Fritz Mauthner
Hypatia
Fritz Mauthner

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9. Die Pyramide des Cheops

In der ersten Aufwallung hätte der Statthalter wohl den Entschluß gefunden, das Gesetz und die Würde des Staates dem Erzbischof gegenüber zur Geltung zu bringen. Er berief aber seine höchsten Räte zusammen, und das Ergebnis einer stundenlangen Besprechung war, daß offene Härte gegen einen Kirchenfürsten nicht angebracht sei, daß man das Übergewicht der Staatsgewalt auf diplomatischem Wege wiedergewinnen müsse.

Orestes sah wohl ein, daß er auf diesem vorsichtigen Wege von dem rücksichtslosen Kyrillos jedesmal überholt würde. Er hoffte aber immer auf einen Wechsel in der Stimmung oder gar in der Regierung von Konstantinopel. Seit hundert Jahren kokettierten dort die Kaiser und die Kaiserinnen mit dem Christentum. Aber das schloß nicht aus, daß seit hundert Jahren die Christen bald gestreichelt, bald geprügelt wurden, die Kirche bald erhoben, bald gedemütigt. Freilich hatte das Prügeln und Demütigen, wenigstens im Orient, seit einiger Zeit aufgehört. Aber sollte man deshalb glauben, daß diese ganz merkwürdige Bewegung ernsthaft die Einrichtungen des römischen Reiches ändern würde? Unsinn! Rom und die römischen Damen waren ja nicht pedantisch. Sie waren allen ihren zwölf Göttern nicht gerade treu gewesen, trotzdem der verwandlungsreiche Jupiter und der kennenswerte Herakles sich unter ihnen befanden. Die römischen Damen hatten schon damals ganz gern einmal zu einer geheimnisvollen Gottheit aus dem Osten gebetet. So war einmal der stierköpfige Serapis in die Mode gekommen, und dann der Sonnengott aus Asien und endlich die Gottesmutter, die Kybele. Und jetzt war das Kreuz Mode und eine andere Gottesmutter. Aber das blieb nicht, das ging vorüber.

Der Statthalter hatte nur die Pflicht, inzwischen so wenig wie möglich von den Rechten des Staates preiszugeben. Er wollte von Kyrillos lernen und den Kampf mit allen Mitteln führen. Vielleicht konnte er dann auch den Kyrillos selbst unter seine Räder werfen. Wenn nicht er, tat es gewiß ein künftiger Statthalter des Kaisers mit dem künftigen Bischof.

Vorläufig wurde der Streit um die Judenstadt lebhaft aufgenommen, und es konnte kein Zweifel darüber sein, daß die Staatsgewalt von Tag zu Tag mehr zurückgedrängt wurde. Der Statthalter ließ Plakate anschlagen, nach denen allen Juden Leben und Eigentum gewährleistet wurde, und der Erzbischof sprach in einem Briefe an den Bischof von Rom seine Mißbilligung über Mord und Plünderung aus. Beides aber verhinderte nicht, daß die wohlhabenderen Juden unmittelbar nach der Mordnacht eiligst die Alexanderstadt verließen und sich irgendwo auf der weiten Welt eine neue Heimat suchten. Ihnen schien der halbe Schutz des Staates und der Brief des Erzbischofs nicht zu genügen. Der Statthalter ließ die Judenstadt militärisch besetzen und befahl sogar, daß Handel und Gewerbe ungestört weiter gehen sollten. Aber Handel und Gewerbe wollten sich nicht wieder erholen. Die Besitzer der geplünderten Läden machten so rasch wie möglich zu Geld, was sie verkaufen konnten, und flohen. In den Gassen, die der Plünderung entgangen waren, schrie Ausverkauf neben Ausverkauf seine Waren aus, und täglich gingen Karawanen nach Osten und Schiffe nach Norden mit Handelsleuten und feineren,, den Transport lohnenden Waren. Militärische Patrouillen sollten namentlich für die nächtliche Sicherheit der Judenstadt sorgen; aber allnächtlich gab es kleine Plünderungen und Mord und Totschlag. Dem Erzbischof ließ sich eine Beteiligung an allen diesen Dingen nicht nachweisen. Es war der gemeine Pöbel, der die Judenstadt für vogelfrei hielt und von dieser Freiheit Gebrauch machte. Wenn ein betrunkener Trupp im Matrosenviertel seine Zeche nicht mehr zahlen konnte, so zog er dorthin und ließ sich in einem leerstehenden Judenhaus nieder, oder er warf wohl auch zunächst die Menschen aus einem bewohnten Hause hinaus. Dann holte man aus dem nächsten Laden die nötigen Möbel und was man zum Essen und Trinken brauchte. Und weil die Ladenbesitzer nicht zur Stelle waren, schlug man eben die Türen ein und hatte zum Bezahlen keine Gelegenheit.

Wohl durchstreiften Patrouillen unaufhörlich die Straßen. Aber es war merkwürdig, niemals erhielt die Behörde die Anzeige von einer Unordnung, außer am nächsten Tage von dem Geschädigten; niemals schritt die Wache zu einer Verhaftung. Und die verzweifelten Juden erzählten dem ersten Beamten, daß die Patrouillen zu allen Verwüstungen lachten, daß die Soldaten aus den erbrochenen Läden selbst holten, was ihnen gerade gefiel, und daß die Juden sich bei Nacht nicht mehr auf die Straße trauten, aus Angst vor den Matrosen und vor den Wachen.

Orestes wollte immer nur Beweise gegen den Erzbischof und gegen dessen Umgebung sammeln. Aber da war nichts zu finden. Seit der großen Brandnacht, wo die Gesellen der heiligen Brüderschaft und wo Mönche an der Spitze des Pöbels gestanden hatten, waren diese frommen Leute die Vertreter der Ordnung. Sie trieben sich bei Tage viel in der Judenstadt umher und halfen ganz tadellos den verschüchterten Juden ihr Hab und Gut versilbern. Sie trugen zu der Panik sehr wesentlich bei, weil sie täglich zur Eile mahnten und vor den nahen Festzeiten, vor dem Karneval und vor der Osterwoche, warnten. Dann würden die Mönche aus der Thebais und die wilden Einsiedler aus dem Wüstengebirge kommen, das seien lauter arge Judenfeinde, in deren Nähe kein Hebräer seines Lebens sicher sein würde. Diese Gerüchte waren wohl nicht ungefährlich, denn der Pöbel bemächtigte sich ihrer, glaubte an eine nahe bevorstehende letzte und gründliche Judenhetze und beeilte sich gerade darum, den wilden Einsiedlern so wenig wie möglich übrig zu lassen. Aber zu fassen waren die Mönche und die Gesellen der heiligen Brüderschaft doch nicht, denn ihre Warnungen waren vielleicht gut gemeint und gewiß nicht unbegründet.

So sah der Statthalter trotz seines hohen Schutzes die Judenstadt schnell veröden. Er wechselte mit den Bataillonen und dann mit den Regimentern, denen er die Wache anvertraute. Es half nichts. Die Offiziere zuckten die Achseln; alle Soldaten schienen die Gefühle der frommen christlichen Männer zu teilen. Ebenso machtlos war der Statthalter gegen die großen Getreidespekulanten, welche jetzt, wo die Juden auch von der Börse verschwanden, plötzlich die Brotfrucht verteuerten und gleichzeitig jede Ausfuhr einstellten. Mit den alten, wohlbekannten Getreidefirmen hatte der Statthalter sonst unterhandeln können. Die Leute, welche jetzt ihre Hand im Spiel hatten, waren nicht zu fassen und nicht zu sprechen. Orestes wußte ja, daß diese Spekulation von Kyrillos geplant war und den Römern und ihrem Bischof Verlegenheiten bereiten sollte. Er ahnte, daß Kyrillos dabei im Einverständnis mit dem Hofe von Konstantinopel handelte. Aber diese großen politischen Schachzüge störten ihn weniger als die Folgen, mit welchen die Teuerung in Alexandria selbst drohte. Prophezeiungen einer nahen Hungersnot gingen von Mund zu Mund. Der Nil würde in diesem Jahr das Land nicht überschwemmen, schreckliche Zeiten, schreckliche Ereignisse stünden bevor.

