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Post-Scriptum

Blaue Engel, weiße Engel, rosa Engel, Seraphim mit weichem Fleisch, Herrschaften und Tugenden, himmlische Samenkörner, köstliche Flügeltiere und Liebesäpfel, Traumvögel, Engel, Engel, wacht über mir!

Unbefleckte Maria, reine Jungfrau, Lilienblume, Wesen von Treuherzigkeit, Zucker und Zuckerguß, Beschützerin der Bastarde und der ledigen Mütter, Jungfrau, Jungfrau, Trost und Süße, bete für mich!

Über meine Lippen, ausgedörrt und vom Fieber gezeichnet, schwirren Litaneien. Bruchstücke von traurigen Gebeten, gelber Glaubensstaub, huschen über diese geschlossenen Lippen.

Ich bete, wirklich, ich bete, wie in meiner unsinnigen Kindheit.

Eine Frau beugt sich über meine feuchte Stirn. Ihre Bewegungen bringen Linderung, Frische. Eine Frau! ... Judith? ... Durch welch seltsame Phantasie hat sie ihr weites Kleid, in dem ihr Körper sich ganz frei bewegen konnte, verlassen, um sich als Puppe des zwanzigsten Jahrhunderts zu verkleiden?

Meine Lippen öffnen sich halb. Ein Name entschlüpft. Die Frau beugt sich noch tiefer über mich:

»Sei ruhig ... es ist vorbei. Erkennst du mich denn nicht? ... Mich ... ich bin's ... Juliette ...«

Was? ... Juliette! ... Judith! Ich versuche, mich auf einem Ellenbogen aufzurichten.

»Armer Kleiner. Du warst krank ... so krank ... Das ist aber vorbei. Noch ein bißchen Geduld.«

Plötzlich wenden sich meine Augen ab, voll einer unendlichen Verwunderung, in die sich Entsetzen mischt. Ich zeige mühsam mit dem Finger. Da? ... ein Kalender, ein alter Kalender. Und ein Datum, niederschmetternd: 12. Oktober 1935!

»Wo bin ich ... welcher Tag? ... Ich träume ...«

»Ruhe, mein Freund ... Ja, es ist wahr ... es ist schon mehr als zwei Monate her ... das Übel hat dich niedergeworfen ... Du warst ohne Bewußtsein ... schlimmer noch ... Aber alles ist vorbei. In den Straßen ist Sonne, und Vögel singen.«

Eine harte, mürrische Stimme, voller Güte, während ich schwer auf das Kissen zurücksinke:

»Das ist genug, gnädiges Fräulein ... Noch zu schwach ... Und Sie, trinken Sie nur das. Trinken Sie, und seien Sie vernünftig.«

Eine Faust hält mir eine Tasse hin, voll einer durchsichtigen Flüssigkeit.

»Trink', Liebster, trink' und schlaf. Beruhige dich. Ich komme morgen wieder.«

Ich habe getrunken. Unendliche Ruhe. Das Weib – Judith? Juliette? – hat sich von neuem über mich gebeugt. Ihre Lippen legen sich leicht, wie Libellen, auf meine Haare. Schlafe ich? Ich steige, ich steige hoch zu vergoldeten Wohlgerüchen. Ich schwebe in lichten Wolken. Mich tragen durchsichtige Flügel buckliger Engel.

Die Engel! ... Die Engel! ... Gespreizte Vögel, anbetungswürdige Ungetüme, mit lockenden Halbkugeln, aufgeblüht wie überreife Tomaten ...

Juliette kommt morgen wieder.

Ende

 


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