Fritz Mauthner
Hypatia
Fritz Mauthner

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5. Ein Statthalter des Kaisers und ein Statthalter Gottes

Seit der Bischofswahl war die schöne Stadt Alexandria der Schauplatz von allerlei Kämpfen, welche bald auf offener Straße ausgetragen, bald durch Briefe und Depeschen zwischen der Provinzialhauptstadt und Konstantinopel geführt wurden, aber in dem einen wie dem andern Falle die ganze Bevölkerung lebhaft bewegten. Die beiden ersten Männer der Stadt, der Statthalter und der Erzbischof, stritten darum, wer Alexandria regieren sollte.

Die gebildete Bevölkerung, auch die christliche, stand mit ihrer Neigung zu dem kaiserlichen Beamten. Die Großväter der heutigen Bürger waren noch Zeugen gewesen der niederen Stellung und der bescheidenen Lebensführung der ersten alexandrinischen Bischöfe. Das waren damals einfache Vertreter des christlichen Proletariats gewesen, rücksichtslose, ehrliche, redegewaltige Männer, welche in öffentlichen Tagungen die Sache ihrer bedrohten Genossen führten, welche die Sammlungen für wohltätige Zwecke und für die Parteikasse leiteten und über die Verwendung Rechnung legten, welche endlich als die Ärmsten unter den Armen nichts besaßen als ihr nacktes Leben und dieses um der Idee ihres himmlischen Zukunftsstaates willen täglich der Verfolgung preisgaben. Es war für die Patrizier der Stadt kein erfreulicher Anblick, wie aus diesen hungernden Sendboten des Volks allmählich reiche und stolze Pfaffen geworden waren, wie dabei die Not der Mühseligen und Beladenen in keiner Weise nachgelassen hatte, die ehemaligen Proletarierführer aber sich blähten und dem Statthalter des Kaisers den Rang streitig machten. Wie gesagt, die gute Gesellschaft von Alexandria stand mit ihrem Herzen auf seiten des Statthalters Orestes, aber man gehörte nun einmal zu den Christen, und so mußte man sich in jedem Konfliktsfall schließlich doch der Ansicht des Kirchenfürsten unterwerfen.

Der Statthalter Orestes war mit seinen fünfundsechzig Jahren dem vierzigjährigen Kyrillos gegenüber im Nachteil. Der neue Erzbischof war ein Landeskind, war tätig und fanatisch. Orestes war kein Ägypter. Er stammte aus der angesehensten und reichsten Familie von Korinth und hatte seine Beamtenkarriere ziemlich rasch in einigen Küstenstädten Kleinasiens und dann im Kriegsministerium von Konstantinopel gemacht, bevor er in ziemlich jungen Jahren als Provinzpräsident und schließlich als Statthalter von ganz Ägypten einen Posten für Lebenszeit fand. Er liebte die Stadt, trieb in seinen Mußestunden archäologische Studien und war in dem heißen Lande nicht gern im Übermaß tätig. Es war nicht seine Meinung, sich ohne Zwang Arbeit aufzuhalsen. Sein Bureau erledigte die laufenden Geschäfte, und er selbst unterschrieb pflichtgetreu, was zu unterschreiben war. Doch in den zwanzig Jahren seiner Amtstätigkeit hatten ihn die Schicksale seiner Provinz nicht ein einziges Mal sonderlich aufgeregt. Er war sich bewußt, die Gerechtigkeit im Lande gewissenhafter zu handhaben als die meisten seiner Kollegen, und an Milde und Menschlichkeit sie alle zu übertreffen. Von Wichtigkeit war nur, daß man in Konstantinopel mit ihm zufrieden war und ihn nicht eines Tages zwang, aus Gesundheitsrücksichten seinen Abschied zu nehmen. Aber er kannte den Hof und die Residenz. Dort galt diejenige Provinz für die beste, von welcher man am wenigsten sprach, und es war sein Ehrgeiz, Ägypten zur besten Provinz des römischen Reiches zu machen. Dabei verstand es sich für Orestes von selbst, daß dem Kaiser würde, was des Kaisers war. Denn der ununterbrochene Fortbestand dieses römischen Reiches, das war auch für ihn der selbstverständliche Boden, auf welchem sein Leben ruhte, und dazu das Dasein ungezählter Millionen. Der Kaiser mochte ein wahnsinniger Mörder sein oder ein menschenfreundlicher Philosoph, das änderte für Orestes eigentlich gar nichts an dem Wesen des Staates. Ob in dem einen Fall ein paar hundert Köpfe abgeschlagen, ob im anderen Fall ebensoviel hundert Menschen für ihre Tugend belohnt wurden, das war recht gleichgültig, das änderte nichts an der Staatsidee, vor allem aber nichts an der mächtigen Staatsmaschinerie, in welcher er, der Statthalter von Ägypten, kein ganz unbedeutender Teil war. Mochte auch alles drunter und drüber gehen, mochte seit vierhundert Jahren kein Tag vergangen sein, ohne daß in irgendeinem Winkel des unermeßlichen Staates Krieg oder Revolution gehaust hätte, die römische Macht und Größe thronte dennoch unverletzlich und unverlierbar über dem zivilisierten Teil der Welt. Das heilige römische Reich gab allen seinen Bürgern, und natürlich in erster Reihe dem auserwählten Volke der Griechen, Gelegenheit, die Bestimmung des Menschen zu erfüllen: das Leben maßvoll zu genießen, dem Staate ohne Selbstvergessen zu dienen und Kunst und Wissenschaft mit einiger Leidenschaft zu betreiben.

