Johann Richard zur Megede
Der Ueberkater Band II
Johann Richard zur Megede

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Siebzehntes Kapitel

»Nicht wahr, mein Tierchen, du freust dich auch auf sie?«

»Nein, meine Liebe, ich freue mich gar nicht auf sie.« Die gute Gräfin scheint sich einzubilden, daß ich auf meine alten Tage unter die Hunde gegangen bin und sklavisch mitfühle, was Menschen fühlen. Ich liebe die Ruhe – schon das Keuchhustenwurm in der Portierstube war mir schrecklich! Ich liebe die Bequemlichkeit – die verrückte 'Rumräumerei in dem Loggiazimmer hat nicht einmal vor meinem Lieblingsplatz, dem Wappenkissen, Halt gemacht! Und nun soll ich mich auf ein Wesen freuen, das mit Reitpferden und Stallterriers einpassiert und bei meinem Anblick, der andern nur ehrfurchtsvolles Staunen einflößt, gleichgültig bemerkte: »Ach, da ist ja der alte Herr auch noch! Du brauchst nicht unnötig ablehnend zu sein, Carlo, ich mache keine Dummheiten mehr und schleppe dich in fremde Länder, wofür du nicht einmal dankbar zu sein scheinst.« Ich und alt! Ich und dankbar! Es ist eine solche Frechheit, daß ich ganz verblüfft stand und sogar vergaß, zu kratzen. Sie streichelte mich allerdings und überreichte mir einen uralten Kake. Liebes Kind, im Leben entscheiden Kleinigkeiten. Wenn dieser Kake duftend frisch gewesen wäre, wer weiß – aber da er uralt ist, hüte dich vor deinem Todfeinde!

Ich ging sofort zu meiner Lieblingssklavin, die bei den drei Ordensgelübden der Katzenbrüderschaft: der lächelnden Menschenverachtung, dem glühenden Hundehaß, der inbrünstigen Vogelliebe, mir beschwor, daß ich jung wie Methusalem, treu wie Chlodwig, weise wie Ben Akiba sei. Ich quittierte lächelnd. Das liebe Kind ist so entzückend naiv! Und wenn sie mich mit einem uralten Semiten, einem historischen Schurken, einem alles wissenden Ignoranten vergleicht, so weiß ich doch gewiß, daß ihrer köstlichen Unbildung diese drei Namen nur die Verkörperung der ewigen Jugend, der ewigen Treue, der ewigen Weisheit bedeuten können. Sie ist, Gott sei Dank, keine überbildete Hetäre wie Aspasia, sondern ein allerliebstes Gänschen, das aber mit wunderbar richtigem Instinkt meine Größe sofort erkannt hat. Allzu harmlos war nur, daß sie sich scheinbar träumerisch dieses uralten Kakes bemächtigte in demselben Augenblicke, als ich mich entschieden hatte, denselben Versuch zu machen – und daß sie sich unter der Hand erkundigte, wie groß die betreffende Kakesbüchse sei und wie lange die Dame bei uns bleiben würde. Ich fürchte, sie will in ihrer unbeschränkten Ergebenheit mir mehr Steine aus dem Wege räumen, als nötig ist und sämtliche uralte Kakes allein sich zuführen.

Aber dieser Besuch wird nicht bei uns wohnen! Die Dame wohnt in dem Sanatorium, wo sie hingehört. Vom Sanatorium bis zur Gummizelle ist bekanntlich nur ein Katzensprung.

Ich habe auf das Sanatorium uns gegenüber mit einem überlegenen Lächeln stets hinabgesehen. Was schert's mich schließlich, ob die Menschen mit oder ohne Sandalen verrückt werden, mit oder ohne Kopfbedeckung ins Jenseits gehen? Ich für meine Person ziehe es winters vor, in einem luftundurchlässigen Pelz Wärme aufzuspeichern, statt in einer luftdurchlässigen Joppe Kälte abzusondern. Ich verstehe auch nicht, warum die Menschen neuerdings durchaus auf das Niveau der ihnen sonst nahestehenden Wiederkäuer herabsteigen wollen und partout mit einem Salatkopf im Magen der Seligkeit zusteuern, während sie doch so viel Jahre vermittels englischer Beefsteaks auch nicht selig geworden sind. Und wenn sie bei zwanzig Grad minus im Schatten alle Fenster aufsperren, damit die entweichungssüchtige Seele nicht erst ängstlich nach einem Schlüsselloch zu suchen braucht, so bin ich im Gegenteil für hermetisch geschlossene Wintergemächer, damit die Ausreißerin einfach in die irdische Hülle wieder zurückkehren muß. Auch die Baumwollenenthusiasten hier scheinen nicht zu begreifen, daß die Erde trotz alledem rund ist und niemand sagen kann, auch beim längsten Leben, daß er zum Beispiel in Leinewand dem Weltgeist irgendwie näher gewesen wäre als in Wolle. Ich habe eine Abneigung gegen Neuerungen derart, aber die Menschen, die genau wissen, daß es nichts Neues gibt, bemühen sich krankhaft um das Neue. Ich sehe schon den Augenblick kommen, da ein ganz kluger Mann erklärt, daß Katzenfleisch die einzige menschenwürdige Nahrung sei. Und wenn jetzt die Engadiner Katzenfelle den Rheumatikern die Leiden verlängern, so wird dereinst ein Katzenbraten die Welt erlösen von allem Bösen. Hoffentlich wird diese Erleuchtung erst spät über die Menschheit kommen. Aber wenn denn nun einmal schon zu meinen Lebzeiten eine von uns beiden Katzen hier im Hause zum Heil der Erde an den Himmel glauben muß, so bin ich dafür, daß die scheckige Sklavin ihrem Sultan nicht weinend folgt, sondern ihm freudig vorangeht. Jedenfalls, was die lebensmüde Menschheit, die doch ein Jenseits besitzt, sich so sehr um das Diesseits bemüht, ist mir unklar . . . Im übrigen – die medizinische Wissenschaft, die sich so lange einbildete, in uralten wasserdichten Transtiefeln der letzten Weisheit direkt entgegen zu gehen, während sie nur in zerrissenen Kinderschuhen von rechts nach links torkelte, tut sonst ganz recht, daß sie von Zeit zu Zeit heimlich eine kleine Anleihe bei der Mutter Natur macht und nicht beim Onkel Apotheker. Ueberhaupt wenn die Natur nicht in den schlimmsten Fällen der Wissenschaft beispränge, so wäre die lange tot! . . . Was wollen eigentlich die gelehrten Herren? – Alle die Gifte, die ihnen die Sonne kocht, haben sie genau studiert – kein Tag vergeht darum ohne Tote – aber die Sonne selbst, die doch wahrscheinlich nicht nur Giftmischerin ist, die akzeptieren die Brillenleute nur knurrend. Erst als sie übergenug gemeuchelt hatten, kamen sie harmlos zu uns und sagten: »Licht? – Ach, damit könnte man's ja auch mal versuchen! Luft? – Das nützt am Ende auch! Wasser? – Vielleicht läßt man die Fieberkranken zur Abwechslung so viel trinken, wie sie wollen! Erde? – Schicken wir einmal die Patienten ins Moor statt ins Bett!« . . . Die vier Elemente, die da sind, haben sie stets verachtet zugunsten der sechzig Elemente heute oder einundsechzig Elemente morgen, die doch nur ein Phantom sind. Denn wenn ein kluger Mann das dreiundsechzigste gefunden hat, dann kommt flugs ein noch klügerer und teilt dieses Element . . . Jetzt sind sie glücklich auf dem Standpunkte, wo das grüne Gras, das angeblich von uns nur zur Wetterprognose mediziniert wird, auch ihrem Magen zugute kommt. Sie hätten schon früher bei uns anfangen sollen, die Herren Aerzte! . . . Wenn man heute jeden staatlich konzessionierten Giftmischer aufhängte, so würden weniger Kranke im Bett liegen, aber mehr Gesunde herumlaufen. Aber freilich, wer lieber mit toten Brillenaugen auf die Destillierblase starrt im Zimmer als mit lebendigen Augen auf die Natur achtet draußen, der wird wohl viele Mittel, aber kein einziges Mittel finden. Die Operation gelang – jedoch der Patient starb! Von dem einzigen Meergreis, den sie um den ersehnten Tod betrogen haben, machen sie ein großes Geschrei, von den tausend Jungen, die ganz wider ihren Willen totkuriert worden sind, schweigen sie bescheiden.

