Fritz Mauthner
Hypatia
Fritz Mauthner

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2. Das Serapeum

Es war etwa fünfundzwanzig Jahre nach dem Tode des Kaisers Julianos; das Christentum war in den Hauptstädten und in den Provinzen überall so siegreich, daß die einzelnen Sekten einander schon ungestraft mit tödlichem Hasse verfolgen konnten. Da saßen eines Abends in der alten Universitätsstadt Athen vier junge Leute beim Abschiedstrunk. Vor der Kneipe der alexandrinischen Landsmannschaft unter dem grünen Dache einer Laube plauderten sie bei unverfälschtem roten Wein über die ausgestandenen Examensorgen, über die komischen Seiten ihrer Lehrer und über den Ernst der Zukunft. So lebhaft waren sie erregt, daß sie die aufwartende Kellnerin gar nicht beachteten. Höchstens, daß der schönste unter den vieren, der schwarzlockige Halbbeduine Synesios von Kyrene, das hübsche Kind in die Wange kniff, wenn sie einen frischen Krug brachte. Doch auch das tat er gedankenlos, mehr aus Gewohnheit; der schönste Student aus Athen war großmütig gegen das schöne Geschlecht. Er war übrigens ruhiger als die Genossen. Seine großen Augen deuteten auf mehr Seelengüte als Geist, und seine gewählte oder gar geschraubte Redeweise paßte wenig zu dem burschikosen Ton der anderen.

Die vier jungen Leute waren heute vereinigt, weil sie gemeinsam eben die höchste akademische Würde erlangt hatten. Mit Synesios von Kyrene waren aber zwei von den Gesellen seit Jahren befreundet. Der kleine, dicke, braunhaarige, rotwangige, etwas schief gewachsene Troilos aus Antiochia und der schlanke und lebhafte Alexander Jossephsohn aus Alexandria waren mit dem Patriziersohn vom Rande der Libyschen Wüste durch Reichtum und durch gleiche Neigungen vertraut geworden. In Athen hatten sie ein maßvolles Bummelleben geführt und außer der Jurisprudenz ein wenig Philosophie und Philologie studiert. Allen dreien sproßte ein dunkles Schnurrbärtchen über den Lippen.

Der vierte im Bunde, der dreiundzwanzigjährige Germane, der neben den anderen mit seinem hellblonden Flaum wie bartlos aussah, stimmte nicht ganz zu den Genossen. Aber sie hatten ihn besonders lieb. Sonst wußten sie von ihm nicht viel; er führte den barbarischen Namen Wolff, schien von geringer Herkunft, war aber mit hinreichenden Geldmitteln versehen. Um so unbegreiflicher war für die anderen seine Schwermut, die sich nur schlecht mit dem sonnigen Leuchten seiner Augen und mit seinem kräftigen Körperbau zu vertragen schien. Ohne es zu wollen, übte Wolff eine große Macht über den kleinen Kreis. Die anderen hatten eine schöne allgemeine Bildung erworben; Wolff stand trotz seiner wilden Natur und seiner wenig akademischen rotblonden Mähne in dem Rufe der Gelehrsamkeit. Er sprach fließend nicht nur griechisch und latein, sondern auch ägyptisch, und sogar seine Muttersprache hatte er nicht vergessen. Er verstand kurze deutsche Lieder zu singen, Kampfverse, wie sie am Nordabhange der Alpen, am Ufer des jungen Rheins zu Hause waren.

Alexander Jossephsohn war Jude, die Familie des Synesios war in ihrem versteckten Erdenwinkel dem alten griechischen Götterglauben treu geblieben, Troilos und Wolff waren getauft. Troilos aber gehörte einer reich gewordenen Beamtenfamilie an, welche sich dem neuen Christentum der Kaiser nur äußerlich unterworfen hatte; er selbst nannte sich einen Freigeist, einen Atheisten. Wolff hing inbrünstig an Jesus Christus, aber er war der orthodoxen Kirche feindlich und schien einer der unterdrückten Sekten anzugehören, die sich seit Jahren unter den Arbeitern und unter den Sklaven wieder heimlich ausbreiteten. Nur zwischen Alexander und Wolff wurden mitunter religiöse Gespräche geführt; Synesios spielte sich auf den Skeptiker hinaus und Troilos lachte wirklich über alles.

Es war tief in der Nacht, und die jungen Leute wurden abschiedschwer. Lebhaft bedauerten sie es, daß sie nun vom Burschenleben Abschied nehmen und im Philisterium untertauchen sollten. Besonders Alexander Jossephsohn klagte, er wolle kein Aktenschmierer werden, um am Ende das gelehrte Banausentum zu vermehren; dazu hätten ihn Vater, Mutter, Onkel und Tanten zu gut ausgestattet.

»Sei kein Protz!« rief Troilos; aber alle stimmten in dem Wunsch überein, auf die drei Jahre Athen noch zwei letzte Semester Bummel zu setzen. Aber wo? Konstantinopel und Rom hatte jeder von ihnen schon auf einer Ferienreise genügend kennen gelernt. Alexandria zog sie eher an, aber die lieben Eltern und die sonstigen Verwandten waren doch nicht das Richtige. In den kleinen Universitätsstädten, welche für einzelne Fakultäten an den äußersten Grenzen des Reiches aufzublühen begannen, war nicht viel los. Karthago war zu pfäffisch, Paris zu dreckig.