Die Familie des Orestes war natürlich seit zwei Generationen christlich geworden. Nur unter der kurzen Regierung des Kaisers Julianos hatte sie wieder den alten Göttern geopfert. Orestes war Christ, so wie er an festlichen Tagen seine Uniform trug. Er zählte das Christentum zu seinen Pflichten, und zwar zu den gleichgültigen Repräsentationspflichten. Er wäre freilich des Sonntags lieber nicht zur Kirche gegangen, aber er schlummerte dort in seiner bequemen Loge fast noch ungestörter als in seinem Arbeitszimmer. Denn in seiner Dienstwohnung war doch eine Störung möglich, in der Kirche, während der Predigt, verbot sie das Gesetz.

Der vorige Erzbischof und dessen blutige Verfolgung der Andersdenkenden waren dem humanen Beamten recht lästig gewesen. Aber am Ende waren das alles innere Angelegenheiten der Kirche, in welche sich ein Staatsmann grundsätzlich nicht gern einmischt. Wenn diese christlichen Parteien nun einmal unverträgliche Götter hatten, so mochten sie den Streit untereinander ausfechten.

Und der christliche Statthalter schwur beim Zeus, daß diese Pfaffen doch den Teufel im Leibe hätten, sich so für ihre Götter zu erhitzen. Das war doch früher ganz anders gewesen, als die römischen Kaiserinnen, wenn sie Schnupfenfieber hatten, nacheinander von den Pfaffen aller Kulte Gebete sprechen ließen und schließlich – bis zum nächsten Schnupfenfieber – sich zu demjenigen Gotte bekannten, nach dessen Anrufung sie ihre Liebhaber wieder küssen konnten. Die alte, gute Zeit!

Orestes war darum recht unangenehm berührt, als der neue Erzbischof, der so treuherzig ein ehrliches Handinhandgehen zugesagt hatte – damals vor der Wahl –, nun plötzlich, kaum daß die Bestätigung aus der Residenz eingetroffen war, herrschsüchtiger und hochmütiger auftrat als sein brutaler Vorgänger.