Nachdem ich so die alte wie die neue Schule nach Pflicht ad absurdum geführt habe – denn an der alten mag ich die Pillen und die Brillen nicht, und an der neuen die Wasserbäder und den Zug noch weniger –, begebe ich mich mit den beiden Damen zur Besichtigung des Sanatoriums selbst.


Ich war in dem Sanatorium. Wo war ich eigentlich nicht?! Es ist ein Weltsanatorium, und der alte Weltreisende verleugnet sich nicht. Ich ging mit damals als ganz selbstverständlicher Begleiter.

Zuerst beim Assistenzarzt. Beklopft, behorcht, gewogen – natürlich diese Lasowitz, die zwar sehr schlank geworden ist, aber noch immer das schöne Gleichmaß der Glieder besitzt, das man gerade beim schönen Geschlecht so selten findet. Leider, leider! Denn was ich davon später im Massagesaal sah, – bedecken wir alles mit dem Mantel der Liebe, der ja auch für diese liebebedürftigen Geschöpfe eigens erfunden ist! Jetzt erst verstehe ich, warum Liebe blind sein muß und warum die geliebtesten Frauen den vorzüglichsten Schneider haben. Auch Mutter und Tochter sahen mit einem eigentümlichen Lächeln, wie sich hier unter den flinken Händen der Masseusen die Schönheitskonkurrenz von Spaa, zu der das ganze weibliche Geschlecht berufen war, in eine Häßlichkeitskonkurrenz von H. verwandelte, zu der eben dieses Geschlecht weit mehr berufen ist. Das Korsett war und bleibt der ästhetische Wohltäter der Menschheit, denn . . . Ich will aber lieber Indiskretionen vermeiden.

Die Lasowitz wurde als leicht herzkrank befunden. Der spitzbärtige Assistent fragte: »Haben Frau Baronin einmal eine außerordentliche körperliche Anstrengung durchgemacht?« Ich zwinkerte dem jungen Mann zu: ›Herr Doktor, fragen Sie lieber nach der andern Herzerregung, die bei schönen, leidenschaftlichen Frauen doch viel näher liegt!‹ Aber dieser Hippokrates begnügte sich vollständig mit dem »Atlasritt« und versprach absolute Heilung. Die Mutter Angern vergaß über dem Herzen der Tochter, was ihr am Herzen lag, vollständig . . . Irre wurde ich beinahe an meinem eignen Scharfblick, als die Junge ohne Wimpernzucken sofort fragte: »Ich habe meine Reitpferde mitgebracht. Den Morgenritt werden Sie mir doch hoffentlich nicht abdisputieren!« Hippokrates mit dem goldenen Armband disputierte natürlich gar nichts ab. Ich sagte mir aber später nur: »Wir haben gewisse diplomatische Lehren befolgt, liebe Josefa, wir lassen uns überall hinsehen, nur nicht ins – Herz.« Und gerade das Herz will dieser Ignorant kurieren!

Wir schlenderten darauf weiter durch das Sanatorium, das eigentlich nichts Anheimelndes hat als einen Riesenspeisesaal, der mich anfangs mit dem größten Vertrauen zu den Wunderkuren des Hauses erfüllte, um später einem mitleidigen Lächeln zu weichen. Wo Pilzkotelettes anstatt Kalbskarbonnaden serviert werden, kann unmöglich der Magen gedeihen. Der Magen ist doch das eigentliche Herz. Bei Herzkranken muß man also den Magen poussieren. Im Konversationszimmer saßen viele Sandalenträger, die Männer in Joppe, die Frauen in Reformkleidern. Es ist ja auch die beste Reform, wenn man die Frauen körperlich so zustutzt, daß sie sich nur in ganz oberflächlichen Dingen von den Männern unterscheiden, als da sind: zum Beispiel die Kinder, die sich wohl auch daran gewöhnen werden, den guten Papa, der die Milch wärmt und die Strümpfe stopft, Mama – und die böse Mama, die gerade als Athlet in Trikot einen schwächlichen Mann von drei Zentnern niedergeboxt hat, Papa zu nennen. Kann man's den Kleinen verdenken? . . .

Wenn nur nicht noch andre Folgen kommen! Denn wenn das schwache Geschlecht stark und das starke Geschlecht schwach, so könnte es sich leicht ereignen, daß auch hier die Erde sich als rund erweist und die Papas wegen der Mitgift und die Mamas wegen der Stellung geehelicht werden, was doch im Effekt auf dasselbe herauskommt. Und wenn die Aposteldamen heute über die sittenlose Welt klagen, weil der Mann herrscht, so wird – siehe Messalina – die Männerwelt von später über die sittenlose Welt klagen, weil die Frau herrscht. Es entwickelt sich eben alles historisch, das heißt nur scheinbar. Denn von der sogenannten Gleichberechtigung halte ich nichts. Sie ist ein Kuckucksei, das auf dem Mond gelegt wurde und auf der Erde ausgebrütet werden soll. In der ganzen Natur gibt's keine Gleichberechtigung, sondern alles regelt sich nach dem Prinzip der Wippschaukel. Ich möchte auch mal den Unzufriedenen sehen, der, zufrieden geworden, nicht sofort seine unzufriedenen Brüder einlochte. Das auserwählte Volk zum Beispiel ist nur revolutionär, wenn es sich auf der gesellschaftlichen Wippschaukel ganz unten befindet, ganz oben wird es sofort reaktionär . . . Meine Herren und Damen, wenn Sie Kinder Murmel spielen sehen und genau auf die laufende Kugel achten, so können Sie sich ziemlich genau ein Bild von dem wirklichen Fortschritt auf diesem Erdball machen, dies heißt: eine Seite befindet sich immer oben und eine immer unten, und beide wechseln immer. –

