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12. Kapitel.

Im Hellegatt. – Dora erzählt ihre Geschichte.

 

Beim Abendessen ging es in der Kajüte diesmal geradezu feierlich her. Unsere Seefahrer hatten sich nicht nur mit besonderer Sorgfalt gewaschen und gekämmt und in ihr bestes Zeug geworfen, sie waren auch bemüht, ihre besten Manieren in Benehmen und Rede hervorzukehren, und dies alles zu Ehren ihrer neuen Schiffsgenossin.

Kapitän Jaspersen hatte seinen Platz am oberen Ende der Tafel, Fräulein Ulferts saß zu seiner Rechten, Paul ihr gegenüber, und dann kamen Towe auf der einen und Gazzi auf der andern Seite.

Doras Stimmung war traurig, da sie unwillkürlich der Zeit gedenken mußte, wo sie mit ihrem Vater zum letztenmal an diesem Tische gesessen. Wie war alles jetzt so anders! Damals fühlte sie sich glücklich in der Liebe des treuen Beschützers, jetzt saß sie, eine verlassene Waise, in der Mitte von lauter fremden Menschen. Trotzdem mußte sie dankbar dafür sein, daß das Schicksal sie zu guten und rechtschaffenen Leuten und nicht unter brutale Gesellen geführt hatte.

Seit dem letzten der schrecklichen Ereignisse, die sie an Bord der »Hallig Hooge« erlebt hatte, fehlte ihr jede Erinnerung an das, was inzwischen mit ihr vorgegangen war, bis zu dem Augenblick ihrer Begegnung mit Paul in der Kombüse. Es lag ihr daher viel daran, zu erfahren, wie und warum die jetzige Besatzung auf das Schiff gekommen war.

Keppen Jaspersen berichtete ihr, was er und seine Schiffsmaaten erlebt hatten, seit sie dem »Senator Merk« den Rücken gekehrt, wobei er ihr natürlich die Spuk- und Geistergeschichten verschwieg, zu denen sie die Veranlassung gegeben hatte. Es war neun Uhr geworden, als er mit seiner Erzählung zu Ende war; unsere Freunde mußten die Begierde, von Fräulein Ulferts eine Schilderung der Vorgänge an Bord der Hallig zu vernehmen, bis zum folgenden Abend zügeln, da bei den drei Forschungsreisenden sich infolge ihrer anstrengenden Märsche durch das Inselgebirge sich eine starke Müdigkeit einzustellen begann.

Ehe der Schiffer sich zurückzog, sah er nach dem Barometer; es war erheblich gefallen.

»Das fürchtete ich,« sagte er zu Paul. »Das Wetter war zu gut, um von Dauer zu sein. Heute nacht wird es Wind geben, und nicht zu wenig. Nun werden wir erfahren, wie unser Hafen sich benimmt, wenn es draußen weht. Er liegt ja gänzlich geschützt, es könnte aber sein, daß die Strömung, die uns hier hereinsetzte und von der ich heute nichts mehr bemerken konnte, sich bei Sturm wieder in Bewegung setzt, und wenn der Wind von Westen kommen sollte, dann könnte sie einen Ausläufer durch unser Hafentor schicken und die Hallig in Gefahr bringen. Wir müssen daher Ankerwache halten. Und zwar du die erste, Paul, denn du hast den ganzen Tag nichts zu tun gehabt.«

Es dauerte auch gar nicht lange, da kam der Sturm dahergebraust. Paul hielt seine Ankerwache, indem er sich in der Kombüse vor dem hellen Feuer auf die Bank streckte.

Wer nie das Meer befahren hat, der kennt das wonnige Behagen nicht, das den Seemann beschleicht, wenn er den Wind pfeifen, heulen und toben hört, und sich dabei im sicheren Hafen geborgen und bewahrt weiß. Paul konnte unbesorgt der Ruhe pflegen, denn auf dem Wasser rings um die Hallig zeigte sich kaum hie und da ein leichtes Rippeln, während draußen ein voller Orkan über die See hinbrauste.

Es wehte auch noch, als es bereits wieder Tag geworden war. Zerfetzte Wolken jagten in rasender Eile unter dem grauen Firmament dahin, man konnte erkennen, daß das Wetter sich vorläufig nicht wieder ändern würde.

