Fritz Mauthner
Hypatia
Fritz Mauthner

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4. Der neue Erzbischof

Die Wahl des neuen Erzbischofs war auf Anfang September festgesetzt. Als der arge Theophilos während eines seiner Zornanfälle zum Sterben kam, galt es für ausgemacht, daß sein Nachfolger aus einer der volksfreundlichen Parteien gewählt würde. Man erinnerte sich, während der alte Erzbischof mit dem Tode rang, an seine greulichen Worte und an seine noch greulicheren Taten. Als junger Mann schon hatte er in einer großen Wahlschlacht selbst zum Messer gegriffen. In seiner hohen Stellung hatte er dann in bisher unerhörter Weise die Gegenparteien beschimpft und bedroht und bei der Verfolgung seiner ehrgeizigen Absichten weder das Leben des einzelnen geschont, noch die Not der Stadt. Er zuerst hatte in rücksichtslosem Hasse solche Wahlkämpfe eingeführt. Er zuerst hatte die Wähler gelehrt, die Gegner wie im Kriege zu überwinden durch Hunger und Wunden.

Freilich schmeichelte es auch der Eitelkeit der ägyptischen Residenzbewohner, daß der Mann ihrer Wahl, einerlei, durch welche Mittel, eine der angesehensten Personen des Reichs geworden war. Auf den Reichstagen der Kirche war der Erzbischof von Alexandria der ausschlaggebende Mann. Seine Verehrer nannten ihn einen Patriarchen, und selbst seine Nebenbuhler von Rom und Konstantinopel fühlten sich von seinem Ansehen gedrückt. Es war alle Aussicht vorhanden, daß Alexandria die Hauptstadt der christlichen Welt würde, daß die Bischöfe von Alexandria als Statthalter Gottes auf Erden in die Lage kämen, der ganzen Christenheit vorzuschreiben, wie sie zu glauben, zu denken und zu handeln hätten. Das reizte nicht allein den Stolz und die Schaulust der Großstädter vom Nil, sondern versprach ihnen auch beträchtliche Einkünfte für ungemessene Zeiten. Von dem Nutzen für das Seelenheil gar nicht zu reden.

In die Vorbereitungen zur Wahl fiel ein aufklärendes Wort des Statthalters, der bei einem Diner inmitten der Ältesten der Kaufmannschaft die Bemerkung hinwarf: gewiß sollte Alexandria sein hohes Ansehen behaupten; aber gerade darum müßte der neue Erzbischof ein Mann des Friedens und des Kompromisses sein; die Zeiten der blutigen Wahlkämpfe wären vorüber, der Staat würde einen Extremen, einen Fanatiker nicht unterstützen.

Solche Worte schienen deutlich auf den Erzpriester Timotheos gemünzt zu sein, einen Mann aus der arianischen Zeit, den Sohn eines Knechts, einen emporgekommenen Proletarier, der zwar unter dem blutigen Theophilos sich der herrschenden Partei unterworfen hatte, aber keiner von den lauten Überläufern geworden war, vielmehr heimlich immer wieder die alten Genossen zu schützen suchte. Ob das aus Furcht vor ihrer Rache geschehen, oder aus Güte, das war schwer zu sagen; genug, Timotheos hatte bei den armen Wählern der Vorstädte großen Anhang; und wenn ihn zugleich die Regierung unterstützte, so mußte ihm die Mehrheit zufallen.

Die orthodoxe Partei schien von der Tischrede des Statthalters so erschreckt zu sein, daß ihr Kandidat anfangs gar nicht hervorzutreten wagte. Erst acht Tage vor der Wahl erschienen an allen Straßenecken von Alexandria Maueranschläge, in denen der Neffe des blutigen Theophilos, Kyrillos mit Namen, sich zu dem hohen Amte meldete, seiner guten Vaterstadt Alexandria, den Patriziern sowohl wie den letzten Bettlern, goldene Berge versprach und am Schlusse die Worte des ersten Beamten aufnahm, um sie zu seinen eigenen zu machen. Auch er wolle nur den Frieden zwischen den Parteien und durch den Frieden Macht und Ansehen für Alexandria.