Auf Grund meiner Sanatoriumsstudien gestehe ich allerdings von jetzt ab dem schönen Geschlecht das Recht zu, sich in seiner widerspruchsvollen Schönheitsposition etwas bänglich zu fühlen. Gott sei Dank gibt's auch Ausnahmen, zum Beispiel die kleine dänische Sängerin, die trällernd und tänzelnd zu ihrer grünen Salatschüssel eilt und wegen der allzu duftigen Toilette des Luftbades in Permanenz beschuldigt wird. Darauf drängte ich natürlich zu diesem Luftbade selbst, wo hinter einem Plankenzaun im Walde bei zehn Grad Reaumur die ältere Damenjugend einen kleinen Feenreigen entrierte. Kostüm: das von Erlkönigs Töchtern auf dem Moor. Ich war ganz entzückt. Auch meine Begleiterinnen lächelten wohlwollend. Wir mußten uns alle drei aber menagieren, weil wir dicht neben einer sogenannten korpulenten Damengruppe standen, die erwartungsvoll in das Guckloch eines Photographenkastens starrte. Warum lassen sich eigentlich gerade korpulente Leute so gern abkonterfeien? Einen Augenblick war mir, als sei ich Pharao und träumte den berühmten Traum, – nur daß ich keinen Josef brauche, ihn zu deuten. Die sieben mageren Jahre werden auch noch kommen!

Ins Badehaus verlangte mich nicht. Ich bin keine Meerkatze. Schon vor der Tür duftete es so warm feucht und plätscherte es so unangenehm verheißungsvoll. Ich, der ich gewiß auf peinlichste Sauberkeit halte, halte es doch in bezug auf Bäder und Duschen mit einem alten Gardekapitän von der Fußartillerie, der die ganze Baderei herzlich verachtete und im besten Sächsisch zu sagen pflegte: »Mein Vater hat nicht gebadet, und mein Großvater nicht, und mein Urgroßvater erst recht nicht, und sie sind doch alle über neunundneunzig Jahre geworden!« Das ist der einzige verständige Mensch, dem ich meines Wissens in Weltbädern begegnet bin. Das Baden ist auch so eine menschliche Anmaßung. Ohne Schwimmhäute oder Flossen geboren zu sein und doch möglichst lange im Wasser herumzuplätschern! Meine Damen leisten sich täglich solche Eitelkeitsorgien. Denn bei Frauen ist's nur Eitelkeit: schaumgeborene Venus und so weiter, was ihnen vorschwebt. Das war einmal, meine Herrschaften! Wer heutzutage in der Hochsaison zu Norderney aus dem Wogengischt der Nordsee plötzlich Frau Venus auftauchen sehen würde, der hat sich entweder an einer schnurrbärtigen Robbe versehen, oder er steht mit dem Alten Testament auf einem besonders guten Fuß. Ich ging nach Hause. Unterwegs begegnete mir meine scheckige Suleika. »Mädchen, du siehst aus wie eine gebadete Katze!« rief ich. Da bekam sie einen ernstlichen Nervenchok. Es ist auch eine zu ekelhafte Vorstellung.


Josefa ist jetzt acht Tage hier zur Kur.

Ich sehe sie eigentlich wenig, viel weniger jedenfalls, als mir lieb. Sie wohnt mit ihrer Jungfer in der Villa Erra, einer dieser Sanatoriumsvillen, die durch unsre Kolonie zerstreut liegen. Die Kur nimmt sie sehr in Anspruch. Um acht Uhr morgens der Rückenguß und das Kakaofrühstück in der Anstalt selbst. Da überfiel ich sie die ersten Tage, jetzt nicht mehr. Dann irgendein Bad: Licht-, Luft-, Dampf-, je nachdem, mit darauf folgender Massageprozedur. Vor dem Essen noch eine halbe Stunde Jagdgalopp durch die Dresdner Heide. Sie ritt immer leidenschaftlich gern. Warum soll sie's auch nicht? Sie hat wohl einen Groom mit, aber der hilft ihr nur beim Aufsitzen. Ich bin natürlich auch dabei, entweder im Stall selbst oder oben am Fenster. Anfangs begleitete ich sie zu Fuß ein Stück und freute mich, wie brillant sie sitzt. Aber es sind beide so unruhige Tiere, namentlich der Fliegenschimmel, der vor jedem Steinhaufen scheut. Und wenn das Pferd dann zum Galopp ansprang, bekam ich regelmäßig Angst, als sei sie noch das Kind auf dem Pony, dem ich immer ein Stück Schokolade versprach, wenn es nicht herunterfiele. Sie hat das Stück Schokolade immer bekommen, entweder als Belohnung oder als Schmerzensgeld – sie war eben ein einziges Kind. Jetzt begnüge ich mich, den Pferden ihr Stück Zucker zu reichen. Die Tiere sehen sich auch immer nach mir erwartungsvoller um, als nach ihrer unnachsichtigen Herrin. Sie liebt scharfes Reiten und straft hart. Sie ist gar kein Kind mehr – wahrlich nicht mehr!

Den Mittag essen wir zusammen in der Anstalt. Das hatte ich mir auch nie nehmen lassen. Wir sind da nicht etwa zu einer Hungerkur verdammt. Man ißt gut, wenn auch einfach, namentlich das Geschirr könnte weniger massiv sein. Wenig Fleisch, sehr viel Salat. Diesen Salat, der der Clou in der absolut milden Gemüsekost sein soll, muß Josefa einfach essen, obwohl sie nicht mag. Da ist sie für mich immer noch Kind, da befehle ich, und sie gehorcht. Exklusive Inseln, wie ich sie eigentlich liebe und wie Josefa sie wohl noch mehr liebt, gibt's nicht. Wir sind alles Nummern, vielleicht auch in der Kur. Wie man angekommen ist, so sitzt man. Und es ist doch eine teilweise recht gemischte Gesellschaft gerade um uns! Da ist mein Vis-a-vis aus Graz, seelenguter Mann, ißt aber alles mit dem Messer. Frau dito, Schwager dito. Höfliche, anständige Menschen alle drei, aber selbst wenn sie Engel wären, diese Aeußerlichkeit degoutiert mich dergestalt, daß meine natürliche Liebenswürdigkeit, die vielleicht nur diesem Herrn Rin gegenüber jemals unnatürlich war, solche Messerprüfung nur stöhnend erträgt. Dann sitzt noch ein Dozent in der Nähe, der weniger reden könnte, mit einer hübschen, sanften Frau, die wohl eine gute Natur haben muß, wenn sie diesen wissenschaftlichen Schwätzer auch sonst nicht über bekommt. Josefa hat die Ehre, neben einem langen Hamburger Kommis zu sitzen, der aber ebensogut nicht da zu sein brauchte, denn er ist ihr völlig Luft. Man stellt sich hier nur ausnahmsweise vor, kennt nur die Gesichter seiner Tischecke, und das Gespräch dreht sich hauptsächlich um die Kur, obgleich das verboten ist. Josefa und ich unterhalten uns miteinander fast flüsternd aus einer natürlichen Scheu, weil wir niemand kränken wollen mit unsern so ganz andern Passionen und Beziehungen, als die der gut bürgerlichen Leute, unter die wir hier zufällig geraten sind. Ich bin nicht die Spur hochmütig, aber ich teile nun einmal die Interessen dieser Leute nicht, so wenig wie sie die meinen.