Und so befand sich Volk und Regierung plötzlich vor dem alten ägyptischen Karneval, welchen der Pöbel von jeher nicht nur mit ausgelassenen Aufzügen, sondern auch mit ernsthaften Unruhen zu feiern pflegte.

Unmittelbar vor dem Karnevalsfeste erschien zu allem Unglück ein mindestens gefährlicher Hirtenbrief des Erzbischofs. Der Hirtenbrief wurde an alle Kirchentüren Alexandrias angeschlagen, was freilich keine große Wirkung hervorgebracht hätte, er wurde aber auch von allen Kanzeln verlesen. Das bischöfliche Schreiben wandte sich zuerst nach einem Muster, das der Bischof von Rom kürzlich eingeführt hatte, mit Bann und Acht gegen die Ketzer, welche die Glaubensformen der alten Konzilien nicht bis auf das Pünktchen auf dem »i« anerkannten. Buchstäblich bis auf das Pünktchen auf dem »i«. Die versprengten Reste der Arianer, welche nach Meinung des Kyrillos immer noch nicht ausgerottet wären und sich heimlich unter der Parteibezeichnung der Nazarener immer noch, selbst in seiner Provinz, aufhielten, wurden den Bestien der Wüste gleich geachtet und ihre Vertilgung zwar nicht von sterblichen Menschen, aber von bewaffneten Engelscharen erwartet. Dann ging der Hirtenbrief auf die drohende Hungersnot ein, von der wie von einer unausbleiblichen Sache gesprochen wurde. Aus Bibelstellen und aus Träumen frommer Männer war die Prophezeiung geschöpft. Und ohne die Juden zu erwähnen, warf der Bischof doch den Feinden Gottes in durchsichtigen Worten vor, daß sie durch ihre Maßnahmen auch die Feinde der Menschen geworden seien. Endlich aber forderte er jeden guten Christen auf, nicht nur durch Gebet, sondern auch durch irdische Waffen die Geißel des römischen Reiches zu zerreißen. Die Ausdrücke waren allgemein gehalten. In Konstantinopel und in Rom konnte man es so deuten und sollte man es auch wohl so verstehen, als ob der Erzbischof von Alexandria einen Kreuzzug gegen die ketzerischen und barbarischen Deutschen predigte, welche jetzt Italien überfluteten und dem Weltreiche der Cäsaren ein Ende zu machen drohten. Ein patriotischer Hirtenbrief. Aber der Pöbel von Alexandria kümmerte sich nicht um Rom und um die Deutschen und verstand es falsch. Die Geißel aller Provinzen, besonders die Geißel Ägyptens waren die Juden und die letzten griechischen Sophisten, und wer die mit irdischen Waffen bekämpfte, der erwarb sich den Dank der Kirche und einen guten Platz im Himmel.

Nicht nur die Juden zitterten vor den Karnevalstagen, auch die gute griechische Gesellschaft der alten Makedonierstadt suchte der bevorstehenden Unruhe aus dem Wege zu gehen. Wer irgendeine Villa in Zephyrion oder an einem entfernteren Strande hatte, der bezog sie schon jetzt. Viele Beamte gingen auf Urlaub, und auch die Akademie machte Ferien.

Alexander Jossephsohn, dessen Familie nach Italien geflüchtet war, hatte argwöhnisch zuerst geraten, Hypatia für die Zeit des Karnevals aus der bedrohten Hauptstadt zu entfernen. Synesios hatte natürlich Kyrene oder doch irgendein Seestädtchen seiner Pentapolis als Ausflugsort vorgeschlagen. Er hatte sogar seine hübsche Segelbarke in den Hafen von Alexandria kommen lassen und sie Hypatia und den Freunden zur Verfügung gestellt. Hypatia aber weigerte sich, die Fahrt anzutreten. Die Entfernung sei zu weit, sie müsse unmittelbar nach dem Karneval ihre Vorlesungen wieder aufnehmen.

Da rückte nach Erlaß des Hirtenbriefes am Abend vor dem Karnevalsbeginn Troilos mit dem Vorschlage hervor, den lang geplanten Ausflug nach den Pyramiden zu unternehmen. Von Flucht, von einer Gefahr war nicht die Rede. Hypatia willigte ein, als Wolff sagte, er hätte die berühmten Pyramiden noch nie gesehen und würde sie gern in solcher Gesellschaft besuchen. So wurde denn beschlossen, daß man am nächsten Morgen aufbrechen sollte, so früh wie möglich. Außer der Schiffsmannschaft sollte die Barke noch die vier Freunde, Hypatia, deren Fellachin und eine junge Dienerin aufnehmen. Auf sein dringendes Flehen durfte endlich auch ein kleiner brauner Eseljunge mit, der sein Amt erst vor kurzem angetreten hatte und der sich zur Akademie rechnete, seitdem Hypatia sein Tier zu besteigen pflegte.

Da das Schiff ohnehin für so auserlesene Gesellschaft gerüstet war, konnte eine Nacht genügen, um die letzten Vorbereitungen zur Nilfahrt zu vollenden und noch all den Komfort unterzubringen, den Troilos für Hypatia oder für sich erforderlich glaubte. Mit Sonnenaufgang sollte die Barke im Binnenhafen an der Einfahrt zum Nilkanal bereitliegen.

Es war aber doch schon um die neunte Stunde des Vormittags, als die Gesellschaft mit dem Packen der letzten Reisesäcke fertig war und in zwei Wagen nach dem Ankerplatz aufbrach. Fröhlich schien der Ausflug zu beginnen wie eine richtige Spritzfahrt von Studenten. Wenn Hypatia schon in den Straßen Alexandrias so heiter dreinblickte, wie wird sie erst ihre Wunderaugen leuchten lassen während der Nilfahrt nach den Wunderbauten!

Als die Wagen aber den Korso kreuzen wollten, mußten sie Halt machen, denn eben zogen zwei stattliche Gruppen des Fastnachtszuges durch die Mittelallee nach dem Versammlungsplatz. Große Volksmassen hielten die Bürgersteige besetzt und freuten sich, die schönen Veranstaltungen so früh schon zu sehen. Und die Teilnehmer des Zuges waren munter genug, die Späße wie zur Probe auszuführen, welche für den Umzug am Nachmittag geplant waren.

Der erste Zug stellte das römische Kaisertum dar. Voran ritt auf einem weißen Reitkamel ein Kuttenträger, der die Kirche bedeutete. Der zerrte an hanfenem Halfter ein Eselein hinter sich her, und auf dem Eselein saß verkehrt eine drollige Figur, die der Kaiser sein sollte. Ein Zwerg, von Kopf bis zu Fuß mit einer glänzenden Rüstung bedeckt, aber den Kopf in einer Schlafmütze. Die linke Hand, die sonst das Szepter trug, hielt eine Rute und war auf den Rücken gebunden. Die rechte Hand hielt den kurzen Kreuzgriff eines Schwertes, aber die eigentliche Schwertklinge hielt der Kuttenträger auf dem Kamel auf einem Purpurpolster vor sich hin. Karikaturen der einzelnen Waffengattungen und Regimenter der römischen Armee folgten. Außer der Spottfigur des Kaisers machte den Zuschauern nichts so viel Spaß, als der Scherz auf ein nordisches deutsches Regiment. Die paar Leute waren vollkommen als Bären verkleidet und stimmten, anstatt zu singen, einen unartikulierten Bärenbrummchor an. Es war ein Hauptspaß.

