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II

Man wird gern zugeben, daß es mir unmöglich ist, den Kampf in allen Einzelheiten zu schildern, den ein Häufchen von Greisen, unter Leitung eines fast übermenschlichen Wesens führte, gegen Massen von in Gesellschaften zusammenklebenden Individuen, in Herkömmlichkeiten und Vorurteilen schleichend, durch niedrige Interessen gespalten, von Sklaverei vergiftet und ständig bereit, das Kreuz unter die Zuchtrute des Herrn zu beugen. Ich kann und will es nicht, da ich nichts anderes vorhabe, als von mir selber zu erzählen. Diejenigen, die eine vollständigere Aufklärung wünschen, brauchen nur in den offiziellen Werken nachzuschlagen, unter welchen ich besonders empfehle: Die Geschichte der ugolinischen Revolution von Professor Anatole Marot; Die sozialen Zuckungen des zwanzigsten Jahrhunderts von Jean Lapivert; Von der Anarchie zur Harmonie von Boissart und Truquemaille; Die genaue Erzählung der Begebenheiten, die den Regierungsantritt und die Regierung Ugolins kennzeichnen, zehn riesige Bände mit Hilfe des Großen Kreises veröffentlicht. Dann die verschiedenen historischen Lehrbücher, die zum Gebrauch der Schüler bestimmt sind, sowie die populärwissenschaftlichen Werke wie »Die Psychologie einer Epoche«, »Von den barbarischen Zeiten zum Licht« usw. Schließlich die »Lehrfilmbücher«, die jedermann ermöglichen, die Folge der wichtigsten und entscheidenden Vorfälle der modernen Geschichte zu verfolgen.

Was man natürlich nicht kennt, ist das Drum und Dran dieser Geschichte. Was nicht genügend geschildert wurde, sind die Charaktere der Individuen, die einer Ära angehören, die heute so fern ist, daß es scheint, eine neue Rasse wäre aus der Fäulnis einer zerstörten geboren. Die Sitten, die Gebräuche, die Gesetze, die eine barocke Epoche leiteten, die Gedanken und Stürme, die entfesselten Roheiten, eine ganze Atmosphäre von Verwirrung und Wahnsinn; das läßt sich verteufelt schwer auf die Leinwand bannen oder auf die kalten Blätter eines Buches.

Ich habe sie skizziert, vielleicht ohne viel Glück. Besser als jedem anderen jedoch müßte es mir eigentlich gelingen, mir, der damals in voller Jugend stand, damals, in der Stunde der höchsten Verwandlung. Meine Wurzeln stecken zu tief in einer schmutzigen Vergangenheit. Zu oft fühle ich, wie trotz wiederholter Verjüngung, in meinem tiefsten Innern, im Halbdunkel voll unzerstörbarer, kläffender Instinkte, der alte Mann sich regt, der ich war – in der Form verfallener Herkömmlichkeiten geknetet, in der Gemeinheit und Sinnlosigkeit einer larvenhaften Gesellschaft gebadet. Nehmen Sie an – wenn Sie damit einverstanden sind –, daß ein Höhlenbewohner durch eine Laune des Schicksals nach jahrhundertelangem Schlaf, begabt mit neuen Fähigkeiten und dem Sinn für Anpassung, sich an den Hof des Sonnenkönigs verpflanzt sieht, inmitten des schmuckbesäten Adels, in die blendenden Galerien von Versailles. Es würde in ihm der bittere Nachgeschmack und etwas wie Heimweh nach seinem ursprünglichen Zufluchtsort bleiben, nach den Zeiten, da er seine zerlumpte und hungrige Brut auf die Suche nach Feuer und auf die Jagd nach Tieren führte. Ich bin dieser Mann der sozialen Höhle des Jahrhunderts Nummer zwanzig. Ich träume oft, zu oft, von unerfüllbaren Dummheiten. Das Blut meiner Ahnen pulst in meinen Schläfen. Ohnmächtig nehme ich teil an dem Kampf zwischen meinen ineinandergeschachtelten Persönlichkeiten, die sich gegenseitig stoßen, in einem enttäuschenden Wirrwarr, dem ich vergeblich eine neue Individualität zu entlocken versuche.

