Guy de Maupassant
Schnaps-Anton
Guy de Maupassant

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Die Gefangenenen

Kein Laut drang durch den Wald, als das leise Rauschen des Schnees, der sacht auf die Bäume niederfiel. Er fiel seit Mittag, fein und ganz allmählich. Er bepuderte die Äste mit eisigem Moos und wölbte über dem welken Laub am Boden ein leichtes Silberdach, bedeckte die Wege mit einem gewaltigen, weichen, weißen Teppich, daß es noch stiller ward in diesem Meer von Bäumen.

Vor dem Försterhaus machte eine junge Frau, mit bloßen Armen, Holz klein, mit dem Beil auf einem Steinblock. Sie war groß, schlank, kräftig, ein Waldkind, Tochter und Frau eines Försters.

Eine Stimme klang aus dem Inneren des Hauses:

– Wir sind heute abend allein, Berthchen. Du mußt hereinkommen, es wird nacht. Vielleicht kommen die Preußen oder ein Wolf.

Sie antwortete und schlug noch mit ein paar gewaltigen Hieben ein letztes Stück Holz klein, wobei jedes Mal, daß sie die Arme hob, ihre Brust sich mit bewegte:

– Ich bin fertig, Mutter. Ich komme schon, komme schon. Hab' keine Angst, es ist noch hell.

Dann schichtete sie Reisig und Holz am Kamin auf und ging noch einmal hinaus, um die Läden zu schließen, gewaltige Eichenläden, kam dann wieder herein und schob die schweren Riegel vor die Thür.

Ihre Mutter saß am Feuer. Ein altes, runzliges Weib, das das Alter furchtsam gemacht hatte.

– Ich hab's nicht gern, wenn der Vater fort, ist. Zwei Frauen so allein.

Die Junge antwortete:

– Nun, einen Wolf schlage ich gleich tot und einen Prüssien ebenso gut.

Und sie warf einen Blick nach einem großen Revolver, der an der Wand hing.

Ihr Mann war bei Beginn des Feldzugs eingezogen worden, und die beiden Frauen waren mit dem Vater, dem alten Förster Nikolaus Pichon, genannt die Stelze, allein geblieben. Er hatte durchaus sein Haus nicht verlassen wollen, um in die Stadt zu ziehen.

Die nächste Stadt, Rethel, einstige Festung, lag auf einem Felsen. Die Leute dort waren sehr patriotisch, und die Bürger hatten sich dazu entschlossen, den Eroberern Widerstand entgegenzusetzen, die Thore zuzumachen und, der Tradition ihrer Stadt entsprechend, die Belagerung abzuwarten. Zweimal schon, unter Heinrich IV. und Ludwig XIV., hatten sich die Bürger von Rethel durch tapfere Verteidigungen ausgezeichnet. Und diesmal wollten sie es, weiß der Teufel, nicht anders machen, oder man mochte sie mitsamt ihren Häusern verbrennen.

Sie hatten also Kanonen und Gewehre gekauft, eine Miliz errichtet, Bataillone und Kompagnien gebildet, und auf dem Exerzierplatz übten sie täglich.

Alle, Bäcker, Fleischer, Konditoren, Notare, Tischler, Buchbinder, selbst Apotheker exerzierten regelmäßig unter Befehl des Herrn Lavigne, eines früheren Dragonerunteroffiziers, der jetzt Kaufmann war, da er die Tochter und Erbin der Firma M. Ravaudan sen. geheiratet hatte.

Er hatte den Titel eines Platzkommandanten angenommen. Und da die ganze Jugend im Felde stand, hatte er alles, was noch übrig war, zusammengetrommelt zum Widerstand. Die Dicken liefen nur noch im Laufschritt durch die Stadt, um Fett zu verlieren und Atem zu gewinnen; die Schwachen trugen Lasten hin und her, um ihre Muskeln zu stählen.

Man wartete nur auf die Preußen. Aber die Preußen kamen nicht. Und doch waren sie nicht weit entfernt, denn zweimal schon waren Patrouillen durch den Wald bis an das Haus des Försters Nikolaus Pichon, genannt die Stelze, gekommen.

Der alte Fürster, der immer noch wie ein Wiesel laufen konnte, hatte es in der Stadt gemeldet. Die Kanonen waren augenblicklich gerichtet worden, aber der Feind zeigte sich nicht.

