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IV

Ich besinge diesen Helden auf meiner zerbrechlichen Schalmei ... ich besinge in der Art des guten Abbé Delille – die Aeneide schändend – diesen Helden, der mit sicherer Geste, nur mit dem schwachen Verstand eines kleinen verkrüppelten Mannes bewaffnet, zwischen Zauberbüchern und Formeln, es verstanden hat, die furchtbarste und wunderbarste aller Verwandlungen auf der irdischen Welt durchzuführen.

Ich besinge diesen Helden, diesen wundervollen Alten, den Herrn des Lebens. Die anderen werden sagen: »Er hatte nicht das Recht.« Was, das Recht? Ist denn das, was wir Leben nennen, etwas anderes als ein dauerndes Aufzehren? Erneuert sich das Wesen nicht ständig, indem es Wesen verschlingt? Ich betrachte eine riesige Tanne, die vor mir aufgerichtet steht, wie ein Koloß, mit sich kreuzenden Ästen. Es ist immer der gleiche Saft, der sie durchrieselt. Sie erarbeitet sich ihre eigene Form, indem sie sich selbst und ihren Abfällen Kräfte entlehnt.

Ich besinge den Helden ... Er ist über seine Wünsche hinausgegangen, und die ganze Menschheit, die existiert, ist in ihm. Der Planet ist sein Gut. Junge Alte, wunderbare Ewige, versammelt euch um ihn, wie eine Gotteskrone. Daß die Lyren erklingen. Und daß Hebe, die Unsterbliche, uns den wohltätigen Trank reiche, den Sonnensaft, den der Meister »Soleol« getauft hat. Ugolin, Eroberer, Dichter, Menschenfresser, wir liegen zu deinen Füßen ...

Ich besinge den Helden ... Da ist aber nun die Dämmerung. Und da ist etwas, das mehr ist als Verbrechen: der Fehler. Ugolin hat nicht die Frau vernichtet. Es wäre notwendig gewesen. Man hätte die Frau vertilgen müssen – die Raupe. Und auch die groteske Lust beseitigen, die für einige quälende Minuten zwei unversöhnliche Feinde aneinanderfesselt. Ugolin hat das nicht begriffen. Wenn man das Leben besiegen will, muß man bei der Wurzel beginnen. Flicken ist gut, schöpfen ist besser.

Ugolin konnte das Leben nicht vollkommen beherrschen ... ohne die Frau. Er hat es nicht einmal versucht. Daran werden wir sterben.

Ohne Zweifel, ich bete die Frau an. Ich schätze sie wegen der Glut, die sie entfacht, wegen der Ströme von Lava, die sie in unser Mark gießt. Ich verstehe, daß wir ohne sie wie klebrige Schnecken dahinkriechen würden. Ugolin, der alte Mann, hat nicht vernichtet. Das Geschlecht bleibt König. Aber die Frau ist immer die Feindin.

Warum ich das hinschreibe? Weil ich mich gerade mit Judith, meiner Frau, gezankt habe. Und mit der Spitze ihres rosigen Nagels läßt sie mich die Vergeblichkeit unserer aufgeblasenen Hoffnungen, die Zerbrechlichkeit unserer Träume, die im Leeren zerplatzen, erkennen. Seit langem hatte ich es geahnt. Nicht ohne Grund spiegelt sich in den Augen Judiths die düstere Ironie der Blicke der anderen – Juliette, der Magd, dem Werkzeug des kleinen, hüstelnden, höhnisch lachenden Alten. Warum habe ich die Warnung nicht schon früher wahrgenommen?