Synesios bürstete seine schwarzen Locken und äußerte mit seiner weichen Stimme: »Man könnte doch noch ein halbes Jährlein in Athen bleiben, dem göttlichen Musensitz, in welchem die Jünglinge überall an die herrschen Meister Platon und Aristoteles, desgleichen an die unsterblichen Dichter erinnert werden, und wo die schimmernden Statuen aus perikleischer Zeit...«

»Rasple doch nicht,« unterbrach ihn Troilos. »Es sind ja keine Damen in der Nähe und auf die Kellnerin machst du so keinen Eindruck. Der gefällst du besser, wenn du schweigst. Mir auch. Wißt ihr, dieses alte Eulennest verlasse ich lieber heute als morgen. Schade um unsere schöne Zeit! Die verehrten Räuber und Hausbesitzer, die sich hier Athener nennen, zehren von dem verstaubten Ruhme der Stadt und würden am Fuße der Akropolis verhungern, wenn wir nicht so dumm wären, ihnen die möblierten Stuben abzumieten. Und ich frage euch, ob wir hier einen einzigen Lehrer gefunden haben, der kein Kaffer gewesen wäre. Die Vergangenheit ist so groß, daß die Herren Professoren aus lauter Pietät keinen neuen Gedanken zu haben wagen. Man hat uns nichts gelehrt, als was seit dreihundert Jahren gelehrt werden darf. Ich fürchte, der erste beste Sackträger im Hafen von Alexandria kennt die Welt besser als wir. Gelehrte Pfaffen alle miteinander.«

Die Genossen stießen mit ihm an.

»Alexandria wäre ja nicht so übel,« sagte Alexander Jossephsohn. »So eine Spritzfahrt nach den Pyramiden und zu den anderen seligen Pharaonensachen, das wäre doch eigentlich was.«

»Und die Jagd!« rief Synesios mit natürlicherem Ton als gewöhnlich. »Anderswo als bei uns gibt es doch keine Jagd mehr! Strauße, Löwen!« und seine Augen leuchteten.

»Steinbock, Auer,« sagte Wolff leise, ohne sich zu bewegen.

»Die Menschenhetzen nicht zu vergessen!« lachte Troilos. »Wo im ganzen römischen Reiche gibt es noch so mordlustige Kirchenfürsten wie in Alexandria? Wo kommt es noch vor, daß sie einen alten frommen Heidentempel förmlich belagern und die Verteidiger einen nach dem anderen über die Klinge springen lassen?«

»Du meinst die Wut der Pfaffen gegen das Serapeum? Haben sie es immer noch nicht?«

»Sie werden es schon kriegen. Die ganze Welt werden diese Pfaffen erobern, wenn man ihnen römische Soldaten zur Verfügung stellt. Gerade darum möchte ich ein Semester in Alexandria leben und sie ärgern. Wir wollen dem Erzbischof ein Dutzend von den heiligen ägyptischen Mistkäfern ins Bett schmuggeln!«

»Nein, Skorpione!« »Nein, die armen Skorpione würden nach dem Stich an Blutvergiftung umkommen. Wir wollen den Erzbischof lieber zwingen, wie ein Christ zu leben. Das hält er nicht aus.«

»Ein lustiges Leben wäre es schon.«

»Ja, wenn mein Alter nur nicht da die Papierfabrik hätte!«

»Ach was!« erwiderte Troilos. »Irgendein Vater oder Großvater hat daheim immer eine Papierfabrik gehabt. Sie haben dort schließlich doch noch die beste Schule. Lernen kann man da was, soweit unsere Pfaffen die Lehrstühle noch nicht innehaben. Aber langweilig sind die alexandrinischen Gelehrten freilich, höllisch langweilig!«

»Gegen die Gleichförmigkeit, welche ihr so benennt,« sagte Synesios, »scheinen die Alexandriner zur Stunde eine angenehme Arznei gefunden zu haben. Sie besitzen seit einem Semester einen weiblichen Professor.«

Alle lachten.

»Synesios will zu Hypatia! Er will das Patenkind des Kaisers Julianos sehen! Das fehlte gerade noch, Blaustrümpfelei! Es ist ein Skandal, daß man so ein unwissendes Frauenzimmer protegiert!«

Statt jeder Antwort zog Synesios einen Brief aus der Tasche.

»Von meinem Onkel. Ihr wißt, er ist mit Seiner Exzellenz dem Statthalter nah befreundet, nicht ungelehrt und nicht von jungen Jahren. Er rät mir zu Alexandria ... und hier: ›Außer diesen hervorragenden Gelehrten wirkt an unserer Akademie seit einigen Monaten auch die göttliche Hypatia. Sie hat dank ihrer berückenden Erscheinung, ihrem hinreißenden Vortrag und ihrer erstaunlichen Gelehrsamkeit einen Zulauf wie keiner von den Herren. Für das nächste Semester sind ihretwegen Studenten von weither angemeldet, aus Spanien, aus England und einer sogar von dorther, wo an der Weichselmündung der Bernstein gewonnen wird. Die Einheimischen sollten nicht verfehlen, sich inskribieren zu lassen. Vielleicht bist du übrigens gerade in Athen an der Quelle, um dich nach der Geschichte ihrer Berufung zu erkundigen. Man klatscht hier vielerlei. Gewiß ist, daß sie während einer langen Krankheit ihres Vaters und auf dessen ausdrücklichen Wunsch sein Kolleg über angewandte Astronomie mit großem Erfolg fortgesetzt hat. Er liest jetzt wieder, ist aber recht schwach geblieben. Auf seinen Wunsch bewarb sie sich um den freigewordenen Lehrstuhl des Mathematikers. Die Akademie schlug das Mädchen primo loco vor, aus Galanterie. Niemand dachte an eine Bestätigung. Da soll Seine Exzellenz der Statthalter die Sache unterstützt haben, Hypatia wurde berufen und ist jetzt unabsetzbarer Professor unserer Akademie. Die Aufregung war groß. Der würdige erzbischöfliche Großsprecher, der bis dahin täglich zwei Griechen und zwei Juden zum Frühstück zu verspeisen pflegte, leidet seitdem an einem verdorbenen Magen...‹ na ja, da kommen ein paar schneidige Bemerkungen über diesen Fanatiker. ›Vielleicht kannst du in Athen erfahren, was Seine Exzellenz eigentlich an den Hof berichtet hat. Ich möchte ihn gern damit aufziehen. Der wackere alte Herr schwärmt für das Fräulein Professor wie ein Jüngling. Einige sagen, sie sei die geschiedene Frau eines verrückten Mönchs; der sei ihretwegen verrückt geworden. Schön ist sie freilich, zwar nicht so, was ihr modernen jungen Leute schön nennt. Nein, so, wie du die Göttin auf der Akropolis sehen kannst. Und damit du dir keine dummen Gedanken machst, teile ich dir gleich mit, daß sie ein musterhaftes Leben führt und selbst vom Pöbel nur mit der alten Exzellenz in Verbindung gebracht wird. Und das haben die verdammten Pfaffen aufgebracht, die ihr am liebsten ans Leben möchten. Sie selbst ist schön wie eine griechische Göttin und keusch wie eine christliche Nonne.‹ So schreibt mein Onkel. Ich habe natürlich nicht spioniert.«