Das Haus der Stelze diente als vorgeschobener Posten im Forst von Aveline, und der Förster ging zwei Mal in der Woche nach der Stadt, um Vorräte zu holen und den Bürgern in der Festung Meldung zu erstatten.

* * *

Gerade an dem Tag war er fortgegangen, um zu melden, daß eine Abteilung deutscher Infanterie zwei Tage vorher, gegen zwei Uhr nachmittags, bei ihm gehalten hatte, aber sofort wieder aufgebrochen war. Der befehligende Unteroffizier sprach französisch.

Wenn der Alte so seines Weges ging, nahm er seine beiden Hunde mit, zwei Schäferhunde mit einem Gebiß wie Löwen. Sie sollten ihn begleiten wegen der Wölfe, die anfingen, bösartig zu werden. Er ließ die beiden Frauen zurück, indem er ihnen befahl, sich, sobald es Nacht würde, im Haus zu verbarrikadieren.

Die Junge fürchtete sich vor nichts, aber die Alte zitterte immer und sagte:

– Das läuft noch schlecht ab! Das läuft noch schlecht ab!

An diesem Abend war sie noch ängstlicher als sonst.

– Weißt Du, wann der Vater nach Haus kommt? fragte sie.

– O, bestimmt nicht vor elf. Wenn er beim Platzmajor ist, kommt er immer spät nach Haus.

Und sie setzte den Topf aufs Feuer, um Suppe zu kochen. Sie schob ihn hin und her. Aber plötzlich hielt sie still und lauschte auf ein unbestimmtes Geräusch, das sie durch das Kaminrohr gehört.

Sie flüsterte:

– Es geht jemand im Wald. Das sind mindestens sieben oder acht Leute.

Die Mutter war erschrocken, hielt ihr Spinnrad an und murmelte:

– O mein Gott, und der Vater ist nicht da!

Sie hatte kaum die Worte beendet, als man so heftig gegen die Thür schlug, daß sie zitterte. Da die Frauen nicht antworteten, brüllte eine kehlige, starke Stimme:

– Aufgemacht!

Dann nach einem Augenblick Schweigen, rief die Stimme noch einmal:

– Aufgemacht, oder ich stoße die Thür ein!

Da schob Berthchen den großen Revolver in die Tasche ihres Rockes, horchte an der Thür und fragte:

– Wer ist da?

Die Stimme antwortete:

– Wir sind neulich hier durchgekommen.

Die junge Frau antwortete:

– Was wollen Sie?

– Ich habe mich seit heute früh mit meinen Leuten im Walde verirrt. Macht auf, oder ich schlage die Thür ein!

Die Försterin hatte keine Wahl. Sie zog schnell den schweren dicken Riegel zurück, öffnete die Thür und sah im matten Schein des Lichtes sechs Männer, preußische Soldaten, dieselben, die am Tage vorher vorübergekommen. Und sie fragte entschlossen:

– Was wollen Sie denn jetzt hier?

Der Unteroffizier antwortete:

– Ich habe mich verirrt, ganz verirrt. Das Haus hier habe ich wiedererkannt. Ich habe seit heute früh nichts gegessen und meine Leute auch nicht.

Berthchen erklärte:

– Ich bin aber mit der Mutter allein heute abend.

Der Soldat, der ein braver Kerl zu sein schien, antwortete:

– Das macht nichts, wir thun Ihnen nichts zu leide. Aber Sie müssen uns etwas zu essen geben, wir fallen um vor Hunger und Müdigkeit.

Die Försterin trat zurück.

– Kommen Sie herein! sagte sie

Sie traten ein, ganz voll Schnee. Auf ihren Helmen lagen die Flocken wie Schlagsahne, und die Leute schienen außerordentlich erschöpft.

Das Mädchen deutete auf die beiden Holzbänke am Tisch:

– Setzen Sie sich. Ich will Ihnen Suppe machen. Es ist wahr, Sie sehen müde aus.

Dann schloß sie wieder die Riegel an der Thür.

Sie that in den Topf wieder Wasser, abermals ein Stück Butter, Kartoffeln, holte aus dem Kamin ein Stück Speck, schnitt davon die Hälfte ab und that es in die Brühe.

Die sechs Mann folgten jeder Bewegung mit hungrigem Blick. Sie hatten die Gewehre in eine Ecke gestellt und die Helme dazu gethan und warteten nun, artig wie Schulkinder, auf der Bank.