Sie ist es, die entschlossen den Kampf begonnen hat. Ich hielt mich in meinem Arbeitszimmer auf, ein wenig niedergeschlagen, verfolgt von traurigen Visionen. Meine Gedanken flogen dem trägen Alten zu, der nur noch der Abglanz seines Selbst ist und den die Wissenschaftliche Dreieinigkeit nur noch selten um Rat fragt, mehr der Form halber. Schmerzliche Abdankung. Plötzlich richtet sich Judith auf, die Augen noch dunkler, stolz, mit bleichen Lippen. Mit ihrer schleppenden Stimme bemerkt sie so nebenbei:

»Was glauben Sie wohl, was aus unserem Simon geworden ist, mein Freund?«

Mit einem Ruck bin ich aufgesprungen, von dem Angriff überrascht. Was ich glaube? Ich wage nicht, es zu sagen. Seitdem mein Sohn verschwunden ist, folgten die Entführungen junger Menschen einander, systematisch, ohne daß jemand auch nur den Anfang einer annehmbaren Erklärung für diese Attentate hätte geben können. Ich, der die Folge der Entführungen von ehemals gekannt habe, ich fühle, wie ich bei dem Gedanken erschrecke, daß dies wiederbeginnen könnte. Sollte es irgendwo, unerreichbar und bösartig, einen zweiten Ugolin geben, eine Antwort auf den ersten?

Judith beugt sich zu mir, der doppelte Blitz ihrer Augen dringt in meinen Schädel wie zwei rote Punkte. Mit einer kindlichen Geste will ich sie zurückdrängen. Sie faßt meine Finger: »Wir müssen uns aussprechen.«

Ihre Stimme wird rauh. Während ich sie ängstlich betrachte, fährt sie fort:

»Ja, es ist Zeit, daß ich Ihnen sage ... Zunächst müssen Sie wissen, daß ich mich schon seit langem nicht mehr täuschen lasse. Ich bin über eure angebliche Unsterblichkeit, die in Wirklichkeit nur ein Diebstahl ist, unterrichtet, was man so unterrichtet nennt. Ihr lebt vom Leben anderer, das ist die Wahrheit. Was wart ihr aber, bevor ihr das gräßliche Geheimnis entdeckt hattet, dieses Geheimnis, das euch erobert wurde durch die Untersuchungen von Hunderten von Generationen. Diebe! Diebe! Und Mörder! Denn ihr habt, vielleicht für Jahrhunderte, zahllose Menschen vergiftet, die sich des natürlichen, absoluten Rechts, zu leben, erfreuten ..., verstehen Sie mich, zu leben, sich zu entwickeln, sich zu entfalten, auf natürliche Weise zu enden, nach den Naturgesetzen, die ihr umgestoßen habt.«

Sie schweigt einen Augenblick. Ich höre nicht auf, sie mit krankhafter Neugier auszuforschen. Empörung knistert in den schwarzen Diamantaugen. Sie ist göttlich schön, von einer Magierinnenschönheit. Sie beginnt wieder:

»Ihr habt euch eingebildet, daß ihr aus euren Kindern ewig, unbestraft, mit Hilfe eurer verdammten plastischen Chirurgie, die Kräfte gewinnen werdet, die das Alter in euren zerfallenen Körpern erschöpft hat. Ihr erhofftet, die schöne, wunderbare Jugend, die unwiderstehliche Jugend, die den Samen der Zukunft mit sich bringt, zu eurem Nutzen monopolisieren zu können! Irrsinnige! Ihr fügt nur Firnisschichten auf verfaultes Holz! Im Tiefsten eures Wesens, das sich bemüht, ewig zu sein, steckt immer das alte, wütende Tier, das nicht verzichten will. Ihr nehmt den jungen Menschen nur ihre physische Kraft, nichts von ihrer frischerblühten Seele.«

Ich unterdrückte ein Stöhnen.