Manchmal ereignen sich auch recht komische Dinge. Ich hatte nämlich das Stubenmädchen aus der Villa Erra, das uns auch bei Tisch bedient und das »Frau Gräfin befehlen!« als devote Oesterreicherin zu liebenswürdig oft gebrauchte, gebeten, weniger verschwenderisch mit Titeln zu sein, worauf sie ängstlich jede Anrede vermied. Und meine Tochter, die bei der ersten Meldung einfach Josefa Lasowitz geschrieben hatte, wie sie sich ja auch als Komtesse nur Josefa Angern schrieb, fand sich dann natürlich in der ersten Kurliste als bürgerliche Madame vor. Uns beiden machte das nichts, nur unser gesellschaftlicher Barometer fiel auffallend. Bei irgendeiner Gelegenheit aber waren wir gezwungen, gänzlich Farbe zu bekennen, worauf zwei Damen mit unscheinbaren Namen, die wir nur von ferne kennen und die wie eine junge, hübsche und wie eine ältere passierte Konfektioneuse aussehen, verbreiteten, daß wir bürgerlich wären und zu exklusiven Airs gar keine Veranlassung hätten. Sie selbst dagegen seien Gräfinnen – dies sehr diskret –, die eine schon, die andre bald, aber von diesen Vorzügen machten sie selten Gebrauch. Ich habe mir erst daraufhin die beiden Damen näher angesehen: die junge mit dem Puppenkopf und den blauen Prallaugen, die ältere mit dem sehr gewöhnlichen Mund und dem Namenszug der zweiten Gardekürassiere als Brosche. Ja, wenn sich wirklich ein Graf von den dritten Gardedragonern zu solcher Mesalliance bereits entschlossen, und ein zweiter Gardekürassier sich dazu zu entschließen gedenkt, so herrschen eben bei der Gardekavallerie sehr andre Anschauungen als zu meiner Zeit. Ich habe die beiden Damen darauf mit einer unendlichen Höflichkeit gestraft, was sie aber wohl nicht begriffen. Josefa nahm von der ganzen Angelegenheit keine andre Notiz, als daß sie sagte: »Hergelaufenes Gesindel, Mama!« Sie grüßt auch nie mit, wenn ich grüße. Eigentlich war das Ganze nur zum Lachen. All den Leuten gilt eben nur die Grafenkrone, nicht wer sie trägt.

Wir haben uns jetzt auf eine ganz kleine Gesellschaft zurückgezogen, einen ostpreußischen Rittergutsbesitzer von Geyer, eine Witwe aus dem Rheinland und einen kleinen, sehr korrekten Leutnant mit Frau. Alles wohlerzogene, indifferente Leute. Fräulein von Ingen, die sich herzlich an uns anschloß, wurde dazu von Josefa persönlich ermutigt! Das wunderte mich eigentlich. Denn ihrer ganzen Lebensführung nach gehört meine Tochter doch nur zu den ganz obersten Zehntausend. Sonst existiert in dem Sanatorium für sie kaum ein Mensch, den sie nicht mit einem Achselzucken abtäte. Sie will nur der Gesundheit leben.

Nach Tisch sitzen wir wohl noch eine Weile. Dann geht Josefa wieder in das Luftbad, wobei ich aber bei dem trüben Wetter nicht assistiere. Zur Erwärmung später noch eine zweite halbe Stunde Jagdgalopp in der Dresdner Heide. Abends bei dem vegetarischen Nachtmahl sehen wir uns zuletzt, aber sie ist von der Kur meistens so abgespannt, daß sie nur stumm dasitzen kann und zuhören. Sie geht auch sehr früh zu Bett, wie vorgeschrieben ist. Manchmal wünschte ich, sie wäre eine weniger gewissenhafte Patientin. Für die Mutter fällt so blutwenig Zeit ab, und vielleicht hat mich mein Kind gar nicht mehr so lange. Ich bin manchmal recht alt und müde.


Wenn ich ganz ehrlich bin – sie wird mich nicht vermissen! So unerträglich mir der Gedanke an ihren Tod wäre, so erträglich ist er ihr. Das fühlt man durch. Ich liebe sie darum nicht weniger, gewiß nicht! Aber sie liebt mich weniger, gewiß! Ja, es muß einmal heraus: meine Tochter Josefa ist eine kluge, kühle, harte Frau geworden. Ja, auch hart! Ueber das Herz hat mich der Arzt beruhigt – über das »Herz« beruhige ich mich nicht. Ich glaube jetzt beinahe, diese beiden Menschen sind wirklich vollkommen glücklich. Da ist ein Tag wie der andre, glatt, glänzend, kalt! O, ich will ja gewiß zufrieden sein, wenn Josefa sich in dieser Oede wohl fühlt, wo das Kind ganz überflüssig wäre. Ich habe auf diesen schönsten Traum beinahe verzichtet.

