Guy de Maupassant
Hans und Peter
Guy de Maupassant

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IX

Die Empfehlungsbriefe der Professoren Mas-Roussel, Rémusot, Flache und Borriquel waren in schmeichelhaftesten Wendungen für ihren Schüler Doktor Peter Roland abgefaßt. Sie wurden durch Herrn Marchand dem Verwaltungsrat der transatlantischen Schiffahrtgesellschaft vorgelegt, unter Fürsprache der Herren Poulin, Handelsrichter, Lenient, Großrheder, und Marival, Sekretär des Bürgermeisters von Havre, eines intimen Freundes des Kapitän Beausire.

Es fand sich, daß für die »Lothringen« noch kein Arzt verpflichtet war, und Peter hatte das Glück, nach ein paar Tagen ernannt zu werden. Der Brief, der es ihm anzeigte, wurde ihm eines Morgens, als er sich eben anzog, durch Josephine überbracht.

Seine erste Regung war die eines zum Tode Verurteilten, dem man mitteilt, daß er begnadigt worden ist. Er fühlte sogleich seine Qual erleichtert durch den Gedanken an die Abreise und das bevorstehende ruhige Leben auf dem ewig schaukelnden Wasser, das immer kommt und geht.

Er lebte jetzt in seinem väterlichen Haus, stumm und für sich, wie ein Fremder. Er fühlte seit dem Abend, an dem ihm das fürchterliche Geheimnis, das er entdeckt, entschlüpft, wie er die letzten Bande, die ihn mit den Seinigen verknüpften, zerrissen hatte. Gewissensbisse peinigten ihn, daß er Hans das alles gesagt. Er fand sich niederträchtig, böse, hassenswert und fühlte sich doch erleichtert, daß er gesprochen hatte.

Er blickte nie mehr seine Mutter oder seinen Bruder gerade an. Ihre Augen hatten, um sich nicht zu treffen, eine geradezu erstaunliche Beweglichkeit angenommen, und sie gebrauchten Listen, wie zwei Feinde, die sich nicht begegnen wollen. Er fragte sich immer, was kann sie bloß Hans gesagt haben. Ob sie gebeichtet hat oder geleugnet? Was glaubt mein Bruder? Was denkt er von ihr und was von mir? Er ahnte es nicht und war verzweifelt darüber. Er sprach auch kaum mehr mit ihnen, außer in Rolands Gegenwart, weil er allen Fragen aus dem Wege gehen wollte.

Als er den Brief bekommen, der seine Ernennung brachte, zeigte er ihn gleich seiner Familie. Sein Vater, der sich immer gern über alles freute, klatschte in die Hände. Hans antwortete in ernstem Ton, aber voll stiller Glückseligkeit:

– Ich gratuliere Dir von ganzem Herzen, denn ich weiß, daß Du viel Konkurrenz hattest. Das hast Du sicher den Empfehlungen Deiner Professoren zu danken.

Und seine Mutter senkte den Kopf und flüsterte:

– Ich bin sehr glücklich, daß Du Dein Ziel erreicht hast.

Nach dem Frühstück ging er auf das Kontor der Gesellschaft, um sich noch nach allerlei zu erkundigen. Er fragte nach dem Namen des Doktors auf der »Picardie«, die am anderen Morgen in See gehen sollte, um von ihm alle Einzelheiten seines neuen Daseins zu erfahren.

Da Doktor Pirette sich an Bord befand, ging er aufs Schiff und wurde in einer kleinen Kabine des Dampfers von einem jungen Mann mit blondem Bart, der seinem Bruder ähnlich sah, empfangen. Sie unterhielten sich lange Zeit.

In der Tiefe des gewaltigen Schiffes hörte man unausgesetzt eine unbestimmte Bewegung. Das Rollen und Hin- und Herschieben der zu verladenden Waren klang zusammen mit Schritten, Stimmen, mit den Bewegungen der Maschinen, welche die Wasserreservoire füllten, dem Pfeifen der Bootsleute, dem Rasseln der Ketten, die aufgewunden oder geschleift wurden, mit dem rauhen Fauchen des Dampfes, der das ganze Gebäude erschütterte.

