Johann Richard zur Megede
Der Ueberkater Band II
Johann Richard zur Megede

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Neunzehntes Kapitel

Das Alter soll doktrinär machen. Mag sein. Aber weit unangenehmer verspüre ich, daß es steifbeinig macht. Doktrinarismus und Steifbeinigkeit stehen ja auch in einem intimen Wechselverhältnis. Ich möchte wissen, ob Robespierre je in seinem Leben jugendlich fidel über einen Staketenzaun gesetzt ist!

Das kleine Angernsche Familien-Tete-a-tete belauschten Suleika und ich selbstverständlich. Ich bewährte mich dabei als echter Weltweiser. Suleika dagegen erklärte in keuscher Entrüstung beide Damen für abscheuliche Geschöpfe. Das ist Frauenart. Ist eine gut: fromme Heuchlerin; ist eine schlecht: schamlose Dirne. Der bucklige Ueberzwerg, der vielleicht zwischen beiden steht, avanciert dabei ohne jedes Zutun zum Heiligen. Sie kritisieren sich gegenseitig zu liebevoll, die Vertreterinnen des schönen Geschlechtes! . . . Haben Sie je eine objektive Frau gesehen? Ich nicht! Oder, wenn doch, so war sie in der Tat unausstehlich.

Ich habe bei diesem intimen Skandal wieder die hoffnungslose Unzulänglichkeit der menschlichen Verstandeswerkzeuge konstatiert. Die Leute eilen in ihren Wünschen der Tat entweder mit Siebenmeilenstiefeln voraus, oder sie trappen auf Holzpantoffeln hinter ihr her. Das Verständige, in der Mitte Liegende aber tun sie unter keinen Umständen. So macht das menschliche Leben den Eindruck eines Rennens, wobei niemand weiß, wo Start oder Ziel . . . Es ist zum Totlachen! Das Unglück liegt aber in ihren Wahnvorstellungen. Sie wollen das Beste, und tun das Schlechteste. Und wenn zwei wie wahnsinnig im Kreise umherlaufen, was noch niemals einen Sinn gehabt hat, so leitet sie doch die felsenfeste Ueberzeugung, daß sie auf diesem Wege unbedingt den Himmel oder die Hölle erreichen müssen. Sie glauben ja auch an das Absolute, während es doch nur das Relative gibt. Der Kreis und die Kugel sind die natürlichsten aber relativsten Formen der Entwicklung, die existieren. Sie aber halten an der Idee der geraden Linie fest, die nicht existiert. Dabei haben sie Begriffe wie: groß und klein, gut und schlecht; sie brauchten sich nur an den eignen Zopf oder an den des lieben Nächsten zu fassen, welches letztere sie viel lieber tun, obgleich er kürzer ist, um zu begreifen, daß auch der Zopf etwas Relatives ist. Aber zur praktischen Vernunft werden sie darum doch nicht bekehrt! Ich will auch den Weisen noch sehen, der den Begriff »groß« definieren könnte, ohne daß ihm ein Nergler erwidert: »Verzeihen Sie, das ist doch klein!« Und das Tugendschaf, das sich gewissenhaft bemüht hat, während eines ganzen Lebens gut zu leben, wird immer einen Lasterhammel finden, der ihm am Lebensende beweist, daß es schlecht gelebt hat. Umgekehrt ist es genau so. Schwarz existiert nicht ohne Weiß, Laster nicht ohne Tugend, und der brave Mephisto hätte gar keine Veranlassung, sich so verführerisch zu geben, wenn der alte Herr im Himmel nicht die Höllenkandidaten immer wieder am Rockschoß zurückzupfte. Warum ist nun eigentlich bei dieser augenscheinlichen Relativität des Weltalls die menschliche Moral so darauf versessen, absolut zu sein und niemand, wer er auch sei, zu gestatten, sich so auszuleben, wie's ihm beliebt? Diese beiden Angernschen Damen können ganz ruhig ihre eignen Wege gehen! Irgendwo werden sie sich doch mal wieder begegnen. Die Guten und die Bösen begegnen sich auf dieser Erde doch auch immer irgendwo! Gute und Böse haben überhaupt einander bitter nötig. Erst wenn man einen lebenden Menschen gesehen hat, kann man sich vorstellen, wie ein toter aussieht. Aber ich weiß auch, wozu das alles gut ist. Denn nur die zentnerschwere Dummheit der Menschen macht es möglich, das Milligramm Weisheit, das darin gemischt ist, nach seinem wahren Wert zu erkennen. Ich möchte auch noch ergebenst fragen, was der Himmel ohne Hölle anfangen sollte. Alles Lebendige ist relativ und alles Absolute tot, und der absolute Tod ist ebenso widersinnig, wie das absolute Leben. Darum glaube ich heutzutage nicht einmal mehr an die mathematischen Wahrheiten, die wahrscheinlich ganz anders ausschauen würden, wenn unser Gehirn anders konstruiert wäre.

Jeder Weise ist Pessimist. Der wirkliche Gläubige wird im Anfang wahrscheinlich auch gar nichts geglaubt haben. Der Apostel Paulus wäre in der Heiligkeit sicher nicht so rasch avanciert, wenn er nicht zuvor als Saulus gewütet hätte. – Ich halte von dem Guten an sich so wenig wie von dem Bösen an sich. Erst wenn die beiden Prinzipien sich in den Haaren liegen, erkennt man, welches das stärkere ist. Darum mag ich auch für den Tod die Leute nicht, die von der Wiege bis zur Bahre in Ehren gelebt haben sollen – sie müssen durchweg stumpfsinnig sein, und zwar absolut stumpfsinnig! Früher dachte ich anders. Heute aber kommt mir ein Mensch, der die Versuchungen unbedingt meidet, wie ein Narr vor, der aus Angst vor Erkältung immer in dem dicksten Pelzrock umherläuft. Winters wird er sich in diesem Kostüm keinen Schnupfen holen, wohl aber im Sommer. Dem Teufel ist es nun aber wieder ganz egal, in welcher Jahreszeit er seine Seelen fängt. Darum sollten die Starken beten: Führe uns in Versuchung! Denn erst dabei können sie beweisen, ob sie stark sind. An den Schwachen, die ja mit Recht das Gegenteil beten, kann dem Himmel doch eigentlich sehr wenig liegen. Denn wenn die nicht in die Hölle torkeln, so ist es wahrhaftig nicht ihr Verdienst! Beide leben sich eben auf ihre Art aus.

Aber die Josefa, die wahrscheinlich in der Versuchung umkommen wird, ist mir doch sympathischer als die Mutter, die sich rechtzeitig vor dieser Versuchung gedrückt hat. – Es ist jetzt wieder Mai in meinem Kalender, und ich spüre auf meine alten Tage die Versuchung, mich mit den Stallterriers unten zu messen, wer der stärkere ist. Königliches Blut! Josefa hat auch welches. Sie überreichte mir neulich einen Kake, der mir noch jetzt schmeckt.


In dem Sanatorium bin ich jetzt oft und gern. Meine ältliche Portierunschuld darf davon nichts ahnen. Sie ist zwar nur eine Sklavin – und ein einziger Wink des Königs der Sahara genügte . . . Aber auch Sklavinnen sind eifersüchtig und infolgedessen zuweilen auch Sultane Sklaven! Es bedarf darum immer diplomatischer Winkelzüge, um mich auf ein Stündchen frei zu machen. Welch köstliches Stündchen! Es lebt nämlich unter diesen Vegetariern des Sanatoriums eine Katzenmaid von ganz eignem Reiz. Angorareinster Stammbaum – ein märchenhaft geringelter Schweif, ein braunes Pelzkostüm mit grauen Tupfen, rosige Pfötchen, zärtlich flimmernde Augen. Ohne Frage ein Engel, wenn es nicht ein Teufel wäre! – Ich bin klug genug, sie nicht liebegirrend wie ein alter Geck zu umschmeicheln. Solange ein Geck jung, heißt er Gigerl und ist unwiderstehlich: aber den bewährten Kämpen der Liebe, der die sieggewohnten Blicke der Leidenschaft rollen läßt, während sich ihm vielleicht unglücklicherweise gerade das Toupet verschiebt oder das falsche Gebiß rutscht, findet man unsterblich lächerlich. Sehr mit Unrecht! Gerade die Fülle der Toilettenkünste und Liebestränke, die ein alter Mann erschöpft, um Jüngling zu scheinen, ist eine Gewähr für die Dauerhaftigkeit seiner Gefühle. Napoleon der Große nahm doch auch noch Unterricht in der Pose bei dem Schauspieler Talma, als es ihm mit der Kaiserkrone ernst ward . . . Schauspielerei ist alles im Leben. Darum tut das Alter weise daran, den größten Komödiantentrick zu unternehmen, den es auf Erden gibt, nämlich: sich genau so zu geben, wie man ist.