Die Alten aber, die ersten jungen Alten, isolierten sich in ihrem hochmütigen Traum und zogen hinter Jason-Ugolin zur Eroberung des Goldenen Vließes. Sie haben mit ihren breiten Pfoten die Vergangenheit ergriffen und zu Brei zerdrückt. Sie sind ganz in der Gegenwart, einer Gegenwart, die ihre Zukunft ist. Sie sind Kraft und Mut. Ich trauriger Schiffsjunge aber, den man für wer weiß welchen Schiffbruch eingeschifft hat, ich habe manchmal in meiner Schwäche und ewigen Angst Anwandlungen von Sehnsucht nach diesen Zeiten.

Was gesagt ist, ist gesagt. Wir können nicht mehr zum Früher zurückkehren. Ugolin hat das Nichts so gesäubert, daß nicht mal für Bedauern Platz bleibt.

Dabei hielt sich diese Gesellschaft von ehemals für fest gegründet, aufgebaut auf die ewigen Grundlagen: Armee, Justiz, Kirche, die Strebepfeiler der Macht. Sie bot allen Angriffen Trotz und stützte ihre Allmacht auf die tiefe Trägheit der verzweifelt schlaffen Massen. Phalanxen von Revolutionären, bewaffnet mit der Justiz, der Freiheit und Gleichheit, diesen Stärkungsmitteln für schwache Mägen, hatten alles gewagt, diese Gesellschaft zu erschüttern. Ohne anderes zu erreichen, als eine führende Gruppe durch eine andere zu ersetzen. Ugolin hat sich nicht mit diesen gedanklichen Albernheiten aufgehalten. Er hat ins Lebendige geschnitten, das heißt in die menschliche Dummheit, deren Stierkopf er in Stücke zersplittern ließ. Er hat seinen Fuß auf die Gesellschaft gesetzt wie auf einen Ameisenhaufen. Welche unsinnigen Blutbäder aber und welche Axthiebe auf den Wald der Unwissenheit!

*

Genug gejammert. Bequem in einem Sessel zurückgelehnt, mit halbgeschlossenen Lidern, winden sich meine Gedanken in die verflossenen Stunden zurück. Ich sehe das Rette sich wer kann der Soldaten, der Führer, der zusammengedrängten Menge rings um den Wald. Die Panik erfaßte sogar die Einwohner der benachbarten Dörfer. Männer, Frauen, Kinder liefen auf den Straßen durcheinander, von einem Sturm des Schreckens fortgetragen wie diese mittelalterlichen Banden, die vor einem Einfall flüchteten oder vor der Pest. Alle gingen sie auf Paris zu, dem einzigen Zufluchtsort, dem einzigen Schutz. Aber auch Paris war in voller Gärung.

Die Neuigkeit, die in die Stadt hereingeplatzt war, erzeugte sofort ein Aufflackern der Wut. In weniger als einer Stunde waren die Boulevards, von der Bastille bis zur Madeleine, Place de la Concorde, Champs-Elysées, Etoile von brüllenden Haufen erfüllt, welche die Demission des Kabinetts, die Auflösung der Kammer verlangten und einen Führer forderten. Jedesmal, wenn die Menge Angst hat, verlangt sie einen Retter, einen Gott. Andere wieder sprachen davon, die Arbeiter zur Macht zu erheben. In den Vorstädten erblühten Klubs, wo Redner donnerten, die soziale Ungerechtigkeit anzeigten, die Böswilligkeit und die Unwürdigkeit der Regierungsform. Die Regierung ließ Truppen aufmarschieren. Das Palais Bourbon, die Ministerien, die Banken, das Elysée wurden durch Artillerie geschützt; Maschinengewehre auf den öffentlichen Gebäuden aufgestellt. Die Menge war aber schon zu sehr in Schwung. Es gab fast überall gewaltige Scharmützel. Man kämpfte wild. An einigen Stellen machten die aufgeregten Soldaten kehrt, gingen zu den Aufrührern über. Dann kamen neue, bewaffnete, disziplinierte Truppen, und der wahre Kampf begann zu wüten, ohne Ausgang, in einem unbeschreiblichen Durcheinander, grausam.