Als sie damals aus dem Coupé stieg, als wir uns küßten . . . sie ist ja meine Tochter, aber sie ist ganz gewiß nicht meine Tochter! Sie will in Wahrheit gar kein Kind. Und das ist so schrecklich, gerade für einen Menschen wie mich, dem das Kind alles gewesen ist, alles – hier die eigne Tochter wiederzufinden, der das Kind nichts ist, gar nichts! . . . Es kommen dabei so trübe Gedanken über mich. Eine längst abgetane Gestalt wächst als riesiges Gespenst vor mir empor, sieht mich mit heißen, bösen Augen an und sagt: »Hast du nun endlich, was du erfleht? Ich habe erst recht, was ich wollte!«

Lebt der Mann vielleicht doch noch? Lebt vielleicht von ihm ein Sohn? Er war eine heiße, leidenschaftliche Natur – und ich habe ihn geliebt. Ja, ich habe ihn geliebt! Und wenn's auch nur eine halbe, ängstliche Liebe war, wenn ich's auch heute nur noch schwer begreife – es war doch Liebe! Ich war nie eine Kampfnatur, und das hätte er wissen müssen. Mir ist ja auch der Gedanke an ihn, den ich liebte, nur noch ein Schatten, aber der Gedanke an die Sünde gegen meinen Mann, den ich nicht liebte, drückt zuzeiten wie ein Alp auf mir. Und nun soll vielleicht sein Sohn kommen und sagen: »Du hast meinen Vater unglücklich gemacht mit deiner halben Liebe, die feige und klein war wie du selbst, nun will ich zum Dank deine Tochter unglücklich machen mit meiner großen, ganzen Liebe, aber nur, weil sie deine einzige Tochter ist und ich sein einziger Sohn . . .« So lächerlich es klingt, ich habe mich immer vor diesem Sohn geängstigt. Er ist nicht gekommen, er wird nicht kommen, er existiert ja gar nicht! Und wenn er auch existierte, wenn er käme – wie Josefa heute ist, müßte er sich die Flügel verbrennen, nicht sie!

Dabei kommt mir dieser Rin wieder in den Sinn. Merkwürdig – gerade wenn ich so recht sehnsüchtig nach meinem Kinde ausschaue, dann geht er ganz gewiß vorüber. Von meinem Fenster sah ich ihn schon dreimal. Und auch neulich in der Dresdner Heide – ich wollte sie abpassen und begegnete ihm. Er grüßte mich wieder nicht. Eigentümlicher Mensch! Ich blieb doch stehen und sah ihm nach. Es gibt eigentlich nichts, was mir irgendeinen Gedanken wecken könnte. Der eine blond und hübsch, der andre brünett und häßlich – höchstens die Gestalt, die hohe, schöne Gestalt . . . Aber das sind ja Torheiten! Selbst wenn jener Mann, der brutal ehrlich jedem, der es wollte, bekannte, daß ohne Weiber und Wein das Leben gerade nur noch den einen Pistolenschuß wert sei – mir hat er ja freilich auf Knien geschworen, daß er für mich jeder Entsagung und jeder Sünde fähig sei. Aber das sagt man so im Liebesrausch. – Also, wenn jener Mann wirklich einen natürlichen Sohn hätte, der hieße doch anders und wäre anders. Und dieser Herr Rin hier ist alles andre als ein natürlicher Sohn!

Was kümmert mich der fremde Mensch? Ich denke wieder an mein Kind. Ich hab's so schlecht gemacht, und hab's doch so von Herzen lieb!


Eigentlich hab' ich doch wirklich in ihr, was ich erfleht: das Gegenteil von mir, eine unbedingt zielbewußte Natur, die gleichgültig über alles hinwegsieht, was nicht diesem Ziele dient. Aber welches ist dieses Ziel? Sie hat eins, und ich möchte es nicht einmal kennen! Wenn es ihr wirklich genügt, völlig unnahbar zu werden, selbst der Mutter, um dann eisig und einsam auf gleichgültiger Höhe zu stehen, so muß ich es eben tragen, was auch mein Herz dagegen spricht, und mich dankbar dabei bescheiden: daß es ein kaltes und ein warmes Glück gibt, und wohl ihr, daß sie wenigstens das kalte Glück so früh fand!

Als ich sie bat, bei mir zu wohnen, und hinzufügte: »Du wirst alles genau so finden wie in deiner Mädchenzeit,« da antwortete sie mir liebenswürdig kühl: »Lieber nicht, Mama! Ich bin doch nun einmal kein Mädchen mehr.«

Als ich später von einer Ueberraschung sprach, von ihr lieben Menschen, die sie gern wiedersehen würde, verzog sie nur die Lippen: »Ueberraschungen? Die lieb' ich gar nicht. Mit wem könntest du mich auch überraschen? . . . Und liebe Menschen? Die könnt' ich dir an den Fingern herzählen. Eine Hand genügt über und über.«

Darauf hab' ich ihr natürlich die Namen genannt. Sie wiederholte noch nachlässig: »Quedenbergs, die Ingen, Gräfin Bären . . . Ja, wenn du sie bereits gebeten hast, dann selbstverständlich, Mama! Aber ich sage dir gleich, ich bin meiner Gesundheit wegen hergekommen und will weder Bekanntschaften machen noch erneuern.«

Mich hat's gewurmt. Ich wollte alles rückgängig machen. Sie litt's aber nicht. Sie sagte: »Man soll nie einen Schritt zurücktun, auch den gleichgültigsten nicht! Darin habe ich mich geändert, Mama. Wenn ich früher an einem Bettler vorbeiging, ohne zu geben, kehrte ich unfehlbar an der nächsten Straßenecke um und gab doppelt. Jetzt kehr' ich unfehlbar nicht um.«

Das mit dem Bettler hat mir wirklich weh getan. Wie gab sie doch immer so überreich und so von Herzen! Ich mußte immer vernünftig wehren. Und wenn sie sieche Menschen sah, namentlich elende Kinder, dann schleppte sie mir das ungezieferstrotzendste Gesindel unfehlbar ins Haus, vergeudete ihr Taschengeld, schmeichelte mir Gott weiß was ab. Im Stromeradreßbuch waren wir sicher mit einem Stern ausgezeichnet! Und sie konnte so leidenschaftlich erregt sein im Moment, wenn ich fest blieb, zum Beispiel, als ich die kleine Schwindsüchtige nicht gleich adoptierte, sondern sie im Waisenhaus unterbrachte, wo sie bald darauf gestorben ist. Und dann belehrte ich sie und erzählte ihr, wie Gott uns selbst vorschreibe, unter unsern Pfunden auch den Reichtum verständig anzuwenden, auch die besten Impulse zu zügeln. Sie hörte klug zu und dankte es mir. Aber dann konnte sie doch gleich wieder nachdenklich sagen: »Du, Mutter, ich weiß doch nicht . . . Beim Impuls bin ich immer so glücklich, ich könnte etwas wirklich Gutes tun, weil ich dann so gar nicht an mich denke. Aber wenn du mir den Impuls auch noch so liebevoll dämpfst, Mama, – ich weiß wohl, daß du recht hast, – aber mir ist dann immer, als beschnittest du mir die Flügel. Und, denk mal: Wenn ich nun mal fliegen möchte, hochfliegen, und könnte nicht! . . .«

Ach, das waren schöne Zeiten! . . . Und wenn ich auch immer vor diesem Impuls gebangt habe, weil er Unheil anrichten könnte, wenn ich ihr auch die Flügel in aller Liebe immer mehr beschnitt, so habe ich doch nur das Beste gewollt, das Beste. Und nun hat sie gar keine Flügel mehr! Wie sie neulich dem Betteljungen, der hinter dem Wagen herlief, die Mark hinwarf – es war nicht hübsch, wie sie's tat. Als wenn man etwas Lästiges abschüttelt.