Da es sich an Deck schlecht arbeiten ließ, beschloß der Schiffer, das Hellegatt einmal gründlich zu überholen, um zu sehen, was dort an brauchbaren Dingen für die neue Takelung verstaut war. Das Hellegatt ist ein Verschlag im unteren Schiffsraume zur Aufbewahrung von Inventar und Material. Es liegt in der Regel ganz vorn, unmittelbar über dem Kiel.

An Bord der Hallig befand sich die kleine Luke, die in diesen Raum hinabführte, im Fußboden des Mannschaftslogis. Eine eiserne Leiter, am Mittelstützen befestigt, führte in die Tiefe. Paul stieg mit der Laterne hinunter, der Schiffer folgte, und Towe und Gazzi blieben im Logis, um die heraufzureichenden Gegenstände in Empfang zu nehmen.

Es fanden sich da unten zwei eiserne Wassertanks, einer ganz, der andere halb voll. Dazu sechs Fässer mit gesalzenem Schweinefleisch und sieben mit Rindfleisch. Weiter entdeckte man einen großen Blechkasten voll Hartbrot, einen großen Vorrat von Kohlen, eine Menge Tauwerk aller Art, alt und neu, und viele Blöcke und sonstiges Gerät.

Das Tauwerk und die Blöcke wurden zunächst in das Logis hinaufgeschafft und dann von dort an Deck. Darüber verging eine gute Stunde. Dann fiel dem Schiffer ein, daß er niemand mit der Bereitung des Frühstücks beauftragt habe. Er war inzwischen ins Logis hinaufgestiegen, im Hellegatt befand sich nur noch Paul.

»Geh in die Kombüse, Paul,« rief Jaspersen ihm zu. »Wir brauchen dich jetzt hier nicht mehr.« – »Jawoll, Kapitän.«

Paul langte nach der Laterne, die er auf einen der Tanks gestellt hatte; dabei fiel sein Blick auf etwas Weißes, das am Hinteren Schott lag. Er kroch mit der Laterne dorthin; es war ein wollenes Tuch, das nur Fräulein Ulferts gehören konnte.

»Hier also muß ihr Versteck gewesen sein,« sagte er zu sich selber, und begann weiter umherzuleuchten. Inmitten einer alten Manilatrosse fand er ein aus Segeltuchlappen und Werg hergestelltes Lager oder Nest. In welcher Angst mußte das arme Mädchen sich befunden haben, um hier unter den Ratten und Kakerlaken eine Zuflucht zu suchen, dachte er. »Es ist wahrlich ein Segen, daß sie von diesem Jammer jetzt nichts mehr weiß.«

Er nahm das Tuch auf und brachte es mit sich an Deck.

»Wat hest du denn dor?« fragte Towe.

»Ein Schaltuch. Ich habe die Stelle gefunden, wo unser Fräulein sich versteckt gehalten hat. Ein richtiges Nest von Werg, Kabelgarn, Segeltuch un all so'n Kram.«

»Dat arme Kind!« sagte Towe kopfschüttelnd und voll von Mitleid. »Aber nu mak man en beten to; dat Fräulein het all Tee kockt un dat ganze Frühstück in de Reih' bröcht; se het hier jo woll nu as Kock un Steward anmunstert, as dat schient.« –

Der Sturm hielt den ganzen Tag an, bei bitterer Kälte und treibendem Schnee, weshalb nur solche Arbeit vorgenommen wurde, die in der warmen Kajüte verrichtet werden konnte.

Nach dem Abendessen erzählte Dora ihre Geschichte.

»Sie wissen, daß mein Vater Kapitän der ›Hallig Hooge‹ gewesen ist,« begann sie. »Er besaß einen Anteil an dem Schiff und führte es schon seit einer Reihe von Jahren. Die letzte Reise ging von Hamburg mit Stückgut nach Schanghai, wo wir Tee als Rückfracht einnahmen.

»Ich hatte schon mehrere Reisen mit dem Vater gemacht. Im Anfang sträubte er sich dagegen; als aber meine Mutter gestorben war, und deren Schwester, bei der ich während seiner Abwesenheit wohnen sollte, ihr bald ins Grab nachfolgte und wir sonst keine Angehörige mehr hatten, da nahm er mich mit.