Hinter diesem Zuge wäre für die Wagen freier Raum gewesen, aber Hypatia wünschte selbst noch die zweite Gruppe zu sehen, die eben herankam. Schon aus der Entfernung winkte von einem phantastisch geschmückten Wagen eine hohe Gestalt, weiß vom Kopf bis zu Fuß, und Troilos, der diese Bräuche am besten kannte, vermutete gleich, es sei eine Darstellung der Nilbraut. Jedes Jahr wurde zu diesem Feste aus Werg und schlechten Fetzen eine riesige Puppe in Weibergestalt angefertigt, unter allerlei unflätigem Hohn durch die Straßen geführt und bei Nacht in den Nilkanal gestürzt. Dunkle Legenden erzählten, daß vor Zeiten der Nil seine fruchtbare Überschwemmung versagte, wenn ihm nicht alljährlich eine lebendige schöne Jungfrau geopfert wurde. Wie dem auch war, jetzt schien sich der alte Fluß mit einer Puppe und mit ausgelassenen Redensarten zu begnügen. Alljährlich aber an diesem Tage und in dieser Nacht bemächtigte sich des Pöbels etwas wie die wilde Erinnerung an die alten Blutopfer, und vorsichtige Väter hüteten sich, ihre jungen Töchter in diesen Stunden den Blicken der Menge preiszugeben.

Der Festwagen rollte heran, von hundert Tänzerinnen in grünen Flußnymphenkleidern umgeben. Auf dem Wagen schwankte die Nilbraut näher. Ein Dutzend Männer, mit Masken vor dem Gesicht und in der Kleidung alter ägyptischer Opferpriester, umgaben die Gestalt, schwangen blitzende Opfermesser und stießen sie von Zeit zu Zeit in die hohle Puppe. Der Pöbel jauchzte auf.

Von den Freunden erkannte Alexander zuerst, was die Veranstalter des Festes gewagt hatten. Das war der Einfall eines Mönchs! Die Nilbraut war eine Karikatur der Philosophin Hypatia. Das weiße Gewand, das ihr faltenlos bis zum Gürtel ging und von da bis an die Knöchel niederfiel, war schon gut nachgeahmt. Noch deutlicher war die Art, wie das schwarze Haar der Puppe auf dem Hinterkopf in einen einfachen Knoten geschlungen war. So trug das Haupt in ganz Alexandria nur die Philosophin. Die Gesichtsmaske der Puppe war zu schlecht gearbeitet, als daß irgendwelche Ähnlichkeit zu erkennen gewesen wäre. Aber die Künstler des Festzugs hatten dennoch über ihre Absicht keine Zweifel gelassen. Die riesige Puppe hielt in der linken Hand ein großes steifes Blatt, darauf stand zu lesen: Kaiser Julianos. Und in der Rechten schwebte zitternd ein langer Rohrstock, wie ihn die Lehrer in den untersten Schulen führten.

Der Einfall fand ungeteilten Beifall. Die Anspielung auf Hypatia weckte überall Heiterkeit. So zog die Gruppe langsam vorüber.

Als auch Troilos die Bedeutung der diesjährigen Nilbraut erkannte, stieß er einen Fluch aus. Hypatia fragte, was es gäbe. Schon hatte aber Wolff die Lage erfaßt und fuhr mit gleichgültigen Bemerkungen dazwischen. Hypatia sollte nicht erfahren, womit man sie schmähte und bedrohte. Aber vom anderen Wagen winkte Synesios, der dort den beiden Dienstmädchen alles erklärte, lebhaft herüber und schien durch seine Gesten Hypatia auf die Ehre aufmerksam machen zu wollen, die ihr widerfuhr. Wolff wollte auch diese Winke unschädlich machen, aber Hypatia lächelte und sagte ruhig:

»Mögen sie mich doch ertränken, wenn ich nicht dabei bin. Laßt doch den Gecken ihren Spaß.«

»Welchen Gecken?« fragte Troilos scharf.

Alexander ersparte ihr eine Antwort, da er begeistert ausrief: »Daß doch alle die Philosophin hören könnten! Eine Sokratessa!«

»Und damit die Ähnlichkeit vollständig sei, hat sie sich einen Xanthippos ausgesucht,« rief Troilos.

Hypatia brauchte auf die arge Neckerei nicht zu hören. Denn eben entstand hinter dem Wagen der Nilbraut eine Lücke, und die Kutscher beeilten sich, über den Korso hinweg in stillere Gassen zu gelangen. Jetzt erst wurde Hypatia vom Pöbel erkannt. Von allen Seiten flogen spöttische und derbe Redensarten herüber. Man werde sie heute nacht schon finden. Aber das alles war nicht gerade bös gemeint, und die Wagen wurden nicht aufgehalten. Erfreulich war das ganze Abenteuer aber nicht, und Hypatia dankte ihren Freunden dafür, daß sie sie zu der Flucht aus Alexandria überredet hatten.

Das Schiff stand schon lange segelfertig, und wenige Minuten nach der Ankunft der Wagen ging es langsam, doch bei gutem Winde in den Kanal hinein.

Bald lag die Alexanderstadt weit zurück, und schon begann Hypatia, die auf dem Verdeck in einem Langstuhl halb saß, halb lag, den Neuling Wolff gelehrt auf die Pharaonenbauten vorzubereiten, als sich noch ein Teilnehmer meldete. Ein Schrei wie von einem unartigen Kinde, das mitgenommen werden will, gellte aus der Luft nieder, und schneller als der Wind flog mit steilausgestreckten Beinen und mit trotzig vorgeschobenem Schnabel der Marabu hinunter und heran. Alles lachte; der Philosophenvogel ließ sich herabfallen und stellte sich mit einem Beine auf die Spitze des Klüverbaumes. Dort kraute er sich mit dem anderen Fuße den langen Hals, verzog schmollend und tiefgekränkt den Schnabel und steckte endlich den Kopf ärgerlich zwischen die Schultern.

Die Kanalfahrt war eintönig und wurde nur durch das muntere, kenntnis- und geistreiche Geplauder der Gesellschaft belebt. Hypatias Dienerschaft hatte genug damit zu tun, in der Kabine des Fräuleins alle bequeme Dinge so zu ordnen, wie sie es wünschte, und die Schiffsküche in Ordnung zu bringen. Die Mannschaft unter dem tüchtigen schwarzen Steuermann war mit unaufhörlichem Geschrei achtsam, auf dem schmalen Wege mit keinem der entgegenkommenden Fahrzeuge zusammenzustoßen.

Niemand störte die Unterhaltungen über die Weltanschauung der Pharaonenzeiten. Nur Synesios, der sich als Wirt fühlte, unterbrach das Gespräch von Zeit zu Zeit mit Fragen nach den Wünschen seiner Gäste und mit Anpreisungen des Schiffes und der mitgenommenen Vorräte. Es war gut gemeint und bewies eine erfreuliche Sorge für das Irdische, das die Freunde zu vergessen schienen. Aber diese wurden dennoch ungeduldig, und Hypatia konnte schwer ein Lächeln unterdrücken, als Troilos den verwunderten Synesios mit dem Namen Xanthippos anredete. Als Synesios endlich eine Erklärung erhielt, gegen diese Vergleichung protestierte und sein hübsches Gesicht beinahe so schmollend verzog, wie der schlafende Marabu seinen Schnabel, rief Troilos übermütig aus: »Du irrst, edler Gastfreund, der Name Xanthippos ist für dich höchst ehrenvoll. Wie ein Tempel nicht in die Höhe ragen könnte ohne ein Stück Erde, worauf er steht, wie die Augen eines Menschen nicht leuchten würden ohne die guten Speisen, die sein Magen verdaut, wie der Vogel nicht fliegen könnte ohne die Luft, die er mit seinen Federn verdrängt, und das Boot nicht schwimmen könnte ohne das Wasser, welches die Ruder fortstoßen ... Willst du noch weitere Beispiele hören? Wie der Reiter vom Kamel herunterfliegen würde – nein, Synesios, das Kamel bist du nicht, das Kamel ist die gemeine Welt – du bist bloß der Sattel –, also wie ein Reiter ohne Sattel, wie ein Fisch ohne Gräten – wahrhaftig, er muß Gräten haben –, kurz und gut, da du mich verhinderst, meinen Witz auf einem Kamel ohne Sattel zu Tode zu reiten: wie Ägypten ohne Nilschlamm wäre Sokrates ohne Xanthippe gewesen, und darum meinte wohl auch unsere Sokratessa, sie müßte sich ..., na, wähle dir unter den Vergleichen den aus, der dir am besten gefällt.«

Synesios versuchte sich zu verteidigen. Aber unbarmherzig fielen Troilos und Alexander über ihn her und bewiesen ihm schlagfertig, daß er in jeder Beziehung der alten Xanthippe ähnlich sei, am ähnlichsten, wenn er jetzt gar zu zanken anfangen wolle.

