Guy de Maupassant
Schnaps-Anton
Guy de Maupassant

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Zimmer No. 11

– Ach was, Sie wissen wirklich nicht, weshalb der Oberpräsident Amandon versetzt worden ist?

– Nein, keine Ahnung.

– Na übrigens weiß er es auch nicht, er hat es nie erfahren. Aber es ist eine seltsame Geschichte.

– O das müssen Sie mir erzählen.

– Erinnern Sie sich noch an Frau Amandon, diese kleine magere Brünette, die so vornehm und fein aussah und die in Perthuis-le-Long Frau Gretchen hieß.

– Ja, ja, ich weiß.

– Na, nun hören Sie. Sie wissen doch auch, welche Achtung sie genoß, welche Stellung sie hatte. Sie war die beliebteste Frau in der Stadt. Sie verstand, Leute zu empfangen, ein Fest oder einen Wohlthätigkeitsbazar zu veranstalten, Geld für die Armen aufzubringen und die junge Welt durch tausend Mittel zu unterhalten.

Sie war sehr elegant, sehr kokett, übrigens aber von einer platonischen Koketterie und von einer reizenden, provinzialen Eleganz. Denn diese kleine Frau war eine Provinzialin, aber eine reizende Provinzialin.

Die Herren Schriftsteller, die in Paris leben, besingen die Pariserin in allen Tonarten, denn sie kennen nur sie. Aber ich möchte erklären, ich, daß die Provinzialin tausendmal mehr wert ist, wenn sie erster Klasse ist.

Die feine Provinzialin hat einen ganz eigenen Reiz, viel diskreter, als der der Pariserin, weniger aufdringlich, der nichts verspricht und viel hält, während die Pariserin meistens viel verspricht und, entkleidet, wenig hält.

Die Pariserin ist der Triumph der eleganten frechen Lüge, die Provinzialin ist die bescheidene Wahrheit.

Eine kleine, muntere, flotte Provinzialin, keck bürgerlich wie ein Pensionsmädchen, mit ihrem nichtssagenden Lächeln, ihren kleinen gefälligen aber dauerhaften Leidenschaften, muß tausendmal mehr Schlauheit, Schmiegsamkeit, weibliche Erfindungsgabe anwenden, als alle Pariserinnen zusammen, um ihren Wünschen oder ihren Lastern nachzugehen, ohne Verdacht zu erwecken, ohne Gerede oder einen Skandal in der kleinen Stadt zu provozieren, die sie mit allen Augen und aus allen Fenstern beobachtet.

Frau Amandon war der Typus dieser seltenen, aber reizenden Rasse. Man hatte sie nie in Verdacht gehabt. Man hätte nie geglaubt, ihr Leben möchte nicht so klar und offenkundig sein wie der Blick ihrer Augen. Der Blick ihrer braunen, durchsichtigen warmen Augen, der so anständig war. Na, wir werden ja sehen.

Sie hatte nämlich einen wundervollen, genial erfundenen, ungeheuer einfachen Trick.

Sie suchte sich alle ihre Liebhaber in der Armee aus, behielt sie drei Jahre, so lange das Regiment dort in Garnison stand. Die Geschichte ist ganz einfach. Es war nicht Liebe bei ihr, nur Sinnlichkeit.

Sobald ein neues Regiment nach Perthuis-le-Long kam, zog sie Erkundigungen ein über alle Offiziere zwischen dreißig und vierzig Jahren; denn unter dreißig ist man noch nicht diskret und nach vierzig oft nicht mehr leistungsfähig genug.

O, sie kannte das Regiment so gut, wie der Oberst selbst. Sie wußte alles. Alle intimen Gewohnheiten, Bildung, Erziehung, Fähigkeit, körperliche Eigenschaften, Widerstandsfähigkeit gegen die Müdigkeit, wußte, ob einer einen ruhigen Charakter hatte oder heftig war, ob er Geld besaß, sparsam war, oder gern etwas ausgab. Danach traf sie ihre Wahl. Sie zog ruhige Leute vor, ruhig wie sie. Sie mußten nur hübsch sein. Und dann verlangte sie, daß sie noch kein allgemein gekanntes Verhältnis hätten, keine Leidenschaft, die hätte Spuren zurücklassen oder zu Skandal Veranlassung geben können. Denn ein Mann, dessen Liebschaften man kennt, kann nie wirklich diskret sein.