»Unsere Matrosen waren brave und tüchtige Leute, die alle schon mehrere Reisen an Bord der ›Hallig Hooge‹ gemacht hatten. Eine Ausnahme machten zwei Deutschamerikaner, die zur letzten Reise in Hamburg angemustert worden waren. Sie hielten sich für besser als die andern, und benahmen sich mehrfach so roh und streitsüchtig, daß der Vater sie beide einmal auf mehrere Tage in Eisen legen lassen mußte.

»Die Heimreise ging gut vonstatten, bis wir auf die Höhe des Kaps der Guten Hoffnung kamen. Hier begegneten wir bei flauer Brise einer Brigg, die die englische Flagge verkehrt, also als Notsignal, geheißt hatte. Wir hielten auf sie ab und fragten, wo es fehle. Die Antwort war, man brauche einen Arzt. Als wir dieses Verlangen nicht erfüllen konnten, bat der Engländer um Wasser. Davon hatten wir genug. Mein Vater ließ zwei Fässer füllen und in das inzwischen zu Wasser gebrachte Großboot schaffen. Der Steuermann und vier Matrosen rojten zu der Brigg hinüber, die nur so wenig arbeitsfähige Leute an Deck hatte, daß die unsrigen an Bord gehen und bei der Übernahme der Wasserfässer helfen mußten.

»Auf des Steuermanns Frage, was den andern zugestoßen sei, antwortete der englische Kapitän, die Leute lägen am Skorbut danieder, befänden sich aber bereits wieder auf dem Wege der Besserung. Die Brigg kam aus einem südamerikanischen Hafen, dessen Namen ich vergessen habe, und war in Ballast auf der Fahrt nach Batavia. Als unsere Leute wieder an Bord waren, braßten wir voll und setzten die Fahrt fort.

»Zwei Tage später erkrankte einer von den Matrosen, die auf der englischen Brigg gewesen waren. Mein Vater suchte ihn im Logis auf und erkannte sogleich, daß der Mann das gelbe Fieber hatte. Die Arzeneien aus der Medizinkiste waren wirkungslos; schon am Abend desselben Tages wurde der Mann durch den Tod von seinen Leiden erlöst. Wenige Minuten später übergab man ihn dem großen Grabe, der See.

»Am nächsten Tage wurden zwei weitere Matrosen von dem Fieber befallen. Mein Vater gab dem zweiten Steuermann, dem Zimmermann und dem Koche, die im Deckhause wohnten, in der Kajüte Quartier und ließ die Kranken ins Deckhaus schaffen. Aber auch sie starben bereits in der Nacht darauf.

»Wir gerieten alle in große Besorgnis, wie man sich wohl denken kann; als aber am folgenden Tage keine weitere Erkrankung erfolgte, da schöpften wir wieder Hoffnung. Dem Kapitän des englischen Fahrzeugs wurden die schwersten Vorwürfe gemacht, weil er unserem Steuermann verheimlicht hatte, daß das gelbe Fieber bei ihm an Bord war, so daß unsere Leute sich dort die Ansteckung hatten holen müssen.

»Am Tage darauf ergriff die schreckliche Krankheit wiederum zwei Matrosen und auch den zweiten Steuermann. Auch diese drei starben innerhalb vierundzwanzig Stunden. In vier Tagen hatten wir also fünf Matrosen und den zweiten Steuermann verloren. Ein grausamer Lohn dafür, daß wir notleidenden Seefahrern Hilfe geleistet hatten.

»Mein Vater rief die Mannschaft achteraus, sprach den Leuten Mut ein und sagte, das beste Mittel gegen das Fieber sei, nicht daran zu denken und heiter vorwärts zu schauen. Der Rat war gut genug, wie konnten die Leute ihm aber folgen, wenn die leeren Kojen ihnen fortwährend die Todesgefahr vorhielten, in der sie schwebten?

»Als die Matrosen wieder nach vorn gegangen waren, nahm der Vater mich mit sich in seine Kammer. Ich werde die Unterredung nie vergessen. Sie war unsere letzte.«

Hier brach das arme Mädchen in lautes Weinen aus. Paul ergriff in überwallendem Mitgefühl ihre Hand. Der Schiffer und Towe wendeten sich ab und taten, als müßten sie sich mit ihren Pfeifen zu schaffen machen. Aus des alten Heik Weers Koje vernahm man ein merkwürdiges Geschnäuz.