Der Wahlkampf geriet in eine ungeheure Verwirrung. Beide Parteien beriefen sich auf das Programm des kaiserlichen Statthalters, und von den grundlegenden Gegensätzen war gar nicht mehr die Rede. Die Volksredner in den einzelnen Bezirken hätten manche ihrer Ansprachen ebensogut für Timotheos wie für Kyrillos halten können. Es handelte sich nur darum, welche von den beiden Personen der Statthalter für geeigneter hielt, sein Programm auszuführen. Er äußerte sich nicht, und einige Tage tappten alle Regierungsfreunde im Dunkeln. Doch plötzlich erfuhr man, daß Timotheos an die Behörde ein selbstbewußtes Schreiben gerichtet hätte, in welchem er verschiedene Streitpunkte zwischen Staat und Kirche auseinandersetzte, zwar höflich, aber entschieden deren Beilegung verlangte, daß dagegen Kyrillos vom Statthalter empfangen worden wäre und ihm genügende Garantien für seine gut kaiserliche Gesinnung gegeben hätte.

Da ergriff ein dumpfer Zorn die Männer von der untersten Wählerklasse. Plötzlich schien das Schlagwort gefunden, unter welchem man für die Partei der Armen und Enterbten streiten wollte.

Der Neffe des Theophilos war bis dahin ganz und gar nicht politisch hervorgetreten, und dennoch schien seine eilige Unterwerfung unter die byzantinische Allmacht alles zu verraten, wessen man sich von ihm zu versehen hätte. Man kannte den Neffen des Theophilos bisher nur als einen stimmgewaltigen guten Redner, dessen Kunst bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen in den ersten Häusern der Stadt beliebt war. Besonders die Damen schwärmten für seine klangvoll dahinrollende Stimme. Er war ein stattlicher Mann, dessen breites, glattrasiertes Gesicht Züge einer stupiden Härte gezeigt hätte, wenn nicht durch ein unveränderliches Predigerlächeln der Ausdruck gemildert worden wäre. So ausgestattet, benutzte Kyrillos die letzten Tage, um mit eigener persönlicher Gefahr, wenn auch stets von einem Dutzend seiner Getreuen begleitet, in den schmutzigsten Spelunken der Vorstadt selbst für seine Wahl einzutreten. Seine Rednergeschicklichkeit und seine Lungenkraft erzwangen sich häufig Gehör. Wie er das Programm der Regierung zu dem seinen gemacht hatte, so nahm er auch die schönsten Worte aus dem Evangelium und aus den aufrührerischen Schriften der demagogischen Sektenführer in seinen Gedankengang auf, und wenn man ihm so lauschte, hätte man glauben müssen, ein asketischer Mönch aus der Wüste wäre als neuer Messias erschienen, um zu gleicher Zeit den allmächtigen Staat auf der Erde und den allmächtigen Gott im Himmel vor den Unordnungen der Alexandriner zu schützen. Aber ein sicherer Instinkt warnte trotzdem die Wähler der Vorstadtbezirke. Man glaubte dem reichen Neffen des Theoptzilos nicht, dem mehrere Zinshäuser in der teuersten Stadtgegend gehörten und dessen Küche selbst in Finanzkreisen berühmt war, dem Manne, der sich vor der Wahl blindlings der Regierung in die Arme warf, man traute ihm nicht, obwohl man an die guten Absichten der Regierung glaubte. Mitunter wurde der Redner Kyrillos, anfangs zu seiner großen Verwunderung, verhöhnt und mit ungekünstelten und deutlichen Antworten heimgeschickt. Und zu derselben Zeit wurde Timotheos fast gegen seinen Willen zum alleinigen Kandidaten des armen Volkes ausgerufen. Man erzählte sich, der alte totgeglaubte Märtyrer Biblios sei aus Asien oder der neuen Welt der Atlantis zurückgekommen, um in den Katakomben gegen den Neffen des Theophilos und für Timotheos zu sprechen.

Aber am Wahltage wußte wiederum jeder christliche Sackträger im Hafen von Alexandria, daß das Brot billiger würde, wenn man den Kyrillos wählte. Das hätte der Kaiser selbst versprochen.