Die Alte hatte wieder angefangen zu spinnen und warf immerfort verzweifelte Blicke auf die Eindringlinge. Man hörte nur das leise Schnurren des Spinnrades, das Krachen der Holzscheite im Feuer und das Summen des allmählich kochend werdenden Wassers.

Aber plötzlich fuhren sie alle durch ein seltsames Geräusch zusammen; irgend etwas wie ein rauher Luftzug, der durch die Thür blies, wie das Schnauben eines starken, mächtigen Tieres.

Der deutsche Unteroffizier sprang zu den Gewehren. Die Försterin hielt ihn durch eine Bewegung zurück und lächelte:

– Das sind die Wölfe, sagte sie. – Denen geht's wie Ihnen, sie irren herum und haben Hunger.

Der Mann wollte es nicht glauben und nachsehen. Sobald die Thür etwas geöffnet ward, sah er zwei große graue Tiere, die in langen eiligen Sprüngen davonliefen.

Er setzte sich wieder und brummte:

– Das hätte ich nicht gedacht.

Und er wartete, daß das Essen fertig würde.

Sie aßen schnell und rissen die Mäuler auf bis an die Ohren, um noch mehr hinunterzuwürgen. Dabei öffneten sie die Augen jedesmal, wenn sie kauten, und es klang wie das Glucksen der Dachrinnen in ihren Kehlen.

Die beiden Frauen blickten stumm den eiligen Bewegungen der großen Blondbärte zu.

Aber da sie Durst hatten, stieg die Försterin in den Keller, um Apfelwein abzuziehen.

Sie blieb lange unten. Es war ein kleiner gemauerter Keller, der während der Zeit der Revolution, wie man sagte, als Gefängnis und als Versteck gedient hatte; durch eine enge Wendeltreppe stieg man hinab.

Als Berthchen wieder erschien, lachte sie, lachte ganz allein listig vor sich hin und gab den Deutschen einen Krug zu trinken.

Dann aß sie auch mit ihrer Mutter in der andern Ecke der Küche.

Die Soldaten waren mit essen fertig und schliefen jetzt alle sechs um den Tisch herum. Ab und zu sank eine Stirn auf die Tischplatte nieder mit dumpfem Fall und dann schrak der Betreffende, plötzlich aufwachend, zusammen und richtete sich auf.

Berthchen sagte zum Unteroffizier:

– Legen Sie sich doch ans Feuer, hier ist ja für sechs Platz. Ich gehe mit der Mutter in unser Zimmer.

Und die beiden Frau stiegen zum ersten Stock hinauf. Man hörte, wie sie das Zimmer zuschlossen und einige Zeit hin und her gingen. Dann war alles still.

Die Preußen streckten sich auf dem Boden aus, die Füße am Feuer, die gerollten Mäntel unter dem Kopf, und schnarchten bald alle sechs in sechs verschiedenen Tonarten hoch oder tief, aber unausgesetzt und laut und stark.

* * *

Sie schliefen schon lange, als plötzlich ein Schuß gehört ward, so laut, daß man hätte meinen können, er wäre auf das Haus abgefeuert worden. Die Soldaten fuhren sofort auf, aber augenblicklich erklangen zwei neue Schüsse, drei folgten.

Droben ward die Thür aufgerissen und die Försterin erschien mit bloßen Füßen, im Hemd, einen Unterrock umgebunden, ein Licht in der Hand, ganz verstört, und rief:

– Herr Gott, die Franzosen sind da! Mindestens Zweihundert. Wenn sie euch hier finden, stecken sie das Haus an. Steigen Sie schnell in den Keller hinunter. Aber keinen Lärm machen. Wenn Sie Lärm machen, sind wir verloren.

Der Unteroffizier war erschrocken und flüsterte:

– Meinetwegen, gut. Wo geht's denn hinunter?

Das Mädchen öffnete vorsichtig die enge, viereckige Klappe, und die sechs Leute verschwanden auf der kleinen Wendeltreppe, indem sie einer nach dem andern rückwärts hinabstiegen, um die Stufen mit den Füßen zu tasten. Aber als die Spitze des letzten Helmes verschwunden war, warf Berthchen die schwere Eichenthür, dick wie eine Mauer und hart wie Eisen, zu, legte zwei Scharniere vor und das Schloß, drehte zwei Mal herum und begann dann zu lachen, stumm und glückselig. Es packte sie rasende Lust, den Gefangenen auf dem Kopfe herumzutanzen.

Sie machten keinen Lärm, eingeschlossen dort unten wie in einen festen Kasten, einen steinernen Kasten, in den durch ein kleines, vergittertes, winziges Fenster Luft kam.