Hypatia und Wolff saßen stumm daneben.

Plötzlich rief die Philosophin: »Laßt den törichten Vergleich! Ich kann mir aber wohl vorstellen, daß Sokrates für seinen hohen Beruf eine Gefährtin wählte, die bescheidener war als Platon –,« und sie blickte auf Alexander –, »bescheidener als Aristippos –,« und sie blickte auf Troilos –, »und Alkibiades!« Und lachend warf sie dem Marabu einen so schelmischen Blick zu, daß der Philosophenvogel darüber aus seinem Brüten auffuhr und versöhnt mitten zwischen die plaudernde Gruppe stelzte.

So wurde Eintracht und Heiterkeit wiederhergestellt, und Synesios fuhr fort, die übrigen durch seine gutmütigen Aufmerksamkeiten zu stören.

Gegen Abend wurde die Nilschleuse erreicht und nach einem halbstündigen Kampf der Schiffsmannschaft mit unzähligen schwarzen und braunen, nackten und halbnackten Bootsknechten, die dort um die Zufahrt in den Nil und aus dem Nil stritten und kämpften, und wobei es zehnmal zu einem Handgemenge zu kommen schien, glitt endlich die Barke die Schleuse hinab in die braunen Wellen des ewigen Flusses. Ein frischer Nordwind blies, alle Segel wurden gehißt, und herrlich schwimmend flog das gute Schiff stromaufwärts dem Wunderlande zu.

Noch zwei Tage und zwei Nächte dauerte die köstliche Fahrt. Ohne Schrecken und ohne Abenteuer. Hypatia blühte auf wie ein junges Mädchen. Tagsüber mit den Freunden zwang sie sich zu maßvoller Heiterkeit. Aber abends hörte man sie mit den Mägden noch lange plaudern, und des Morgens scholl es aus der Kajüte vergnügt wie das Erwachen von Kindern. Die kleinen Ereignisse der Reise fanden die Philosophin immer neugierig und immer glücklich. Das erste Krokodil und das erste Nilpferd wurden begrüßt, als ob es sich um ein hübsches Vögelchen gehandelt hätte. Und als am ersten Nilfahrttage gegen Sonnenuntergang am sumpfigen Ufer eine dichte Schar von Flamingos ihre Purpurfedern blähten und hinter ihnen einige hochbeinige Marabus ihre kahlen Köpfe wiegten, wie wenn sie die schönen Farben der Rosenvögel mißbilligten, als Troilos dieses Schauspiel mit einem gewissen Hörsaal der Akademie verglich, als Hypatias Marabu bei dem Anblick seiner Verwandten zuerst erregt die Flügel hob und dann mit großer Selbstbeherrschung im Innern der Kajüte verschwand, durch die Tür aber noch einen schielenden Blick nach den ungebildeten Vettern hinüberwarf, da gab es Gelächter auf dem Schiff. Kräftig und laut lachten die Männer und beinahe zum letztenmal hörte Wolff das Lachen Hypatias, das wie ein Silberglöckchen dazwischenklang, und sah ihre dunkeln Wunderaugen in Kinderlust sich öffnen.

Ohne Zwang kehrte aber das Gespräch immer wieder heiter zu ernsten Dingen zurück, und Wolff und Hypatia trugen fast allein die Kosten solcher Unterredungen. Denn unwillkürlich kam es zu Religionsgesprächen und nur sie beide nahmen an diesen Fragen innerlichen Anteil. Synesios faßte sein Bekenntnis dahin zusammen, er wisse zwar nicht warum, aber Religion müsse einmal sein, wenigstens für die ungelehrte Masse. Alexander meinte, er wieder wisse nicht, warum Religion sein müsse. Und Troilos begnügte sich damit, Religion sei immer gewesen und werde immer sein. So kaltsinnig hatten die drei kaum ein Verständnis für die Sehnsucht der Griechin und des Nazareners, sich selbst zur Klarheit durchzuringen und den anderen zu bekehren.

So eng fühlten sich die beiden in ihrem über die Erde hinausfliegenden Streben zueinander gehörig, daß sie selbst auf dem kleinen Raum des Schiffes es verstanden, viel allein zu bleiben. Besonders in den ersten Morgenstunden, wenn die übrigen unter der Leitung des Synesios sich mit einem endlosen Frühstück beschäftigten oder auch wohl in einem kleinen Boote, das mit der Barke durch ein langes Tau verbunden war, sich mit Angeln und Schießen die Zeit vertrieben, besprachen sich Hypatia und Wolff über die Götter, über die Geheimnisse der menschlichen Willensfreiheit und über die Fragen des jenseitigen Lebens.

Zu Anfang der Fahrt hatten beide geglaubt, in allen diesen Dingen durchaus Gegner zu sein, und Hypatia sowohl als Wolff hatten ihre Religionsgespräche mit dem heiligen Eifer von Missionaren angefangen. Aber schon in der ersten Viertelstunde überzeugte sich die Lehrerin der Philosophie, daß Wolff kenntnisreicher und freidenkender war, als sie dem blonden deutschen Christen zugetraut hatte, und beinahe ärgerte sie sich jetzt darüber, daß dieser kecke Mund so gewandt mit ihr streiten konnte. Wolff wiederum, der die Philosophin bis jetzt wissenschaftliche Dinge nur vom Katheder aus hatte erörtern hören, staunte über die Anmut, mit welcher das Fräulein Professor ernste Plauderei zu lenken wußte. Da war ja keine Spur von langweiligen Systemen, von gelehrtem Hochmut und von Formelkram. Das war ja köstlich.