»Judith, woher wissen Sie diese Dinge?«

»Was tut's! Ich weiß, das ist das Wesentliche. Und ich weiß auch, daß die Jungen – die wahren Jungen – ihre Rache haben werden, und zwar sehr bald.«

Dieses Mal werde ich wütend. Die Drohung wirkt wie ein Peitschenschlag. Und dann spricht Judith zu viel und zu gut. Sie hat mir Zeit gegeben, mich wieder zu fassen. Ich greife meinerseits an:

»Judith, ich höre Sie an, sehr ruhig, ohne Zorn. Sie drücken sich wie ein Chorknabe aus. Von welcher Rache sprechen Sie denn? Die Jungen, Ihre Jungen, die uns ihre Existenz zu verdanken haben, gehören uns. Ohne uns würden sie nicht sein. Und was wissen sie, was können sie? Sie haben nur dem natürlichen Gesetz zu folgen, das verlangt, daß das Leben sich im gleichen Wesen fortsetzt, statt sich in unfruchtbare Versuche zu verzetteln und sich zu verpfuschen.«

»Das ist nicht wahr!«

Sie hat gerade wild diesen Schrei ausgestoßen und droht, sich auf mich zu stürzen wie eine gereizte Löwin. Niemals habe ich sie so gesehen. Die Frau verbirgt im Innern ihres Selbst immer ein vergessenes, wildes Tier, das bereit ist, emporzuschnellen mit ausgestreckten Krallen. Sie brüllt:

»Mörder! Betrüger! Ihr wollt uns Verachtung der Gesellschaft, die ihr erdrosselt habt, lehren, dieser antiken Gesellschaft, die ihr als barbarisch bezeichnet. Ja, ich habe es erfahren: in diesen fernen Zeiten lebte der Mensch vom Menschen, beutete den Menschen aus, fraß den Menschen, langsam, grausam. Aber die stärksten, fähigsten, die am besten bewaffneten widerstanden. Es war der Kampf, den die Natur auferlegt. Bei euch ist es die kalte, unmenschliche Metzelei. Kinder werden geboren und sind von ihrem ersten Lächeln an dem Opfer geweiht. Mit welchem Recht raubt ihr ihnen die Kräfte, den Verstand? Wißt ihr, was ihre Seele in ganz neuen Körpern hätte verwirklichen können? Heuchler, die unter dem Vorwand, einer kastrierten Menschheit das Glück zu geben, nur an sich selbst denken. Heuchler und Egoisten!«

Ihre Augen leuchten, und ihre Lippen beben. Welche Viper habe ich aufgezogen? Und wie kann sie so gut über die Vergangenheit und die Gegenwart unterrichtet sein? Ja, woher? Ich schließe die Augen. Ach, das Weib! Eva! Eva! Monstrum, voll hinterlistiger Neugier! Ich gebe mir jetzt Rechenschaft über meine unverzeihliche Nachlässigkeit. Ich habe meine Schubladen aufgelassen, meine Aufzeichnungen und die Blätter, die angstvolle Nächte mir eingaben ... Ich hab' all dies in Reichweite der Feindin gelassen, zu ihrer Verfügung. Sie hat alles gelesen, alles verschlungen. Hat sie aber richtig verstanden? Sie läßt mir keine Zeit, auf die Frage zu antworten.

»Ich weiß alles«, ruft sie, »über euer schändliches Unterfangen. Alles. Ich habe Ihr Gekritzel entziffert, über Ihre Beichten nachgesonnen. Sie selbst sind nicht überzeugt, recht zu haben ... Sie und andere auch nicht ... Ihr zweifelt, ängstlich. Oh, es ist nicht die Reue, die euch plagt; ihr fühlt nur dunkel, daß das Spiel nicht ganz gewonnen ist. Am Horizont steigen Nebel auf. Ugolin, euer göttlicher Meister, ist tödlich getroffen, verstehen Sie, tödlich, und er weiß es; er täuscht sich nicht darüber. Er erwartet mit Ergebung, daß die Jungen, die wahren Jungen, euch alle wegfegen, euch Seeräuber, Einbrecher, Gauner, die mit Geldschränken anfangen und damit aufhören, Seelen auszuräubern.«