Ich bin also dem holden Geschöpfe genaht als der alternde König, dem von all seiner Größe nichts geblieben ist, als die Erinnerung und die Gicht. Alte Könige haben immer etwas Heiliges. – Aber dieses Weib ist klug wie die Sünde. Sie sah mich nur spöttisch an und voltigierte mit einem einzigen Satze durch die mannshoch gelegene Fensterluke, wohin ich ihr mit meinem improvisierten königlichen Gichtbein nicht zu folgen vermochte. Sie hatte wohl gewähnt, ich alter Komödiant könnte mir selbst untreu werden und wenigstens den kläglichen Versuch des Kletterns machen. Ich blieb nur einen Augenblick stehen, sah ernst-traurig zu ihr hinauf und wandelte langsam weiter. Da kehrte sie inkonsequent, wie alle Frauen, zurück. Man soll die Weiber bei den Gefühlen fassen, sobald man alt wird, sonst fassen sie uns bei den Gefühlen, und dann zeigt sich schrecklich die königliche Senilität. – »Lieber Graf, sind Sie krank?« fragte sie neugierig. – Ich schwieg. – »Durchlaucht haben sich den Fuß verstaucht?« Das Interesse wächst. – Ich schwieg weiter. – »Leiden Hoheit sehr?« Sie fühlt offenbar Teilnahme. – Ich schwieg noch immer. Wir gingen eine Weile nebeneinander her. Endlich blieb ich wie ermattet stehen. Es war bei den Lufthütten hinter der Anstalt, die jetzt ganz verödet sind, wo sich aber im Sommer ganze Familien das Gesundheitsvergnügen machen, tags in diesen Zeltlagern von der Sonne bebrütet und nachts von den Moskitos aufgefressen zu werden. – Ich war tatsächlich ermattet, weil ich mich die ganze Zeit über krampfhaft bemüht hatte, eine echte Heldenzähre in die linke Ecke des rechten Auges zu drücken. Es ist der vorgeschriebene Ort für Heldenzähren. Als ich sie sickern fühlte, hob ich den Blick und sprach ohne Hast: »Mein Kind, ahnst du, wie einem alten Könige zumute ist, den seine Söhne entthronten? – Ich bin ein entthronter König!« Ich sah, wie die wirkliche Rührung ihr jetzt die märchenhaft schönen Wimpern betaute. Das war ein großer Sieg. Denn die Rührungstränen im allgemeinen sind trügerisch, entweder hysterisch glucksende Nervenzusammenziehungen, die sofort wieder durch ein geeignetes Lächeln ausgeglichen werden können, oder erleichternde Flennereien, die zu weniger als nichts verpflichten. ›Je doller sie schriet, je eher sie friet,‹ sagt das Volk von gramzerrissenen Witwen – und hat meistens recht. Diese Rührungsträne hier aber war echt. Ich hob mehrere Male die Pfote zum Auge, wie um auch meinerseits den Strom zu ersticken, obgleich schon die eine Zähre eine Heldenarbeit gewesen war. – Voller Resignation fuhr ich fort: »Sieh, mein Kind, dies kummergebleichte Haar, diesen im letzten Verzweiflungskampf gelähmten Fuß! Ich bin der Schatten dessen, der ich einst war.« – Ein übrigens recht wohlbeleibter Schatten, dessen Taillenweite in Zentimetern anzugeben mir widerstrebt. – »Ich bin alt, gebeugt, der Jungbrunnen der Liebe, mit dem ihr Frauen uns labt, fließt nicht mehr. Aber« – ich wischte wieder mit der Pfote über mein jetzt gänzlich trockenes Auge – »ich hatte eine Tochter, eine einzige Tochter.« – Ich glaube, ich hatte deren mehrere – »und diese Tochter . . .« Ich konnte vor Rührung nicht weiter sprechen. – »Und diese Tochter?« fragte sie mit dem brennenden Eifersuchtsinteresse ihres Geschlechts, das auch bei uns so herzlich ist, daß es sich gegenseitig am liebsten Herzlosigkeiten zutraut. – »Ist tot,« hauchte ich. Und als sie das eigentlich ziemlich uninteressant fand, fügte ich wie verzückt hinzu: »Sie war ein Engel an Schönheit und Güte – so schön wie du, mein Kind, oder doch fast ebenso schön wie du . . .« Dieses »fast« rührte sie offenbar sehr. Sie versuchte mich zu trösten. Ich hielt still und überlegte, ob es nicht praktischer wäre, sie auf der Stelle zu adoptieren. Das übrige findet sich dann ganz von selbst . . . Aber der alte Fuchs erinnerte sich zur rechten Zeit, daß Pietätsgefühle langsam und vorsichtig in Leidenschaftswallungen übergeleitet werden müssen bei beiden Teilen, um genußreich zu sein. – Ich winkte ihr stumm zu gehen.

Ich für mein Teil blieb und schaute ihr nicht nach. Ich hätte das ja auch wegen der Tränen nicht tun können, die mir doch jetzt programmäßig die Augen umfloren mußten. Meine Augen waren aber gar nicht umflort, sondern im Gegenteil klar und scharfsichtig wie mein Geist. Ein junger menschlicher Laban mit einem Giraffenhals und ein entzückendes Mädchen trotz des Klemmers drückten sich jetzt in der Dämmerung bei den Lufthütten herum. Ich kenne sie – es sind Kurgäste: er ein dünnes Taschenmesser mit schlechtem Scharnier und einem Kopfe, in dem es beständig und hörbar kullern würde, wenn wenigstens ein paar Erbsen in diesem hoffnungslos leeren Raume sich vergnügen dürften – und sie Waise, gefühlvoll, gut, mit ungefähr derselben Berechtigung, sich von diesem faden Burschen nasführen zu lassen, wie die reizendste Kolombine von dem langweiligsten Clown. Wo man hinsieht, Herzensaffären – und bei den Menschen ist es doch Herbst . . . Das bildhübsche Mädchen hat auch feuchte Augen – die Feuchtigkeit ist ganz echt, jedenfalls so lange bis ein andrer kommt, der die Tränen dieser Ariadne trocknet. – Der junge Laban reist nämlich morgen. – Ueberhaupt alle Tränen können getrocknet werden, darum sind sie ja naß! Darauf sonnte ich mich in Phantasien von meiner kleinen Adoptivtochter und wie weich ihr Angoraschweif und wie klug meine Liebe! Ich kann wirklich stolz auf den Erfolg dieses Tages sein. Dabei machte ich doch die Entdeckung, daß es gewisse absolute Werte gibt: die Torheit junger Mädchen und die Eitelkeit alter Lebemänner. Nicht die Liebe, wohl aber die Eitelkeit ist stärker als der Tod. Während ich dies dachte, gingen Mutter und Tochter Angern wortlos und ohne mich zu sehen an mir vorüber. Absonderliche Heilige! Ich aber erinnerte mich dabei, daß ich meinen Urlaub weit überschritten – und das mit Schrecken. Denn auch alte Könige sind nur außer dem Haus relativ groß, innerhalb aber relativ klein . . . Jedenfalls ist das Pelzkostüm meiner Adoptivtochter absolut schön! – Das ist wieder eine von den Fundamentalwahrheiten, die ich ans Licht gefördert habe.


Ich bin mehrere Tage daheim geblieben. Ich war nicht etwa krank, ich war nur betäubt. So etwas muß man nun erleben, wo man alt ist! Die Liebe, die Sorge eines ganzen Lebens wertlos, nichtig, verfehlt. Hätte ich anders handeln können? Ich frage mich das in jeder Stunde zehnmal. Was hilft's? Nichts, gar nichts! Selbst wenn ich alles beiseite würfe, was mir seit frühester Jugend heilig, wenn ich mich selbst moralisch aufgäbe, mich selbst richtete, – ich täte es so gern! – aber jeder Schritt, den man im Leben einmal getan, ist getan. Es gibt auf Erden kein Zurück: diese furchtbare Wahrheit begreife ich erst jetzt ganz.

Neben mir stand noch vor einer Stunde meine Tochter und sagte ruhig: »Mutter, versuche nichts zu ändern! Du kannst es nicht. Der andre Mann ist mir tot, und ich bin ihm tot. Peter kann nichts dafür, nichts! Wir passen nur nicht zueinander! Also laß ungestört, was noch geblieben ist. So wie mein Schicksal ist, so mußte es kommen, und so will ich's!« Und ich werde ganz klein vor diesem großen Kinde. Ja, es ist ein Schicksal, so schwer, wie's nicht jeder trägt: Zuschauen zu müssen, wie das Beste, was wir im Leben gewollt, in nichts zerrinnt; sich selbst dem Liebsten geopfert zu haben alle Zeit, und zu fühlen am Ende, daß man nur das Liebste sich selbst geopfert hat. Ich grüble nicht etwa, wie weit sie recht hat, wie weit ich. Und wenn ich hundertmal recht hätte, sie ist unglücklich, und ich habe unrecht, hundertmal unrecht! Ja, es gibt ein Schicksal, das uns scheinbar lächelnd sündigen läßt. Wir sündigen nicht mehr, und erst jetzt steht es mit gezücktem Schwerte vor uns. Dieser Mensch steigt wieder empor, den ich hassen möchte, weil ich wittre, daß er, dem ich vielleicht Schicksal war, jetzt meines Kindes Schicksal ist. Er konnte so hart sein – und sie ist es! Sein Sohn nicht, aber meine Tochter rächt ihn.