Das erste war, daß der neue Erzbischof auf Grund angeblicher Stiftungsurkunden, die aber niemand mehr lesen konnte, die Statthalterloge in der Kathedrale für sich selbst in Anspruch nahm und dem Beamten einen Platz gegenüber, etwas dunkler und enger, anweisen wollte. Orestes wurde zum erstenmal in seinem Leben dem Grundsatz untreu, an der höchsten Stelle nicht unbequem zu werden. Er schrieb offizielle Beschwerden an seinen Chef, er vertraute sich in liebenswürdigen Plauderbriefen den mächtigsten Damen des Hofes an; aber es half ihm alles nichts, er mußte dem Erzbischof nachgeben und gegenüber der schadenfrohen Domgeistlichkeit in dem neuen »Käfig« Platz nehmen. Er hätte sich persönlich mit der Änderung leicht aussöhnen können, denn in seinem neuen Predigtstuhl schlummerte es sich zur Kirchenzeit noch weit behaglicher als in der großen hellen Loge. Aber in ihm war der Staatsmann verletzt worden, der erste Vertreter des Kaisers; und er konnte es nicht verstehen, daß man in der Residenz dem hierarchischen Hochmut nachgab. Er sah nach wie vor im Kaiser den höchsten Bischof des Reiches, und er vermochte nicht einzusehen, warum die Pfaffen des einen Gottes selbständiger sein sollten als die von dreihundert anderen. In Konstantinopel aber schien man die Vertreter der neuen Schichten durch solche Nachgiebigkeit in Formsachen freundlich stimmen zu wollen, und Orestes war zu sehr Beamter, um nicht am Ende gegen seine eigene Überzeugung zu gehorchen.

Leichter wäre ihm die Unterwerfung in einer anderen Frage geworden, welche der heilige Mann Kyrillos ebenfalls gleich nach seiner Inthronisation aufwarf: in der Judenfrage. Die Juden hatten Alexandria gründen helfen. Sie hatten sich wie der Protektion Alexanders des Großen, so auch stets des Schutzes der ägyptischen Könige erfreut und bildeten ihrer Zahl nach, noch mehr aber nach Reichtum und bürgerlichem Einfluß, einen sehr ansehnlichen Teil der Bevölkerung. Seitdem der neue Glaube der Armen und Elenden aufgekommen war, den Pöbel im Sturm erobert und langsam auch die konservativen und vornehmen Anhänger der alten Landeskirche ergriffen hatte, bildeten die freier denkenden, im allgemeinen recht kenntnisreichen und in jeder Beziehung strebsamen Juden von Alexandria den eigentlichen Stamm des Kaufmannstandes. Die Stadt besaß an ihnen die besten Steuerzahler, der Staat die fügsamsten Untertanen. Die Juden konnten nicht mehr so wie früher als eine fremde Rasse betrachtet werden. Während die Ägypter in ihrem eigenen Lande immer noch durch Kleidung, Hautfarbe und Sprache mit den herrschenden Griechen im Gegensatz waren, unterschieden sich die Juden oft nur noch für schärfere Sinne von der griechischen Gesellschaft. Eine leise Spur von Orient war vielleicht ihrer Kleidung, jedenfalls ihrem Gesichtsschnitt und ihrer Aussprache beigemengt, aber dieser kleine fremde Zusatz störte die guten Beziehungen durchaus nicht, ja, man erzählte sich sogar, daß diese pikante Mischung schon öfter das Interesse französischer Gräfinnen und deutscher Herzogstöchter geweckt hätte, während umgekehrt die glutäugigen Töchter jüdischer Großhändler aus Alexandria von den Offizieren der Provinzialarmee häufig und nicht selten mit Erfolg zur Ehe begehrt wurden. Dieses vortreffliche Verhältnis war nur dann von Zeit zu Zeit gestört worden, wenn der süße Pöbel von Alexandria in seiner Not oder im Rausche Lust bekam, einen jüdischen Laden zu plündern. Im Pöbel lag seit undenklicher Zeit ein nationaler Haß gegen die Juden aufgespeichert.