Dieses Mal ist sie zu weit gegangen. Sie hat zuviel gesagt. Ein Wutanfall wirft mich auf sie. Jahre sind vergangen, seit ich den Zorn verlernt habe; heute höre ich auf den alten Mann, auf das Tier des zwanzigsten Jahrhunderts, das mir Mordgedanken einflüstert. Ich habe Judith umgeworfen; ich halte sie an der Kehle fest, mein Knie drückt ihre Brust, und über ihr gequältes Gesicht gebeugt, werfe ich ihr einen Haufen unflätiger Beschimpfungen entgegen, Worte, die wir aus unserem Sprachschatz ausgestrichen haben. Sie wehrt sich nicht einmal, aus ihren Augen zückt aber ein Feuer so überragenden Mitleids und verachtender Ironie, daß ich sie loslasse. Und plötzlich sehe ich mich ganz weit zurückversetzt, in das Paris meiner Jugend, und Juliette ist da, die mich verhöhnt, mit meiner Schwäche spielt.

Ich fahre mit der Hand über meine in Schweiß gebadete Stirn. Judith erhebt sich, mühselig atmend. Mit kaum vernehmbarer Stimme flüstert sie:

»Und nun? ...«

Nun? Was will sie damit sagen? Nun? Weiß ich es denn? Judith atmet wollüstig die Luft ein, ohne mich aus den Blicken zu lassen. Sie sagt:

»Mein armer Freund ... Sie sind wieder zu Ihren Ursprüngen zurückgekehrt. Wenn Sie mich aber getötet hätten, sinnlos, glauben Sie, daß das Ihr Schicksal verändert und Ihre unwiderrufliche Verurteilung aufgeschoben hätte?«

Mir ist fast zum Weinen. Sie fährt fort:

»Mein Freund, hören wir auf, uns wie zwei Feinde anzusehen. Heute sind wir einander gleich in Macht und in Kampfmitteln. Und deswegen habe ich mich entschlossen, zu sprechen. Legen Sie denn wirklich Wert darauf, so zu leben, in der Ungewißheit, Jahre und Jahre ohne Freude, eingehüllt in ein Leichentuch von Langeweile und – gestehen Sie es doch – von Widerwillen?«

Ich antworte nicht. Was soll ich ihr sagen? In meinem Innersten versuche ich mich zu überzeugen, daß sie Kindereien redet. Diese Krise wird vorübergehen. Was aber wird die Frau – im Besitze des Geheimnisses – uns noch für Schwierigkeiten bereiten?

Ihre Stimme, sehr tief und in Sanftheit getaucht, ertönt von neuem. Sie fällt auf mein Herz wie kalte Wassertropfen.

»Ihr seid Unglückselige. Kein wirkliches Glück ist euch gewährt. Denn das Glück läßt sich nicht befehlen. Alle eure Glücksfabrikanten sind nichts als Verbrecher; ihre wahnsinnigen Versuche schmieden die Ketten des Verhängnisses nur noch enger. Mit Gott oder ohne Gott folgt die Welt einem Gesetz, das man nicht ungestraft übertreten kann! Hören Sie mich gut an! Was Sie Leben nennen, euer Leben, das aus einer langen Reihe von zerbrechlichen Klebepflastern besteht, ist nichts anderes als ein Bild des Todes. Im Grunde scheint ihr, die Ewigen, Phantome; ihr seid eure eigenen Überlebenden ... Ja, das ist es wohl: Tote, die sich selbst leben sehen ... Traurige Wracks!«

In ihrem Ton liegt eine Feierlichkeit, die mich allmählich schwächt. Ich bin schachmatt. Vor einem Augenblick noch wollte ich Judith töten. Jetzt habe ich fast Lust, mich zu ihren Füßen niederzuwerfen. Es ist wahr, sie hat richtig gesehen, sie hat den Finger auf die Wunde gelegt, die mich schmerzt. Sie drückt mit einiger Grausamkeit; sie belebt meinen Schmerz und gießt gleichzeitig, ich weiß nicht welchen erfrischenden, köstlichen Balsam darauf.