Berthchen steckte sofort das Feuer wieder an, stellte den Kessel darauf und machte die Suppe, indem sie brummte:

– Der Vater wird müde sein diese Nacht.

Dann setzte sie sich und wartete. Man hörte nur das dumpfe gleichmäßige Ticken der Uhr.

Ab und zu warf das Mädchen einen ungeduldigen Blick auf das Zifferblatt, der zu sagen schien:

– Es dauert lange.

Aber bald war es ihr, als brummte jemand ihr zu Füßen. Dumpfes, unbestimmtes Sprechen klang durch das gemauerte Gewölbe des Kellers. Die Preußen begannen ihre List zu merken. Bald stieg der Unteroffizier die kleine Treppe hinauf und donnerte mit der Faust an die Thür, indem er rief:

– Aufgemacht!

Sie stand auf, trat heran und ahmte seinen deutschen Accent nach:

– Was wollen Sie?

– Aufgemacht!

– Ich mache nicht auf.

Der Mann ward wütend:

– Aufgemacht, oder ich renne die Thür ein!

Sie begann zu lachen:

– Immer los, immer los! Stoß' sie nur ein, mein Junge.

Und mit dem Gewehrkolben begann er die Eichenthür zu berennen, die über seinem Kopf geschlossen war. Aber einem Mauerbrecher hätte sie widerstanden.

Die Försterin hörte, wie er wieder hinunterging. Dann kamen die Soldaten einer nach dem andern heran, begannen ihrerseits ihre Kraft anzuwenden und den Verschluß zu untersuchen. Aber da sie wahrscheinlich ihre Versuche für unnütz hielten, stiegen sie wieder in den Keller hinab und begannen untereinander zu reden. Das Mädchen hörte zu. Dann öffnete sie die Hausthür und horchte in die Nacht hinaus. In der Ferne klang Gebell. Sie pfiff wie ein Jäger, und beinah, augenblicklich tauchten zwei riesige Hunde aus dem Dunkel auf und umsprangen sie in großen Sätzen. Sie hielt sie am Hals fest, daß sie nicht wieder davonlaufen sollten, dann rief sie mit aller Kraft:

– Vater!

Eine Stimme antwortete noch entfernt:

– Berthchen! Berthchen!

Sie wartete ein paar Sekunden, dann rief sie:

– Vater!

Schon näher klang die Stimme:

– Berthchen!

Dann begann die Försterin von neuem:

– Geh nicht an dem Kellerfenster vorbei. Es sind Preußen im Keller.

Und in dem Augenblick erschien die große Gestalt des Mannes, der zwischen zwei Baumstämmen stehen blieb. Er fragte ängstlich:

– Preußen im Keller? Was machen sie denn da?

Das Mädchen begann zu lachen:

– 's sind die von gestern. Sie hatten sich im Walde verirrt. Ich habe sie zur Abkühlung in den Keller gesteckt.

Und sie erzählte die ganze Geschichte, wie sie sie durch Revolverschüsse in Schrecken versetzt und dann im Keller eingesperrt.

Der Alte fragte noch immer ernst:

– Was sollen wir denn mit ihnen anfangen?

Sie antwortete:

– Du mußt Herrn Lavigne holen mit seinen Truppen, und der muß sie gefangen nehmen. Der wird sich aber freuen!

Der alte Pichon lächelte:

– Das ist wahr, der wird sich freuen.

Seine Tochter antwortete:

– Da hast Du Suppe, und dann geh gleich wieder hin.

Der alte Förster setzte sich und begann die Suppe zu essen, nachdem er zwei Teller voll für die Hunde auf die Erde gestellt.

Als die Preußen sprechen hörten, schwiegen sie.

Der Förster ging eine Viertelstunde darauf wieder fort, und Berthchen stützte den Kopf in die Hände und wartete.

* * *

Die Gefangenen fingen an unruhig zu werden. Sie riefen und rannten fortwährend wütend mit dem Kolben an die unbewegliche Thür des Kellers.

Dann begannen sie durch das Kellerfenster zu schießen, wahrscheinlich in der Hoffnung, gehört zu, werden, wenn irgend eine deutsche Abteilung in der Nähe vorüberkam.

Das Mädchen bewegte sich nicht mehr. Aber all der Lärm machte sie nervös und erregt. Eine böse Wut stieg in ihr auf. Sie hätte die Kerle totmachen mögen, daß sie nur ruhig sein sollten.