Und wenn ich auch vergebens um mich schaue, den festen Punkt zu suchen, an den sich der Taumelnde klammert, wenn ich auch tatenlos und mit leeren Händen irre: eins ist mir längst Gewißheit, daß ich handeln werde und handeln muß. Sie muß von ihrem Manne los! Mir, der die Meinung der Welt bis heute so viel bedeutete, ist von heute an die Meinung der Welt ganz gleichgültig. Einst war ich die letzte, zu verstehen, wie eine Mutter für ihr Kind morden kann, aber jetzt bin ich die erste, zu sagen, daß alle Mütter für ihre Kinder morden können müssen. Wer im Wechselspiel des Lebens nur einen einzigen Wert gekannt hat: die Mutterliebe, – der hält noch immer den besten Atout in der Hand, wenn dieses Wechselspiel tödlicher Ernst geworden ist.

Aber wer ist jener andre Mann? Rin? Wahn von mir. Sie hat ihn seit fünf Jahren nicht wiedergesehen. Und nur in Romanen dauert die Backfischliebe ewig. Oder dieser Graf Bloome? Ich kann's nicht glauben, obgleich nachträglich vieles dafür spricht. Vielleicht schwebt dieser Unbekannte zwischen beiden Männern, und niemand ahnt seinen Namen auch nur. Verschlossen, wie sie ist, kennt sie wohl diesen Mann allein. Oder wenn's mit dem Pferde, der »Josefa«, zusammenhinge? Ihre Laune ebbte so merkwürdig schnell ab, als von einem Verkauf die Rede war. Es gibt unscheinbare Beziehungen, wie ja auch das alte Wappen über meinem Schreibtisch so gar nichts scheint und so viel bedeutet. Aber das sind alles Mutmaßungen, die nur auf Irrwege leiten. Noch ein Gefühl habe ich, das gar keine Berechtigung besitzt, aber vielleicht darum das berechtigteste ist: Jeanette Quedenberg kennt den Mann! Ich möchte schwören, daß zwischen den beiden Frauen das Geheimnis liegt. Sie benehmen sich für alte Freundinnen ganz seltsam. Doch ich will erst das Aeußerste versuchen, ehe ich zu dieser Frau gehe. Auch das ist Instinkt. Denn wenn ein Weib ein andres verderben kann, so tut sie es mehr als gern. Aber vielleicht ist ihr Herz besser als ihre Frömmigkeit.


Ich hab' dieses Aeußerste bei Josefa selbst versucht. Es war fast eine Woche nach jener schrecklichen Nacht, und mein Kind schien weicher als sonst. Ich habe vor ihr gekniet, buchstäblich vor ihr gekniet, sie angefleht, mir die ganze Wahrheit zu sagen, weil nur die ganze Wahrheit mir und ihr nutzen könne.

Sie aber sah mir nur kopfschüttelnd ins Gesicht: »Diesen Namen erfährst du niemals, niemals! Es hätte auch gar keinen Sinn, denn er und ich sind uns heut zwei absolut fremde Menschen. Außerdem taxierst du uns beide falsch. Wir nehmen nichts zurück, was wir gesagt oder gedacht haben, nichts! Der Mann ist niemals feige gewesen, und ich bin's auch nicht mehr. Ich bin nicht inkonsequent, Mutter, sei du es auch nicht! Der Mann ist tot, ganz tot. Genügt dir das noch nicht?«

Da halfen auch keine Tränen. Sie ist stärker geworden als ich, viel stärker!

Aber, armes Kind, warum begreifst du nicht wenigstens, daß dein Leid mein Leid ist, und daß ich keinen andern Wunsch auf der Erde habe, als dir das Glück wieder zu schaffen, weil dein Glück mein Glück ist? Doch ich weiß, ich predige tauben Ohren.

Ich habe mich mehrmals nach Jeanette Quedenbergs Befinden erkundigen lassen. Sie ist noch immer wenig wohl und empfängt nicht. Bei der ersten günstigen Gelegenheit werde ich doch zu ihr gehen müssen. Es ist ein schwerer Gang, und jedenfalls auch fruchtlos. Aber ich verkomme in dieser Tatenlosigkeit, die mich vielleicht so merkwürdig jung erhalten hat.

Dabei lächelt noch immer dieser träumerisch weiche Herbst. Er ruht wie ein köstlicher Friedenshauch auf Tal und Wald. Alle freuen sich an ihm, die Kranken wie die Gesunden. Ich möchte für meine Stimmung weit lieber Regenböen und Sturm. Diese goldigen Sonnenlichter, diese sanften Linien, dieses flimmernde Blättermeer – ich liebte das alles einst so sehr! – sie haben mir etwas Trostloseres als der graueste Wolkenhimmel. Wer kann sich des Seins freuen, das nur Schein ist?


Um mich geht alles seinen regelmäßigen Gang. Das Uhrwerk schnurrt ab. Es ist ja auch sein Beruf. Aber bin ich nun blind durchs Leben gegangen bis heut, war ich immer eine oberflächliche Egoistin, oder blieb mir alles erspart? Die Dinge gewinnen mir ein so andres, ein so unheimliches Gesicht! Ich sehe mir die Menschen im Sanatorium nicht mehr auf ihre guten oder schlechten Manieren, ihre ernsten oder heiteren Gesichter an. Ich versuche tiefer einzudringen. Vielleicht sind auch diese Hunderte von Leuten, die zumeist gar keinen besonders leidenden Eindruck machen, gerade darum viel schlimmer dran, weil sie gesund scheinen und doch krank sind. Der Invalide am Leierkasten, der mit abgezogenem Hute an der Landstraße sitzt und dreht, den bemitleiden wir gern, möchten ihn glücklich sehen. Aber der arme Nervenkranke, den der Schlaf flieht, den die trüben Vorstellungen wie Erinnyen verfolgen, der ist uns ein eingebildeter Kranker, wir belächeln ihn, weil ihn keins der sichtbarlichen Leiden der Menschheit drückt. Wir sind so ungerecht! Wir verstehen auch bei andern immer nur uns, und was uns selbst quält. Ich bin gewiß in einer schrecklichen Gemütsverfassung, aber ich muß lächeln, schon Josefas wegen. Wenn es mir nun einfiele, dem dicken, unappetitlichen Russen, der mürrisch den Konversationssaal auf und ab wandelt, mein Herz ausschütten zu wollen, er würde gelangweilt abwinken, und schließlich ärgerlich sagen: »Das sollen Leiden sein? Habe erst mal ein todkrankes Herz wie ich, und dann wollen wir uns wieder sprechen!« Oder die polnische Jüdin, die so wundervoll Klavier spielt, wenn sie allein ist, und mitten im Ton aufhört, wenn jemand den Musiksalon betritt, würde sie mir nicht auf meine Klage antworten: »Sie sind reich gegen mich! Ich spiele, weil ich muß, ich spiele aus Verzweiflung, mein Geist umnachtet sich, und ich fühle es. Was willst du mit deinem kleinen Leide, Weib, das nicht einmal dein Leid ist, sondern nur das deiner Tochter?« Ich lächle, ich grüße als die vornehme Frau, die ich bin, nach allen Seiten. Die Kurgäste wissen jetzt alle, was ich bin, daß die Prunkvilla mir gehört, daß ich fünf Dienstboten für mich allein habe, daß das Geld in meinem Leben nie eine Rolle spielte, weil ich immer übergenug davon besaß. Sie halten mich alle für übermenschlich glücklich. Und wer nun gar von ihnen Josefas Schicksal kennen würde, die so sichtbar gesundet, ihre Kur so regelmäßig und mit so großem Erfolge gebraucht, ja, wer würde bei dieser jungen, schönen Frau, die sich so eisig abschließt, an eine todkranke Seele glauben? Mich genieren die messeressenden Oesterreicher nicht mehr, ich sage: ›Das ist doch so nebensächlich!‹ Ich hege nicht einmal Verachtung gegen die soi-disant-Gräfinnen, deren Inkognito ich kenne, und die mich jetzt immer so devot grüßen. Sind sie nicht vielleicht auch unglücklich trotz ihres lasterhaften Müßigganges? Josefa kennt und sieht sie noch immer nicht, höchstens ihre Nasenflügel zucken, wie bei etwas Eklem. Diese Härte einer Unglücklichen gegen Unglückliche verstehe ich nicht.