Eine Pause folgte. Die jungen Leute blickten vor sich hin oder tranken einen Schluck. Plötzlich sprang Troilos auf und rief mit blitzendem Übermute:

»Ihr drei scheint mir alle neugierig und fast verliebt in die unbekannte Schöne. Verliebt bin ich nicht, denn Liebe ist Unsinn! Da ihr aber brennt, das Weltwunder zu sehen, so gehen wir doch nach Alexandria! Wer kein Frosch ist: nieder mit den Pfaffen! Es lebe die schöne Hypatia, das Patenkind des armen Kaisers!«

Es zitterte etwas wie schmerzlicher Ernst durch die letzten Worte des jungen Atheisten. Doch niemand achtete darauf, und Grieche, Jude und Nazarener stießen mit ihren Krügen gegen den vollen Pokal des Troilos und beschlossen, mit einem der nächsten Schiffe nach der Hauptstadt von Ägypten aufzubrechen.

Schon nach acht Tagen fand sich eine günstige Gelegenheit zur Überfahrt. Ein bequemer Kutter ging mit schwerer Metalladung nach Alexandria unter Segel, und der Wind war gut. Jetzt, Mitte Juli, waren Stürme nicht zu befürchten. Die vier Freunde ordneten also ihre Angelegenheiten, packten ihre Siebensachen und schifften sich getrosten Mutes nach Alexandria ein.

Nur die beiden ersten Tage hatten Alexander und Synesios ein wenig von der Seekrankheit zu leiden, dann wurde es eine köstliche, stille Fahrt. Der Kutter steuerte an den zahlreichen Inseln vorüber, und es war immer etwas Neues zu sehen oder zu erzählen. Erst nach acht Tagen, als bei prächtigem Nordwind die Küste von Kreta steuerbord zurückgelassen war, wurde die Fahrt eintönig und die jungen Leute suchten Zerstreuung. An Bord befanden sich außer ihnen nur noch zwei Kaufleute und ein junger Geistlicher aus Alexandria, der sich seit der Abfahrt in ihrer Nähe zu schaffen gemacht hatte. Jetzt glaubte er wohl die günstige Zeit gekommen, denn er benutzte einen warmen Abend, welchen die Genossen träge und schweigsam auf Deck verbrachten, um endlich ein aufschlußreicheres Gespräch anzuknüpfen, als bis dahin gelungen war. Da keiner von den Vieren mit seiner Meinung zurückhielt, so sah der Geistliche, ein Schreiber aus dem erzbischöflichen Palast von Alexandria, bald ein, daß er es mit vier Gegnern seiner orthodoxen Kirche zu tun habe. Er versuchte es nun, gewohnheitsmäßig wie es schien, durch frömmelnde Predigten und durch Berichte über Wundergeschichten, die er alle selbst miterlebt haben wollte, die verirrten Seelen zu retten. Die vier Freunde belustigten sich an diesen Bemühungen, bis der Geistliche seine Torheit einsah und sich beleidigt zurückzog. Er hatte aber dennoch die Neugierde seiner Zuhörer gereizt; denn unter Verfluchungen, die nicht eben an die Bergpredigt erinnerten, hatte er ein oder das andere Mal den Namen Hypatia ausgesprochen, und über die inneren Verhältnisse der Akademie, sowie über den Vernichtungskampf gegen das Serapeum schien er genau unterrichtet.

Sie waren nur noch hundert Seemeilen vom Leuchtturm Alexandrias entfernt, als Wolff einmal gegen Mitternacht auf Deck kam, um frische Luft zu schöpfen. Er hätte in der heißen Kajüte doch nicht schlafen können. Er traf den Geistlichen, der ungeduldig auf- und niederschritt und die Heimkehr nicht erwarten zu können schien. Sie boten einander einen kurzen Gruß, wechselten ein paar gleichgültige Worte, lehnten aber bald nebeneinander am Heck und sprachen von ernsten Dingen, von Politik und Teuerung, und endlich auch wieder von der alexandrinischen Kirche. Wolff bat den hochwürdigen Herrn um Auskunft über das Serapeum. Er sei in dessen nächster Nähe zu Hause und darum an dem Schicksal der Stadtgegend besonders interessiert.

Der Geistliche hatte bei seinem ersten Annäherungsversuche durchblicken lassen, daß er in geheimen Geschäften unterwegs sei und in Athen die neueste Post aus der Heimat erhalten habe. Er mußte mehr wissen als andere. Er erwähnte jetzt mit keiner Silbe mehr seine amtliche Stellung, war aber zu jeder Auskunft bereit. Und Wolff konnte nicht sehen, ob der jugendliche Streiter der Kirche mehr aus Eitelkeit oder mehr aus Bosheit redselig wurde.

Was immer man sagen möge von der Menge von altgläubigen Ägyptern, Griechen und Juden, Alexandria sei doch die christlichste Stadt des römischen Reichs. In ihrer Umgebung gebe es mehr Mönche als sonst irgendwo auf der ganzen Welt. Trotzdem sei die kaiserliche Regierung nur lau in der Verteidigung des katholischen Glaubens. Seine Exzellenz der Statthalter müsse von Zeit zu Zeit sanft oder unsanft an die Tatsache erinnert werden, daß er getauft worden sei. Seine Exzellenz habe für das griechische Heidentum eine rein ästhetische, aber trotzdem sehr gefährliche Vorliebe. Selbst für die reichen Juden von Alexandria habe er noch Sympathie. Diese kühle Haltung der Landesregierung sei dafür verantwortlich zu machen, daß man von Konstantinopel her gegen die griechische Akademie so konservativ verfahre, die alten heidnischen Gelehrten auf ihren Lehrstühlen belasse und es sogar verantworten wolle, die Tochter des Theon oder des Teufels, das Patenkind des von Gott gerichteten Julianos, berufen zu haben.