Gestern der Tee, an den sich ein kaltes Büfett schloß.

Meine Wohnung ist bis auf meine höchst persönlichen Zimmer im Jugendstil eingerichtet, in den ich alte Frau mich nicht mehr ganz hineinzufinden vermag. Zu viel bizarre Laune, gewollte Opposition. Ich glaube, das muß sich erst noch auswachsen zu einem eigentlichen Stil. Uebrigens auch mütterliche Schwäche, diese Einrichtung! Ich dachte dabei mehr an den verwöhnten Geschmack derjenigen, die diese Villa mal erben wird.

Jedenfalls, als die ganze Zimmerflucht in dem weichen elektrischen Licht flammte, alles kokett, voll spielender Eigenart, da sah ich doch recht, wie nur meine hyperelegante Josefa zu diesem bizarren Luxus stimmt. Sie trug Terrakottaplüsch mit Genter Spitzen. Sie sah wirklich wunderhübsch aus; groß, schlank, biegsam, ganz Weltdame, mit dem schmalen, regelmäßigen Gesicht, den heut eigentümlich verschleierten Augen. Die andern sahen ja auch gut aus, namentlich die Quedenberg mit ihrer scharfen, blonden Distinktion. Sie war in schwerer Moiréseide. Die Ingen fiel dagegen etwas ab in dem hechtgrauen Tailormade, das sich an den Hüften bereits zu frauenhaft rundet.

O, ich sehe noch sehr scharf! Aber im Alter macht dies scharfe Sehen keine Freude mehr. Wir haben uns längst abgeschliffen im Laufe der Jahre und mögen darum des Lebens harte Linien auch nicht bei andern. Die Ampelecke, in die wir uns zurückgezogen, ganz mein Geschmack. Gedämpftes Licht, gedämpfte Farben, gedämpfte Worte. Wir sprachen über alles und nichts. Die wirklich gute Gesellschaft verlangt das. Mit wenig kommen, mit noch weniger gehen. In der Jugend empört man sich anfangs dagegen, weil's verlorene Zeit scheint; im Alter ist das gerade recht, weil man so gut danach schläft. Ich hatte mich ein wenig zurückgesetzt im Fauteuil, weil mir die Augen etwas weh taten im Licht. Aber ich will ja auch bloß noch Zuschauer sein und Hörer in diesem Leben. Die beiden jungen Frauen unterhielten sich nur höflich, nachdem sie einen Moment sondiert hatten.

»Sie stehen jetzt in Hannover, Baronin?«

»Ja, liebe Gräfin, und es steht sich sehr nett dort!«

Das ist so eine allerdings etwas schwächliche Probe.

Ich wunderte mich, daß sie so formell waren. Mein Gedächtnis wird auch alt. In Wiesbaden hatten sie sich doch damals mit dem Vornamen genannt. Der gute semmelblonde Graf, der immer noch die höfliche Null ist, stöbert natürlich überall nach Wappen. Ich versprach ihm das Angernsche, das Gundingensche. Er hat beide schon, und engagierte sich leider für das andre, das über meinem Schreibtisch hängt, und das sonst niemand auffällt: den blauen Fluß im roten Feld. Es war mir einmal teuer, und auch heut bewahre ich noch die Erinnerung treu. Als ich wieder die ausgestorbene freiherrliche Familie nannte, die zwar niemals dieses Wappen geführt hat, die ich aber immer angegeben habe, so daß mir die Wahrheit wie Lüge vorkommen würde heut, sah mich die Quedenberg einen Moment scharf von der Seite an. Was weiß sie? Was kann sie wissen von einem Geschlecht, das wohl tatsächlich nicht mehr existiert? Und als ich auf Biskra kam und auf Josefas Tagebuch, das ja leider nie geschrieben worden ist, – es war nur eine ganz scherzhafte Anspielung, – da traf mich ein so stechender Blick von meiner Tochter, daß ich mitten im Satz innehielt. Was kann in Afrika vorgegangen sein – was?

Ich lehnte mich wieder in meinen Fauteuil zurück. Mir wurde auf einmal angst. Denn wie ich mir die beiden Frauengesichter länger ansah, die so offen scheinen und vielleicht so verschlossen sind, da sah ich's von Zeit zu Zeit kalt um Jeanette Quebenbergs blasse Lippen zucken, und Josefas Nasenflügel bebten leise, aber unausgesetzt. Wenn die beiden am Ende sich gar nicht liebten, sondern haßten, Todfeinde, von denen jeder dem andern jedes Schlimmste gönnt? Die beiden Männer können dabei keine Rolle spielen, aber vielleicht ein Mann, der Mann, den es in jedem Frauenleben einmal geben soll. Mir wurde ganz heiß bei dem Gedanken. Mütter sind immer blind, und Töchter immer Komödianten!

Aber kaum war er aufgetaucht, da versank er auch schon wieder, dieser unnatürliche Argwohn. Ich hörte wieder die Unterhaltung fließen, ruhig, sicher. Nein, eine wie große Schauspielerin auch diese bigotte Blondine sein mag, mein Kind war sein Lebtag vielleicht zu wenig Schauspielerin!

Ich glaube, ich bin sehr unhöflich gewesen gegen die andern Damen: die Gräfin, die immer wieder von einer Krippe anfing, und das junge Mädchen, das wahrscheinlich so gern von ihrem Bräutigam erzählt hätte. Die Unterhaltung hatte auch gar nicht die Neigung, allgemein zu werden. Erst als endlich die Gräfin, die eine energische Proselytenmacherin ist, ihre Krippe durchsetzte, begann die Schlacht. Mir war's höchst langweilig, die christlichen und gemeinnützigen Bestrebungen der zwei aufgezählt zu sehen.

»Nicht wahr, liebe Gräfin Quedenberg, wie sich das geändert hat in den nunmehr zwei Jahren, in denen wir gemeinsam wirken? Und dieser Diakonus, nicht wahr, diese Tiefe, diese Innigkeit! Mit geht das Herz auf, wenn ich das sonore, volle Organ höre. Er soll ein einfacher Mann sein. Sehr gut! Gerade an den einfachen Männern fehlt es in unsrer Kirche, die mit uns hinabsteigen in die Hütten der Armen. Ich bin Wachs in seinen Händen.«

Die Quedenberg antwortete darauf mit kühler Ueberlegenheit: »Ja gewiß, Gräfin Bären, das stimmt schon. Nur daß es eigentlich umgekehrt sein sollte. Der Geistliche ist Wachs in Ihren Händen, Sie aber beim besten Willen nicht in den seinen.«

»Aber, Liebste, Beste, das bin ich doch auch!«

»Nein, Frau Gräfin, das sind Sie nicht!«

Es entwickelte sich im Nu eine fast erregte Debatte, der ich innerlich doch etwas kopfschüttelnd zuhörte. Das sind ja im Grunde harte, herrschsüchtige Menschen, die glauben und wohltun nur um ihrer selbst willen!