Aber die Leute, mit denen wir oberflächlich, aber doch ausschließlich in diesem Sanatorium verkehrt haben: dieser ostpreußische, kaum geadelte Gutsbesitzer, der weiter nichts kann, als mit gesträubtem, grauem Kamm und rollenden Glotzaugen die Parlamentsberichte lesen; seine reizlose Tochter, deren Tugend eben ihre Reizlosigkeit ist; der polnische Graf, der nur von seinem Fett kommen will und, wie er mir lachend gestand, doch niemals davon kommt, weil ihm Essen und Trinken zu gut schmeckt – diese Leute sind mir mit einem Male allesamt unsympathisch. Ich glaube, ich könnte gar nicht mehr mit ihnen fühlen, obgleich sie so ganz meinesgleichen sind. Und Josefa ist freundlich liiert mit dem jungen Mädchen, das sie ungeschickt anbetet; sie plaudert gern mit dem dicken Grafen, dessen Korpulenz ihn am Courmachen nicht hindert. Sie läßt niemand in sich hineinsehen! Aber was ich vor allem nicht verstehe, sie hat sich von dieser Ingen ganz zurückgezogen, nicht etwa unfreundlich, sondern mit der Selbstverständlichkeit einer großen Dame, die wohl mit dem ärmsten Fräulein »von« verkehren kann, aber unmöglich mit der Braut eines einfachen Architekten, der übrigens neulich an den gleichen beiden Tagen wie Peter hier war – ein hübscher, ernster Mensch ohne aristokratische Allüren, aber ohne bürgerliche Plattitüden auch. Josefa will offenbar nichts mehr, was ihr irgend das Herz erheitern oder erwärmen könnte, sie will dahinleben flach, kalt, exklusiv, und Herz und Nerven stärkt sie hier nur, um wieder von Vergnügen zu Vergnügen eilen zu können, die ihr kein Vergnügen sind. Sie will gesund sein! Aber mit welchem Recht und wozu? Körperlich hat das Sanatorium hier wirklich Wunder getan, wie es ja überhaupt viele Wunder tut mit seiner Kur, die bei allen ungefähr die gleiche ist: den Kranken den ganzen Tag beschäftigen, ihn einfach nähren, einfach kleiden, durch eine natürliche, ausgefüllte Lebensweise ihm in vier Wochen alle die Gifte zu entziehen, die Körper und Geist während eines Jahres einsogen. Der Assistenzarzt, der Josefa hauptsächlich behandelt, sagte mir gestern triumphierend: »Nun, Frau Gräfin, habe ich zuviel versprochen? Frau von Lasowitz wird in weiteren vierzehn Tagen absolut gesund sein.« Ich habe darauf nur freundlich gelächelt.

Ich weiß es besser, ich kenne ja auch gewisses graues Haar, was er nicht kennt! Ich weiß, daß Josefa seit dieser schrecklichen Nacht sich innerlich erst recht verschlossen hat, als wenn sie diese eine leidenschaftliche Wallung auf das tiefste bedauerte. Sie gibt kein Vertrauen, und sie will keins. Dabei wird sie mir wieder ganz fremd, unverständlich – alles, was ich über ihr Seelenleben weiß, erscheint mir auf einmal so unwichtig dem gegenüber, was ich nicht weiß.


Josefa stand dabei, als der Quedenbergsche Diener mir gestern die Nachricht brachte, daß mich die junge Gräfin in der nächsten Woche gern empfangen würde. Sie zuckte nicht mit der Wimper.

Graf Bloome ließ sich heut bei ihr melden. Sie ließ zurücksagen durch den Diener, daß sie herzlich danke, aber auch für später bedauern müsse, weil die Kur sie ausschließlich in Anspruch nähme. Vielleicht, daß ich sie bei der Gelegenheit etwas zu forschend angesehen habe, denn sie meinte ohne Empfindlichkeit, aber doch scharf: »Kombiniere lieber nicht, Mama! Du kombinierst doch falsch!« Und sie fuhr fort, in der »Sportwelt« zu lesen, die eben gekommen war. Mich interessiert die »Sportwelt« nicht mehr, seitdem ich weiß, wie die Ehe ist. Und leider muß ich sagen, daß mir damit zugleich das Wohl und Wehe meines Schwiegersohnes recht gleichgültig geworden ist. Ja – und ich schäme mich ehrlich dieser schrecklichen Gefühlswandlungen – als ich Josefa so auf das Sportblatt starren sah mit einer kleinen Falte zwischen den Brauen, die sich aber langsam sehr vertiefte, zuckte mir der Gedanke blitzschnell durchs Gehirn: ›Wenn nun die Vorsehung eine andre Lösung beschlossen hätte. Es ist ja auch ein schöner Tod für einen Reiteroffizier!‹ – Und dieser Gedanke war mir keineswegs schrecklich. Das ist Mutterrecht.

Josefa ritt noch ziemlich spät an diesem Tage durch die Heide und kam zurück erst bei Nacht. Die »Josefa« geht am Freitag über die Bahn. Meine Tochter muß einen Aberglauben haben, der mit diesem Tier zusammenhängt, denn sie will es durchaus noch einmal laufen sehen. Sie fährt zum Rennen nach Berlin. Ich verstehe sie nicht, aber ich hindere sie auch nicht. Ich werde mich hüten, jemals wieder ihre Entschlüsse beeinflussen zu wollen. Aber ich reise mit. Ich will bei ihr sein. Sie wunderte sich, daß ich auf einmal den Mut fände, den ich früher nie gefunden hätte, nämlich: ihren Mann den Karlshorster Sprung nehmen zu sehen . . .

Ja, ich kann's sehen – ich kann's sehen!


Ich erzähle ohne Schminke. Ich habe mich ja auch nie geschminkt oder gepudert sonst.

Die Eisenbahnfahrt verging sehr schnell. Wir fuhren mit der Prinzessin Wechtenfeld und Klara Gundingen zusammen, die Verwandte in Berlin besuchen wollten und sich trotz alles sächsischen Partikularismus doch sehr freuten, aus dem kleinen Dresden in das große Berlin zu kommen. Dresden ist Kleinstadt – das liegt an Sachsen. Mir war es für Josefa eine angenehme Zerstreuung, die beiden herzensguten, hübschen Damen mit ihr endlich zusammenzubringen. Das Sanatorium deckt alles. Denn sonst hätten sie wohl ein wenig pikiert sein müssen über die scheinbare Vernachlässigung. Wir waren alle sehr bald warm. Die Wechtenfeld ist dunkel und schlank, ein wenig die Augen und die Haarfrisur einer reizenden Japanerin. Sie wirkt dadurch sehr pikant! Der Prinz, der bereits in Berlin, hat sie aber nur des Geldes wegen geheiratet, wie ich leider genau weiß. Kleiner, nicht apanagierter Prinz – die Armen müssen sich nun einmal verkaufen – Die Gundingen ist langweilig und blond. Warum sind eigentlich blonde Leute mit Vorliebe langweilig? . . . Die nur sehr teilweise hübsche Gegend flog vorüber ohne jede Poesie, grau, leblos, wie es der Herbst so mit sich bringt, wenn seine bleiche Sonne hinter Dunstgewölk schlummert. Jedenfalls waren wir in Berlin und wußten eigentlich nicht wie. Dabei hatten wir nur Nichtiges geredet – und die Zeit schwand doch wie im Schlaf.

Die Großartigkeit der Reichshauptstadt regt auch mich alte Frau an. Wir logieren im »Windsor«, wo ich immer logiert habe, obgleich es weit hinter der Zeit zurückgeblieben. Das Publikum gut, aber auch etwas hinter der Zeit zurückgeblieben. Das war Josefas ungutmütige Kritik, als eine pommersche Landdame vor uns die Treppen hinabstieg. Noch am selben Nachmittage promenierten wir durch die besseren Straßen. Es zieht da so ein hastiger, endloser Strom die Trottoirs entlang, dem man am besten sich an Schaufenstern entzieht. Berlin und Schaufenster – das erfrischt! Und wenn ich selbst auch immer nur Schwarz trage, für meine schöne Tochter interessiert es mich doch, ob jetzt Lila herrscht oder Hellgrün, ob man mit Spitzen garniert oder mit Pelz. Das sind so die kleinen Nöte weiblicher Eitelkeit, die uns wenigstens für unsre Kinder wohl niemals ganz abhanden kommen. Josefa läßt nur in Wien arbeiten. Ich finde, Wien arbeitet fescher, extravaganter; in ihrem blaugrünen Tuchkleid sah meine Tochter so schick und apart aus! In einem Geschäft ließen wir uns Kostüme zeigen. Der Chef bemerkte sofort: »Gnädige Frau lassen wohl in London arbeiten? Es ist das Allerneueste, was gnädige Frau tragen. Wir haben eben erst die Fassons bekommen.« Doch erst als Preise genannt wurden, begriff ich ganz, wie luxuriös Josefa auch in diesem Punkte lebt. Ein Herbstkleid achthundert Mark! – das habe ich nur für Courroben bezahlt.

So verging uns der Nachmittag in Kleinigkeiten. Als die Berliner Lichter aufflammten mit dem bläulichen Hauch, dem unbestimmten Tosen, das eigentlich ihr Glanz weckt, da lockten zwar die Auslagen noch verführerischer, und ich konnte mich von einer kleinen Perlenbrosche gar nicht trennen, aber schließlich trennte ich mich doch! Sobald die Sonne unter, haben Damen auf Berliner Pflaster allein nichts mehr zu suchen. Wir aßen im Hotel zu Nacht. Josefa ging sehr bald auf ihr Zimmer. Ich aber führte, wie um mich zu strafen, dies Tagebuch weiter.