Der Nazarener und die Griechin waren von vornherein in einem wichtigen Punkte einig. Beide glaubten an die Ewigkeit und Selbstherrlichkeit der Naturgesetze und wußten, daß sie wie alle Menschen ihr Denken und Tun im Banne von ehernen Schienen vollzogen. Beide hatten sie die neuen Schriften des Bischofs Augustinus gelesen, beide staunten über die Tiefe, mit welcher dieser außerordentliche Mann die Seelen durchschaute, und beide lächelten über den kindlichen Sinn, der von dieser Tiefe aus den lieben Gott so ganz genau zu kennen glaubte. Nicht ganz so einig war Hypatia mit Wolff über ihr jenseitiges Leben. Wolff mochte tun, was er wollte, er wurde die Vorstellung seiner Knabenjahre nicht los. Er gestand der gelehrten Freundin ganz offen, daß der Himmel seiner christlichen Brüder gar anders aussehe als der seinige. Er sah den Himmel immer von einem rüstigen, freundlichen Helden beherrscht und sah sich an dessen Tafel gewaffnet unter gewaffneten Königssöhnen den Kampf um das Tausendjährige Reich erwarten. Und weil sich seine eigenen Himmelsvorstellungen von denen seiner Brüder unterschieden, so waren sie ihm kein Bekenntnis, nur ein schöner Traum, und er war nicht geneigt, die Anschauung Hypatias zu bekämpfen. Auch sie mußte zugeben, daß die jenseitige Welt ihr nicht scharf umrissen vor Augen stand. Eines nur war ihr gewiß, daß das Streben nach oben, daß der unauslöschliche Durst nach dem Ideal nicht getäuscht werden könne. Empor! In diesem Worte allein faßte sie ihren Glauben zusammen, irgendwo und irgendwie einmal reiner, göttlicher, geistiger weiterzuschweben, dieses Glaubens bedurfte sie. Alle Trübungen mußten schwinden. Die Trübung durch das Geschlecht hörte dann wohl auf, und Männer und Weiber verloren, was die Freundschaft befleckte. Die Trübung durch das Alter schwand und jugendlich schön flatterten wie Schmetterlinge die Seelen durch die Ewigkeit. Oder auch: die Trübung durch Leidenschaften und die Trübung durch den Geist des Zeitalters löste sich auf und die Seelen schwammen auf rosigen Wolken glücklich dahin, allwissend und darum ohne Drang nach Einzelkenntnis, allliebend und darum liebelos, und nur wo zwei sich fanden, die auf Erden miteinander gerungen hatten, in unerreichter Liebe oder in vermeintlichem Haß, da schwebten ihre Geschwisterseelen wie ein Weißes Taubenpaar von Sphäre zu Sphäre, selig, ewig, eins. Träume! Träume!

Hypatia und Wolff lächelten eines über des anderen Traum und blickten einander traumverloren an, bis eines verwirrt die Augen schloß und das andere mit annoch getrübter irdischer Seligkeit dreinschauen konnte und selbst die Augen schloß, wenn das erste aufblickte.

Träume! Hypatia sagte es zuerst, wie töricht die Menschen doch seien, sich um solcher Glaubensvorstellungen willen zu bekämpfen. Wie Kinder töricht wären, wenn sie um ihrer verschiedenen Träume willen raufen wollten.

Aber die Frage der Götter war ernsthaft. Um der Götter willen wollten sie sich bei den Köpfen kriegen.

In den Abendstunden, wenn das Heer der Sterne illuminierend am Himmel aufzog, so hell und so nahe, daß Wolff diesen lustigen Dom immer wieder mit dem Dunst des nordischen Himmels vergleichen mußte, in den dämmerigen Abendstunden, wenn die Genossen beim Nachttrunk verweilten oder einander mit Jagdgeschichten belogen und aufzogen, und nur ab und zu eines der Mädchen heranschlich und kopfschüttelnd ein paar Worte aus den Gesprächen der beiden Sterngucker aufnahm, in den stillen Abendstunden einigten sich Hypatia und Wolff, wie sie glaubten, über Freiheit und Unsterblichkeit. Und es war eine seltsame Wirkung so tiefsinniger Gespräche, daß Hypatia danach mit ihren Mädchen und mit dem Marabu Kinderpossen trieb und daß Wolff die halbe Nacht auf dem Verdeck blieb und den fernen Gestirnen zutrank, weil er doch nicht schlafen konnte.

In den hellen, glücklichen, frischen Morgenstunden aber, da balgten sich Wolff und Hypatia um ihre Götter. Doch auch da war die Wirkung des theologischen Gefechts so seltsam, daß Hypatia bei solchen Kontroversen einige Schnadahüpfeln aus den deutschen Alpen lernte. Das aber war nur Beiwerk. Die Hauptsache blieb das gelehrte Rüstzeug.

Wolff war eigentlich der Angreifer. Er spottete über die menschlichen und oft noch schlimmeren Neigungen der olympischen Götter und zwang Hypatia, einen Stützpunkt nach dem anderen zu räumen. Natürlich waren für sie die hübschen Legenden von Zeus und Aphrodite und der ganzen übrigen Sippschaft kein Glaubensdogma. Sie verbat sich den Ausdruck Göttergesindel, aber sie gab zu, daß mit diesem Olymp wirklich nicht viel mehr anzufangen war. Sie fühlte sich ein wenig gekränkt, wenn Wolff über die heidnischen Priester lachte, die gedankenlos und stumpfsinnig den alten Götterkultus noch trieben, wo die kaiserlichen Beamten es nicht verhinderten. Dafür sei sie, sagte Hypatia, den christlichen Kaisern dankbar, daß sie den äußerlichen Opferdienst vernichtet und das Griechentum rein auf seine geistige Kraft gestellt hätten. Nun könne man, wenn man nicht ein solcher Unband war wie Wolff, den Griechen mit den olympischen Gassenjungenstreichen nicht mehr kommen und nicht mit einem seelenlosen Dienst. Die alten Griechengötter seien doch nur als Personifikationen unbekannter Naturkräfte zu betrachten, und die Ahnung, daß überall hinter diesen schönen Göttern etwas Festes, unverrückbar Großes stand, sei doch auch den alten Dichtern nicht fremd gewesen. In Athen sei zuerst der Altar des ungekannten und ungenannten höchsten Gottes errichtet worden, das sei der Gott Platons und Hypatias, der wahre Gott.

Ob es auch gewiß ein griechischer Gott gewesen sei?

Da wurde Hypatia ein wenig zornig, wenigstens schoß ihr das Blut in die Wangen. Und rachsüchtig ging sie zum Angriff über. Was denn Wolff von seinem Gott mehr wisse? Ob der Gott, zu dem er gebetet, nicht auch ein ungenanntes und ungekanntes Wesen sei? Ob der Zimmermannssohn ihm mehr sei als das edelste und reinste Kind dieses ungenannten hohen Wesens, und ob der Nazarener denn den Sohn dem Vater gleichstelle? Wolff wurde kleinlaut, und beide schwiegen, und beide machten böse Gesichter und beide freuten sich, daß sie vielleicht zu dem gleichen ungenannten Wesen aufblickten. Wer böse Gesichter machten sie doch, wenigstens solange die Sonne schien. Bei Sternenlicht nahm das Gesicht eines jeden wieder einen freundlicheren Ausdruck an.

Am dritten Morgen der Nilfahrt standen zwei Pyramiden am südwestlichen Horizont. Nun war nicht mehr von der Zukunft die Rede. Die Vergangenheit, die Pharaonenzeit beschäftigte wieder alle Gedanken und die Gegenwart alle Hände. Selbst die Mannschaft freute sich, in dem heiligen Bezirk einige Ruhetage verbringen zu können, und die Ferienreisenden blickten mit frohen Gesichtern ihrem Ziele entgegen. Der Wind hatte sich nach Osten gedreht; aber nach drei Stunden Arbeit und einigem Kreuzen war die Barke an Ort und Stelle. Beinahe hätte es im letzten Augenblick noch ein Unglück gegeben. Beim Ausladen fiel der Eseljunge ins Wasser, und er wäre fast ertrunken, wenn Hypatia nicht die ganze Mannschaft zu seiner Rettung herbeigetrieben hätte. Da der arme Bursche aber endlich doch wieder herausgezogen wurde und wenige Minuten später schon auf dem Kopfe stand, was einen Akt der Dankbarkeit gegen seine Retterin bedeuten sollte, so konnte die kleine Karawane munter ihre Landreise beginnen.