Das Mädchen hatte sich bald wieder gefaßt und fuhr fort:

»Der Vater sagte mir, daß auch er jetzt das Fieber in seinem Körper verspüre, drum wolle er mir Lebewohl sagen, ehe seine Gedanken sich verwirrten. Es sei ihm schrecklich, mich ganz allein zurücklassen zu müssen, aber eine innere Stimme sage ihm, daß Gott mich nicht verlassen würde. – Er wurde zusehends kränker. Ich brachte ihn in seine Koje und gab ihm die Medikamente, die er auch für die andern Kranken verwendet hatte. Sie nützten nichts; am nächsten Morgen war er tot.

»Die übrigen starben im Laufe der Woche, den Obersteuermann, die beiden Deutschamerikaner und mich ausgenommen. Ich bat Gott inbrünstig um den Tod, da ich doch nun so ganz allein und verlassen in der Welt stand. Aber ich blieb gesund. Der Obersteuermann, der die Kranken mit größter Treue und Aufopferung gepflegt hatte, fiel endlich dem schrecklichen Fieber auch zum Opfer, und nun war ich mit den beiden bösen Menschen allein an Bord. Kaum hatten die den Steuermann ins Wasser gesenkt, da kamen sie eilig achteraus, stiegen in den Vorratsraum hinunter, und holten eine Kiste mit Genever an Deck. Ich flehte sie an, von dem Schnaps nichts zu trinken, aber sie verlachten mich, und bald hatten sie drei von den zwölf vierkantigen Flaschen, die die Kiste enthielt, ausgeleert. Ganz betrunken stolperten und wälzten sie sich an Deck umher; ich fürchtete mich so entsetzlich vor ihnen, wie ich mich vorher nicht vor dem Fieber gefürchtet hatte.

»Sie befahlen mir unter Verwünschungen, das Steuer wahrzunehmen, da sie wußten, daß ich zu steuern verstehe. Ich gehorchte in meiner Herzensangst. Zum Glück war die Brise noch immer sehr mäßig, so daß ich das Rad mit Leichtigkeit handhaben konnte.

»Die Leute beachteten mich anfangs nicht weiter. Sie hatten ein Spiel Karten zum Vorschein gebracht und sich zu Luwart vom Roof an Deck hingelagert, die Kiste mit dem Genever neben sich, und so spielten sie unter fortwährendem Singen, Schreien und Fluchen um meines Vaters Nachlaß – die nautischen Instrumente, die Kleider, das Geld und zuletzt um das ganze Schiff. Der Schnaps hatte sie nahezu wahnsinnig gemacht.

»Plötzlich fiel ihnen ein, daß mein Vater sie einmal hatte in Eisen legen lassen, und sie beschlossen unter wüstem Gebrüll, dafür an ihm Rache zu nehmen. Er liege zwar längst bei den Haien, aber sie hätten ja seine Tochter in ihrer Gewalt, und der wollten sie das Leben so sauer machen, daß er blutige Tränen weinen sollte, wenn er das von oben mit ansehen würde. Dabei tranken sie unablässig. Endlich konnten sie kaum mehr reden. Trotzdem verstand ich noch, wie der eine den Vorschlag machte, ich solle den Vortopp von oben bis unten labsalben Labsalben heißt: das stehende Gut, also Wanten, Pardunen und Stagen mit Teer einschmieren., und zwar gleich auf der Stelle. Der andere lachte vor Vergnügen.

»Sie standen auf und kamen achteraus gestolpert. Im höchsten Schrecken ließ ich das Ruder los, rannte die Kampanjetreppe hinab und schloß mich in meiner Kammer ein. Sie kamen mir nach, fielen beide die Treppe herunter, pochten aber trotzdem gleich darauf mit den Fäusten an meine Türe. Ich gab keine Antwort. – ›Du büst jetzt uns' Decksjung', Fräulein,‹ rief der eine, ›du schast de Vörtopp labsalben. Hest hört?‹

»Ich sagte nichts, bebte aber in Todesangst.

»Da schrien sie mir auf englisch zu – wie sie überhaupt stets lieber Englisch als Deutsch geredet hatten, weswegen sie von meinem Vater oft genug zur Rede gestellt worden waren – da schrien sie mir also zu, sie ließen mir noch fünf Minuten Zeit, meine Zunge zu finden; machte ich dann nicht auf, dann würden sie die Tür einschlagen. Und weil ich so unhöflich gewesen wäre, Gentlemen keine Antwort zu erteilen, so würde man mir ein Dutzend mit dem Tamp aufzählen, ehe man mich mit der Teerpütz in den Vortopp hinaufjagte.