Aber als Peter seinen Kollegen verlassen hatte und auf der Straße stand, überkam ihn neue Traurigkeit, hüllte ihn ein wie die Nebel, die über das Meer huschen, vom anderen Ende der Welt kommend, und die in ihrer undurchdringlichen Dichte etwas Geheimnisvolles, Unreines mit sich tragen, wie den Pestilenzhauch ferner ungesunder Länderstriche.

Noch nie in den Stunden seiner großen Verzweiflung hatte er sich so jammervoll gefühlt. Das letzte Band war zerrissen, nichts einte ihn mehr mit den Seinen. Als er die Wurzeln aller Zärtlichkeit aus seinem Herzen riß, hatte er nicht eine solche Verzweiflung gleich einem obdachlosen Hund empfunden, wie es ihn jetzt überkam.

Das war kein seelischer quälender Schmerz, mehr, sondern der Jammer eines schutzlosen Tieres, die körperliche Verzweiflung eines umherirrenden Wesens, das kein Obdach mehr hat, das dem Regen, Wind, Gewitter und allen rauhen Gewalten der Erde preisgegeben ist. Als er den Fuß auf das Deck des Dampfers setzte und in dieses winzige auf den Wellen hin und her geschaukelte Zimmerchen trat, hatte sich gegen die Unsicherheit der nun für ihn kommenden Zeit der Mensch in ihm empört, der immer im ruhigen sicheren Bett geschlafen hat. Bis dahin hatte er sich sicher gefühlt im Schutz der tief in die Mutter Erde eingelassenen Mauer und weil er wußte, daß er immer an der gleichen Stelle Ruhe fand, unter dem Dach, das gegen alle Stürme schützt.

Jetzt hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen, nur das Meer, das rollt, brüllt und verschlingt. Er hatte keinen Raum um sich, um spazieren zu gehen, zu laufen, ferne Wege einzuschlagen. Er hatte nur noch ein paar Meter Bretterboden, auf dem er hinschritt, wie ein Verurteilter unter anderen Gefangenen. Er würde keinen Baum mehr sehen, keinen Garten, keine Straßen, keine Häuser, nur Wasser und Wolken. Und unausgesetzt würde er das Schiff sich bewegen fühlen unter sich; an stürmischen Tagen mußte er sich an den verschlossenen Fenstern halten, sich ankrallen an den Thüren, sich festkrampfen am Rand des schmalen Lagers, um nicht zu Boden zu fallen. Und an ruhigen Tagen würde er das schnarchende Zittern der Schraube fühlen, fühlen, wie das Schiff aus dem Hafen floh in ununterbrochener, regelmäßiger, verzweiflungsvoller Flucht.

Und er war zu diesem irrenden Sträflingsleben gezwungen, nur weil seine Mutter sich der Liebe eines fremden Mannes überlassen.

Jetzt schritt er dahin, fast zusammenbrechend, in der verzweiflungsvollen Stimmung eines Menschen, der sein Vaterland verloren.

Er fühlte nicht mehr in sich jene hochmütige Verachtung, jenen wegwerfenden Haß für Unbekannte, die an ihm vorübergingen, sondern eine traurige Lust wandelte ihn an, mit ihnen zu sprechen, allen Leuten zu sagen, daß er Frankreich verließe. Er wollte gehört und getröstet sein. In seinem Innern schlief das schmachvolle Bedürfnis des Armen, die Hand auszustrecken, ein starkes und doch schüchternes Bedürfnis, zu fühlen, daß jemand trauert um seinen Fortgang.

Er dachte an Marowsko. Nur allein der alte Apotheker liebte ihn so, daß er wirklich traurig sein würde. Und der Doktor entschloß sich, ihn sofort aufzusuchen.

Als er in den Laden trat, fuhr der Apotheker, der eben in einem Marmormörser Pulver stieß, zusammen, ließ seine Beschäftigungen ruhen und fragte:

– Man sieht Sie ja garnicht mehr.

Der junge Mann erklärte, daß er eine Menge Schritte hätte unternehmen müssen, ohne aber zu sagen wozu, und setzte sich, mit der Frage:

– Nun, wie geht's Geschäft?

Das Geschäft ging nicht. Die Konkurrenz war fürchterlich. Es gab wenig Kranke, und die Kranken waren arm in diesem Arbeiterviertel. Man konnte hier nur billige Arzeneien verkaufen, und die Ärzte verordneten in dieser Stadtgegend die komplizierten, seltenen Mixturen nicht, an denen man fünfhundert Prozent verdient. Der gute Mann schloß:

– Wenn das noch drei Monate so weitergeht, muß ich die Bude zumachen. Wenn ich nicht auf Sie rechnete, mein guter Doktor, wäre ich schon Stiefelwichser geworden.