Dann stieg ihre Ungeduld aufs Höchste, und sie sah nach der Uhr, um die Minuten zu zählen.

Der Vater war seit anderthalb Stunden fort. Jetzt mußte er die Stadt erreicht haben. Sie meinte ihn vor sich zu sehen, wie er Herrn Lavigne das große Ereignis mitteilte. Der Platzmajor erblaßte vor innerer Bewegung, klingelte seinem Mädchen, daß sie ihm Uniform und Waffen geben sollte. Es war, als hörte sie den Trommler wirbelnd durch die Straßen gehen. Verstörte Gesichter erschienen an den Fenstern; die Bürgerwehr lief aus den Häusern, kaum angezogen, außer Atem, im Begriff noch die Koppel umzuschnallen, und begab sich im Laufschritt zum Haus des Platzmajors.

Dann setzte sich die kleine Armee, mit der Stelze an der Spitze, mitten in der Nacht im Schnee gegen den Wald zu in Bewegung.

Sie sah nach der Uhr. In einer Stunde konnten sie hier sein.

Jetzt wußte sie sich vor nervöser Ungeduld nicht mehr zu lassen. Die Minuten nahmen kein Ende. Es dauerte so entsetzlich lange. Endlich stand der Zeiger auf der Stunde, zu der sie sich, gedacht hatte, daß sie kommen müßten.

Sie öffnete wieder die Thür um zu lauschen, Ob sie noch nicht kämen. Und sie sah einen Schatten, der vorsichtig sich näherte. Sie hatte Angst und stieß einen Schrei aus. Es war ihr Vater.

Er sagte:

– Ich bin vorausgeschickt, um zu sehen, ob es nichts Neues giebt.

– Nein nichts.

Nun pfiff er lange und scharf in die Nacht hinaus. Dann näherte sich ein dunkler Gegenstand langsam unter den Bäumen: die Avantgarde, bestehend aus zehn Mann. Die Stelze sagte immerfort:

– Nicht am Kellerfenster vorbeigehen!

Und die, die zuerst kamen, bezeichneten den folgenden die gefährliche Öffnung.

Endlich erschien die Hauptmacht, im ganzen zweihundert Mann, deren jeder zwanzig Patronen mithatte.

Herr Lavigne war sehr erregt, stellte sie so auf, daß sie von allen Seiten das kleine Haus umzingelten, während nur vor dem kleinen, schwarzen Loch am Boden, durch das der Keller Luft bekam, ein breiter Raum freiblieb.

Dann trat er ins Haus, unterrichtete sich über Stärke und Haltung des Feindes, der so stumm geworden war, daß man hätte meinen können, er wäre verschwunden, ohnmächtig geworden oder durch das kleine Loch davongeflogen.

Herr Lavigne stampfte mit dem Fuß auf die Fallthür und rief:

– Herr Offizier!

Der Deutsche antwortete nicht.

Der Platzmajor brüllte noch einmal:

– Herr Offizier!

Es war vergeblich.

Zwanzig Minuten lang flehte er den schweigenden Offizier an, sich mit Waffen und Gepäck zu übergeben, indem er ihm das Leben garantierte und für ihn und seine Soldaten alle militärischen Ehren. Aber er bekam kein Zeichen von Zustimmung noch Feindseligkeit. Die Lage war schwierig.

Die Bürgerwehr stapfte im Schnee hin und her, schlug die Arme über Kreuz zusammen, wie Kutscher, wenn sie sich wärmen wollen, und alle blickten auf das Kellerloch mit immer wachsender kindischer Lust einmal daran vorüberzulaufen.

Endlich faßte sich ein ganz Magerer, Potdevin, Mut, nahm einen Anlauf und schoß wie ein Hirsch vorüber. Der Versuch glückte, – die Gefangenen schienen tot zu sein.

Eine Stimme rief:

– 's is keiner drin!

Und ein zweiter Soldat überschritt das freie Feld vor dem gefährlichen Loch. Und nun wurde das reine Spiel daraus. Alle Minute lief mal einer vor, ging vom Truppenteil der einen Seite zum anderen, wie Kinder beim Kämmerchenvermieten. Und er lief so schnell, daß der Schnee hinter ihm spritzte. Um sich zu wärmen, hatten sie große Feuer von trockenem Holz angezündet, und die vorüber huschende Silhouette des Bürgergardisten erschien gespenstisch beleuchtet beim raschen Überlauf vom rechten Flügel zum linken. Jemand rief:

– Maloison, Du bist dran!