Die Arbeitergewerkschaften proklamierten den Generalstreik. Dieser Befehl wurde um so strenger befolgt, als die Arbeiter von sich aus die Fabriken verließen, und die bestürzten Arbeitgeber sich hinter ihren Toren verbarrikadierten. Als die Nacht kam, lag Paris im Dunkel, da der elektrische Strom unterbrochen war. Die Schlacht tobte weiter. Ich habe in dieser Nacht die Straßen beobachtet; ich bin nur Gestalten begegnet, die, fahl vor Angst, versuchten, sich mit Hilfe von Laternen und Kerzen Licht zu schaffen, schleichende Schatten, die die Mauern streiften; dann das Wirrwarr der Flüchtlinge, die ängstliche Meute, berauscht von Alkohol, berauscht von Entsetzen ... Und überall Leichen, Verstümmelte; Unglückliche wimmerten, flehten um Hilfe ... Das alles ohne bestimmtes Ziel, ohne klaren Willen. Alle diese aus dem Gleichgewicht gebrachten Unglücklichen stürzten sich in den Abgrund. Es sah nach Weltuntergang aus, nach Bankrott, nach beschleunigter Agonie einer Zivilisation, die im Herzen getroffen war.

Drei Tage und drei Nächte lebte Paris in dieser Orgie von Massakern, die von Keilereien und Plünderungen unterbrochen war. Das Prasseln der Flinten, das Knattern der Maschinengewehre, die brüllende Stimme der Kanonen erstickte das Durcheinander der Klagen und Todesschreie. Die Verzweiflung verwandelte sich in Irrsinn. Man wußte nicht, was man wollte, man wußte nicht, gegen wen man wollte. Haufen delirierender menschlicher Tiere mit zerrissenen Kleidern, mit von Schmutz und Schweiß gebräunten Gesichtern, schrien, brüllten: Ugolin! ... Ugolin! ... Nieder mit Templier! (Das war der Ministerpräsident.) Oder noch: Es lebe der Sozialismus! ... Nieder mit den Ausbeutern! Und aus vielen tausend Kehlen erscholl die Hymne der Internationale ... Welch Schauspiel ansteckender Verirrung. Ich selbst fühlte mich in diesen Zyklon fortgerissen, verlor den Halt, und strengte mich mit der ganzen Kraft meiner ersterbenden Energie an, die Macht über meine Nerven zu bewahren, der Ansteckung zu entgehen.

Und plötzlich, an der Ecke einer Straße, inmitten einer zappelnden, zitternden Menge, eine zerzauste Frau, mit hysterischen Gesten, rotglühenden Augen, auf Schultern hochgehoben. Ich erkannte sie sofort ... ich erkannte sie an ihren Augen. Ich stürzte hin, die Menge beiseiteschiebend, mit vorgestreckten Ellenbogen, geneigtem Kopf. Mit der ganzen Kraft meiner Lungen schrie ich:

»Juliette!«

Sie machte einen Sprung. Sie stürzte auf mich zu, packte mich an den Schultern:

»Du? ... Du bist's? ... Hat er dich losgelassen? ...«

»Juliette ... Ich werde dir erklären ... Komm ... folge mir ...«

Sie brach in ein wildes, schmerzliches Gelächter aus, ein zerreißendes Gelächter, das mir ins Mark drang, wie spitzer Stahl ...