An diesen Pöbelhaß knüpfte Kyrillos gleich in einer seiner ersten Predigten an, da er die Gemeinde davor warnte, den Sonntag zu entheiligen. Man habe mit Entsetzen wahrgenommen, daß die ketzerischen Vorlesungen einer verkehrten Wissenschaft gerade am Sonntag die jungen Leute von der Kirche hinweglockten. Wenn reiche Judenbengel einer albernen Mode zuliebe hinliefen, so könne das den Erzbischof nicht wundern. Wenn aber viele Hundert Jünglinge aus den achtbarsten christlichen Häusern in solcher Weise dem Antichrist huldigten, dann würde die Ankunft des Reiches Gottes ins Ungewisse hinausgeschoben werden, betrogen wären die Hoffnungen der Millionen, welche Tag und Nacht beteten, daß die Gräber sich öffneten und die Lebendigen einzögen zu der Herrlichkeit des himmlischen Reiches. Mit diesen Worten begann ganz unscheinbar die Hetze gegen die Juden, und sie wurde bald von allen Kanzeln Alexandrias in lauterer oder leiserer Tonart getrieben. Die Folgen blieben nicht aus, und bald hatte das Polizeipräsidium und schließlich Orestes selbst vollauf zu tun, um die Ordnung in der Stadt aufrechtzuerhalten. Denn so oft die Geistlichen auch versicherten, sie hätten es nur mit dem Seelenheil der Gläubigen zu tun, sie wurden immer mißverstanden; und es verging kaum ein Sonntag, daß nicht die Polizei oder das Militär Plünderungen im Judenviertel oder Schlimmeres zu hintertreiben oder zu ahnden gehabt hätte.

Orestes war mit den Juden sehr zufrieden und hatte sie eigentlich gern, wenn er auch ihre kleinen Schwächen gern bespöttelte und sich von seinen Tischfreunden am liebsten alte jüdische Anekdoten erzählen ließ. Er nahm sich der Bedrängten darum ehrlich an und hatte auch die Genugtuung, daß ihm von Konstantinopel aus die Weisung kam, ernsthafte Unterdrückung der Juden nicht zu dulden. Den Hetzpredigten geradezu entgegenzutreten wurde ihm nicht gestattet. Das sei eine rein kirchliche Angelegenheit, in welche die Regierung sich nicht hineinmischen wollte; auch mußte mit den Besonderheiten jeder Provinz gerechnet werden. Endlich seien die Juden an solche kleine Schröpfungen gewöhnt und wären sonst vielleicht gar nicht so vortreffliche Staatsbürger. Und was dergleichen ererbte und erprobte Staatsweisheit mehr war. Der Statthalter war es zufrieden, ließ die Geistlichen aufreizende Reden führen und bestrafte die Trunkenbolde und armen Teufel, welche die Redner falsch verstanden hatten. Er meldete höchstens noch an den Minister, daß unter solchen Umständen sich allmählich ein gefährlicher Zündstoff ansammle und daß da bei Gelegenheit ein unberechenbarer Brand entstehen könne.