Was bin ich alte Frau doch noch oberflächlich! Es braucht nur ein bißchen Leben auf uns einzuwogen, ein bißchen Leichtsinn, Vergnügungslust in der Luft zu liegen, und wir vergessen unsre Leiden, ja, was schlimmer, auch die Leiden andrer. Ich ging mit mir deswegen ernstlich ins Gericht. Aber auf solche Pause setzt der Schmerz ganz von selbst nur um so beißender ein. In diesem alten, gemütlichen Hotelzimmer bin ich nachträglich so klein geworden, so hoffnungslos! Berlin, dessen Meereslaut hier nur ganz von ferne brandet, schüchterte mich ein, gab mir gerade in diesem unaufhörlichen, verschwommenen Nachttosen das Vorgefühl von etwas Unentrinnbarem: solche Riesenstadt ist wie das Schicksal.

Am andern Morgen erwachte ich sehr früh. Die Straße unten im Herbstnebel, der Asphalt schmutzig, die Menschen griesgrämig. Es nahm sich aus wie ein Wiener Café, das noch gar nicht Zeit gehabt hat, sich von all den ekelhaften Gerüchen der Nacht zu reinigen, und doch treten die ersten Gäste schon wieder in die abgestandene Atmosphäre. Josefa half mir beim Anziehen, was ich nie ganz allein zuwege bringe. Wir frühstückten zusammen. Draußen hatte sich derweilen der Nebel gelichtet, das Ameisengewimmel des arbeitenden Berlin regte sich. Und dieses Leben reißt doch immer wieder mit fort . . . Aber da fiel mir natürlich das Rennen heute nachmittag ein, und daß mein Schwiegersohn, ahnungslos wahrscheinlich, im »Bristol« schräg gegenüber logiert hat! Wir wollen ihn auf dem Rennplatz selbst überraschen: das machen wir uns weis. Es ist eine gefällige Lüge. Aber wir wissen doch sehr genau, daß eine Lüge dadurch nicht besser wird, daß sie hübsch ist . . . Josefa wollte eben nicht mit ihrem Mann logieren – das ist die Wahrheit.

Um zwölf Uhr fuhren wir nach Karlshorst, und zwar mit der Bahn.

Ich mache mir aus Rennen nicht viel. Was die Pferde leisten, geht über meinen Horizont. Höchstens daß es ein buntes Bild ist sommertags, daß es zuweilen heiß hergeht zwischen den Flaggen, und daß man wohl daran tut, bei dem irischen Wall wegzusehen, wenn man etwas Liebes im Sattel weiß! Jemand war ein so verwegener Hindernisreiter und verspielte hinterher noch regelmäßig sein Geld. Aber da Josefa und ihr Mann gerade ihre Pferde- und Rennpassionen so leidenschaftlich als Brautleute verfochten, habe ich gern nachgegeben und ein Sportinteresse geheuchelt, das ich niemals besaß. Am heutigen Tage ist es mir höchstens sympathisch, daß es in Berlin intime Bekannte von mir kaum noch gibt.


Wir kamen etwas spät. Die Rennen hatten bereits begonnen.

Sonst das herbstliche Bild, das ich so oft gesehen. Ein Stück märkische Kiefernheide, von dem kalten Sprühregen wie mit einem weichen Dunstschleier umhüllt – ein Stück Berlin, das mit Fabrikschornsteinen und Mietskasernen trübselig herüberschaut. Dazwischen die weite, grüne Fläche mit Markierstangen, flatternden Wimpeln. Das bunte Feld tauchte gerade auf, verschwand wieder; der Rasen dröhnte dumpf. Von den schmucklosen Holztribünen her das unbestimmte Menschentosen. Wir betraten den Sattelplatz in dem Augenblick, als die Dragonermusik wieder einsetzte. Der Brandenburgmarsch mit schmetternden Heroldstrompeten, indessen der schweißbedeckte Sieger, ein kopfhängender Dreijähriger, zur Wage geritten wurde.

»Heute ist Favoritentag!« sagte jemand.

Das Wetter schaute weit mehr nach Outsiders aus.

Die Tribünen waren sehr mäßig besetzt. Welt – Halbwelt. Ueberall Regenschirme und Regenmäntel. Auf dem nassen Rasen davor fast nur Herren: Offiziere mit hochgeschlagenem Mantelkragen, Rennhabitués mit Sportpaletot und englischen Gamaschen. Weder Farbe noch Stimmung. Auch die Tourniquets zum Totalisator drehten sich nur mürrisch. Wir wollten Peter aufsuchen, kamen aber nicht weit. Wechtenfelds, die Gundingen, ein Gardereiter. Wir waren im Augenblick lachend umringt.

»Da kommt doch endlich die einzig wirklich Passionierte!« rief die Prinzessin.

»In Dresden wär's doch jetzt viel gemütlicher,« klagte die Gundingen.

Josefa drückte nach allen Seiten liebenswürdig die Hand, fragte aber dann sofort den Offizier: »Haben Sie meinen Mann nicht gesehen?«

»Jawohl. Er ist vorhin mit der Mailcoach von den Garde-Ulanen gekommen. Zieht sich jetzt, glaube ich, gerade um . . . Da ist er übrigens schon!« Und er zeigte nach der Wage, wo mein Schwiegersohn mit seinen Pluderhosen und seiner schlotterigen Rennulanka stand.

Josefa ging sofort hinüber. Ich blieb. Nach einem Wiedersehen unter jetzigen Verhältnissen gelüstet mir nicht. Aber ich ließ Josefa nicht aus den Augen. Sie begrüßten sich mit einem Händedruck. Er schien verwundert. Sie gingen Arm in Arm auf und ab, sprachen lebhaft. Plötzlich blieb Josefa stehen, machte ihren Arm frei. Ich konnte gerade ihr Gesicht sehen. Das eigentümlich rasche Erkalten ihrer hellen Augen war so frappant! Ich hasse Szenen. Und wahrscheinlich hatten sie eben eine große Szene gehabt.

Der Prinz Wechtenfeld, der nur beim Anekdotenerzählen nicht langweilig ist, erzählte gerade. Ich schlenderte auf Umwegen zu Josefa hinüber. Sie kam mir schon auf halbem Wege entgegen, die Zähne auf die Unterlippe gebissen. Sie sah mich erst, als ich vor ihr stand.

»Habt ihr euch gezankt?« fragte ich.

»Ja – nein, Mama. Er hat die Stute doch verkauft.«

»Das ist aber nicht hübsch von ihm!« rief ich.

»Ja, hübsch ist's nicht von ihm . . . aber schließlich ist's doch sein Pferd.«

»Nein, es ist dein Pferd, Josefa!«

Sie lächelte, als sie mich fast erregt sah. »Hast du's schriftlich? Ich hab's jedenfalls nicht schriftlich.«

Wir gingen zu unsrer Gruppe zurück.

Der blonde Gardereiter fragte sofort interessiert: »Haben sich gnädige Frau Bormio noch mal angesehen?«

»Nein.«

»Großartig in Form! Ueberhaupt das bei weitem beste Pferd heute, der Fuchs . . . Die andern werden gar nicht gewettet!«

Meine Tochter fragte kurz: »Auch die Stute, die ›Josefa‹ nicht?«

Der Leutnant – übrigens ein Hannoveraner und dementsprechend steif – zuckte nur die Achseln. »Können Sie auch nicht verlangen, gnädige Frau! Die Stute hat ihr Lebtag ungefähr alles versprochen und ungefähr nichts gehalten.«

»Sie wird schon gewettet werden!« Josefa drehte sich halb weg. Ein zweites Feld war derweil in die Bahn geritten: Jockeis. Ich sah ohne Interesse den Aufgalopp. Diese Leute mit ihren lederharten Spitzbubenphysiognomien mochte ich nie. Die Zuschauer drängten uns langsam nach dem Drahtzaun am Pfosten. Auch unsre Gruppe zerriß. Schließlich standen Josefa und ich allein. Die beiden soi-disant-Gräfinnen aus dem Sanatorium, die mich immer zu grüßen versuchten, flanierten noch in dem Sprühregen. Sie trugen Federhüte und Radmäntel. Ich bemerkte sie erst jetzt und wunderte mich, was sie gerade auf diesem Rennen suchten, das ihresgleichen mit seiner Regenatmosphäre so wenig bietet heut. Verschiedene Herren, die ja solches Wild immer gleich wittern, wurden aufmerksam. Ein paar Offiziere sahen den Mädchen kritisch nach und stießen sich an. Ein alter Geck mit weißem Spitzbart und Boulevardzylinder räusperte sich, machte eine Bewegung nach dem Hut . . . Alte Gecken und ihre Passionen sind widerlich! Gerade in dem Moment, als ich mich degoutiert nach der andern Seite wandte, grüßten mich die beiden Mädchen. Ich wollte wieder grüßen. Aber Josefa, die nichts sieht und doch alles, flüsterte mir nur hastig zu: »Nicht, Mama! So was kennt man hier nicht!« Die Kopfbewegung erstarb mir. Ich kam mir auch lächerlich vor, bevormundet. Das mag ich nicht. Darum trat ich zum Prinzen Wechtenfeld mit einer gleichgültigen Frage. Die Pferde kamen das erstemal an den Tribünen vorüber in geschlossener Front. Die Jockeigesichter wild, die Peitschen geschwungen. An der Innenseite beim Biegen drängten sich die Tiere. Eine Flaggenstange krachte. Der Reiter wurde aus dem Sattel geschleudert. Mein erster Gedanke war: ›Wenn der Mann nur nicht schwer verletzt ist.‹

Der Prinz sagte ärgerlich: »Der Kerl reitet miserabel!« Alle Rennpassion macht mitleidlos. Die Gesichter um mich herum hatten auch so einen stieren, harten Ausdruck. Der Name und das Kleid allein machen's doch nicht! Und Josefa, meine warmherzige Josefa kann mit diesen Menschen empfinden? Für Männer mag ja der rohe Reiz Bedürfnis sein; Frauen sollen bessere Vergnügungen suchen . . . Merkwürdig, daß gerade der Salon und der Stall sich so magisch anziehen!