»Juliette! ...«

Eine lebende Welle trennte uns, warf sie zurück. Ich sah, wie sie sich wehrte. Einen Augenblick behielt sie Oberhand, das Gesicht mir zugewandt. Dann verschwand sie, von der bewegten Menge verschlungen. Und ich selbst, plattgedrückt gegen die Tür eines Ladens, röchelnd, zerschunden, hielt mich verzweifelt fest, um nicht die Besinnung zu verlieren.

*

Was habe ich während dieser düsteren Tage getan? Ich irrte überall umher, in dem Wirrwarr, über Leichen schreitend. Flugzeuge schwirrten in der Luft, ließen Feuerhagel herunterprasseln. Das Elysée brannte. Der Louvre brannte. Die großen Kaufhäuser standen in Flammen. Rings um die Hallen eine riesige, gähnende Leere. Man sagte, daß Hunderte von Aufrührern durch Stickgase umgekommen wären, und über all diesem Getöse, über diesen wilden Feuersbrünsten, diesen wütenden Überschwemmungen schäumenden Hasses, erhob sich die Stimme der Kanonen, die nicht aufhörten, zu donnern.

So haben sich die Ereignisse inmitten dieses dämonischen, babylonischen Wirrwarrs zugetragen; hier sind sie, so wie ich sie nach und nach notiert habe, wie sie mir zuflogen, kommentiert und deformiert durch gierige Mäuler. Zunächst die Flucht der gesetzmäßigen Regierung, die nicht besiegt, sondern von der Verantwortung eines beispiellosen Gegenkampfes eingeschüchtert war. Aufrufe an den Mauern kündigten ihre Übersiedlung nach Bordeaux an. Sie wandte sich an die guten Bürger, beschwor sie, die Ordnung wiederherzustellen, kündigte an, daß sie auf den gesunden Sinn der Provinz rechnete, und daß sie nicht versäumen würde, mit Hilfe ganz Frankreichs zurückzukehren und der Hauptstadt, die einem Deliriumanfall unterlegen war, eine Dusche zu verabfolgen. Gegen diesen Aufruf richtete sich ein Manifest der Revolutionäre, die Herren der Lage waren, und die der Bevölkerung mitteilten, daß die Kommune gebildet und die Macht in die Hände des arbeitenden Volkes übergegangen wäre. Schon wieder gab es die traditionelle Opposition der Revolutionen. Paris, das sich gegen das bürgerliche und bäuerische Frankreich erhob.

In den Tagen, die folgten, gab es eine lange Windstille. Die neue Regierung forderte die Arbeiter auf, in ihre Wohnungen zurückzukehren und die Arbeit wiederaufzunehmen. In allen Stadtteilen bildeten sich mit erstaunlicher Schnelligkeit Arbeiter- und Soldatenräte, die die Verteilung der Lebensmittel organisierten, die Hausdurchsuchungen beschleunigten, sich der Fabriken, Industriewerke und Speicher bemächtigten ... Dann der gießbachartige Auszug, die Menge, die sich auf die Straßen wälzte, fort vom Fabrikschornstein. Vorsichtig befahl die revolutionäre Regierung, daß man jeden, der nicht für die Revolution war, flüchten lassen solle, indem sie angab, andere, dringendere Aufgaben zu haben, als sich mit überflüssigen Repressalien zu beschäftigen, und daß es besser wäre, sich nicht mit Parasiten und feindlichen Mäulern zu belasten.