»Sehen Sie, lieber Herr, die anderen Heiden sind wenigstens so bescheiden, bei ihrer Astronomie, ihrer Mathematik oder Botanik zu bleiben. Ist auch bedenklich, aber kann noch geduldet werden. Doch dieses von der Hölle geschaffene Weib will sich nicht auf ihre Fachwissenschaft beschränken. Im Lehrsaal wie in der Gesellschaft wagt sie es, nicht nur griechische Wissenschaft, sondern sogar griechische Philosophie zu lehren und unsere heiligen Glaubenssätze zu kritisieren. Bedenken Sie doch! Jede Christin in der Kirchengemeinschaft hat zu schweigen, weil Gott das Weib doch zum Schweigen bestimmt hat. Und dieses Weib läßt man reden, trotzdem ihr doch nur der Teufel den scharfen Sinn verliehen haben kann, da Gott doch das Weib dumm geschaffen hat. Bedenken Sie doch! Nun, wir werden auch noch mit ihr fertig werden. Einstweilen kommt aus Konstantinopel immer noch das Echo des Statthalterpalais wieder: im Interesse der Stadt und des Ansehens der Wissenschaft sei die alte Tradition der Akademie festzuhalten. Und uns hat man nichts preisgegeben als das alte überholte Serapeum, wo nur noch Hieroglyphenweisheit der Ägypter gepflegt wurde. Die war uns nicht mehr gefährlich, die hätte man langsam vermodern lassen können. Nur der Übung wegen war es gut, daß so ein Heidennest wieder einmal ausgenommen wurde.«

»So ist es zerstört? Zerstört wie die alten Gräber! Und das Serapeum galt doch für das schönste Gebäude der Mittelmeergestade!«

»Es galt dafür.«

»Ich habe kein Urteil,« sagte Wolff traurig. »Ich war von Kindheit auf daran gewöhnt, wie an den blauen Himmel oder an diesen Sternenkreis.«

»Das Gebäude steht vielleicht noch,« sagte der Geistliche boshaft. »Es war überhaupt kein lustiges Geschäft, die Aushebung dieses Nestes. Die äußeren kleinen Kapellen waren freilich bald genommen und eingerissen. Aber das Serapeum selbst ist ja ebensogut eine Festung wie ein Tempel. Und dann, Sie wissen, es gilt von altersher bei Ägyptern und Griechen für das höchste Heiligtum; selbst bei den Christen der unteren Stände ist ein Aberglaube verbreitet, wonach der Wohlstand des Landes, das Schwellen des Nils, an die Erhaltung der großen Serapisbildsäule geknüpft ist. Es wollte niemand recht voran, nicht die Soldaten und nicht einmal die schlichten frommen Leute, die uns sonst mit ihren schwieligen Fäusten zu Gebote stehen. Im Gebäude selbst hatten sich alle Priester, Diener und Beamte bewaffnet, gegen tausend Mann.

»Die Sache zog sich wochenlang hin, und mein guter Erzbischof wurde vor lauter Eifer für die Sache Gottes aufs Krankenlager geworfen. Wieder ein Grund zur Freude für die Heiden, Juden und die hohen Beamten. Glücklicherweise war aber nur der Körper des guten Erzbischofs siech geworden, nicht aber sein christlicher Sinn. Unsere Gesellenvereine wollten den Sturm unternehmen, wenn nur die Mönche vorangingen. Da erhielten denn die Mönche wohl einen Wink. Die heiligen Männer in den Klöstern und Einsiedeleien der Wüste ermangeln oft der weltlichen Bildung. Sogar unter meinen Brüdern gibt es welche, die die Entbehrungen und Kasteiungen der Anachoreten und Säulenheiligen als Eitelkeit verurteilen. Aber selbst wenn diese Meinung richtig wäre, so wäre der Wahnsinn dieser Männer nicht von den Dämonen der Hölle erregt, sondern von unserem lebendigen Gott. Denn sie stellen ihre Kraft und ihr Leben in den Dienst der Kirche, und die Kraft dieser Büßer ist oft recht groß. Viele erbauliche Geschichten lehren uns, daß einzelne es mit Löwen im Handgemenge aufgenommen haben, und daß die Tapfersten mit dem Teufel selbst fertig geworden sind. Bedenken Sie doch nur! Nun, diese heiligen Männer haben auch gesiegt und dann keinen einzigen Verteidiger des Serapeums am Leben gelassen. Tapfere Soldaten der Kirche!

»Kurz vor unserer Abreise kamen Nachrichten darüber an. Es ging hoch her. Über viertausend Mann sollen mit barbarischen Waffen Schritt für Schritt vorgedrungen sein und auch nicht dem jüngsten Knaben Pardon gegeben haben.

»Die heiligen Männer sind im Gebrauche ihrer einfachen Waffen geübt. In der Wüste haben sie oft wilde Tiere zu bestehen und ihre Glaubensstreitigkeiten auszukämpfen. Das tun sie gern mit Keulen von Eichenholz und mit Steinen. Und die Härte gegen die Verteidiger des Serapeums war notwendig. Denn der Teufel selbst war im Serapeum zu Hause. Viele meiner Brüder haben es mit eigenen Augen gesehen, wie am Abend des dritten Tages Beelzebub vom Dache des Heidentempels fortflog. Er hatte die Gestalt eines alten Marabu angenommen und schwebte mit weit ausgebreiteten Fittichen nach der Richtung der Akademie. Dort soll er seine Residenz aufgeschlagen haben, über der Dienstwohnung der Hypatia. Andere sagen wieder, er hause dort seit den Tagen des Julianos. Wie dem auch sei, es waren Verteidiger des Teufels, und je früher sie in die Hölle kamen, desto besser war es für ihr Seelenheil.«