Ich schaute unwillkürlich nach Josefa um. Sie stand ein wenig zurück und starrte auf den Boden, die Augenbrauen zusammengezogen, als kämpfe sie mit einem finsteren Entschluß. Eine Minute später, gerade als das wilde Schreien der Jockeis und das Keuchen der Pferde den Endkampf verkündete, wandte sie sich mit einer kurzen, energischen Bewegung ab und ging hinüber zum Sattelplatz.

Ich eilte ihr nach. »Josefa, wo willst du hin?«

»Ich will mir die Stute noch einmal ansehen . . .«

»Wer wird sie denn reiten?«

»Bloome.«

Wie sie den Namen so kurz aussprach, zuckte mir ein Argwohn durchs Hirn. »Josefa, das wußtest du wohl schon in Dresden?«

Sie sagte nur über die Schulter weg: »Genau, was Peter auch gesagt hat. Denkt doch beide, was ihr Lust habt! Ich denke auch, was ich Lust habe . . .« Und sie schritt unbeirrt weiter zu dem freien Platz, wo sich die Rennreiter im Schritt noch einmal dem Handicaper stellen, ehe der Aufgalopp beginnt.

Der Platz war leer bis auf einige Stalljungen, die Pferde im Kreise führten. Der Regen rieselte wie Tau, und die Haut der Tiere zuckte wie gekitzelt. In den offenen Holzständen dabei ein Herrenreiter – kohlschwarzer Dreß, ein brennendroter Streifen um die Kappe. Graf Bloome. Er ging, nervös mit der Peitsche fuchtelnd, auf und ab, blieb dann wieder stehen, sprach kurz mit einem Manne, der ein Pferd sattelte. Das Pferd war die »Josefa«, ein hoher, knochiger Brauner! Die Stute stand mit hängendem Kopf und rührte sich kaum, während die Nüstern mit einem Schwamm ausgewaschen wurden.

Josefa zögerte einen Moment, ging aber dann sehr schnell auf den Stand zu: »Guten Tag, Graf!« Sie gab ihm die Hand, kräftig nach englischer Art.

Er machte ein komisch verdutztes Gesicht. »Dachte, ich wäre endgültig in Ungnade gefallen, Baronin! Wußte zwar nicht, warum. Aber da Mister Lasowitz geruht, mir erst Pferde zu verkaufen und mich dann zu schneiden – warum, ahne ich zwar auch nicht –, so konnten gnädige Frau doch gleichfalls geruhen . . .«

Josefa unterbrach ihn kurz: »Denken Sie überhaupt placiert einzukommen?«

»Ich möchte wenigstens.« Er klirrte ärgerlich mit den Sporen. »Die Kerls machen einen ja ganz verrückt! Der Schinder soll nun auf einmal nie das Leder wert gewesen sein nach aller Sachverständigen Ansicht.«

»Es war mein Pferd, lieber Graf.«

»Eben deshalb! Ich hörte vorhin so etwas. Habe mich, ehrlich gesagt, auch gewundert, daß Lasowitz' das Pferd überhaupt verkäuflich ist.«

»Ich habe mich auch gewundert, lieber Graf – aber nur, daß er es so lange behielt, mein Mann.«

Josefa streifte den Schleier hoch. Beide gingen um den Braunen herum. Meine Tochter fühlte die Fessel lang, strich über den Rücken. Ich sah, wie lieb ihr das Pferd noch immer war.

Der kleine Graf wandelte nachdenklich mit. »Nun sagen Sie doch aber mal ein Wort, Baronin!«

»Was soll ich Ihnen sagen? Ich hatte früher immer gedacht, es sei ein sehr gut gemachtes Pferd, das beste von meines Mannes Steeplern überhaupt.«

Er lachte trocken. »Ja, das sage ich auch, gnädige Frau. Die Stute ist immer falsch geritten worden! Ich sah sie noch in Gotha mit Ihrem Gatten im Sattel . . . Ich bin doch auch alter Kavallerist, wenn auch allerdings immer lieber Terrain als Bahn . . . Jedenfalls werde ich auch als Feind versuchen, Ihnen Ehre zu machen, gnädige Frau. Bormio ist bedingungsloser Erster, wenn er nicht stürzt. Das ist seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit! Bestes Pferd – bester Reiter . . . Die Stute muß also gute Zweite werden, sonst hat sie kein Ehrgefühl. Es war doch einmal Ihr Pferd!«

»Ach, lieber Graf . . .«

»Aber, Gnädigste, wenn ich das Pferd wäre, hätte ich das Ehrgefühl unbedingt!« Sie lachten und stritten sich herum – alles scheinbar sehr harmlos. Von Courmachen keine Spur. Mein Argwohn schwand . . . Da – ich ahne nicht einmal, was vorgegangen ist – wurde plötzlich Josefa mitten im lebhaften Gespräch auf Minuten völlig stumm. Ich merkte deutlich, wie ihr die Lippen zuckten, wie ihr ganzer Körper förmlich wuchs. Die Augen flackerten in einem feindlichen Glanz. ›Was ist ihr?‹ dachte ich. Sie sah leidenschaftlich erregt aus, aber wunderschön! Und ehe ich mir noch klar werden konnte, warum, sprach sie rasch und mit leicht vibrierender Stimme: »Ich will Ihnen etwas sagen, Graf. Die Stute kann und muß das Rennen gewinnen! An das Pferd hat bis jetzt niemand geglaubt als ich – und einmal wenigstens will ich auch recht haben! Kümmern Sie sich um das ganze Feld nicht. Lassen Sie vor allem Bormio Bormio sein. Aber versuchen Sie vom Fleck den ersten Platz zu belegen und halten Sie ihn, koste es was es wolle, das ganze Rennen durch! Aber Peitsche vom Fleck, daß sie sich auf ihr Vollblut besinnt! Mein Mann glaubt's mir nicht und niemand sonst. Aber ich weiß, daß es ein so treues Pferd ist und nach Hause steht wie nur eines. Aber es muß die Peitsche haben! . . . Wollen Sie ihn nach dem Rezept reiten?«

»Gewiß, Gräfin.« Er sagte das wohl unwillkürlich. Mir aber kam die Empfindung, daß sie mit dem Moment auch nicht mehr Frau von Lasowitz sei.

Sie gaben sich die Hand.

»Also Peitsche, Graf!«

»Peitsche, Frau von Lasowitz!« wiederholte er scherzend.

Dann schieden sie.

Ich hatte mich kaum an der Unterhaltung beteiligt, die mir auch mit jedem Moment peinlicher selbst beim Zuhören geworden war.

»Aber Josefa,« sagte ich, als wir über den Sattelplatz zu den Tribünen zurückgingen, »aber Josefa, war das auch recht?«

Und sie antwortete mit noch immer bebender Stimme: »Es war nicht recht, und es soll auch nicht recht sein! Aber heute ist mein Tag. Ich will's.«

Es muß doch Gespenster geben, die andre nicht sehen. Josefa war wie umgewandelt. Ich sah wohl überall umher, was sie eigentlich so erregt haben könnte. Ich fand nichts.

Uebrigens dieser Herr Rin war auch auf dem Rennen. Er schlenderte mit den beiden soi-disant-Gräfinnen den Sattelplatz entlang. Wir streiften ihn beinahe im Vorbeigehen. Er genierte sich gar nicht, sprach ruhig weiter. Josefa kennt ihn, glaube ich, wirklich nicht mehr.

Im nächsten Rennen wurden Bormio und Josefa gestartet. Es war das Rennen des Tages. Jagd – fünftausend Meter – über die berüchtigten Karlshorster Hindernisse. Ich war in meine Loge zurückgegangen, nicht nur wegen des Regens, der jetzt träge und gleichmäßig niederfiel; der tiefe, graue Himmel drückte, die wenigen Baumgruppen des großen Plans waren nebelumwoben wie Gespenster. Ich wollte allein sein! Josefa stand unten an der Hecke dicht bei dem Pfosten, neben ihr der Prinz und der blonde Gardereiter. Keine zehn Schritt davon dieser Rin, aber ganz isoliert – er wollte auch allein sein!

Als die Pferde aufkanterten – ich sehe es noch genau: sechs Herren in Uniform und die kohlschwarze Bluse des Grafen Bloome –, passierte Peter als erster auf einem Schweißfuchs, ganz vornübergebeugt, er ritt mit Monokel, und das scharfe Gesicht bekam dadurch etwas eigentümlich Starres, Verbissenes. Hinter ihm Bloome auf »Josefa«. Ehe die braune Stute zum Galopp ansprang, grüßte er noch zu uns hinüber. Josefa dankte flüchtig.