Während dreier Wochen erschöpfte sich die zur Macht gelangte Kommune in Anstrengungen. Sie mußte Hunderte von plündernden Banditen standrechtlich erschießen, bis auf die Zähne bewaffnete Wehren auf die Beine bringen. Es gab eine reichliche Austeilung von Tressen; eine ganze, neue Bürokratie erstand. Der Telegraph begann wieder zu arbeiten, mehr recht als schlecht. Die Luftreisen wurden langsam wieder aufgenommen. Und man erfuhr Schlag auf Schlag, daß die Kommune in Lyon, in Saint-Etienne, in Brest gesiegt hatte, wo die Flotte die Aufständischen unterstützte; in Toulon, wo man sich weiterschlug. Hingegen konnte in Marseille die Empörung nicht weiter fortschreiten und merkwürdigerweise, in Roubaix, in Lille, in Douai, bei den Minenarbeitern und den Textilangestellten vollkommene Stille. Ohne Zweifel sparten sich die arbeitenden Massen da unten auf. Gleichzeitig wurde bekannt, daß die bürgerliche Regierung in Bordeaux weiße Truppen zusammenbrachte, die sie der roten Armee entgegenstellen wollte.

Schließlich unternahm es die Regierung, die Polizei nach dem Muster der alten großen Tscheka zu organisieren. Sie verpflichtete zwangsweise Tausende von Unglücklichen, die keinerlei Lust für diese Art von Beruf hatten, zahlreiche Frauen, deren Aufgabe darin bestand, ihre Reize zu zeigen, um hinter die Geheimnisse der Verschwörer und der Feinde des revolutionären Vaterlandes zu kommen. Sie behielt aber vor allem die Polizisten des alten Regimes, die entschlossen ihre Dienste der regierenden Macht anboten und schamlos fortfuhren, ihre traditionellen und teuren Methoden weiter anzuwenden. Das gleiche Phänomen hatte sich in der Armee ereignet. Höhere Offiziere, Generäle hielten ihre Säbel zur Verfügung der Volkskommissare, entwarfen Schlachtpläne, brachten den Freiwilligen die Handhabung der Waffen bei. Auch die Richter erhoben Anspruch, eine Gerechtigkeit auszuteilen, die mehr als summarisch war, je nach den Wünschen und Launen der Mächtigen des Tages. Schließlich entsprachen diese plötzlichen Verwandlungen dem Prozeß jeder Revolution, und ich erkannte darin das Gesetz, das die menschlichen Niederträchtigkeiten bestimmt. Die am meisten die Revolte fürchteten und sich vor dem Ausbruch der sozialen Umwälzungen als unerbittlich reaktionär gebärdet hatten, erklärten sich jetzt als die feurigsten und wütigsten Terroristen. Sie brüllten stärker als die Wölfe. Ewige Komödie. Hingegen sahen sich die Vorläufer, die Propheten von gestern, angezeigt, verdächtigt, bedroht, von ihren Gegnern überflügelt.

Ich selbst, der diese Veränderungen in ihren verächtlichen Ursachen erforschte, wurde gezwungen, Farbe zu bekennen. Man schob mich mit Gewalt in eine offizielle Zeitung, die früher ein großes Morgeninformationsblatt gewesen war. Man erteilte mir den Befehl, nur das aufzunehmen, was den neuen Herren nützen konnte. Ich mußte, nicht ohne Widerwillen, dieses knechtische Amt eines Zensors bekleiden und war gezwungen, es unter den wachsamen Augen einer mißtrauischen Polizei auszuüben. Ich hatte aber die traurige Genugtuung, gute Kollegen an meiner Seite wiederzufinden, die jetzt wütig geworden, vor einigen Monaten noch die Kommunisten mit ihrem giftigen Geifer überschwemmt hatten.

Die Folgen dieses Regimes ließen sich bald erkennen. Die Spitzelei nahm ein ungewöhnliches Ausmaß an, und ein dumpfer Schrecken zermalmte den Aufruhr. Die Arbeiter indessen hatten keinen Grund, sich zu beglückwünschen. Es war ihnen untersagt, sich zusammenzuschließen, Ansprüche zu erheben, an Streik zu denken, und sie mußten für ein Stück Brot schuften. Die Löhne waren abgeschafft, und man gab Essen und Wohnungen nur denjenigen, die ihre Arbeitstagsbons in der Hand schwangen. Von Anfang an gab es unzufriedenes Gebrumm. Die Arbeiterrotten, die gezwungen wurden, nach der Arbeit Waffen zu tragen, zu patrouillieren, vor den Büros der Kommissäre, Kasernen und Gefängnistoren endlos Schildwache zu stehen, gaben sich schließlich drein; sie nahmen diese fast vollkommene Militarisierung an.