»Sind Sie dessen so gewiß?«

»Jawohl! – Das Haus war nun in unseren Händen, aber die Säulen und Mauern waren selbst für die Hände und Hebelstangen der Mönche zu stark. Es mag ein erbaulicher Anblick gewesen sein, wie die heiligen Männer sich in ihrem frommen Eifer die Fäuste an den Marmorquadern blutig schlugen. Aber selbst das Zeichen des Kreuzes brachte die felsenharten Wände nicht zum Einstürzen, und mit Hacken und Meißeln ging es doch gar zu langsam vorwärts. Unser guter Erzbischof befahl, das Gebäude mit ungeheuren Holzstößen zu füllen und zu umgeben und das Ganze anzuzünden, und wenn die Stadt darüber hätte verbrennen müssen. Seine Exzellenz der Statthalter verbot die Ausführung, und die Heiden und Juden hatten noch ein Weilchen die Freude, das alte Serapeum aufrecht stehen zu sehen.«

»So bleibt es erhalten?«

»Ich fürchte, daß es in diesem Augenblick nicht mehr aufrecht steht. Ich glaube zu wissen, daß man in Konstantinopel ein mächtiges Wort gesprochen und daß Seine Exzellenz den strengen kaiserlichen Befehl erhalten habe, das heidnische Gebäude von Staats wegen dem Erdboden gleichzumachen. Einem solchen Befehl muß auch Seine Exzellenz gehorchen. Und es ist die ausdrückliche Order hinzugefügt, daß man zur Zerstörung die Geschütze benutzen solle, welche Professor Theon, der irdische Vater der Hypatia, einst für den Perserkrieg seines Gönners Julianos konstruiert hat. Schweres Belagerungsgeschütz, es kann nun am Serapeum die Meisterprobe bestehen. Theon und Hypatia werden gewiß ihre Freude daran haben.«

Wolff blickte düster in die Nacht hinaus; deutlich wie niemals selbst in Hellen Nächten auf der Akropolis von Athen glänzte der Orion zu ihm herüber. Ohne Gruß und ohne Dank verließ er den Geistlichen. Aber er vermochte nicht in die Schlafkammer zurückzukehren. Immer wieder blickte er nach Süden, wo Alexandria lag, und wo er nach langer Lehrzeit eintreten sollte in die Kämpfe der Welt und des Geistes.

Er behielt die Mitteilungen des Geistlichen für sich und verstand darum besser als seine Genossen, was sie zuerst vernahmen, als sie am Morgen des nächsten Tages in den neuen Hafen von Alexandria eingelaufen waren. Wo sonst Hunderte von schwarzbraunen Barkenführern das ankommende Schiff umkreisten, unter wirrem Geschrei ihre Waren und ihre Boote anbietend, wo sonst, bevor noch die Anker niedergelassen waren, der Handel begann und Früchte und Fische an Bord gezogen und Münze hinausgeworfen wurde, da stand heute den Ankömmlingen nur ein alter lahmer Bootsmann zur Verfügung. Der brachte sie alle auf einmal ans Land; ihr Gepäck mußten sie auf dem Kutter zurücklassen. Auch die Kais längs der Hafenstraßen waren verödet. Die ungeheure Stadt schien ausgestorben. Der alte Bootsmann kannte die Ursache. Heute wurde das Serapeum geschleift. Ihn hielt sein Gebrechen bei seinem Gewerbe zurück. Sonst müßte es schön sein, sich das anzusehen, das Krachen zu hören, aber ein Unglück würde es doch fürs Land werden. Der Nil würde sicherlich dieses Jahr nicht schwellen, aber dem Kaiser in Konstantinopel wäre ja eine Hungersnot in Alexandria ganz gleichgültig.

Der Bootsmann stieg in seine kleine Barke zurück, um Kisten und Koffer zu holen, und die Freunde standen mit dem Geistlichen auf dem Kai allein. Die ganze lange Hafenstraße schien zu feiern. Links, wo sich die Straße zu einem breiten Platz auseinanderschob, sahen sie nebeneinander die beiden feindlichen Residenzen, die Kathedrale nicht weit vom Wasser, und tiefer gegen die Stadt zu den nördlichen Ausgang der Akademie. In die Kirche aber trat kein Beter, in die Akademie kein Schüler. Nur auf der weiteren Uferstraße, die dort an der Kathedrale vorüber zum Palais des Statthalters führte, zeigte sich Leben. Vor dem Palais sah man in der Ferne Soldaten kompagnieweise aufgestellt, wie bei einer Parade oder vor einer Revolution.

Plötzlich vernahmen die Neuangekommenen durch das leise Spiel der Hafenwellen hindurch ein fernes Brausen wie die Ankündigung eines Orkans; und ohne ein Wort zu wechseln, setzten sie sich in Marsch, auf wohlbekannten nahen Wegen dem Serapeum zu. Sie hatten das moderne Griechenviertel noch nicht lange verlassen und nur wenige Gäßchen des Ägypterviertels durchmessen, nach so langer Abwesenheit erschreckt von der Armut und dem Schmutz dieser elenden Lehmhütten, da standen sie auf einmal nach einer scharfen Biegung des Gäßchens auf dem ungeheuren Platze des Serapeums, und erblickten zwischen sich und dem Bau eine fünfzigfache Menschenmauer. Mitten in dem weiten Räume auf einer niederen Anhöhe stand noch immer fast unversehrt der Tempel, der die Statue des mächtigen Gottes barg und jahrtausendealte Schätze hieroglyphischer Weisheit. Durch die riesenhaften Säulen hindurch konnte man weit nach innen blicken bis zu dem gewaltigen Hinterbau, der zugleich Kloster, Bibliothek und Schule der ägyptischen Priester war. Dort hatten Plünderer gehaust, das sah man. Die Türen waren erbrochen, und unter den Säulen lagen hier Haufen von Büchern, dort Haufen von Leichen. Auch vorn, wo die eigentliche Riesenkapelle des heiligen Gottes Serapis stand, war das Heiligtum nicht unversehrt. Mehrere von den Säulen waren an vielen Stellen bis auf Manneshöhe mit spitzen Eisen barbarisch verletzt, anderswo wieder mit Schmutz oder Blut besudelt. Ohnmächtige Wut gegenüber den schier unzerstörbaren Kolossen. Hinter der zweiten Säulenreihe, wo entsprechende Mauern das Allerheiligste des Gottes umschlossen, hatten die Christen gründlichere Arbeit zu tun versucht. Unterwühlen wollten sie die Mauern, um sie so zum Stürzen zu bringen. Aber zu tief wohl gingen die Fundamente. Zur Rechten und zur Linken lagen hohe Schuttmassen zwischen den Marmorquadern des Fußbodens aufgeschüttet. Noch standen die Mauern, und nur das scharfe Auge Wolffs glaubte zu erkennen, daß ein dünner Riß an der Schmalwand der Cella herunterging.