Der Start schien weit – es lag wohl an dem Regenlicht. Ich sah auch ohne Glas nur undeutlich die unruhig tretenden Pferde. Von den Reitern erkannte ich nichts als das verblaßte Rot einer Husarenattila.

Gleich darauf fiel die Flagge. Die Glocke tönte. Die schwarze Bluse galoppierte vorn. Ich wünschte ihr den Sieg nicht! . . . Das Feld kam langsam näher. Die alte Geschichte bei allen Hindernisrennen: die Reiter verhalten, bis sich die erste Peitsche hebt.

Die erste Peitsche hob sich. Graf Bloome. Das Feld zerriß. Am ersten Hindernis stürzte der Husar, aber leicht. Er stieg wieder auf und ritt im Schritt nach Hause.

Der große Sprung! Ich sah durch das Glas, wie der Schmutz aufspritzte. Die schwarze Bluse lag noch immer vorn. Hinter ihr Peter. Er rührte nicht die Hand. »Es ist das Rennen eines Pferdes,« sagte ein Herr in der Nebenloge. »Selbstverständlich macht's Bormio.«

»Aber die alte Stute hält sich heut famos!« antwortete ein andrer.

Die andern Pferde waren wohl zurückgeblieben, oder ich sah sie in begreiflicher Blindheit nicht mehr. Ich sah nur die beiden – den Fuchs und die Stute –, die immer in dem gleichen Abstände die Hindernisse sprangen: Josefa unter der Peitsche und schwer, Bormio aus der Hand und leicht.

Als sie zum erstenmal zu den Tribünen einbogen, sank der schwarzen Bluse die Peitsche. Ich weiß nicht, ob es Kalkül oder Ermüdung war. Der Schweißfuchs ging in Front – sie kamen heran. Der Schmutz spritzte, die Lungen keuchten. Es war doch ein sehr schnelles Rennen, wie ich jetzt sah. Sie passierten die Tribünen. An dem Pfosten streckte der Schweißfuchs den Kopf vor, die Stute fiel zurück. Da rief eine helle Stimme: »Reiten!« Es war Josefa. Und im Augenblick hob sich auch wieder die Peitsche und ruhte nicht mehr.

Bei dem Ruf war mir's durch und durch gegangen. Ich sah von jetzt nur verworren, wie sich die Peitsche hob und wieder hob. »Bormio muß gewinnen!« sagte ich für mich, ohne eigentlich zu wissen warum.

Auf Minuten verlor ich dann das Rennen ganz aus dem Auge. Vor mir nur noch der öde, tote Regenplan.

Als ich die beiden endlich wiederfand, hatten sie die letzte Hürde bereits hinter sich und galoppierten die »Gerade« hinunter. Auf den Tribünen eine gewisse Erregung. Einzelne Herren beugten sich vor. Unten am Pfosten drängten sich die Leute. »Bormio muß es machen!« sagte der Herr nebenan wieder, und der andre antwortete: »Die alte Stute liegt unter der Peitsche wie noch nie.« Ich wollte nicht hinsehen, weil ich den Ausgang ganz genau wußte. Und ich sah doch hin als echte Frau . . . Ich sehe, wie zwei Peitschen wie toll auf- und niederzucken, höre zwei keuchende, schweißbedeckte Pferde ihr Letztes hergeben. Von dem zweiten Platz ein murrender Laut: »Lasowitz macht's! Lasowitz macht's!« Ich bin instinktiv aufgestanden wie die andern auch . . . Was hat doch dieser Bloome auf einmal für ein wild verzerrtes Gesicht! Und Peter so böse und stier mit seinem Monokel! Sie haben immer so rohe Gesichter beim Ausreiten, die Herren . . .

Das Ende weiß ich nicht recht. Einmal noch ein aufgeregtes, vielstimmiges: »Bravo, Bormio, bravo!« Dann eine beklemmende Stille.

Als der Sieger seine braune Stute zur Wage ritt, unheimlich blaß in seinem schwarzen Dreß und schwer atmend wie sein triefendes, ausgerittenes Tier, da war mir doch wohl noch nicht ganz klar, was dieser Sieg bedeutete.


Eine halbe Stunde später fanden wir uns alle auf dem Sattelplatz wieder zusammen. Es war ein Kopfschütteln, Gestikulieren, niemand hatte es für möglich gehalten . . . Der Graf Bloome kam später auch zu uns, übermütig lustig fast durch seinen Sieg. Josefa wieder eisig, aber mit einem harten, entschlossenen Zug um den Mund. Peinlich wurde es erst, als Peter kam und, ohne seinen glücklichen Konkurrenten auch nur zu sehen, mit gesuchter Kavalierhöflichkeit seiner Frau die Hand küßte und sagte: »Ich gratuliere untertänigst!«

Josefa zuckte die Achseln und antwortete nicht.

Es verstand wohl niemand recht, was eigentlich vorgegangen. Der Prinz, der alles, was mit der Rennbahn zusammenhängt, sehr nüchtern und sachlich anzusehen scheint, bemerkte nur: »Herr von Lasowitz, Sie werden die Stute zurückkaufen müssen. Ein Pferd mit so viel speed! . . .«

Darauf Josefa: »Für den Lasowitzschen Stall wird die Stute nicht mehr gesattelt!«

Peter kniff leicht die Augen zusammen. Ich merkte wohl, welche Anstrengung es ihn kostete, höflich zu bleiben. »Verzeihung.« Er räusperte sich und ging einen Augenblick später zur Wage hinüber. Er steigt noch einmal in den Sattel. Ich sah ihm unwillkürlich nach. ›Warum mußte das alles so kommen?‹ dachte ich. ›Es geht ein Gespenst um auf diesem Platz. Vielleicht sehen's alle, nur ich bin blind.‹

Der Dehors halber mußten wir bleiben bis zum Schluß. Peter gewann das letzte Rennen, und zwar im größten Stile. Es war uns allen wohl eine Erleichterung, ihm zu diesem glänzenden Siege gratulieren zu können. Eine Art Feigheitsglückwunsch, wenigstens von mir! Man möchte den Eklat vermeiden! . . .


Unsre ganze Gesellschaft dinierte zusammen im »Kontinental«. Auch nicht zu umgehen. Wir hatten uns gleich zu Beginn verabredet, und es war doch auch ein kleiner froher Kreis, dem man das gewissermaßen schuldig war . . . Ich bin zwar Gesellschaftsmensch wie nur einer, und die Moral dieser Gesellschaft war immer meine, selbst wenn sie keine war. Aber die ausgesuchten Hummern würgen sich manchmal schwerer herunter als verschimmeltes Brot. Josefa aß nichts. Ich versuchte wenigstens zu essen. Dabei war es ein so elegantes, duftendes Chambre séparée! So gute Manieren, so gute Toiletten! Es fehlte wirklich nichts zum Gesellschaftsglück . . .

Dennoch drückte mich der Raum vom ersten Augenblick. Ich saß absichtlich weitab von meinem Schwiegersohn und meiner Tochter, ich unterhielt mich mit dem wirklich langweiligen Prinzen geflissentlich amüsant. Aber ich sah in dem Empirespiegel doch immer nur die beiden Menschen, die wohl alles daransetzten, ruhig und sicher zu scheinen. Ja, ich habe sie bewundert! Was müssen sie für jahrelange Uebung in der gesellschaftlichen Heuchelei hinter sich haben, daß keine Miene, kein Wort den andern die tiefe Kluft verriet, die doch mit jedem Augenblicke wuchs. Sie wünschen vielleicht beide die Szene, die letzte, äußerste, nach der es kein Zurück mehr gibt, und sie können lächelnd mit den Sektkelchen anstoßen, lächelnd die Knallbonbons zerreißen, lächelnd die blöden Inschriften tauschen! . . . Wenn ich nicht die Mutter wäre, das Fleisch und Blut von meinem Kinde, ich würde nichts lesen können aus dem leisen, unaufhörlichen Beben der Nasenflügel Josefas, so wenig wie aus den schwellenden Adern an den Schläfen meines Schwiegersohnes. Aber ich weiß nur zu gut, daß das Ende da ist! . . . Und im Anblick dieser Gesellschaft, die nichts ahnt, die sich so seicht gibt, wie sie ist, wächst auch in mir eine Spannung, die sich bis zum Unerträglichen steigert.

