ins Ohr, sprang vom Stuhle auf und verließ den Salon, ehe man sie hindern konnte. Carlo stand ganz erstarrt da, er war blaß geworden, dann flutete ihm das Blut dunkel in Stirne und Wangen. Heiß stieg es ihm zu Kopf und verwirrte seine Gedanken. Er machte eine Bewegung, als wollte er Helene nachstürzen, aber schon war Graf Herzfeld zur Türe geeilt und rief strenge nach seiner Tochter. Sie kam aber nicht, so viel man auch nach ihr rief.

»Entschuldigen Sie, bester Carlo,« bat der Graf. »Helene ist ein unartiges Kind, das Sie nicht ernst nehmen müssen!«

»Was hat sie zu Ihnen gesagt?« forschte die Gräfin. Carlo machte sich mit seiner Violine zu schaffen. Nicht um die Welt hätte er das Wort wiederholt, mit dem ihn Helene beschimpfte. Er begnügte sich, der Gräfin zu erwidern:

»Es war nichts von Bedeutung, gnädige Frau.« Aber diese Worte straften ihn Lügen. Er war so verstört, daß er garnicht mehr hörte, was um ihn vorging. Schließlich baten ihn Graf und Gräfin, zum Diner dazubleiben, aber das hätte Carlo in seiner Aufregung nicht fertig gebracht. Er dankte herzlich, entfernte sich aber dann so schnell, als es nur irgend möglich war. Die Aufregung über die vermeintliche große Beleidigung wirkte noch in ihm nach. Armer Carlo! Er war aus all' seinen Himmeln gestürzt. Er war selbst noch zu sehr Kind, um die Sache leichter zu nehmen und sich zu sagen, daß die Beleidigung eines Kindes doch eigentlich gar keine Beleidigung ist. In seinem Herzen erwachte ein glühender Haß gegen die kleine Gräfin. Sie sollte ihm nur noch einmal begegnen. Er malte sich aus, daß er ihr alles antun wollte. Gedemütigt sollte sie vor ihm dastehen. – – – Des Weges nicht achtend, war der Jüngling, in der Hand seinen Geigenkasten, in den Wald gestürzt. Stundenlang irrte er umher, endlich besann er sich auf den Heimweg. Erschöpft und erhitzt, das Haar wirr in der Stirn, kam er nach Hause. Seine Mutter eilte gleich herbei und bestürmte ihn mit Fragen:

»So lange warst du im Herrenhaus? Waren die Herrschaften sehr gütig gegen dich? Sag', wie war es dort?«

»Schön war es!« antwortete der Sohn. »Wunderschön,« und der Sohn lachte gellend auf. Er machte sich unsanft von seiner Mutter frei, welche verwundert ihm nachschaute. Was war dem Sohne? Vielleicht war ihm der Wein, den er vermutlich von dem Grafen zu trinken bekommen, zu Kopf gestiegen. – –

Beim Abendessen aber war Carlo ruhig und unterhielt sich wie immer. Von seinem Besuche im Schlosse redete er aber kein Wort. –

Schlaflos verbrachte der Jüngling die Nacht. Zum ersten Male war ihm die Erkenntnis der sozialen Unterschiede klar geworden. Auf dem Konservatorium waren alle Schüler gleich, einer war wie der andere. Alle strebten nach einem hohen Ziele, waren sie nun hoch oder niedrig geboren, ob Grafenkind oder Taglöhnerssöhn. Die Kunst stellte sie alle auf eine Stufe und erhob nur denjenigen, der am tiefsten in sie eingedrungen, am meisten von ihr erfüllt ward.

»Warum bin ich nicht hochgeboren, warum bin ich nicht reich?« frug sich Carlo unaufhörlich. Er klagte das grausame Geschick an, das ihn als Kind eines Arbeiters hatte zur Welt kommen lassen. Ha, sogar als Kind eines Italieners – Carlo wußte, welche niedrige Meinung von diesen man gerade hier in Waldenberg hatte. Mußte er sich deshalb vor der Komtesse beugen, mußte er sich vor ihr in den Staub verkriechen?

»Nein,« rief Carlo laut, »ich beuge mich nicht! Ich will ein Künstler werden, ein großer Künstler und Alle sollen mich achten – auch sie, Helene! Ja, noch mehr, sie soll mich lieben!« – – Seine Phantasie malte ihm in leuchtenden Farben ein Zukunftsbild und trotz des heißen Grolles, den er gegen die Komtesse hegte, war sie darin der Mittelpunkt, um den sich alles drehte. –

* * *

Fortan beseelte ein rastloser Ehrgeiz den jungen Mann. Er übte noch fleißiger als sonst, er gönnte sich selbst in den Ferien nur wenig Zeit zur Erholung. Nur zu kurzen Waldspaziergängen verließ er das Haus und lehnte die Einladung der gräflichen Herrschaften, nochmals aufs Schloß zu kommen, ab, sich mit Unwohlsein entschuldigend. Else Brandt, seine einstige Gespielin, begegnete ihm fast täglich auf seinem Waldgang. Zu sehr war Carlo mit sich selbst und seinen ehrgeizigen Plänen beschäftigt, als daß ihm dies aufgefallen wäre. Er plauderte immer freundlich mit Else, begleitete sie auch wohl ein Stückchen, dachte sich jedoch garnichts dabei. Die Kleine aber freute sich auf dieses Zusammensein mit Carlo den ganzen Tag. Sie richtete es ein, daß sie ihn treffen mußte und als er endlich wieder nach Leipzig abreiste, weinte sie bittere Tränen bei der Trennung. Verwundert schaute Carlo sie an. Er nahm herzlich Abschied von ihr und tröstete sie mit baldiger Wiederkehr. Daraus aber wurde nichts! Das Studium nahm den angehenden Künstler ganz in Besitz und erst nach Jahren sah er die Heimat wieder!


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