Nachdem sie sich den auserwählt, der sie die drei Jahre seiner Anwesenheit in der Garnison beglücken sollte, war nichts weiter zu thun, als ihm das Taschentuch zuzuwerfen.

Ach, wie viel Frauen wären in Verlegenheit geraten, hätten die gewöhnlichsten Mittel angewendet, die sie alle anwenden, hätten sich den Hof machen lassen mit allen Etappen der Belagerung und des Widerstandes, heute sich die Hand küssen lassen, morgen das Handgelenk, übermorgen die Wange, dann den Mund und schließlich den Rest.

Sie hatte eine schnellere, diskretere und sicherere Methode. Sie gab einen Ball.

Der Offizier, den sie sich auserwählt, mußte mit der Frau des Hauses tanzen. Und während sie Walzer tanzten, bei der heftigen Bewegung, hingerissen durch den Schwung, schmiegte sie sich an ihn, als gehörte sie ihm ganz, und drückte ihm fortwährend nervös die Hand.

Wenn er das nicht verstand, so war er ein Ochse, und sie ging zum nächsten über, der auf ihrer Liste als No. 2 stand.

Begriff der, so war die Sache erledigt, ohne Lärm, ohne kompromittierendes Hofmachen, ohne zahlreiche Besuche.

Was konnte es Einfacheres und Praktischeres geben!

Die Frauen sollten alle eine ähnliche Methode anwenden, um uns begreiflich zu machen, daß wir ihnen gefallen. Wie viel Schwierigkeiten, Zögern, Worte, Bewegungen, Unruhe, unangenehme Augenblicke, Mißverständnisse würde das beseitigen. Wie oft gehen wir an der Möglichkeit eines Glückes vorüber, ohne es zu ahnen. Denn wer kann den Schleier der Gedanken durchdringen, die unausgesprochenen Wünsche erraten, die stumme Frage des Fleisches, all das Geheimnisvolle einer Frauenseele, deren Mund schweigt, deren klares Auge undurchdringlich bleibt.

Sobald er verstanden hatte, bat er sie um ein Stelldichein. Und sie ließ ihn immer vier oder sechs Wochen zappeln, um ihn auszukundschaften, ihn ganz kennen zu lernen und auf der Hut zu sein, falls er etwa irgend einen gefährlichen Fehler hätte.

Während dieser Zeit zerplagte er sich den Kopf, wo sie sich gefahrlos treffen könnten und verfiel auf sehr schwierige und unsichere Dinge.

Sie aber sagte bei irgend einem großen Fest leise zu ihm:

– Kommen Sie Dienstag gegen neun Uhr abends in das »Goldene Rößel« am Wall an der Straße nach Vouziers und fragen Sie nach Fräulein Clarisse. Ich erwarte Sie. Aber ziehen Sie Civil an.

Seit acht Jahren besaß sie in der That für das ganze Jahr gemietet ein möbliertes Zimmer in dem unbekannten Gasthof. Ihr erster Liebhaber war darauf gekommen, und sie fand die Idee sehr praktisch. Als er versetzt wurde, behielt sie das Nest für sich bei.

Übrigens ein mäßiges Nest. Vier, mit hellgrauem Papier mit blauen Blumen tapezierte Wände, ein Bett aus Fichtenholz von Mousselinvorhängen umgeben, ein Lehnstuhl, den der Wirt angeschafft hatte auf ihren Wunsch, zwei Stühle, eine Bettvorlage und ein paar Porzellansachen für den Waschtisch. Aber was brauchte es mehr.

An der Wand hingen drei große Photographieen, drei Obersten zu Pferde. Die jedesmaligen Obersten ihrer Liebhaber. Warum? Da sie das Bild selbst, als direkte Erinnerung, nicht aufbewahren konnte, wollte sie vielleicht sich durch dies mnemotechnische Hilfsmittel die Erinnerung bewahren.

Und war sie denn nie von irgend jemandem bei all den Besuchen im Goldenen Rößel erkannt worden? werden Sie fragen.

Nein, niemals, von keinem Menschen.

Das Mittel, das sie benutzte, war wundervoll und sehr einfach. Sie hatte sich Wohlthätigkeitssitzungen eingerichtet, zu denen sie manchmal erschien, manchmal aber auch nicht. Ihr Mann, der ihre Wohlthätigkeitsbestrebungen kannte, die ihm übrigens sehr teuer zu stehen kamen, hatte keinen Argwohn.