Nun zeigte sich Synesios in seiner ganzen Größe. Es war und blieb ein Rätsel, wie er es zustande gebracht hatte, seine Boten der schnellen Barke vorauszuschicken. Er lachte nur selbstbewußt und gab keine Aufklärung. Genug, am Ufer standen Esel und Treiber und Träger und Führer in Menge bereit, als ob es sich um den Empfang einer Fürstin gehandelt hätte. Wirklich mochte der schlaue Synesios den Dienst des Zeichentelegraphen, der sonst nur im Staatsdienst den Stand des Nil zu melden hatte, mißbraucht haben, denn jetzt erschien auch die Ortsbehörde, und Hypatia wurde als Fürstin, ihre Begleiter als gnädigste Herren begrüßt. Später mußte sich Synesios wegen dieser List Vorwürfe machen lassen; aber um den Spaß nicht zu stören, nahm Hypatia alles mit freundlicher Hoheit entgegen. Die Szene dauerte nicht lange. Bald setzte man sich in Marsch, die Herren auf Kamelen, die Mädchen auf Eseln, und Hypatia von ihrem eigenen Eseljungen geführt. Der hatte einen der einheimischen schwarzen Burschen niedergeboxt, als der sein Amt bei Hypatia üben wollte.

Doch die Fürsorge des umsichtigen Synesios war noch lange nicht zu Ende. Das Programm war mit Kennerschaft entworfen und wurde fast zu gewissenhaft ausgeführt. Mittags an derselben Stelle, wo die Begleiter ihre Maisfladen an einem Wüstenfeuer buken, stand wie auf einem Tischleindeckdich ein Imbiß für die Herrschaften bereit, und abends fanden sie sich wie zufällig vor einem Doppelzelt mit einem bequemen Gemach für die Weiber und einem Feldlager für die Männer.

Auch die angeworbenen Gelehrten und Priester erwiesen sich als sehr nützlich. Synesios, der die Landessprache vollkommen beherrschte, machte den Dolmetsch, und auch Hypatia konnte sich mit einigen Worten in die Unterhaltung mischen. Die Leute verstanden Hieroglyphen zu lesen und gaben die schönsten Geschichten und Legenden zum besten.

Am zweiten Nachmittag der Landtour bestieg die ganze Gesellschaft zum Schrecken der abergläubischen Treiber die große Pyramide des Cheops. Auf Wunsch Hypatias sollten alle Erklärer unten bleiben. Dort oben wollte sie ihre Kenntnisse nicht vermehren. Allein mit ihren Freunden kletterte sie mühsam hinauf. Nur Wolff durfte sie unterstützen und sie da und dort über einen hohen Quaderstein heben.

Auf dem Gipfel der Pyramide stand sie inmitten ihrer Freunde lange schweigend da. Irgendwo in der Wüste sank die Sonne rötlich zum Horizont herab, als wollte sie fern im Meere untertauchen. Synesios öffnete den Mund und wollte einige Ziffern über die Höhe und Breite der Pyramide zum besten geben. Doch auch er verstummte, da Troilos ihm zuflüsterte: »Blamier' dich meinetwegen, aber stör' uns nicht!«

Lange blieben sie so. Dann schritten Alexander und Troilos die kleine Plattform ab und blickten sehr aufmerksam ins Niltal hinab. Troilos brummte etwas vor sich hin, was Alexander nicht verstand. Aber er fragte nicht. Synesios kletterte geschäftig wieder einige Stufen hinab und machte seinen Leuten allerlei Signale.

Wolff und Hypatia standen am nördlichen Rande der Plattform dicht nebeneinander. Hypatia lehnte sich schwindelnd an seine Schulter. Dann sank sie in die Knie und weinte eine recht lange Zeit ganz vernehmlich vor sich hin. Endlich stand sie auf und reichte Alexander und Troilos die Hand. Den Christen Wolff blickte sie nicht an.

»Nicht wahr, hier oben ... hier oben ist man nicht dumm, ist man nicht unpassend? Mein armer Vater!...« Sie weinte wieder ein bißchen und lächelte dann wieder.

Ob man unten gesehen hatte, daß sie sich die Augen trocknete, oder ob man die Bewegung falsch verstand, da sie die Arme sehnsüchtig nach Norden ausstreckte, das ist schwer zu sagen. Genug, plötzlich stürmte der Marabu, welcher mit der Besteigung der Pyramide höchst unzufrieden gewesen war, wie ein ungeschickter, langer Mensch gegen die ersten Stufen heran. Neben ihm sprang und kletterte der Eseljunge empor. Man konnte von oben die winzigen Gestalten kaum unterscheiden. Nur Wolff nahm wahr, daß der Marabu einmal verwundert stehen blieb, sich mit dem rechten Fuß den Kopf kraute und plötzlich auf den Gedanken zu kommen schien, daß er doch fliegen könnte. Aber nicht geradeaus flog er zum Gipfel empor, sondern immer umkreiste er den kletternden Jungen. Und da mußten auch die anderen lachen, als der Eseljunge dem Gipfel nahe war und der Marabu ärgerlich kreischend dem kleinen Nebenbuhler noch einen derben Schnabelhieb den Rücken hinunter versetzte.

Die beiden Gesellen wurden freundlich empfangen; der Vogel erhielt ein gutgemeintes Kopfstück und dem Eseljungen erklärte Troilos die Pyramide, indem er Organ und Manier des Synesios nachahmte.

Doch inzwischen hatte dieser eine sinnige Überraschung ausgeführt. Auf der Westseite der Pyramide, wo man gegen den Abendwind geschützt war und die Sonne in der Wüste untergehen sehen konnte, auf einer der mittleren Stufen der Pyramide, hatte der Reisemarschall Teppiche ausbreiten und Polster hinlegen und ein kleines Bankett herrichten lassen. Das Pharaonengrab solle nicht durch eine Mahlzeit entweiht werden; aber eine Libation für die Manen des toten Königs könne Gott und Menschen nicht verletzen.

Langsam und etwas aus der Stimmung gebracht, suchte Hypatia an Wolffs Hand den Weg nach abwärts, aber der Abstieg war noch schwieriger als der Aufstieg, und so machte man auf halbem Wege wohl oder übel von dem Einfall des Freundes Gebrauch. In die Polster zurückgelehnt lagen die Freunde da. Zwei zur Rechten Hypatias, zwei zur Linken; der Wein hob denn doch die Geister, und der Sonnenuntergang war schön.

»Jetzt kann ich wieder sprechen,« sagte Hypatia, die einen kleinen Schluck genommen hatte. »O... es war zu groß. Es ist schauerlich, die Ewigkeit so leibhaftig zu begrüßen. Jetzt muß ich an den Bischof Augustinus denken, der leugnet, daß die Zeit etwas Wirkliches sei.«

»Das ist doch ein Unsinn,« bemerkte verwundert Synesios.

Alexander aber, dem der Wein rasch zu Kopf gestiegen war, sagte lebhaft:

»Hypatia, darf ich Ihnen etwas erzählen, ein Märchen, das ein Urahn von mir gedichtet haben soll und das die Mutter mir oft erzählte, als ich klein war? Es handelt von Zeit und Ewigkeit, wie ich glaube, vielleicht auch nur von törichter Liebe.«

Er wartete die Antwort nicht ab; schnell nahm er noch einen großen Schluck und begann:

»Es war einmal ein tapferer Knabe, der war hinter die Schule gelaufen, denn er wollte nichts lernen, sondern wollte Schmetterlinge fangen und Pfeile nach den Tieren des Waldes abschießen. Zur Übung nach den großen, zur Jagd nach den kleinen. Da sah er auf einer Wiese einen Vogel, so schön, wie er noch nie vorher einen geschaut hatte. Wie schwarzer Samt glänzte sein Köpfchen, wie weiße Seide schimmerte sein Leib und smaragden war sein Hals. ›Den will ich haben,‹ sagte er sich. ›Den will ich haben, den will ich!‹ Und er jagte den schönen Vogel. Der war nicht scheu und ließ den Knaben nahe herankommen. Dann flatterte er immer nur so weit, daß er dem Knaben nicht aus dem Gesicht kam und daß dessen Wille immer fester wurde. So lief der Knabe hinter dem weißen Vogel mit dem smaragdnen Hals und dem schwarzen Samtköpfchen her, den ganzen Tag. Da kamen sie beide an den Rand eines Waldes, der war über hundert Meilen breit, und man brauchte hundert Jahre, um ihn zu durchmessen. Der Knabe folgte dem schönen Vogel von Baum zu Baum, von Strauch zu Strauch, bis sie beide an das andere Ende des Waldes gelangten. Dort pfiff der schöne Vogel leise auf und hob sich und flog auf einen hohen Baum und setzte sich auf den äußersten Zweig und pfiff und nickte mit dem Samtköpfchen und drehte den smaragdnen Hals und putzte den silbernen Leib. Da wollte der Knabe seinen Willen haben und kletterte hinauf am starken Stamme und den starken Ästen und dann weiter, bis die Zweige immer schwächer wurden. Aber des Knaben Wille war stark, der Zweig brach und von dem Gipfel des Baumes fiel der Knabe herab und schlug sich tot. Und schlug seinen eigensinnigen Kopf mitten entzwei. Der schöne Vogel flog auf. – Und wieder nach hundert Jahren war von dem Knaben nichts übrig als einige schneeweiße Knochen, und etwas seitwärts lag das Rund des Schädels, das sein eigensinniges Gehirn gefaßt hatte, weiß und glänzend wie eine Trinkschale. Und es hatte tags vorher geregnet, und die Trinkschale faßte noch etwas Wasser. Rasch flog der schöne Vogel herbei und drehte den smaragdnen Hals und nickte mit dem Samtköpfchen und kam näher, vorsichtig und klug, und trippelte vor und zurück und hüpfte mit einem Satz auf den Rand der Trinkschale, um von dem Wasser zu trinken. Da mit eins kippte der Schädel und fing den schönen Vogel, der nicht mehr entfliehen konnte. So hatte der tapfere Knabe endlich, was er gewollt.«

»Ein wenig spät,« flüsterte Troilos. Dann schwiegen alle wieder, als erwarteten sie ein Wort Hypatias. Die aber blickte weit hinab, dorthin, wo die Sonne verschwunden war und über dem Horizont ein glühender Nebel aufstieg. Still war es, unerhört still. Die Menschen und Tiere, die Karawane am Fuße der Pyramide waren nicht zu hören, und auch die Wüste war still. Da räusperte sich Synesios und sagte:

»Der tapfere Judenknabe Alexanders hat die Ironie des Zeitbegriffs an sich erfahren, weil er körperlich wollte, was über Zeit und Raum erhaben ist. Hätte ein hellenischer Philosoph das Märlein ausgedacht und nicht ein jüdischer Rabbi, so hätte es wohl anders geklungen. Leicht begnügte sich ein weiser Schüler Platons damit, das seltene Vöglein geistig zu besitzen, und anstatt es körperlich mit Händen greifen zu wollen, fing er es gleich in der ersten Stunde mit seinem Kopfe ein, und da hauste es von Stund an und war sein, wie Geister einander gehören.«

Wolff lachte auf, und auch über Hypatias Lippen flog es licht. Troilos rief:

»Prost Mahlzeit, lieber Gastfreund! Du läßt wenigstens den anderen was übrig. Machst du es auf der Jagd ebenso? Du siehst ein Rebhuhn und nimmst es geistig in deinen idealen Ranzen auf; das Rebhuhn selbst kommt einst auf einen anderen Tisch.«

»Es ist nur,« sagte Alexander etwas zurückhaltend, »daß ich mich gern belehren lasse. Er hat vielleicht recht. Wenn der Schädel nämlich für den Vogel zu klein ist, so kann er ihm doch nur geistige Herberge geben. Und wenn sich Synesios einen zu großen Vogel wünscht, so ist Platon allerdings der beste Freund, und ich glaube, unser edler Reisewirt hat wirklich an einen Vogel gedacht, der in keinem Verhältnisse steht zu seinem schön geformten Schädel. Er liebt den Marabu!«

»Jawohl, den Marabu!« riefen laut Troilos und Wolff. Und schon meldete sich das Tier. Es hatte bisher mit dem Eseljungen allein den Gipfel der Pyramide innegehabt. Jetzt flog der Philosophenstorch schwer und langsam heran, aber er wandte sich sofort um, als unter ihm der Eseljunge die Talfahrt begann. Springend und hopsend, als ob ein Kieselstein einen Bergabhang hinunterstürzte, kam der Junge herab, dann setzte er sich wieder, wo die glatte Wand der Pyramide eine Strecke weit erhalten war, zur Rutschfahrt nieder und flog wie ein Pfeil hinunter. Mit dem Schnabel klappernd, mit den Flügeln schlagend, folgte ihm wütend der Marabu, und so schossen die beiden, wie ein Gassenjunge und sein erzürnter Schullehrer hinter ihm, nicht weit von der nachdenklichen Gesellschaft hinab.

Hypatia wollte die Neckereien nicht länger anhören und sagte zu Troilos:

»Spotten ist leicht. Wissen Sie nicht auch ein hübsches Märchen von Zeit und Ewigkeit?«

»Ich weiß kein Märchen.«

»So erfinden Sie eins.«

»Märchen erfindet man nicht. Aber erzählen kann ich, was ich sah und was ich sehe, die wahre Geschichte dieser Pyramide: Als Gott, der damals noch keinen Namen hatte, die Welt erschuf, da gab er jedem Menschen und jedem Tier, jeder Pflanze und jedem Sandkorn Freude mit auf den Weg, einem jeden das gleiche Maß von Freude und Genuß. Und er berief vor seinen Thron alle Geschöpfe und forschte zuerst, welches von ihnen das klügste sei und welches das dümmste. Da ergab es sich, daß der Mensch das klügste Geschöpf war, das dümmste aber das Weizenkorn, denn das Weizenkorn wuchs, um Brot zu werden für den Menschen. Als nun das gefunden war, da fragte der Gott, der keinen Namen hatte, ob das kluge Geschöpf mit seinem Maß von Freude länger leben würde oder das dumme. Und der Mensch wettete mit dem Weizenkorn, daß er mit seinem Maß voll Freude länger haushalten, daß er länger leben würde. Am jüngsten Tag nach Billionen von Jahren sollten die Parteien wiederkommen und den Richterspruch Gottes hören. Der Mensch aber war klug und verteilte die Freuden auf ein langes Leben von hundert Jahren. Und er verlachte das Weizenkorn, das in einem Sommer wuchs und starb. Aber der Mensch wußte nicht, daß der Genuß sich vom Leben nährt und das Leben von der Zeit. In der Kammer aber unter unseren Füßen ruht nicht der Leib von Pharaonen, wie ihr glaubt. Da ruht der Mensch und das Weizenkorn. Und der Mensch ist ein junges Weib, das einst im Alter von siebzehn Jahren selig gestorben ist, weil es den zugemessenen Anteil von Lust gierig getrunken hatte und fertig war mit seiner Zeit und mit seinem Leben. Das Weizenkorn aber berührte nicht eine Tauperle Wasser, es durstete, um nicht zu genießen, und schlief neben dem Mädchen scheinbar den gleichen Todesschlaf, denn es kennt das Leben nicht. Einst aber ... Die Pyramide wird dauern, sie hat schon drei Götternamen überdauert, und sie wird stehen, bis Gott, der Ewige, seinen letzten Namen von den Menschen erhält. Dann aber wird der jüngste Tag hereinbrechen, die Pyramide wird bersten, und vor das Totengericht Gottes werden das Mädchen und das Weizenkorn treten. Und das siebzehnjährige Mädchen wird Gott auch durch seine Allmacht nicht zu neuem Leben wecken können, das Weizenkorn aber wird aus eigener Kraft zu leben anfangen nach vieltausendjährigem Schlaf. Ich aber, meine lieben Freunde, bin leider als Mensch geschaffen und nicht als ein Weizenkorn, das schlafen kann unter den Füßen Hypatias.«