»Sie stolperten wieder an Deck. Ich hob die gefalteten Hände auf und fiel auf die Knie, aber beten konnte ich nicht. Kein Wort wollte mir über die Lippen. Jeden Augenblick meinte ich, sie wieder herabkommen zu hören. Fürchterliche Minuten vergingen. Aber sie kamen nicht.

»Ich überlegte in wahnwitziger Angst. Wenn es mir gelänge, unbemerkt in einen anderen Schlupfwinkel zu fliehen, dann wäre ich fürs erste vor ihnen sicher, denn sie waren zu betrunken, um genau nach mir suchen zu können. Ich lauschte. Sie schrien, sangen und tobten an Deck wie Besessene. Ich steckte den Kopf aus der Kampanjeluke. Meine Verfolger schwankten auf der Back umher; sie waren in Streit geraten und schlugen aufeinander ein. Plötzlich zog der eine sein Messer und stieß es dem andern in die Brust. Der fiel nieder und rührte sich nicht mehr. Entsetzt stieg ich vollends an Deck, blieb aber an der Achterdeckstreppe wie versteinert stehen. – Der Mörder stand eine Weile taumelnd vor seinem Opfer, dann bückte er sich, hob den Erschlagenen auf, schleppte ihn an die niedere Reling und warf ihn über Bord. Dabei verlor er das Gleichgewicht und stürzte kopfüber ebenfalls ins Wasser.

»Noch immer sehe ich das Schreckliche vor mir, noch immer höre ich den letzten Verzweiflungsschrei des Mörders. Auf einmal war alles still, totenstill. Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand. Eine Regenbö kam, der Schauer durchnäßte mich. Weiter weiß ich nichts. Ich habe keine Erinnerung mehr von dem, was danach kam. Nur dunkel und verworren schwebt mir vor, als wäre ich fortwährend auf der Flucht gewesen vor den beiden Wüterichen, die mich mit erhobenen Messern und geschwungenen Tauenden verfolgten, als ob es mir jedoch immer noch im letzten Moment gelungen wäre, mich in einem Versteck zu bergen. Der letzte Schrecken kam über mich in der Kombüse, als Paul mich ergriff.«

Doras Geschichte war zu Ende.

Alle saßen schweigend und in Gedanken versunken. Towe Tjarks war der erste, der wieder etwas zu sagen hatte.

»Ich freu' mir bannig darüber, dat die beiden Halunken zu rechter Zeit de Düwel holt het,« grinste er. »Ich bün auch all mit Deutschamerikaners Schippsmaat wesen, die sich ümmer gern als echte Yankees aufspielen taten. Lüd von de Ort dögen nie nich wat, dat heww ick immer funn'.«

»Erinnern Sie sich gar nicht mehr, wo Sie sich versteckt hielten, Fräulein Ulferts?« fragte Paul.

»Nein, gar nicht,« antwortete Dora.

»Ich fand heute früh Ihr weißes Schaltuch, dadurch entdeckte ich den Ort.«

»Und wo fanden Sie es?«

»Im Hellegatt; das ist ein dunkles Loch, wo die Trunkenbolde Sie schwerlich gefunden hätten.«

»Ich kann mich nicht darauf besinnen, denke aber, daß mir mit der Zeit alles wieder ins Gedächtnis kommen wird.«

Die Erzählung und die damit verbundenen Aufregungen hatten das junge Mädchen angegriffen und abgespannt; sie zog sich daher frühzeitig zur Ruhe zurück. Towe saß noch eine Weile bei seinem Freunde Heik und beide tauschten ihre Gedanken über das Gehörte aus. Gazzi packte sich in seine Koje, der Schiffer und Paul aber machten noch einen Rundgang über das Deck, wobei auch sie über Doras Erlebnisse und Verlassenheit viel zu reden hatten.

Während der Nacht legte sich der Wind, und am Morgen war das Deck so hoch mit Schnee bedeckt, daß man ihn mit Schaufeln entfernen mußte. Dora richtete inzwischen in der Kombüse das Frühstück her.