Wenn sie nun also das Stelldichein ausgemacht hatte, sagte sie bei Tisch vor der Dienerschaft:

– Ich habe heute abend Sitzung des »Vereins zur Beschaffung von wollenen Leibbinden für gelähmte Greise.«

Und gegen acht Uhr ging sie aus, begab sich zur Sitzung, verließ sie aber sofort wieder, eilte durch ein paar Straßen, und wenn sie in irgend einer Gasse allein war, setzte sie in einem dunklen Winkel ihren Hut ab, und statt dessen eine Dienstmädchenmütze auf, die sie unter dem Mantel mitgebracht, entfaltete eine weiße Schürze, die dazu paßte, band sie um die Taille und that dann ihren Hut und den Umhang, den sie getragen, in ein Tuch, das sie in die Hand nahm. Dann ging sie keck, barhaupt wie sie war, gleich einer kleinen Zofe, die Besorgungen macht, dahin. Manchmal lief sie sogar, als hätte sie es furchtbar eilig.

Wer hätte in diesem schlanken, beweglichen kleinen Stubenmädchen wohl die Frau Oberpräsidentin Amandon erkannt!

Sie kam ans »Goldene Rößel« und ging auf ihr Zimmer, dessen Schlüssel sie besaß. Wenn sie dann der dicke Wirt Trouveau vorbeigehen sah, brummte er:

– Fräulein Clarisse geht zum Rendezvous.

Er hatte schon so eine Ahnung, der dicke Kerl. Aber er wollte gar nichts weiter wissen und ist gewiß zu Tode erschrocken gewesen, als er gehört hat, das seine Mieterin Frau Amandon war – Frau Gretchen, wie man sie in Perthuis-le-Long nannte.

Nun hören Sie, wie die furchtbare Entdeckung stattfand.

* * *

Niemals kam Fräulein Clarisse zwei Abende hintereinander. Niemals, denn dazu war sie zu gerissen und vorsichtig. Der dicke Trouveau wußte das sehr wohl, denn seit acht Jahren war sie niemals am nächsten Tag wiedergekommen. Oft sogar, wenn er keinen Platz mehr hatte, hatte er dann einmal ihr Zimmer auf eine Nacht abgegeben.

Da verreiste letztes Jahr einmal der Oberpräsident auf eine Woche. Es war im Juli. Die Frau Präsidentin war besonders verliebt, und da man nicht zu befürchten hatte, überrascht zu werden, fragte sie ihren Liebhaber, den schönen Major von Varangelles, eines Dienstag Abends, als sie ihn verließ, ob sie sich nicht am nächsten Tage wieder sehen könnten.

Und sie kamen überein, daß sie sich Mittwoch zur gewöhnlichen Stunde treffen wollten. Leise sagte sie ihm:

– Wenn Du etwa zuerst kommst, gehst Du immer zu Bett und erwartest mich.

Sie küßten sich und trennten sich.

Als nun am nächsten Tag gegen zehn Uhr der dicke Trouveau den Anzeiger von Perthuis las, das republikanische Blatt der Stadt, rief er plötzlich seiner Frau zu, die auf dem Hof ein Huhn rupfte:

– Die Cholera ist im Land. Gestern ist in Vauvigny einer gestorben.

Dann dachte er nicht mehr daran. Er hatte eine Menge Gäste, und das Geschäft ging gut.

Gegen mittag kam noch ein Reisender zu Fuß, eine Art Tourist, der sich ein gutes Frühstück geben ließ, dann zwei Absinth trank. Und da es heiß war, jagte er noch einen Liter Wein durch die Kehle und zwei Liter Wasser mindestens. Dann nahm er seinen Kaffee, trank seinen Schnaps oder vielmehr drei Schnäpse. Da er sich darauf ein wenig schwer im Kopf fühlte, verlangte er ein Zimmer, um ein oder zwei Stunden zu schlafen. Es war nur noch ein einziges frei. Und der Wirt gab ihm, nachdem er sich mit seiner Frau besprochen, das Zimmer des Fräulein Clarisse.

Der Mann ging hinauf. Dann, gegen fünf Uhr, als er nicht wieder herunterkam, ging der Wirt hinauf, ihn zu wecken.

Welcher Schreck, er war tot.

Der Wirt lief zu seiner Frau:

– Hör mal, der Kerl, dem ich das Zimmer No. 11 gegeben hatte, ist, glaube ich, tot.