Als die Freunde vor dem Serapeum anlangten, trennte sich der Geistliche von ihnen, um sich zu seinen Amtsbrüdern zu begeben und da die neuesten Nachrichten einzuholen. Auch die jungen Gelehrten erfuhren bald, was die augenblickliche Stille bedeutete und worauf man wartete. Vor zwei Stunden hätten die Soldaten des Statthalters, aber in dessen Abwesenheit, angefangen, das verlassene Serapeum regelrecht zu belagern. Drüben der Erzbischof, der wie ein Sterbender in seiner Sänfte lag, inmitten von seidenbedeckten Priestern und halbnackten Anachoreten, der alte kranke Erzbischof Theophilos hätte vor dem Brescheschießen ein Gebet gesprochen. Aber das Gebet hätte nichts geholfen und die Strafe des Serapis würde nicht ausbleiben! Der anderthalb Ellen dicke Granitblock der Wesenschleuder hätte nach drei furchtbaren Stößen die Säule vor der Cella nicht zum Wanken gebracht. Nun wäre eine Abordnung zum Statthalter gegangen und zum Professor Theon, dem Erfinder der Riesenschleuder von anderthalb Ellen Kaliber.

Man wartete. Die Mönche sangen und hunderttausend Alexandriner, Männer, Frauen und Kinder, hörten untätig zu. Ihre Neugier war größer als ihr Zorn gegen die Mönche. Nur dann und wann ertönte irgendwo aus der Menge ein Fluch gegen den blutigen Erzbischof, dann wuchs die Zustimmung langsam zu einem Wutgeheul an, und wieder wurde es still. Die Freunde gewannen allmählich Raum, sich freier zu bewegen, und plauderten.

»Ich bin hier zu Hause,« sagte Wolff und deutete mit dem Finger nach einem turmartigen schwarzen Gemäuer an der Ecke eines Gäßchens, das vom Serapeum nach der Totenstadt des ägyptischen Viertels hinausführte.

»Dort?« rief Alexander erstaunt, »im Gespensterhaus? Dort wohnt ja der alte Fähnrich!«

»Mein Vater.«

Es blieb den Freunden zum Staunen nicht viel Zeit. Auf demselben Wege, auf welchem sie gekommen waren, nahte langsam ein seltsamer Zug. Voran ein paar Geistliche und Artillerieoffiziere, hinter ihnen, von Offizieren eskortiert, der alte weißhaarige Professor Theon in gebückter Haltung, an seiner Seite, ihn bescheiden stützend und doch stolz aufgerichtet, ein schlankes, jugendliches Weib. Noch sahen die Freunde nichts als ein schimmerndes, weißes Wollengewand, einen dunklen Schleier, blasse Wangen und ein Paar große Augen; aber das mußte Hypatia sein, deren Name sie von Athen herübergezogen hatte. Hinter dem Professor und seiner Tochter drängten weit über hundert junge Leute, die an ihren gleichfarbigen, breiten, schwarzen Kappen als Studenten zu erkennen waren.

Brausend ging der Ruf über den Platz: der Konstrukteur sei da, der Statthalter weigere sich, zu kommen. Unter tausend zornigen oder freundlichen Zurufen öffnete die Menge dem Zuge eine Gasse. Dicht an den Freunden vorüber schritt Hypatia vorwärts. Ihre schwarzen Wunderaugen waren unausgesetzt auf ihren Vater gerichtet, zu dem sie leise sprach. Sie sah niemand, die Freunde aber hatten sie erblickt, und Wolff faßte die Schulter des Troilos, daß dieser ächzte, und Alexander sagte zu Synesios, der keinen Ton gesprochen hatte:

»Sag' kein Wort, schweig!«

Schon hatten sich die vier Freunde unter die Studenten gemischt, welche Hypatia von der Menge trennten. So in ihrer Nähe schritten sie langsam vorwärts. Ohne Verabredung, ein jeder das gleiche Gefühl in der Seele: Gut, daß wir da sind!

Nach etwa fünfzig Schritten mußten sie Halt machen. Eine dichte Postenkette von Soldaten ließ nur die Offiziere, die Geistlichen und den Professor passieren. Alle anderen sollten zurückbleiben. Mit aufgehobenen Händen trat Hypatia noch einmal zu ihrem Vater heran:

»Tu's nicht, tu's nicht!«

»Ich muß!« erwiderte Theon. »Es ist Befehl von Konstantinopel. Und dann, sie sagen, die Anderthalbellenkalibrige tauge nichts. Meine Maschine! Sie haben sie schlecht eingestellt. Sie war gegen die Mauern von Ninive berechnet, die um dreiviertel Ellen dicker sind. Da will ich doch sehen...«

»Tu's nicht!«

Theon wandte sich zum Gehen.