Josefa saß anfangs wortlos dabei und sah bald die eine, bald die andre an. Ich glaube, sie war mit ihren Gedanken ganz wo anders. Auch während sich die Gemüter allmählich erhitzten, verzog sie keine Miene. Es ist doch lehrreich, wie sich die Frauen bei solchen Gesprächen verschieden entpuppen! Fräulein von Ingen bekannte sich zu ganz ketzerhaften Anschauungen, behauptete, daß es gar nicht darauf ankomme, was man gäbe, sondern warum man gäbe, nicht darauf, was einer bete, sondern aus welchem Herzen er bete. Bei dem letzten Wort lächelte Josefa eigentümlich. Da wurde das junge Mädchen erst recht ketzerisch. »Ja, lachen Sie nur, Frau von Lasowitz! Ich kenne Leute, die äußerlich so viel wohltun und innerlich so geizig sind, und Frauen, die alles glauben und gar nichts!« Es war beinah peinlich.

Und Josefa antwortete nur freundlich verwundert: »O, ich lächle etwa nicht über Siel Ich gebe Ihnen mein Wort, ich lächelte über ganz etwas andres. Ich gehöre weder zu Ihren falschen Gläubigen, noch zu Ihren falschen Wohltätigen. Ich kenne beide, und mag beide nicht.« Sie wandte sich mit einer laschen Handbewegung an den ganzen Kreis: »Uns trifft doch das alles nicht! Denn wer von allen, die hier sitzen, würde ernstlich behaupten, daß er wirklich gläubig oder wirklich wohltätig sei, er sei denn ein infamer Heuchler?«

Ich habe mein Kind eigentlich nie so leidenschaftlos scharf sprechen gehört. Es galt sicherlich niemand aus unsrer Gesellschaft. Die Gräfin mit der Brille lächelte ganz unbefangen, und die Quedenberg lächelte auch. Aber es war doch kein echtes Lächeln.

Wenn ich's mir recht überlege, so war das letzte, was Josefa sagte, doch eigentlich peinlich offen, aber es erinnerte mich doch wieder an ihre Jugend, wo sie immer gleich Partei war. Wie lange habe ich mich bemüht, ihr das abzuerziehen! Jetzt, wo sie sich's aberzogen hat selber, da freue ich mich von Herzen, daß es doch nur schlummert.

Quedenbergs und die Wohltätigkeitsgräfin gingen früh, was mir nicht unlieb war. Das sind beides nicht meine Leute. Die Ingen blieb, weil Josefa sie aufforderte, welche Form bei den andern Herrschaften sie mir überließ. Mag ich nun schlichter veranlagt sein, als ich erzogen bin, mir wurde erst jetzt wohl. Wir haben sogar noch einmal Hummern zu essen angefangen wie ganz gewöhnliche Leute, denen der Appetit kommt, wenn sie ungeniert sind.

Die Ingen sang ein paar Lieder hübsch, anspruchslos. Josefa applaudierte.

Später wanderte auf meinen Wunsch das Biskraalbum. Es sind mir alles so liebe, vertraute Bilder – Wenn ich denke, daß mein Kind unter den gleichen Palmen gewandelt ist, von der nämlichen Sonne beschienen, von dem gleichen Oasenhauch geliebkost! Auch die Wüste kann unmöglich so trostlos einsam sein wie unsre Vorstellung. Schrieb doch Josefa noch in dem letzten Brief vor ihrer Krankheit, daß sie die Wüste liebe wie das Meer, ja noch viel mehr. Und wie hat sie immer das Meer geliebt! Die Krankheit scheint ihr alle angenehmen Erinnerungen geraubt zu haben, denn sie antwortet auf Fragen nach Afrika immer nur widerwillig. Aber in der Wüste erlebt man doch eigentlich nichts. Unmöglich kann ihr dort das Schicksal begegnet sein, das ihrem Charakter die ganz andre Richtung gab, oder ich müßte es wissen!

Zuletzt erzählte die Braut auch die Geschichte mit dem Kommissionsrat. Sie haben gänzlich gebrochen. Und warum? Es ist blamabel! Der alte Mann, dem ich immer nur das Beste zugetraut habe, ist plötzlich allzu liebenswürdig geworden, hat sie immer küssen wollen. Erst hat sie's geduldet. Dann hat sie's nicht mehr ertragen können. Und wie sie ihm das gesagt, hat er als Antwort ganz blöde vor ihr gekniet und ihr seine Liebe gestanden. Ich glaube gern, daß sie mit einem entsetzten Schrei aufsprang und auch nicht eine Minute ferner mit ihm allein blieb. Das mag alles hingehen. Es ist nur peinlich zu hören. Denn wenn der alte Mann Gefühle hegte, die nicht für sein Alter passen, so konnte er schließlich auch nicht dafür. Mir wurde übrigens bei dem Gedanken an solche Zärtlichkeiten geradezu übel! Aber daß er sofort von dem völlig mittellosen Mädchen, dem er früher goldene Berge versprochen hatte, die Hand abzog, das hat mich absolut abgekühlt gegen diesen Menschen. Denn das ist gemein! Nun kann ich mir alles erklären, auch die Verlobung.

Sie sagte selbst mit merkwürdiger Offenheit: »Ja, Frau Gräfin, ich kenne jetzt das Leben sehr genau und wie schwer sich das tägliche Brot verdient! Ich habe Jahr und Tag vom Sticken allein leben müssen – wie manche andre adlige Dame auch –, aber wie lächerlich wenig man damit verdient, das ahnen Sie wahrscheinlich gar nicht! Das Geld für hier bezahlt mein Bräutigam, dem's wahrhaftig auch nicht leicht wird! Dennoch fühle ich mich heut viel freier als damals. Ich habe dem alten Mann allen Schmuck zurückgeschickt, den er mir geschenkt, weil seine Kolliers mir den Hals verbrannt hätten, so sehr steigt mir die heiße Scham auf, wenn ich an diesen väterlichen Freund überhaupt denke.«

Ich bin niemals die Vertraute in solchen Herzensangelegenheiten gewesen. Ich denke überhaupt, daß unsereinem so etwas nie passieren kann!

Als die Ingen weg war, fragte ich Josefa interessiert um ihre Ansicht.

Sie antwortete gleichgültig: »Er war ein Parvenu und sie arm. Der Reichtum ist brutal, die Armut feige. Vielleicht hätte ich an ihrer Stelle den alten Kerl geheiratet.«

Ich hielt ihr den Mund zu. »So etwas hast du noch nie gedacht in deinem Leben, Josefa, und sprichst es aus?«

»Ich habe noch ganz andre Dinge gedacht, Mama – ganz andre Dinge . . .«

»Das hast du nie, – nie!« rief ich.