Nur einige Menschen – eine Handvoll – schienen Widerstand leisten zu wollen.

Diese Männer vertraten »anarchistische« Grundsätze. Zur Stunde des Straßenkampfes gegen die Truppen der Ordnung waren sie mit in der ersten Reihe gewesen. Sie hatten wunderbar ihren Mann gestellt, weigerten sich aber, die neue Macht anzuerkennen. Sie bestanden darauf, ihre umstürzlerische Arbeit fortzusetzen. Sie ließen sich durch eine strenge Logik leiten, die sie jede Autorität zurückweisen ließ, unter welcher Form immer sie sich zeigte, mit Ausnahme der unsinnigsten und blindesten: derjenigen der entfesselten, unbewußten und widerspruchsvollen Menge. Und neue Aufstände entbrannten in den dichtbevölkerten Stadtteilen. Die roten Soldaten und die Polizisten wurden auf die Widerspenstigen losgelassen. Schutzhunde gegen Wölfe. Die Anarchisten antworteten durch Bomben, die nur Unschuldige trafen. Schließlich ergaben sich einige von ihnen. Die große Mehrzahl der Freiheitler wurde unerbittlich niedergemetzelt, gehetzt, in Arbeitshäuser geworfen, wo das Ungeziefer ihre Energie brach.

Ordnung herrschte in Paris. Sie herrschte in der Hungersnot, in der Ungewißheit, in dem Zusammenprall der Gedanken, der Vorschläge, der Organisationsversuche. Sie herrschte im Entsetzen und im Verzicht.

Das siegreiche Proletariat kläffte in all seinen Klubs und Räten, es legte sein Schicksal in die Hände der Delegierten – seiner neuen Herren. Und da begann man wieder an Ugolin zu denken, an Ugolin, den man im Tumult vergessen hatte.

Das Fragezeichen, dessen Beantwortung bisher niemand gelungen war, bestand noch immer.

Ugolin, unsichtbar und gegenwärtig, beherrschte die Lage.

Die durch die revolutionäre Sintflut zur Macht getragenen Volkskommissare erzitterten vor den Bedrohungen des Morgen. Die Revolution war siegreich. Jetzt mußte man wieder aufbauen. Die schlimmste Arbeit war noch zu leisten.

Sie wandten ihren Blick nach Moskau.

Die russische Revolution hatte seit 1917 einen langen Weg hinter sich. Die düsteren Tage des reinen Kommunismus verloren sich in der Ferne, und für die klarsehenden Geister war sie seit langem stabilisiert unter einer volkswirtschaftlichen Form, die von den anderen Staaten Europas wenig verschieden war. Die unaufhörliche Propaganda der Agitatoren hatte über die Augen der westlichen Arbeiter einen Schleier geworfen. Moskau blieb auch weiterhin der Pol, auf den aller Enthusiasmus und Fanatismus zustrebte. Moskau blieb die heilige Stadt der Revolution, das Mekka des Proletariats.

Und während die bürgerliche Regierung alle Kräfte der Ordnung zusammenzufassen versuchte, um auf die Hauptstadt zu marschieren, während der Schatten Ugolins über den Fronten schwebte, die Gewissen verdunkelte, die Energien ablenkte, streckten die Vertreter des zur Macht gelangten Volkes verloren ihre Arme den glorreichen Vorläufern, den Diktatoren des großen Rußlands entgegen.

Die proletarische Revolution, siegreich und von ihrem Erfolg beschwert, verlangte von Moskau Direktiven und Befehle.


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