Da warf Hypatia ihren Schleier zurück, hob ihre Arme gegen die Offiziere und rief so laut, daß das Volk es hören mußte:

»Tut es nicht, ich warne euch! Laßt mich kaiserlich mit dem Kaiser reden, laßt mich ihm sagen, daß die Hände der christlichen Priester schon nach seiner Krone greifen, während er sich und seine Armee in den Dienst der Kirche stellt! Tut es nicht! Größe des Hellenentums leuchtet auch von diesen Säulen, leuchtet hinüber über diese armseligen Hütten weit hinaus ins Meer und erzählt den fremden Schiffern, daß hier an unserem afrikanischen Strande hohe, menschliche Kultur im alten Schatzhaus erhalten sei! Schützen solltet ihr sie gegen diese Männer, schützen in des Kaisers Namen! Denkt an Kaiser Julianos...«

Wie bezaubert lauschten die nächsten Tausend auf die begeisterte Sprecherin. Aber ungeduldig hallte es von allen Seiten:

»Theon!«

Plötzlich war der Professor von seiner Tochter getrennt und schritt die Anhöhe empor, zu einer der mittleren Säulen, wo die Riesenschleuder aufgestellt war.

»Vater, tu's nicht!« schrie Hypatia ihm nach und wollte die Postenkette durchbrechen. Einer der jüngeren Offiziere hielt sie artig zurück und sagte leise:

»Glauben Sie mir, Fräulein Professor, wir möchten selbst lieber auf diese Pfaffen einhauen. Aber es ist Befehl.«

»Befehl? Von wem?«

Der Offizier zuckte die Achseln. Hypatia verschränkte die Arme und schwieg. Mit ihren Augen verließ sie den Vater nicht.

Der stand oben, von hunderttausend Neugierigen betrachtet, und erklärte einigen Offizieren ruhig, wie im Hörsaal, irgendein Geheimnis der Maschine. Wolff erriet, daß offenbar zwei Dinge versehen worden wären. Der Granitblock war nicht gut gerichtet gewesen; er hätte die Säule genau in der Mitte treffen müssen. Vor allem aber hatte man die Riesenschleuder so gelassen, wie sie auf große Entfernungen eingestellt worden war. Hier auf die kürzeste Distanz sollten einige Taue verkürzt und zwei Hebel vorgelegt werden. Wolff sah wenigstens, daß diese Änderungen jetzt auf Befehl der Offiziere und unter Zustimmung des Professors ausgeführt wurden. Man hörte nicht, was oben gesprochen wurde. Nur das konnte alle Welt sehen, wie Professor Theon nun selbst an die bedienende Mannschaft herantrat, die Taue noch um ein Stück zu kürzen befahl, wie er dann zeigte, welcher Hebel herunterzudrücken war, um die Maschine zum Schleudern zu bringen. Dreimal mußte der Mann am Hebel die Bewegung markieren. Dann ging Theon, so schnell ihn seine Füße tragen konnten, an die Säule heran und zeigte mit dem Finger auf die Stelle, wo der Granitblock mit seiner stumpfen Spitze einschlagen mußte. Lächelnd in seiner wissenschaftlichen Sicherheit stand der alte Mann da, sprach noch, da geschah es. Ob Theon selbst den Befehl gab in seiner Zerstreutheit, ob der verwirrte Soldat eigenmächtig den Hebel niederdrückte oder ob, wie am nächsten Sonntag in allen Kirchen erzählt wurde, ein rosiger Engel vom Himmel die Maschine bedient hatte, man erfuhr es nicht. Der Soldat schrie auf, die Maschine knirschte, und fast in derselben Sekunde donnerte der Block gegen die Säule. Professor Theon lächelte noch, und mit Donnergekrach stürzte es zusammen. Zuerst die getroffene Säule und das mächtige Steingebälke, das sie sechzig Ellen hoch auf ihrem Riesenhaupte trug; dann stürzte die nächste Säule mit dem halben Dach nach und noch ein Stück der dritten Säule. Noch immer hatte die Spannung die Masse nicht atmen lassen, da erscholl abermals mitten aus einer undurchdringlichen Staubwolke heraus ein neues Donnergekrach. Der Tempel stürzte ein.

Jetzt war es eine Sekunde ganz still; dann schrien die Menschen auf, lauter noch, als das Gebäude krachte.

Freilich nicht alle Zuschauer waren entsetzt. Einige von den wildesten Anachoreten, welche sich zunächst an die Maschine herangedrängt hatten, begannen zu springen wie Wahnsinnige. Unter ihnen ihr Führer Isidoros, unheimlich mit seinen gespenstisch langen Armen im Nebel der Staubwolke. Dann stimmten sie einen Siegespsalm an. Tausendstimmig klang er von den Mönchen herüber, noch übertönt von Schreckensrufen derer, die jetzt den Professor erschlagen wußten und viele von den Soldaten verwundet, über Gesang und Angstschrei hinaus tönte aber zehntausendstimmig über den Platz die Klage um das Land, das nun von Serapis mit einer Hungersnot gestraft werden würde.

»Brot! Der Kaiser soll uns Brot geben! Nieder mit den Pfaffen! Nieder mit dem Statthalter! Der Statthalter ist gut! Nieder mit dem Kaiser! Hypatia ist gut! Man soll Hypatia gehorchen! Wo ist Hypatia?«

Hypatia war ohnmächtig umgesunken, als sie ihren Vater nicht mehr sah. Wolff hatte sie aufgefangen, und als wäre er ein Befehlshaber, so kommandierte er den Studenten.

»Hinüber ins Gespensterhaus. Keilförmig vor durch die Masse. Niedergetreten, wer nicht Platz macht. Und wenn sich einer nicht niedertreten läßt, das Messer. Wir tragen sie. Sie beide und ich. Vorwärts, Kommilitonen! Durch!«

Und als wäre der Keil von Studenten ein Schiff gewesen und die Menschenmasse das Meer, so ruhig und sicher, so rücksichtslos drangen die Studenten mit dem ohnmächtigen Weibe hindurch bis ans Gespensterhaus.

Dort stand der alte Fähnrich auf der Schwelle. Mit gutmütigem Spott blickte er auf den Zug der Studenten, auf die Tochter des Theon und auf ihre Träger. Da erkannte er Wolff.

»Uli!« rief er, und weil er vor Fremden sein Gefühl nicht zeigen wollte, so ballte er bloß die Fäuste. Er trug immer noch etwas wie einen militärischen Anzug. Seine Arme waren bloß, und wie er die Fäuste ballte, reckten sich seine Muskeln wie die eines Schmiedes.