»Nicht!«

Abwehrend sagte das Hypatia und weiter kein Wort. Sie blickte aber in Wolffs Antlitz, und Wolff begann:

»Unter uns die Pyramide, und ihr sprecht von Leben und Sterben wie von großen Dingen. Hört. Es war eine Fee, die hieß Fata. Und weil sie sich reiche Weisheit und ein kaltes Herz gewünscht hatte, wurde sie verdammt, unendliche Weisheit zu besitzen und ein eisiges Herz. Sie wurde die Fee des Todes. Ihre Verzauberung aber sollte enden und sie sollte wieder ein Weib werden, wenn ein tapferer Jüngling sie von dem Fluche befreite. Doch niemand wußte, wie das geschehen könnte. Die Fee des Todes nahte mit ihrem unendlichen Wissen und ihrem eisigen Herzen dem tapfersten Jüngling der Griechen, der hieß Achilleus. Und sie sagte zu ihm: ›Ich bringe dir ewigen Ruhm, aber du mußt mir dein Leben dafür geben. So jung schon mußt du sterben.‹ Da flehte Achilleus und wollte noch leben. Sie aber küßte ihn auf die braune Stirn, und er starb. Und nach tausend Jahren trat die Fee des Todes mit ihrem unendlichen Wissen und ihrem eisigen Herzen vor den tapfersten Jüngling der Deutschen, der hieß Siegfried. Und sie sagte zu ihm: ›Ich bringe dir ewigen Ruhm, aber du mußt mir dein Leben dafür geben. So jung schon mußt du sterben.‹ Da lachte Siegfried und wollte gern kämpfen und sterben. Sie aber küßte ihn auf seine braune Stirn, und er starb. Und wieder nach tausend Jahren trat die Fee des Todes vor einen Jüngling, der war Deutscher und Grieche. Sie sagte ihren Spruch. Er aber faßte sie rund um ihren Feenleib und küßte sie auf den roten Mund und rief: ›Mit dir in den Armen ist Leben und Sterben nur eins. Da gibt es keinen Tod.‹ Da war die Fee des Todes aus ihrer Verwünschung erlöst und wurde wieder ein Weib. Und wenn sie nicht mehr leben sollten, so sind wohl beide gestorben.«

Lange schwiegen sie alle. Dann schauerte Hypatia zusammen; Synesios warnte vor einer Erkältung und mahnte zum Aufbruch.

Am Fuße der Pyramide fanden sie wieder ihr schönes Zelt, und sie plauderten noch bis tief in die Nacht hinein. Noch zwei Tage zogen sie so umher und schauten alles, was an Märchen und Rätseln übriggeblieben war aus der Zeit der Pharaonen. Durch eine Allee von Sphinxen wandelten sie nach einem Tempel und hörten darin das Gebet eines Zeuspriesters. Wieder in einem ägyptischen Tempel, von dessen Mauern alte tierköpfige Götter niederblickten, hörten sie die Predigt eines christlichen Mönches. Und am Ufer des Nils standen braune Fellachen, Christen und Heiden, und verrichteten die gleichen Opfer für ein gesegnetes Jahr.

Voll von Eindrücken kehrte die Gesellschaft am Abend des vierten Tages zu ihrer Barke zurück. In der letzten Stunde der Wüstenreise, als die weißen Kamele schon die Hälse ausstreckten nach dem heiligen Wasser, trat einer der Führer an Hypatia heran und bat um ihren Schutz. Er bitte um die Gunst, auf dem Schiff nach der Alexanderstadt mitgenommen zu werden. Er wollte dort wieder Christ werden und sein Wahrsagerhandwerk unter Christen ausüben. Synesios fragte ihn aus und man erfuhr die Geschichte eines wunderlichen Lebenslaufs. Der Ägypter war der Sohn eines Wahrsagers und selbst Wahrsager, Schlangenbeschwörer und Geisterbanner. Er war viel in der Welt umhergekommen. Zur Zeit des Kaisers Julianos war er in Alexandria Serapispriester geworden. Dann hatte er in Konstantinopel die Taufe angenommen, war mit den Mietsoldaten über die Alpen gegangen, hatte den Druiden bei ihren Opfern geholfen und war dann in Rom wieder Heide geworden. Die Gunst des furchtbaren Bischofs von Mailand hatte ihn wieder dem Christentum zugeführt. Dann war er im Gefolge von Alarich in Griechenland Arianer gewesen, und vor den Folgen einer jähzornigen Stunde war er bis hierher geflohen.

»Aber die Ägypter sind arme Teufel, sie können ihre Wahrsager nicht mehr ordentlich bezahlen. Ich möchte wieder Christ werden.« Hypatia fragte verwundert, ob er denn sein Gewerbe in allen Religionen auf die gleiche Weise treiben könne.

»Gewiß, hohe Fürstin,« sagte der Mann. »Dich kann ich ja doch nicht belügen. Ich habe gefunden, daß dieselben Künste bei allerlei Christen und Heiden und Juden beliebt sind. Ihre Götter haben sie doch nur für die Feiertage. Sonst wollen alle miteinander nichts als sich künftiges Glück prophezeien und von gegenwärtigen Schmerzen befreien lassen. Und das erste wenigstens tue ich redlich.«

»Der Kerl paßt in unser philosophisches Boot!« rief Troilos lachend. Und dem Wahrsager wurde seine Bitte erfüllt.

Die Einschiffung dauerte nicht lange. Im letzten Augenblick schlich sich der Ägypter mit einem Sack herbei. Die Freunde achteten seiner nicht. Einer der Schiffsleute aber faßte den Sack an und machte Lärm. Es sei etwas Lebendiges darin. Alles lief herbei, der Wahrsager fiel vor Hypatia auf die Knie und bat um Gnade. Der Sack sei angefüllt mit Schlangen, Giftschlangen, aber allen seien die Zähne ausgebrochen, man dürfe ihm sein Handwerkszeug nicht nehmen.

Erst sollte er gestehen, wozu er die Schlangen brauchte.

»Hohe Fürstin,« sagte er demütig, »kein Wahrsager findet beim Volke Glauben, wenn er nicht ein Schlangenbeschwörer ist. Die gewöhnlichen Schlangen aber glauben nicht an uns und kommen nicht auf unseren Ruf. Nur diese, meine gezähmten Tierchen, kommen auf meinen Pfiff herbei, weil ich ihnen ein paarmal eine Schale mit Milch gegeben habe. Seht nun, hohe Fürstin, wenn ich in Alexandria Schlangen beschwören soll, so muß ich doch erst meine eigenen Tiere in dem Hause verstecken. Mein Verdienst hängt davon ab. Glaubt nur, meine Herrschaften, bei Christen und Heiden und Juden können die Wahrsager nur die Schlangen hervorlocken, die sie selbst versteckt haben.«

Da wurde dem Manne und seinen Schlangen die Mitfahrt bewilligt und seine kleinen Künste erheiterten die Gesellschaft mitunter, während die Barke den heiligen Fluß hinunterschwamm. Glücklich und ohne Störung verlief auch die Rückfahrt.

Wieder hatten sie sich den Übergang vom Nil in den Kanal in stundenlangem Streit erkämpfen müssen. Jetzt aber zogen sie langsam in dem schmalen Fahrwasser hin und gewöhnten ihre Augen an die Einförmigkeit der Niederung. Noch waren sie eine tüchtige Strecke vom Binnenhafen Alexandrias entfernt, als der Steuermann ärgerlich nach etwas auslugte, was quer und unbeweglich im Kanalbett lag. Auch die Reisenden wurden aufmerksam. Sie beugten sich über Bord, um die schmutzige Masse zu erkennen. Es war die Nilbraut, die Puppe, das Ebenbild Hypatias, das man nach altem Brauch ins Wasser geworfen hatte.


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