Sie spricht noch, und man könnte sagen, daß sie mehr für sich als für mich spricht:

»Ehemals, zur Zeit, die Sie mit Barbarei bezeichnen, bewahrten sich die Menschen Glückseligkeiten, die für immer verschwunden sind. Ich habe eure Bücher von damals durchblättert, jene, welche ihr eifersüchtig für euch selbst aufbewahrt und die ihr der Herde der Neutriden vorenthaltet, eure alten Romane, in denen die Liebe in vielerlei Art serviert wird, eure Theaterstücke, die sich im wesentlichen von Ehebruch und Hahnreitum nähren, eure anmaßenden psychologischen Studien und eure Zeitungen, vor allem eure Zeitungen, die der Spiegel eurer Zeit sind. Was habt ihr aus all dem gemacht, aus all dem, das nicht ohne Reiz war? Sagen Sie mir, Sie, der Sie Journalist waren, was hat man aus der Zeitung gemacht?«

Ich verschlucke einen Seufzer. Das ist nur allzu wahr, leider! Es gibt keine Zeitung mehr, keine Literatur mehr, kein Theater mehr! Da die Vermischten Nachrichten und die Politik und die Dramen der Leidenschaft verschwunden sind, was könnte eine Zeitung anderes enthalten als den Bericht von Laboratoriumssitzungen, die Benennung der Untersuchungen und neuen Entdeckungen, die Streitigkeiten zwischen den Gelehrten, die Hypothesen über die Beschaffenheit der Erde, die entstehen und vergehen. Das Buch ist noch schlimmer, von entmutigender Trockenheit. Und das Theater? Wir haben riesige Fernsprechseher an seine Stelle gesetzt, in denen nur die wissenschaftlichen Aufführungen zugelassen sind. Ugolin wollte eines Tages ein Experiment versuchen. Er hat ein Lustspiel von ehemals ausgegraben, eines dieser Stücke, die in meiner Jugend fabelhafte Erfolge erzielten und ihre Autoren reich machten. Dieses Erzeugnis war von einem gewissen Vermeil oder Verneuil oder Vernouil gezeichnet, ich weiß es nicht mehr genau, einem sehr geschickten Macher. Nun denn! Die Neutriden haben nicht aufgehört zu gähnen, haben nichts begriffen von den Feinheiten und zarten Spielen, die vor einem Jahrhundert Stürme von Beifall ernteten. Welcher Umsturz in unseren Sitten und in unserem Geschmack! Es ist kein Theater mehr möglich und keine Leinwand, keine eitlen Stars mehr, keine harmlosen Schlauköpfe, keine großen Schauspieler, keine lustigen Skandale mehr ... Berühmte Zugtitel, Honigkuchen von an Hirnschwund leidenden Skribenten, was ist aus euch geworden?

»Alles ist aus,« sagt Judith, als ob sie meine Gedanken witterte, »alle Freuden unserer Väter. Ihr habt das Jahrhundert der Eugenik aufgerichtet, der menschlichen Dressur. Ihr braucht die Reinheit im Körper und im Geist. Eine Eisdecke über die Leidenschaften und über die Sünden. Ihr seid nichts weiter als eine in einem Kühlschrank konservierte Menschheit.«

Der Ton hat sich geändert. Ich steige allmählich aus den dunklen Wassern meines Fußfalls auf und unterdrücke mit großer Mühe ein Lächeln! Lassen wir's gut sein, das wird schon vorbeigehen. Die Frau bleibt Sklave ihrer Nerven und unterliegt dem Joch ihrer flüchtigen Eindrücke. Die unerwartete Offenbarung hat im Geist Judiths wie ein elektrischer Schlag gewirkt. Sie ist nicht daran gestorben, aber ... In diesem Augenblick scheint Judith sich von ihrer gelehrten Phantasie loszureißen und bestürmt mich heftig mit dieser Erklärung:

»Es wird Ihnen sicherlich nicht schwer sein, das Geheimnis der Entführungen junger Menschen zu durchdringen.«

Ich fahre auf:

»Was? Welche Entführungen? ... Und welcher Zusammenhang?«

Judith wiegt sich in den Hüften:

»Wie ehemals, mein Freund, wie ehemals ... Nur, wir entführen die Kinder nicht, um an ihnen zu experimentieren und ihnen ihre Lebenskräfte zu rauben. Nein. Wir tun's, um ihnen das Leben zu sichern, um sie vor dem Menschenfresser zu retten. Wir haben sie in Obhut genommen, weit weg von euren Hexereien versteckt. Der Streitfall ist entschieden. Ihr könnt nichts mehr gegen sie.«

Gegen meinen Willen schreie ich, im Galopp meiner Überzeugung fortgerissen:

»Unmöglich. Wir haben die Welt in allen Richtungen durchstöbert. Wenn eure jungen Menschen noch da sein würden, hätten wir sie wiedergefunden.«

Die spitzen Zähne Judiths leuchten aus roten Lippen, die von einem scharfen Lächeln zurückgeworfen sind:

»Sie wiederfinden? Versucht! Glaubt ihr, daß die Entdeckungen, die alten Entdeckungen Ugolins für alle Welt verloren sind, und daß wir nicht das Licht trüben und die Töne ersticken können?«

»Unmöglich«, sage ich zum zweitenmal. »Ihr hättet Mittäter haben müssen im Großen Kreis, und wer weiß, unter den Zwölf ... Nur Verrat hätte es vermocht ...«

»Oder Wiedergutmachung.«

»Wer würde wagen?«

Judith pflanzt sich vor mir auf. Sie fordert mich heraus mit ihrem brennenden Blick, in dem Drohungen flimmern.

»Wer? Vielleicht der Schuldigste.«

*

Sie geht zum Fernsprechseher. Ein Läuten ertönt. Ich habe nicht die Kraft, nicht mal den Wunsch, mich zu rühren. Ich erwarte etwas, ich weiß nicht was, etwas, das mich endgültig niederschmettern wird. Und mit einemmal fahre ich zurück:

»Sie? ... Sie? ... Was geht vor?«

Die mächtige Erscheinung von Neer, einem der Zwölf, von Neer, den ich seit Monaten und Monaten nicht mehr gesehen habe, zeichnet sich im Zimmer ab. Er betrachtet mich mit einem Ernst, der mein Blut erstarren läßt. Was werde ich noch erfahren?

»Mein lieber Freund,« sagt Neer, »ich habe Ihre ganze Unterredung mit Judith gehört. Man muß stark sein und versuchen, zu verstehen. Und vor allem die Ereignisse hinnehmen.«

Tiefes Schweigen. Ich höre mein Herz schlagen. Neer beginnt von neuem:

»Wir sind am Vorabend des Verzichts. Die Gesellschaft, die wir aufgebaut haben, zerfällt nun gleichfalls, wie die anderen. Die Jungen, die wirklich Jungen werden kommen und uns in den Abgrund stürzen. Und nichts kann ihnen widerstehen, nichts. Sie sind die Herren von morgen.«

Ich lehne mich auf. Ich erkenne es nicht an. Was schwatzen sie mir beide von den Jungen. Man braucht nur diese aufrührerischen Jungen zu nehmen und sie zur Vernunft zu bringen wie die anderen. Was bedeutet dieses Zögern, und warum hält Neer zu Judith? Ist es sein letztes Pech bei der Wahl der Wissenschaftlichen Dreieinigkeit, das ihn zur Abtrünnigkeit aufhetzt?