»Zu guter Stunde...«

»Verflucht sei die Stunde!« rief Wolff. »Tragt das arme Weib hinein. Synesios, du verstehst dich auf Krankenpflege, gib der Magd die nötigen Weisungen. Du, Alexander, holst einen Arzt. Ich bleibe hier und lasse niemand ein.«

Und stumm stellte sich Wolff neben seinen Vater.

Auch von hier konnte man das Serapeum gut übersehen.

So schwach der Wind auch wehte, die Staubwolke fing an sich zu verziehen. Um die Riesenschleuder war lebhafte Bewegung. Offiziere studierten sie aufmerksam, Soldaten bewegten sie langsam auf niedrigen Rädern zur vierten Säule, während einige verwundete Kameraden fortgetragen wurden. Der Trümmerhaufe, den die geborstenen Säulen bildeten, war schreckhaft. Dahinter aber war etwas Wunderbares geschehen. Zur Rechten und zur Linken waren die Längswände der Cella, alles mit sich reißend, niedergestürzt, aber gerade hinter den geborstenen Säulen, inmitten der Ruinen, schimmerte jetzt aus dem sinkenden Staub heraus die silberglänzende Statue des Gottes. Ein unendlicher Jubelruf ertönte aus der Menge. So hatte Serapis ein Wunder getan, um sein Bild zu retten und das Land! Eine lange Zeit kämpften Stimmen gegen Stimmen, Gebete gegen Gebete. Die Mönche sangen Verdammungslieder gegen die Statue, der niedere Pöbel flehte zu ihr. Das Heiligtum der Stadt ließ Kranke genesen, Krüppel zu heilen Gliedern kommen, vor allem schaffte es Brot, Brot!

Um die Sänfte des Erzbischofs herum kamen und gingen die Geistlichen und die Offiziere.

»Es traut sich keiner an den Götzen,« sagte der alte Fähnrich zu seinem Sohne, »sie sind alle zu feige.«

Wenige Minuten darauf kam ein Sekretär eilig auf das Gespensterhaus zu. Schon von weitem winkte er dem alten Fähnrich.

»Der Erzbischof sendet Euch seinen Segen!«

»Hm!«

»Kein anderer als Ihr dürfe, so sagt er, sich das ewige Verdienst erwerben, mit scharfem Beil das Haupt des Götzen zu spalten. Höchste Eile sei not. Auf der Stelle müsse es geschehen. Seid Ihr bereit?«

Der alte Fähnrich wandte sich an seinen Sohn.

»Du bist gelehrt, ich nicht. Ist das ein Götze?«

»Jawohl, auch das ist ein Götze,« sagte Wolff.

»Und ist es zu Frommen unserer heiligen Sache, ist es zu Frommen des wahren Glaubens und der christlichen Zukunft, wenn dieser Götze stürzt?«

Wieder hallte über den weiten Platz das alte Gebet, das die Ägypter seit tausend Jahren sangen, wenn der Nil nicht schwellen wollte und Serapis helfen sollte.

Verächtlich wandte sich Wolff zu dem Abgesandten des Erzbischofs und sagte:

»Was würdet ihr tun, wenn die Nilwasser ausblieben?«

»Wir würden eine Wallfahrt zu den Gebeinen des heiligen Antonios veranstalten im Namen des wahren Gottes.«

Da ging Wolff mit einem Fluche gegen alle Götzen ins Haus hinein, woher er ein Schluchzen zu vernehmen glaubte.

Ohne ein Wort zu sprechen, trat auch der alte Fähnrich ins Haus und kehrte bald mit einem Beil in der Hand zurück. Langsam schritt er mitten durch das Volk, das ihm scheu Platz machte, auf den Tempel zu. Noch aus der Menge ragten seine grauen Haarzöpfe und seine Schultern heraus. Am Erzbischof, der ihm zuwinkte, schritt er aufgerichtet vorüber, die Anhöhe stieg er hinauf und ging über die Trümmer, wie auf ebenem Boden, bis in die geborstene Cella hinein. Wie über glatte Stufen stieg er empor bis über den Gürtel der Statue. Dann maß er die Entfernung und schwang das Beil. Die Mönche schrien ihm fanatisch zu. Die Menge drängte vor und wollte die Tat verhindern. Mit Gewalt mußten die Soldaten ihre Postenkette behaupten, und an zwei Stellen drohte ein Kampf auszubrechen.

Dreimal hatte der alte Fähnrich das Beil gehoben, dreimal schwang er es wie ein opfernder Priester um den silberglänzenden Stierkopf des Gottes, dann ließ er die Schärfe donnernd niederfallen, und ein entsetzter Aufschrei des Volkes war die Antwort. Die silberne Hülle löste sich und das schwarze Holz trat zutage. Wieder schwang er das Beil und ließ es fallen und zum dritten Male. Da klaffte das Bildwerk weit auseinander und schauerlich tönte es von allen Seitens »Der Teufel! der Teufel!« – Eine schwarze Ratte war aus dem Innern der Statue entflohen. Rasend durchbrach jetzt die Menge noch an einer dritten Stelle die Postenkette, und ein blutiger Kampf begann, ein echt alexandrinischer Straßenkampf.

Eine gute Weile blieb der alte Fähnrich noch auf seinem Marmorblock stehen und führte Schlag um Schlag gegen das Götzenbild. Dann kehrte er, das Beil fest in der Hand, zu seinem Hause zurück. Das Volk, das Tod und Verderben herabwünschte über den Erzbischof und über alle Pfaffen, machte vor ihm Platz, scheu wie vor dem Henker.

Am Abend dieses Tages verkündeten Mauerinschriften an allen christlichen Kirchen, der Zeichentelegraph von der großen Pyramide habe gemeldet, der Nil stehe sechzehn Ellen hoch. Der Christengott war gut, gab Brot, so reich wie der stierköpfige Serapis. Das Volk von Alexandria jubelte vor dem Palais des kranken Erzbischofs.


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