Maloison war ein dicker Bäcker, über dessen Wanst die anderen lachten. Er zögerte. Man schalt ihn. Darauf faßte er Mut und lief in kurzem regelmäßigem Laufschritt außer Atem vorbei, daß sein dicker Bauch auf und niederschwappte.

Jetzt lachten die Leute bis zu Thränen und riefen, um ihm Mut zu machen:

– Bravo! Bravo Maloison!

Er hatte etwa zwei Drittel seines Weges zurückgelegt, als eine lange rote Stichflamme aus dem Kellerloch schoß. Ein Knall folgte, und der dicke Bäcker fiel mit furchtbarem Schrei zu Boden.

* * *

Niemand wagte sich heran, um ihm zu helfen, und nun sah man, wie er auf allen Vieren stöhnend über den Schnee kroch und sobald er aus der gräßlichen Schußlinie war, die Besinnung verlor.

Eine Kugel saß ihm ganz oben in der dicken Verlängerung des Oberschenkels.

Nach der ersten Überraschung und dem ersten Entsetzen tönte wieder allgemeines Gelächter.

Aber der Platzmajor Lavigne erschien auf der Schwelle des Forsthauses. Er hatte seinen Angriffsplan gefaßt und befahl mit zitternder Stimme:

– Klempner Planchut mit seinen Leuten vor!

Drei Mann traten heran.

– Nehmen Sie die Dachrinnen vom Haus.

Eine Viertelstunde darauf brachten sie dem Platzmajor zwanzig Meter Dachrinnen. Nun ließ er mit äußerster Vorsicht ein kleines rundes Loch in den Rand der Fallthür bohren, und die Leitung wurde von der Pumpe bis zur Öffnung hergestellt, wobei er zufrieden sagte:

– Wir wollen den Herren Deutschen zu trinken geben.

Sie brachen in ein frenetisches Hurra der Bewunderung aus, heulten vor Jubel und lachten, was sie konnten. Der Platzmajor teilte Arbeitsabteilungen ab, die sich alle fünf Minuten ablösen sollten.

Dann befahl er:

– Pumpen!

Und sobald der eiserne Schwengel in Bewegung gesetzt war, klang ein leises Rauschen längs der Röhren, das sich bis in den Keller fortsetzte und hinunterging von Stufe zu Stufe wie ein Wasserfall, der über die Felsen braust.

Man wartete.

Eine Stunde verstrich, dann zwei, dann drei. Der Kommandant ging aufgeregt in der Küche auf und nieder, legte ab und zu das Ohr an den Boden, um zu erraten was der Feind thäte, indem er sich fragte, ob er sich nicht bald ergeben würde.

Jetzt wurde der Feind unruhig. Man hörte die Fässer hin- und herrollen, sprechen, Händeklatschen. Dann klang am Kellerloch eine Stimme:

– Ich möchte den französischen Herrn Offizier sprechen.

Lavigne antwortete vom Fenster, ohne den Kopf zu weit heraus zu stecken:

– Kapitulieren Sie?

– Ich kapituliere.

– Dann werfen Sie die Gewehre heraus.

Und sofort kam aus dem Loch ein Gewehr, fiel in den Schnee; dann zwei, drei, bald alle, und dieselbe Stimme rief:

– Wir können nicht mehr. Machen Sie schnell auf, wir ersaufen.

Der Platzmajor befahl:

– Aufhören!

Und der Pumpenschwengel sank unbeweglich nieder.

Nachdem er dann die ganze Küche voller Soldaten gestellt, die Gewehr bei Fuß warteten, öffnete er langsam die Fallthür.

Vier nasse Köpfe erschienen, vier Köpfe mit langem blondem Haar. Und einer nach dem andern, stiegen erschrocken, klappernd, triefend von Wasser, die sechs Deutschen heraus.

Sie wurden gepackt und gebunden. Dann, weil man einen möglichen Überfall fürchtete, brachen sie sofort auf, in zwei Abtheilungen. Die eine mit den Gefangenen, die andere mit Maloisin auf einer Matratze, die man an Stangen trug.

Im Triumphzug zogen sie in Rethel ein.

Herr Lavigne bekam einen Orden dafür, daß er einen preußischen Vorposten gefangen genommen, und der dicke Bäcker die Verdienstmedaille für Verwundung vor dem Feinde.



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