Sie hob vor Schreck die Arme:

– Nicht möglich! O du mein Gott, ist es die Cholera?

Der dicke Trouveau schüttelte den Kopf:

– Ich glaube eher ein Schlaganfall, denn er ist ganz schwarz.

Aber die Frau war ganz erschrocken und rief:

– Nur nischt sagen, nur nischt sagen! Sonst heißt's gleich, es ist Cholera. Bring nur alles in Ordnung und rede nicht. Er wird die Nacht weggebracht, daß keener was merkt.

Er brummte:

– Fräulein Clarisse ist gestern da gewesen, Das Zimmer ist leer heute abend.

Und er holte den Arzt, der Todesfall durch Kopfcongestionen nach zu reichlicher Mahlzeit feststellte. Dann kamen sie mit dem Polizeikommissar überein, daß gegen Mitternacht die Leiche abgeholt werden sollte, damit im Hotel nichts bemerkt würde.

*

Es war gegen neun Uhr, da huschte Frau Amandon die Treppe des Goldenen Rößel hinauf, ohne daß jemand sie sah. Sie ging zum Zimmer, öffnete die Thür und trat ein. Ein Licht brannte auf dem Kamin. Sie wendete sich zum Bett. Der Major lag schon drin, aber er hatte die Vorhänge zugezogen.

Sie flüsterte:

– Einen Augenblick, mein Liebling, ich komme gleich.

Dann zog sie sich mit fieberhafter Schnelligkeit aus, warf die Schuhe ins Zimmer, das Korsett auf den Lehnstuhl, darauf fielen ihr schwarzes Kleid und die aufgebundenen Röcke im Kreis um sie zu Boden, sie stieg daraus und stand im Hemd von roter Seide da, wie eine eben aufgeblühte Blume.

Da der Major noch nichts gesagt hatte, rief sie:

– Schläfst Du, Dicker?

Er antwortete nicht. Und sie sagte lächelnd vor sich hin:

– Nein so was, er schläft!

Sie hatte die Strümpfe anbehalten, durchbrochene schwarze Seidenstrümpfe, lief zum Bett und schlüpfte schnell hinein, den eisigen Leichnam des Reisenden umarmend und mit heißen Küssen bedeckend.

Eine Sekunde hindurch blieb sie unbeweglich, zu verstört, um etwas zu begreifen. Aber das leblose Fleisch ließ ein furchtbares Entsetzen in sie übergleiten, ehe nur ihr Geist hatte fassen können, und nachdenken.

Mit einem Satz war sie aus dem Bett, zitternd von Kopf zu Fuß. Dann lief sie zum Kamin, nahm das Licht, kehrte damit zurück und blickte in das Bett. Und sie sah ein entsetzliches Gesicht, das sie nicht kannte, schwarz, aufgedunsen, geschlossene Augen und die Kinnlade entsetzlich verzerrt.

Sie stieß einen Schrei aus, einen jener langen, scharfen Schreie, wie Frauen in größter Verzweiflung, ließ das Licht fallen, öffnete die Thür und entfloh unbekleidet laut kreischend den Gang hinunter.

Ein Handlungsreisender kam aus dem Zimmer No. 4 in Strümpfen herausgestürzt und fing sie in den Armen auf. Er fragte erschrocken:

– Was ist denn, mein schönes Kind?

– Man . . . man hat jemand in meinem Zimmer ermordet.

Andere Gaste erschienen, der Wirt selbst lief herbei.

Und plötzlich erschien die hohe Gestalt des Majors im Korridor.

Sobald sie ihn sah, warf sie sich ihm entgegen und rief:

– Rette mich, rette mich, Gontran! Man hat jemand in unserem Zimmer ermordet.

*

Die Auseinandersetzungen waren schwierig. Aber Trouveau erzählte die Wahrheit und verlangte, daß man sofort Fräulein Clarisse loslassen sollte, für die er sich bereit erklärte, einzustehen. Aber der Handlungsreisende in Strümpfen, der den Leichnam besah, schwor, es handele sich um ein Verbrechen und beredete die anderen Gäste, Fräulein Clarisse und ihren Liebhaber nicht fortzulassen.

Sie mußten warten, bis der Polizeikommissar kam, der ihnen die Freiheit zurückgab, aber – nicht verschwiegen war.

Vier Wochen darauf wurde der Oberpräsident Amandon versetzt.



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