Eine Wahl wie diese war selbst in Alexandria noch nicht erhört worden. Bis gegen Mittag glaubte man im niederen Volke, daß der verhaßte Kyrillos keine Aussicht hätte, obgleich die untere Wählerklasse nur ein beschränktes Wahlrecht besaß. Kurz nach der Mittagstunde aber ging es wie ein Lauffeuer vom Leuchtturm bis hinunter zum letzten Totengräberhäuschen, daß das Volk betrogen worden sei. Im letzten Augenblick hätte man sämtlichen hohen und niederen Beamten, die noch kein Wahlrecht besaßen, durch eine neue Gesetzesauslegung ein solches verliehen. Die Ausländer wären naturalisiert worden, die Nichtchristen in Massen getauft, die Neuangekommenen durch Verleihung von Titeln und Ämtern zu Bürgern der Stadt gemacht worden, und endlich hätte Kyrillos ein ganz neues System der rücksichtslosesten Beaufsichtigung durchgeführt. Kolonnenweise zogen die christlichen Gesellenvereine zur Wahl, kolonnenweise die Innungen, kolonnenweise die Beamten und die invaliden Soldaten. Umsonst rafften die kleinen Leute, die Arbeiter und die Knechte, in letzter Stunde ihre Scharen zusammen, umsonst versuchten sie es gegen Abend, mit Waffengewalt die Fälschung der Wahl zu verhindern, sich den Eintritt in die Lokale zu erzwingen und durch ihre Gegenwart allein zu beweisen, daß die wahre Mehrheit nicht auf seiten des Kyrillos sei. Umsonst! Die Truppen waren konsigniert worden, und bevor noch das Signal zum Aufstand, welches aus der Gegend des vernichteten Serapeums herzukommen schien, bis in die entfernten Stadtgebiete gelangt war, waren schon die bedrohten Punkte von Soldaten besetzt. Trotzdem brach der Aufstand los. Namentlich in der westlichen Vorstadt wurde heftig gekämpft. Und während laut schreiend Frauen und Kinder herbeieilten, um die Leichen ihrer Ernährer aus dem Gedränge zu retten, während viele Hunderte von Verwundeten in den Straßen umherlagen, die einen sich und ihr heißes Blut verwünschend, die anderen die Pfaffen, wurde in der Kathedrale der Stadt verkündet, daß der heilige Mann Kyrillos durch den Willen des Volkes Erzbischof von Alexandria geworden sei.

Aber zur selben Zeit, da die Stadt durch die Wahlkämpfe aufs äußerste in Angst und Unruhe versetzt wurde, vollzog sich ganz still dieses und jenes Ereignis, welches den beteiligten Kreisen noch wichtiger schien als der Streit um den erzbischöflichen Stuhl von Alexandria. Die schöne Hypatia hatte die stumme Trauer um ihren Vater beendet und außer ihrer Vorlesung über das Ptolemäische Weltsystem noch ein publicum: »Die religiöse Bewegung und Kritik des Christentums« angekündigt. Das astronomische Kolleg war gut besucht; außer den Studenten des Fachs erschienen noch zahlreiche junge Leute anderer Fakultäten, selbst manche Professoren, und alle staunten über die Schärfe der Logik, mit welcher das junge Weib das Lehrgebäude des größten Alexandriners angriff. Das publicum aber, welches jeden Sonntag von Neun bis Elf gehalten werden sollte, fand einen solchen Zulauf, daß es gleich am ersten Tage aus dem Hörsaal der Hypatia nach der großen Aula an der Hafenstraße verlegt werden mußte.

Die vier jungen Gelehrten aus Athen hatten sich zur rechten Zeit wieder zusammengefunden. Um die Wahlbewegung kümmerten sich Troilos und Alexander ganz und gar nicht, trotzdem dem letzteren vom Vater geraten worden war, sich der Regierung zur Verfügung zu stellen. Synesios, als Patriziersohn, gab seine Stimme gleichgültig für Kyrillos ab. Wolff mochte sich wohl etwas tiefer eingelassen haben. Wenigstens erschien er am Tage nach der Wahl im Kolleg mit einem schwarzen Pflaster über der linken Wange und trug überdies die rechte Hand in einer Binde. Er lachte aber auf alle Fragen und versprach binnen wenigen Tagen wieder imstande zu sein, jeden die große Treppe hinunterzuwerfen, der die Vorlesung Hypatias stören wollte.