Der Tag wurde darauf verwendet, genau festzustellen, wieviel Proviant man noch zur Verfügung habe, und es ergab sich, daß die Vorräte noch gut zwölf Monate, vielleicht auch noch länger ausreichen konnten. Da aber noch nicht zu bestimmen war, wann die Bark hier fortkommen und in einen Hafen gelangen würde, wo neuer Proviant zu kaufen war, so wollte man, wenn das Wetter einigermaßen günstig wäre, am folgenden Tage eine Jagdpartie an Land unternehmen und alles zur Strecke bringen, was an Gevögel und Wild weidgerecht erschien. Letzteres anzutreffen, hatte niemand große Hoffnung, die tranigen Seevögel konnten auch nicht zu den Leckerbissen gerechnet werden, allein, wenn sie sorgfältig hergerichtet, mit andern passenden Dingen aufgetischt und gehörig gewürzt wurden, dann konnten sie doch eine ganz angenehme Abwechslung in dem ewigen Einerlei von Salzfleisch, Hülsenfrüchten und Mehlspeisen bieten. Und dann mußten doch auch Fische zu haben sein; bis jetzt hatte man noch nirgends die Angeln ausgeworfen. Auch der Kohl durfte nicht vergessen werden.

»Wenn man auch sonst kein Wild auf solchen öden Inseln, wie die Crozets sind, finden kann, so soll man doch oft Schweine auf ihnen antreffen, wie ich gelesen habe,« sagte Paul. »In früheren Jahren haben wohlmeinende Schiffer die Tiere paarweise ausgesetzt, und jetzt soll es auf vielen Eilanden von ihnen förmlich wimmeln, denn diese nützlichen Geschöpfe vermehren sich schnell. Wenn ich nicht irre, trägt auch eine der Crozets auf der Karte den Namen ›Eberinsel‹. Ist das nicht so?«

»Das ist richtig,« antwortete der Schiffer, »aber diese Eberinsel liegt ein gutes Stück östlich von der unsrigen. Soviel ich habe feststellen können, befinden wir uns hier so ziemlich auf der westlichsten Insel der ganzen Gruppe. Vielleicht unternehmen wir eines Tages, wenn das Wetter beständig sein wird, eine Entdeckungsreise im Boote. Jetzt ist noch keine Zeit dazu, da vor allen Dingen die Bark wieder eine Takelung erhalten muß. Bis jetzt ist die Luft immer so dick und so wenig sichtig gewesen, daß ich selbst mit dem Kieker kein anderes Eiland wahrnehmen konnte, obgleich einige ganz in der Nähe liegen müssen.«

An den nächstfolgenden Tagen fing es regelmäßig mit Sonnenaufgang an, heftig zu wehen, und ebenso regelmäßig flaute der Wind mit Sonnenuntergang wieder ab. Von der Jagdpartie mußte daher vorläufig Abstand genommen werden. Dafür wurde desto mehr an Deck gearbeitet, indem man die Reservespieren zu Masten herrichtete. Die Werkzeugkiste des verstorbenen Zimmermanns enthielt vortreffliche Geräte, und Towe sowohl wie auch Paul wußten diese meisterlich zu handhaben; letzterer hatte auf seinen früheren Reisen oft dem Zimmermann zur Hand gehen müssen, was er stets mit Eifer und Interesse getan. Der Schiffer und Gazzi bereiteten das schwere Taugut für die Wanten, Stagen und Pardunen vor, Dora waltete in der Kombüse und in der Kajüte, und so hatte jeder tagsüber vollauf zu tun.

Dafür waren die Abende an der Tafelrunde nach all der Arbeit in der Kälte um so traulicher und gemütlicher. Wenn, mit Fräulein Ulferts' gern erteilter Erlaubnis, jeder seine kurze Kalk- oder Holzpfeife in Brand gesetzt hatte, wenn die große Hängelampe ihr mildes Licht über dem Tische verbreitete, wenn einer nach dem andern ein interessantes Erlebnis aus seinem Gedächtnis hervorkramte und zum besten gab, dann vergaß man beinahe, daß man hier unter dem 46. Grad Südbreite sturmverschlagen auf einem Wrack saß, abgeschnitten von der übrigen Welt, und ohne zu wissen, ob es möglich sein würde, jemals wieder in diese zurückkehren zu können.


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