Noch näher ging dem Statthalter eine dritte Frage, welche der Erzbischof gleichzeitig mit Leidenschaftlichkeit behandelte. Die alte Akademie sollte der Kirche vollständig überantwortet werden; man wollte die letzten Griechen, die da noch ihre alte Wissenschaft lehrten, vertreiben und den jungen Feuerköpfen, welche dort studieren wollten, um ihre Kenntnisse in den Dienst der radikalen Sekten und des politischen Liberalismus zu stellen, die Erlaubnis versagen. Kein Name wurde genannt, aber es war ein öffentliches Geheimnis in Alexandria, daß dieser Kampf sich fast ausschließlich gegen die schöne Hypatia und ihre öffentliche Vorlesung »Kritik des Christentums« richtete. Außer ihr lehrten jetzt nur noch drei oder vier entschiedene Nichtchristen an der Akademie, und das waren alte Fachgelehrte, welche von ihrer religiösen Überzeugung am liebsten gar keinen Gebrauch machten. Hypatia allein stand bewußt der andrängenden Kirchengewalt als Feindin gegenüber, und so wie sie selbst mit ihrer stolzen Erscheinung und ihren berückenden Augen den schönheitsfeindlichen Grundsätzen der neuen Kirche zu widersprechen schien, so lehrte sie auch bei jeder Gelegenheit Liebe für die Welt der Griechen, Liebe zu den Dichtern und zur Natur, Liebe zu den großen Taten der menschlichen Vernunft. Darum strömte in ihrem Hörsaal zusammen, was noch in der Stadt übriggeblieben war an gottlosen, menschlichen, freudigen Griechenherzen. Gegen Hypatia war seit ihrem ersten Auftreten der Pöbel aufgestachelt worden, nicht immer von den Geistlichen der Kathedrale, häufiger von den Büßern, welche unter Kasteiungen und Heimsuchungen das Gottesreich erwarteten und darum außer dem Teufel nichts so sehr haßten als die Götter und Dichter und Denker der Griechen, die doch alle miteinander vom Teufel wären. Doch die Wut der Mönche hatte nicht bis an die Akademie heranreichen können. Nur draußen in den Wallfahrtsorten der Säulenheiligen und anderer heiligen Männer und rings um Alexandria in den schmutzigen Vorstädten der Fellachen und des Christenpöbels bildete sich allmählich die Sage, daß in der Hochburg des Satans, in dem Akademiegebäude von Alexandria, der oberste der Teufel selber hause in Gestalt eines wunderschönen Weibes, eines Vampirs in Mädchengestalt, der den edelsten Jünglingen des Landes nächtlicherweile das Blut aussauge und sie abwendig mache vom wahren lebendigen Gotte, eines Vampirs, der in der Dämmerstunde zu erblicken sei in den alten Teufelsbauten aus der Zeit der Pharaonen, und der unter dem Scheine eines jungfräulichen Lebens Buhlschaft treibe mit geflügelten Ungeheuern. In den Klöstern des Nils sagte man, daß die ersten Gesichte über dieses teuflische Weib ausgegangen wären von dem heiligen Mann Isidoros, der des Nachts vom Teufel sowohl in schönen als in gräßlichen Gestalten heimgesucht würde und der sich dafür den Leib geißelte mit taufend Wunden, der aber in der Sonne Gottes und angesichts des Kreuzes zu lügen nicht imstande gewesen wäre.

Von solchen Angriffen hielt der Erzbischof und seine Geistlichkeit sich fern. Der Name Hypatia wurde selten genannt. Aber langsam, langsam erfuhren die besten Familien der Stadt, daß dem Frieden zwischen Stadt und Kirche, dem so wünschenswerten Frieden zwischen dem Statthalter und dem Erzbischof nichts weiter im Wege stünde als diese eine Frau, die schöne Lehrerin, die es doch kaum wert war, daß um ihretwillen die materiellen Interessen der Stadt Schaden litten. Wenn die Hafenanlagen verbessert werden sollten und der Erzbischof ein unbenutztes Stück vom Terrain der Kathedrale nicht hergeben wollte, so hätte sein Zorn über Hypatia das verschuldet. Wenn die Union mit zwei nahe verwandten christlichen Sekten und im Anschluß daran die Auslieferung der Kirchenschlüssel nicht zustande kam, so läge das an Hypatia. Und schließlich glaubte man da und dort, die Schließung aller Wirtshäuser von zehn Uhr abends ab, wie es der Erzbischof direkt in Konstantinopel durchgesetzt hatte, wäre auf seinen Schmerz über die heidnischen Vorträge der Hypatia zurückzuführen. Man hörte in der Stadt nicht auf, die schöne Hypatia als eine Sehenswürdigkeit von Alexandria zu betrachten; man hätte aber nichts dagegen gehabt, wenn das unbequeme Fräulein Professor eine Berufung nach der Residenz angenommen hätte.