»Ich sehe, was in Ihnen vorgeht«, behauptet der Professor mit seiner schneidenden Stimme. »Es gibt keinen anderen Verrat als den der Natur. Wir schwimmen mit vollen Segeln zum nicht wieder gutzumachenden Bankrott. Ich für mein Teil, ich habe bis zum Ende gekämpft. Jetzt ist meine Sicherheit unerschütterlich. Ugolin hat sich getäuscht. Ugolin weiß, daß er besiegt ist. Und er wird es Ihnen selbst sagen.«

»Er ... Ugolin ...«

»Er erwartet uns. Ich habe aber darauf Wert gelegt, Sie vorzubereiten. Sie werden einen alten Mann wiederfinden ... einen Alten unter den Alten, runzlig, zusammengeschrumpft, am Sterben ... Sie werden ihn sehen, und Sie werden urteilen ... Sie werden ihn sehen ... und er wird Sie nicht sehen.«

Entsetzt frage ich ihn:

»Was soll das bedeuten? ...«

Judith ist es, die antwortet, trocken, mit Siegesklang in der Stimme:

»Ugolin ist blind.«

Ich falle rücklings in einen Sessel, mein ganzer Körper zittert. Alles hätte ich vorausgesehen, nur diese furchtbare Enthüllung nicht.

Blind! Warum blind? Und wie kann dieser Unfall die Entmutigung des einen und die frenetische Freude des anderen nach sich ziehen? Es ist schon lange her, seit Ugolin keine Rolle mehr spielt, seit er in den Zustand eines mumifizierten Götzen übergegangen ist, verbannt in einen hermetisch verschlossenen Hochaltar. Das ist keineswegs ein weiteres Gebrechen, das die Enttäuschung des seines Führers beraubten Großen Kreises vermehren könnte.

»Das ist nichts«, knirscht Neer. »Aber Ugolin ist nicht der einzige, der in ewige Nacht versunken ist. Sein ergebenster Mitarbeiter, Potrel, ist ebenfalls getroffen.«

»Was erzählen Sie mir da? ... Potrel?«

»Potrel ist blind. Der Professor Müller, der Erfinder der magnetischen Dusche, klagt auch über Trübung des Augenlichts. Der Doktor Bourrachu, ein Spezialist, wie Sie wissen, hat ein System von Brillen erfunden, ohne die es ihm unmöglich ist, die Gegenstände auf drei Schritt Entfernung zu unterscheiden ...«

Ich schreie:

»Das ist also eine Epidemie?«

»Schlimmer,« bekräftigt Neer, »ein Zusammenbruch. Alle Anstrengungen Ugolins, um die Langlebigkeit – und, wie er sagt, sogar die Unsterblichkeit – zu erobern, münden in diesen köstlichen Epilog: Blindheit. Das ist nicht der Tod. Ist aber keineswegs besser.«

Ich fühle meinen Kopf schwer werden. Schon sehe ich mich in abgrundtiefe Schatten gestürzt. Blind, blind! Es ist geschrieben, daß wir alle blind werden, einer nach dem anderen; da ist sie, die Rache, die furchtbare Rache des Unbekannten, die ich seit Jahren witterte. Blinde. Wir sind verloren, und die Welt mit uns.

»Die Blindheit,« fährt Neer mit seiner rauhen Stimme fort, »ach, das herrliche Ergebnis! Soviel verzehrte Jugenden, die sich frei nach dem wirklichen Naturgesetz hätten entfalten können, für diesen Ausgang ... dunkel ... Das ist wohl die Bezeichnung für die Lage, was? Wunderbare Krönung. Finis coronat opus, wie die Alten sagten.«

Er beginnt zu lachen, ein dickes, heftiges Lachen, ein Sturmlachen, das meine starkgespannten Nerven zerbricht. Ich beobachte Judith. Aufrecht, schweigsam, scheint sie zu träumen, weit, fern von uns.

»Sie sagen nichts mehr?«

Ihre Augen haben plötzlich den Glanz kalten Lichts. Ihre Lippen öffnen sich halb, fast widerwillig. Sie murmelt:

»Platz den Jungen!«

»Ja,« unterstützt Neer, »Platz den Jungen, Platz den Wesen von morgen.«

Ein letzter Aufruhr erhebt sich in mir:

»Und wir, wir ... Was soll aus uns werden? ...«

»Wir,« sagt Neer, seine Hand auf meine Schulter legend, »wir, mein Freund, werden schlafen, verstehen Sie, schlafen ... schlafen! ...«


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