Der kleine, häßliche Graf Bloome ruft über den Tisch weg meiner Tochter in gutmütiger Weinlaune zu: »Gnädige Frau, die Josefa soll leben! Das war doch noch mal ein Ritt! Ich her, was ich hatte, sie her, was sie hatte. Ich küsse die Hand meiner gütigen Protektorin!« Und gleich darauf zu Peter gewandt: »Prosit, Peter von Amiens! Reiten könnt ihr doch nicht! So 'n Tag wie heute tut den unfehlbaren Herren recht gut! Aber darum keine Feindschaft nicht!«

Und Peter, in einem Sportgespräch mit dem langweiligen Prinzen gerade begriffen, nickt, ohne auch nur hinzusehen, trinkt den ganzen Kelch herunter und fährt in dem gleichen Tone fort: »Ja, Durchlaucht, die neuen Elemente, die ihre Pferde laufen lassen auf anständigen Bahnen, werden allerdings immer dunkler.«

»Aber, lieber Lasowitz, das meinte ich ja gar nicht!«

»Aber ich meine so, Durchlaucht!« Seine Haltung war so mühsam, als er das letztere sprach, und die Anspielung so deutlich, daß mir heiß und kalt wurde wegen eines Skandals. Noch ein solches ironisches Prosit von diesem Bloome, und Peter steht auf und sagt: »Sie sind ein Schuft, Herr!«

Kurz nach dem Diner ging Graf Bloome. Er wird wohl noch Verabredungen mit gewissen Damen haben. Ich konnte mich nicht entschließen, ihm die Hand zu geben, denn schließlich ist er auch an allem schuld.

Wir waren aufgestanden, es entstand die Bewegung, wo die Herren sich nach einer Zigarre und die Damen sich nach einem Boudoir sehnen. Graf Bloome drückte Josefa zum Abschied dankbar die Hand. »Sie waren sehr gütig, Baronin.«

In demselben Augenblicke zischelte Peter von der andern Seite: »Geh doch lieber gleich mit! Er logiert im Kaiserhof.«

Josefa zuckte zusammen wie unter einem Hieb und wurde blutrot. Sie antwortete aber nichts.

Ich war empört wie nie in meinem Leben.

Was aus der andern Gesellschaft geworden ist, weiß ich nicht. Ich ließ mir sofort ein Zimmer geben und ersuchte meinen Schwiegersohn um die unumgängliche Unterredung. er folgte mir die Treppen hinauf, sehr blaß und etwas Tückisches im Auge. Es war das erste beste Fremdenzimmer, und ich verriegelte die Tür hinter uns. Er knipste das elektrische Licht an und schob mir einen Fauteuil hin, ich aber wünschte stehend zu verhandeln. Das »Du« wollte mir nicht mehr über die Lippen. Ich sagte: »Sie haben sich eben benommen, wie sich kein anständiger Mensch benimmt.« Er antwortete finster: »Wegen der Form bitte ich um Verzeihung.«

»Und wegen des Sinnes?«

»Bedaure ich, das nicht tun zu können.« Er ging auf dem Teppich hin und her. »Weißt du, Mama, was ich in den letzten zwei Jahren durchgemacht habe?«

»Andre werden jedenfalls mehr durchgemacht haben!«

Ich wünschte auch gar keine weiteren Auseinandersetzungen. »Wollt ihr euch sofort trennen?«

»Das weiß ich noch nicht, Mama.«

»Aber ihr werdet euch trennen – und zwar mit Anstand!«

Da lachte er böse und höhnisch auf: »Ja, das paßte euch wohl so! Gegenseitige Abneigung und so weiter. Und zu guter Letzt soll ich wohl so dastehen wie der dumme Aujust bei Renz? Nein, Kinder, mit der Diplomatie fangt ihr mich nicht!«

»Ich bitte mir einen andern Ton aus!« sagte ich.

Er zuckte leicht zusammen. »Ich werde es um deinetwillen versuchen, Mama.«

»Was haben Sie überhaupt für Gründe?« fragte ich weiter.

»Den ganzen Tag heute,« antwortete er mit zusammengebissenen Zähnen. »Einmal fließt jedes Glas über, wenn man immer nachfüllt . . . Und wenn ihr euch vielleicht einbildet, daß es der Gaul ist, der mich bis aufs Blut gereizt hat heut – nee! Der Kerl ist's, der drauf saß! Josefa wäre nie gekommen, wenn sie nicht genau gewußt hätte, daß dies mauvais sujet gerade heut die Stute reiten würde.« Er lachte häßlich auf. »Deine Tochter ist etwas unvorsichtig gewesen, Mama!« Ich zuckte darauf nur die Achseln. Er schien's nicht zu bemerken und fuhr fort: »Du kannst übrigens deiner Tochter sagen, daß die Karre so nicht mehr lange gegangen wäre, und daß es mir lieb ist, daß sie so aus dem Gleise gekommen ist . . . Alle geleimten Töpfe gehen einmal entzwei!« Er holte schwer Atem. »Daß einem Mann ein andrer Mann die Frau verführt, das kann jedem passieren. Aber daß sie einem ein solcher Kerl verführen muß, das kann nur mir passieren!«

»Du bist entweder betrunken oder verrückt, Peter,« antwortete ich. Ich hatte auch die Empfindung, daß er eins von beiden war.

Und damit schieden wir.

Im Vestibül empfing mich der Oberkellner mit der Meldung, daß Frau von Lasowitz im Schreibzimmer sei und mich dort erwarte. Sie war allein. Als sie mich kommen hörte, ging sie mir entgegen mit einem noch nassen Brief. »Du kannst ihn lesen, Mama.«

Er war ohne Überschrift und lautete:

»Ein weiteres Zusammenleben zwischen uns ist natürlich seit heut unmöglich. Ich bitte Dich, die nötigen Schritte sofort zu tun wegen der definitiven Trennung und Dich alles dessen zu bedienen, was ich Dir damals in Cannes sagte. Hoffentlich weißt Du es noch Wort für Wort. Sonst bin ich gern zu einer schriftlichen Erklärung erbötig. Der schuldige Teil bin selbstverständlich ich! – Mein heutiges Betragen entschuldige – ich konnte nicht anders; wie ich auch das Deine entschuldigen werde – Du konntest wahrscheinlich auch nicht anders.

Aber bei meiner Seele und bei allem, was mir heilig ist, schwöre ich Dir, daß Du auf ganz falscher Fährte bist! Dieser Graf Bloome hat in meinem Leben nie auch nur die kleinste Rolle gespielt. Wenn Du Dich mit ihm schießt – und er fällt –, so bist Du einfach ein Mörder!

Im übrigen bitte ich Dich wie damals – nicht, daß Du mir verzeihen, aber daß Du mich verstehen mögest. Leb wohl und werde mit einer andern Frau glücklicher!

Josefa.

Sie klingelte dem Kellner und siegelte den Brief. »An Herrn von Lasowitz sofort abzugeben!«

Ich war buchstäblich sprachlos. Erst eine ganze Weile, nachdem wir wieder allein waren, konnte ich mühsam sagen: »Josefa, dein Mann weiß also? . . .«

»Ja, Mama, er weiß alles – bis auf den Namen natürlich, den mir auch keine Folter erpressen würde.«

Wir gingen gleich darauf in unser Hotel.

Man kann vielleicht sagen, daß ich klein, jämmerlich sei. Es ist ja auch nicht der Bruch, den ich ja selbst gewollt habe, es ist seine Form, die mich so tief trifft. Soll, muß mein gutes, armes, hochherziges Kind nun als die Beschimpfte dastehen zeitlebens? Josefa besudelt vor aller Welt! War denn gar keine andre Lösung möglich . . .? Als wenn man einem Edelmann sein Wappen unter dem Galgen zerbricht, und er soll doch weiterleben, so war mir zumute.

Ja, die Rache ist da – aber die kleine, gemeine Rache des Schicksals . . . Wie ich Josefa jetzt kenne, würden alle Bitten nichts ändern . . . O, ich bin nicht rachsüchtig. Aber ich fühle doch einen blinden Haß gegen den Menschen, für den sie fiel!

Noch in der Nacht fuhren wir nach Dresden zurück. Es war eine stumme Fahrt. Auf dem Anhalter Bahnhof trafen wir Gott sei Dank nur die beiden soi-disant-Gräfinnen. Sie sahen mißvergnügt aus. Offenbar warteten sie auf jemand, der aber nicht kam. Wahrscheinlich ist Graf Bloome dieser Jemand. Daß er Josefas Geliebter nie war, ist mir bei nüchternen Sinnen vollkommen klar. Leute wie er haben ausschließlich Patschulipassionen. Josefa sah wie immer hochmütig über die Mädchen weg. Mich grüßten sie übrigens auch nicht. Doch gewöhnliche Mädchen, geziert und frech, wie sie so am Eingang standen und jeden Herrn fixierten! Der letzte Gruß des nächtlichen Halbwelt-Berlin.

Als ich rein zufällig noch einmal zurücksah auf die Geschöpfe – nicht mehr mit Mitleid, wohl aber mit Grauen –, sagte Josefa bitter: »Du denkst eben, Mama, wenn deine Tochter geschieden ist und die Welt erst weiß: warum – dann wird sie in den Augen der Welt auch nicht viel mehr wert sein als diese Geschöpfe da? Ich werde es ertragen. Laß du den Leuten auch ihr Vergnügen! Sie kennen mich ja trotzdem nicht und sollen mich auch nicht kennen. Dir aber sage ich: ich bin unglücklich geworden, eben weil ich keine Dirne bin!«

Wir stiegen ins Coupé.

Da kam wieder der alte Kleinmut zum Durchbruch: »Josefa, mußte denn das alles so enden?«

»Ja. Mutter, es mußte so enden! Auch die ehrlichste Buße hat kein Recht mehr, wenn sie keinen Sinn mehr hat. Von heute ab hätte sie keinen Sinn mehr.«


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