Drei Tage früher nämlich, am Sonntag vor der Wahl, war es geschehen, daß Hypatia die erste öffentliche Vorlesung gehalten hatte und dabei durch den Andrang der Zuhörer zur Übersiedelung gezwungen worden war. Die vier Getreuen hatten, trotzdem sie noch vor Schluß der akademischen Viertelstunde kamen, nur noch einige Plätze an der Tür erobert. Von da aus konnten sie am besten beobachten, daß in ihrer Nähe junge Leute standen, die offenbar in feindlicher Absicht hierhergesandt worden waren. Sie machten ziemlich laut ihre schlechten Witze über das schöne Fräulein Professor, versuchten es, unanständige Geschichten mit der Lehrerin in Verbindung zu bringen und der ganzen Vorlesung etwas von einem studentischen Ulk oder einer lustigen Hetz zu geben. Als das Kolleg nun mit Rücksicht auf Hunderte von abgewiesenen und draußen lärmenden Studenten sofort nach der großen Aula verlegt wurde und die zusammengeströmten Zuhörer durch die Gänge und über die Höfe der Akademie nach dem anderen Saale stürmten, riefen die vier Getreuen einander zu, sie wollten die Leibwache der edlen und schönen Frau sein. Von Alexander geführt, dem ein Diener für ein gutes Trinkgeld eine sonst verschlossene Verbindungstür öffnete, erreichten sie die Aula zuerst und besetzten lustig triumphierend die erste Mittelbank, gerade dem Katheder gegenüber. Sie hatten es nicht zu bereuen. Als Hypatia nach einer leisen Verbeugung Platz nahm und Synesios vor Verblüffung über das, was er sah, sich niederzusetzen vergaß, als Wolff ein unverständliches deutsches Wort zwischen den Lippen herauspreßte, da sahen einander auch Alexander und Troilos verwundert an, und Troilos schrieb noch vor Beginn der Vorlesung auf einen Zettel: »Es gibt endlich etwas, woran ich nicht zweifle: daß Hypatia schön ist.« Alexander schob den Zettel zurück. Er hatte darunter geschrieben: »Das hohe Lied Salomonis, das vierte Kapitel, zwölfter Vers.«

Ein einfaches schwarzes Kreppkleid floß in matten Falten vom Hals zu den Knöcheln der Lehrerin nieder. Es war nicht modern und nicht veraltet, nicht geschickt gewählt und auch nicht unkleidsam; es war, als ob die schöne Lehrerin gerade so und nicht anders gekleidet sein müßte. Die Fülle ihres schwarzen Haares, aus dem über der linken Schläfe eine dünne graue Haarsträhne wie ein Maskenscherz hervorschimmerte, hatte sie fast gewaltsam zu einem dichten Knoten verschlungen; aber wer den Knoten bei einer Bewegung des Kopfes erblickte, der mochte fragen, wie diese Wellen niederfließen müßten, wenn sie nicht gewaltsam zurückgehalten würden, niederfließen um Wangen und Schultern hinab bis zum Gürtel. Doch auch ohne den Rahmen der schwarzen Locken leuchtete das ruhige Oval des Gesichtes wie von einem überirdischen Schein. Die bleichen Wangen rundeten sich langsam; und ohne daß auch nur ein Ansatz von Grübchen vorhanden gewesen wäre, huschte es wie ein Schatten von Grübchen darüber hin, als die Aula sich immer weiter und weiter füllte, und Hypatia verlegen lächelte wie ein Kind am Geburtstag. Der Mund war nicht klein und die Zähne groß. Darüber die kräftige Nase und die edle, fein modellierte, an den Schläfen von bläulichen Adern gefärbte Stirn. Was aber dem Gesicht seinen unvergleichlichen Ausdruck gab, das waren die großen schwarzen Kinderaugen, die anfangs wie hilflos in froher Verlegenheit in die Schar der Studenten hineinstarrten und dann während des Vortrags leblos wie die Marmoraugen einer Götterstatue und doch wieder leuchtend von innerem Leben, über die Zuhörer hinweg, durch die Wände hindurch, irgendwo etwas Fernes, Großes schauten. Die tiefe, weiche Stimme der Rednerin endlich führte völlig hinaus aus den persönlichen Beziehungen, die wohl mancher der Studenten beim Anblick der schönen Lehrerin erträumen mochte. Der war es um die Sache zu tun, das hörte man, nicht um menschliche Eitelkeit.

Auch in der Aula hatten einige Studenten in den hintersten Reihen Störung verursachen wollen. Aber unter Führung der vier Getreuen wurden die fremden Elemente energisch zur Ruhe gewiesen, und bei wiederholtem Trampeln der Zustimmung konnte Hypatia ihr zweistündiges Kolleg halten. Es war aber diesmal nur eine fast trockene Einleitung.

Sie habe sich die Aufgabe gestellt, die in mathematischer Schulung erworbenen Fähigkeiten an die höchsten Aufgaben zu wenden, an die Prüfung der neuen Weltanschauung. Das Christentum scheine ja die kultivierte Menschheit erobern zu wollen. Da sei es für den Philosophen an der Zeit, die Beweisgründe dieser Religion zu prüfen: ob die heiligen Schriften der Christen wirklich einen höheren Ursprung hätten als die Bücher anderer Leute, und ob, den göttlichen Ursprung und all die Wundergeschichten zugegeben, Übereinstimmung wäre zwischen dem Leben der Christen und den Lehren ihrer heiligen Schrift. Das wolle sie untersuchen. Sie habe einen großen Vorgänger gehabt an dem unglücklichen Kaiser Julianos, der mit mehr Menschenkenntnis und unvergleichlichem Witz die Wundergeschichten und Dogmengebäude der Bischöfe für jeden philosophischen Leser aus der Welt geschafft hätte. Doch nach dem frühen Tode des großen Kaisers sei eine wahre Hetzjagd nach seinen Schriften unternommen worden; besonders der damalige Bischof von Alexandria habe alle Bücher des Julianos verbrennen lassen, als ob Feuer die Wahrheit vernichten könnte.