»Nie?« Sie sah mir gerade ins Gesicht, bis ich die Augen niederschlug. Dann sagte sie kalt: »Du bist ja auch auf deine Fasson selig geworden, und ich auf meine, laß doch andre Leute auch auf ihre Fasson selig werden!«

Ich ging unter einem Vorwand hinaus. Ich mußte, denn mir war das Weinen nahe. Mit bloßem Kopf promenierte ich im Garten. Es war feucht und kalt, und über dem Elbtal hing ein träger Dunstschleier. ›Das ist deine Tochter, das ist deine Tochter!‹ wiederholte ich mir immer wieder. Es war mir ja ganz klar jetzt, daß sie unglücklich ist, leidet. Mein armes Kind! . . . Aber die Maske, die sie trägt, lüftet sie nicht. Und wenn sie auch eine Maske tragen müßte vor aller Welt, vor ihrer Mutter müßte sie sich doch entschleiern! Warum vertraut sie sich mir nicht an? Das quält mich so! Was hab' ich getan, daß ich nicht mehr ihre Mutter bin und sie nicht mehr mein Kind?

Als ich nach einer halben Stunde wiederkam, hatte sie die Afrikabilder aufgeschlagen. Sie hörte mein Kommen gar nicht, und ich stand wohl fünf Minuten hinter ihr. Sie starrte unverwandt auf den Löwen – er liegt auf einer Felsklippe in der Wüste und sieht ins Weite. Ich habe mich immer gewundert, wie man den König der Tiere so in der Freiheit photographieren konnte. Sie bemerkte mich jetzt. Ich fragte: »Josefa, was ist das eigentlich für ein Löwe?«

»Ein blinder Löwe.« Sie schob die Bildermappe gleichgültig zurück.

Sie wandte sich nach mir um. War's der Unterschied des Lichtes drinnen und der Dämmerung draußen, sie schien mir auf einmal so tiefe Schatten unter den Augen zu haben. »Josefa, willst du nicht vielleicht lieber schlafen gehen?« fragte ich freundlich.

»Nein, Mama. Wenn du noch eine Stunde für mich übrig hast, bleibe ich. Ich könnte doch nicht schlafen.«

»Schläfst du überhaupt schlecht, Josefa?«

Da lächelte sie wieder. »Warum sollte ich eigentlich schlecht schlafen? Ich brauche überhaupt gar kein Sanatorium.«

Da konnte ich mich nicht mehr länger halten. Als sie aufstehen wollte, drückte ich sie in den Fauteuil zurück und küßte ihren lieben, weichen Mund und flüsterte beinahe flehend: »Josefa, hab doch Vertrauen!«

»Und wenn ich's hätte? . . .«

Sie sprach nicht weiter und wollte sich sanft von mir losmachen, aber ich ließ sie nicht. »Josefa, du bist unglücklich in deiner Ehe.«

»Wer sagt dir das? Ich erinnere mich niemals auch nur die leiseste Andeutung der Art gemacht zu haben.«

»Aber du bist es, Kind, du bist es, vielleicht ohne es selbst zu wissen . . . Ach, wenn ihr doch ein Kind hättet!«

Und da machte sie sich so ruhig, aber so zwingend von mir frei, daß ich sie lassen mußte, und sagte mit einer Bestimmtheit, die mir eisig über den Rücken lief: »Mutter, wenn du mich liebhast, sprich niemals mehr von diesem Kinde!«

Aber eine Mutter, die ihr Kind liebt, begibt sich nicht so leicht. Ich sagte darauf bestimmt: »Josefa, jetzt weiß ich, daß du unglücklich verheiratet bist!«

Sie zuckte nur die Achsel und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Endlich sagte sie: »Bist du glücklich verheiratet gewesen?«

Ich zuckte doch innerlich zusammen und antwortete darum vielleicht sofort: »Natürlich, Kind. Aber so was fragt man doch nicht seine Mutter! . . .«

»Dann fragt man's auch nicht seine Tochter.«

Mir sanken die Hände: »Josefa, was ist aus dir geworden?«

»Was du gewollt hast, Mutter.«

Dann sah ich ihr eine Weile wortlos nach, wie sie langsam auf und ab ging. Ich verstehe sie doch nicht . . . Das Thema soll nie mehr zwischen uns berührt werden.

Gegen Mitternacht begleitete ich sie selbst in ihre Villa. Wir unterhielten uns liebevoll, leise, als wollten wir uns gegenseitig etwas abbitten. Als sie die Haustür aufgeschlossen hatte, küßte sie mich zärtlich und sagte, den Mund an meinem Ohr: »Mutter, du mußt dich nicht unnötig sorgen! Es sind wohl alles nur Nerven. Ich bin ganz glücklich verheiratet. Wenigstens wüßte ich nicht, wie's besser sein könnte. Sieh mal, ich bin doch schon fünf Jahre Frau, also beim besten Willen nicht mehr Phantastin. Nach fünf Jahren, da ist die Liebe nicht mehr so heiß.«

»Törichtes Kind! Du bist doch noch so jung.«

Auf dem Rückwege machte ich mir klar, daß sie recht hat. Das war wohl so etwas Schuldbewußtsein. Mir war übrigens noch gar nicht nach Schlaf zumute. Ich ging in den Sanatoriumanlagen spazieren, die eigentlich auch schon Dresdner Heide sind. Vieles ging mir durch den Sinn. Ich lüge nicht gern. Warum log ich eigentlich heute, und so leicht? . . . Denn was auch geschehen ist – meinen Mann habe ich nie geliebt, aber den andern habe ich geliebt, von Herzen! Daran ändern vierzig Jahre auch nichts.

Ich hatte noch eine häßliche, ja grausige Ueberraschung gestern bei dem Nachtspaziergang. Es war, wie gesagt, neblig, und jeder Baumstamm starrte unheimlich wie ein lauernder Vagabund. Ich glaube auch ganz gewiß nicht an Gespenster, und müßte doch eigentlich daran glauben! Denn plötzlich stand vor mir wie aus dem Boden gewachsen dieselbe hohe, düstere Gestalt, die mich schon neulich im Loggiazimmer genarrt. Ein Mann im Mantel, den Kragen hochgeschlagen, genau wie vor vierzig Jahren. Vom Gesicht nichts zu sehen, nur die Augen leuchteten, die heißen, bösen Augen, die ich hinter jeder Vermummung wiedererkennen würde. Ich sank buchstäblich in die Knie. Im Augenblick war die Gestalt auch schon verschwunden. Aber sie lebte, ich höre noch den langen, leichten Schritt verhallen! Es kann natürlich nur ein Phantom gewesen sein. Aber, wenn es sein Schatten wirklich war? . . . Die längst entschwundene Gestalt, die meinem Herzen nichts mehr ist, nichts mehr sein könnte, macht meinem Kopf Grauen. Er pflegte Wort zu halten bis zur Hölle . . . Ist der Tag der Rache nahe?


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