Orestes nahm sich in seinen Berichten und Privatbriefen seiner gelehrten Freundin mit ungewöhnlicher Wärme an. Sei es nun, daß man dem verdienten Beamten in diesem einzelnen Fall entgegenkommen wollte, oder daß man die mehr als halbtausendjährige große Vergangenheit der Akademie in der letzten Philosophin pietätvoll konservieren wollte, sei es endlich, daß eine griechische Gegenströmung am Hofe von Konstantinopel ihren Willen durchsetzte, oder daß die leitende Frau gerade einem Weibe den Triumph über den allmächtigen Erzbischof gönnte: genug, Orestes erhielt gnädigst den Befehl, den alten Geist der Akademie unnachgiebig gegen die Machtgelüste der Kirche zu schützen und insbesondere der gelehrten Hypatia, dem Patenkind des Kaisers aus dem Hause Konstantins des Großen, jede Förderung zuteil werden zu lassen.

Kein Befehl konnte dem Statthalter erwünschter sein. Von allen Besuchern seines prachtvollen Junggesellenheims war ihm niemand lieber als die schöne Philosophin. Er hatte sie lange vor ihrem öffentlichen Auftreten in sein Haus gezogen, um mit ihr wie mit den anderen ersten Gelehrten der Stadt ein angeregtes Gespräch über sein archäologisches Steckenpferd führen zu können. Er hatte sie lieb genug, um ihr fast demonstrativ mit der größten Achtung zu begegnen, und es schmeichelte doch wieder seiner Eitelkeit, wenn der Klatsch der kleinen Leute fragte, ob die schöne Hypatia dem Statthalter für den gewährten Schutz nicht ein bißchen erkenntlich wäre.

Seit dem Tode ihres Vaters hatte Hypatia die großen Gesellschaften des Statthalters nicht mehr besucht, aber allmählich gewöhnte sie sich wieder daran, mitunter an seinen zwanglosen wissenschaftlichen Abenden zu erscheinen. Hier wurde sie von der ganzen Gesellschaft neidlos nicht nur als die Gelehrteste und Schönste, sondern auch als die Vornehmste des Kreises gefeiert. Hier war es auch, wo sie im nächsten Frühjahr die vier Offiziere ihrer Leibgarde nacheinander persönlich kennen lernte. Sie senkte mit dem feinsten Lächeln ihr Haupt zum Gruß, als ihr eines Freitag abends die Herren Doktoren Troilos und Synesios vorgestellt wurden. Sie lächelte dankbar, als wenige Wochen später Alexander Jossephsohn am wissenschaftlichen Abend erschien und ihr schon in der ersten Viertelstunde der jungen Bekanntschaft erzählte, die vier Getreuen hätten den Zutritt in dieses Haus durch den wohlgelittenen Synesios zu erreichen gewußt, um als ergebene Leibgarde auch da nicht zu fehlen, wo die Gefahr nicht so deutlich sichtbar war wie auf der Straße. Und an demselben Abend errötete Hypatia doch ein klein wenig, als auch der Flügelmann der ersten Mittelbank vor sie trat, der blonde Wolff, sich stumm vor ihr neigte und sie dann fragte, ob sie es verziehen habe, daß er und seine Freunde sich zu ihren Rittern aufgeworfen und die Plätze in ihrer Nähe erobert hätten.

»Sie sind ein tapferer Deutscher,« sagte Hypatia. »Nicht wahr, Sie waren mit dabei, damals ... Sie müssen mir von dem Glauben und von den Bräuchen Ihrer Heimat erzählen.«

»Wann darf ich das?«

»So oft Sie wollen, daß ich Ihnen aufmerksam zuhöre.«

Da begann Wolff von den Bräuchen jenseits der Alpen zu erzählen, von der Heimat seiner Mutter.


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