Hypatia schloß für diesmal mit einer begeisterten Darstellung von Julianos Charakter.

»Ein armer Lehrer unserer Akademie ist nicht imstande, irgendeinen der Pläne aufzunehmen, mit denen Kaiser Julianos das Erbe griechischen Geistes unverkürzt auf die Nachwelt bringen wollte. Schon bricht das Reich zusammen, und niemand ist da, die Grenzen zu schützen. Barbaren vom Norden, Barbaren vom Osten zertragen das Erbe des Reichs. Sein Geist aber, der Geist des großen Kaisers, soll nicht untergehen; und auch ein armer Lehrer unserer Akademie darf es sich zum Lebenswerk setzen, Julians Kritik der neuen Religion zu suchen, wiederherzustellen und fortzuführen nach Kräften und Vermögen. Diese Arbeit habe ich auf mich genommen und erwarte einst keinen anderen Lohn als den Lohn des Kaisers Julianos.«

Es verstand sich von selbst, daß die nächsten Studenten, unter ihnen die vier aus Athen, das Fräulein Professor, das von Feinden bedroht schien, nach Schluß der Vorlesung die wenigen hundert Schritte bis zu ihrer Wohnung geleiteten. Bescheiden, in angemessenem Abstand, aber doch nahe genug, um jede Beleidigung verhindern zu können.

Ähnlich verlief die zweite Vorlesung am Sonntag nach der Wahl.

An diesem Sonntag aber hatte der neue Erzbischof seine erste Predigt in der Kathedrale gehalten. Und er war nicht wenig ungehalten darüber, daß die Kirche aus solchem Anlaß nicht so recht gefüllt war. Die Behörden waren zwar ganz nach der Sitte vertreten, die angesehensten Familien hatten ihre festen Plätze nicht leer gelassen, und weiterhin standen in der Vorkirche viele alte Frauen und die Mitglieder der Gesellenvereine, aber Kyrillos sagte sich, während er seine schöne Stimme durch die weite Halle rollen ließ, daß außer den frommen alten Weibern eigentlich niemand freiwillig zu seiner Predigt gekommen sei. Unzufrieden schloß er seine Ermahnung, und unzufrieden nahm er in der Sakristei die Glückwünsche des Klerus entgegen. Das müsse alles anders werden, war der einzige Gedanke, den er in immer, neuen Ansprachen, hoffärtig und nervös, gegen Kleriker und Beamte aussprach. Als er sich nun in deren feierlichem Geleite von dem Portal der Kathedrale über den Hafenplatz hinweg nach seinem Palais zurückbegeben wollte, kreuzte seinen Weg ein Strom von jungen Leuten der besseren Stände, die lebhaft plaudernd aus dem Akademiegebäude herausdrängten. Auf einen fragenden Blick des Erzbischofs erwiderte sein Sekretär Hierax, das sei das Publikum der Heidin Hypatia, die den Sonntag durch ihre Kritik des Christentums entheilige und einen Zulauf habe wie kein Prediger seit Menschengedenken. In diesem Augenblick, da Kyrillos von zwei Studenten, die in ihrem eifrigen Gespräch gar nicht aufblickten, sogar zur Seite geschoben wurde, erschien auf der Treppe der Aula die Lehrerin selbst, hoch aufgerichtet, so ernst und stolz wie auf dem Katheder, das schöne Haupt jetzt nur von einem langen schwarzen seidenen Tuch bedeckt. Nicht weit hinter ihr schritten etwa dreißig Studenten, achtungsvoll und stumm wie eine Leibwache. Ein kurzes Hoch von vielen hundert Stimmen erscholl, und Hypatia verschwand nach einem stillen Neigen des Hauptes, von den Getreuen ruhig gefolgt, um die nächste Ecke des Akademiegebäudes.

Der Erzbischof Kyrillos blieb stehen, als ob er duldsam den Strom der jungen Leute verlaufen lassen wollte. Aber über sein glattes Gesicht flog ein gelblicher Schimmer, und der Sekretär flüsterte seinem Nachbar zu:

»Das sitzt! Ihre Kritik hätte er ihr vielleicht vergeben, aber den Zudrang nicht!«


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