Peter fühlte sein Herz zusammenkrampfen und entschloß sich plötzlich, da es sein mußte, ihm die Enttäuschung zu bereiten:

– O ich – ich könnte Ihnen in keiner Weise helfen. Anfang nächsten Monats verlasse ich Havre.

Marowsko war so erschrocken, daß er die Brille absetzte:

– Sie? Sie? Was sagen Sie denn da?

– Ich sage, daß ich fort muß, fortgehe, armer Freund.

Der alte Mann war ganz niedergedonnert. Seine letzte Hoffnung brach zusammen, und er war plötzlich ganz empört gegen diesen Menschen, dessen Rat er gefolgt war, den er liebte, in den er solches Vertrauen gesetzt, und der ihn jetzt so im Stich ließ.

Er stammelte: – Aber Sie werden mich doch nicht auch noch verraten?

Peter fühlte sich so weich werden, daß er ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre:

– Ich verrate Sie doch nicht. Ich habe hier keine Stellung finden können und gehe als Schiffsarzt auf einen transatlantischen Dampfer.

– Aber Herr Peter, Sie hatten mir doch versprochen, mir vorwärts zu helfen.

– Ja, was soll ich thun? Ich muß selbst leben. Ich habe nicht einen roten Heller Eigenes.

Marowsko wiederholte:

– Das ist schlecht, was Sie da thun. Jetzt kann ich Hungers sterben. In meinem Alter ist nichts mehr zu machen. Das ist schlecht. Sie lassen einen armen alten Kerl sitzen, der Ihnen nachgelaufen ist! Das ist schlecht.

Peter wollte sich näher erklären, dagegen reden, seine Gründe auseinandersetzen und beweisen, er hätte nicht anders gekonnt. Aber der Pole hörte nicht zu. Er war über diesen Verrat so empört, daß er endlich, indem er wahrscheinlich auf Politisches anspielte, sagte:

– Ihr Franzosen haltet eure Versprechungen alle nicht.

Da stand Peter auf, und nun seinerseits etwas verletzt, sagte er von oben herab:

– Sie sind ungerecht, Papa Marowsko. Um das zu thun, wozu ich mich entschlossen habe, bedarf es stärkerer Beweggründe. Das müßten Sie einsehen. Auf Wiedersehen! Ich hoffe, Sie werden vernünftig.

Und er ging, indem er dachte: »Niemand weint mir von Herzen eine Thräne nach.«

Er suchte in Gedanken alle, die er kannte, oder die er gekannt hatte. Und unter all den Gesichtern, die an seiner Erinnerung vorüberzogen, stand plötzlich vor ihm die Kellnerin, die ihm den ersten Zweifel an seiner Mutter beigebracht.

Er zögerte, denn er empfand gegen sie etwas, wie ein instinktives Rachegefühl. Dann entschied er sich plötzlich mit dem Gedanken:

»Übrigens hatte sie ja recht.« Und er suchte die Straße.

Zufällig saß das Lokal ganz voll Menschen und war voll Cigarrenrauch. Die Gäste, Bürgersleute und Arbeiter, denn es war Festtag, riefen nach der Bedienung, lachten, brüllten, und der Wirt mußte selber mithelfen, lief von Tisch zu Tisch, leere Biergläser abholend und überschäumende zurückbringend.

Als Peter einen Platz gefunden hatte in der Nähe des Büffets, wartete er, in der Hoffnung, das Mädchen würde ihn sehen und erkennen.

Aber sie kam und ging an ihm vorüber, ohne ihm einen Blick zuzuwerfen, mit dem Kleid kokett hin und her schwänzelnd.

Endlich klopfte er mit einem Geldstück auf den Tisch. Sie kam:

– Sie wünschen, mein Herr?

Sie sah ihn an, ganz in Berechnungen vertieft.

– Nun, – sagte er, – so begrüßt man seine Freunde?

Jetzt blickte sie ihn an und antwortete eilig:

– Ach, Sie sind's. Geht's Ihnen gut? Ich habe heute keine Zeit. Wollen Sie ein Bier?

– Ja, ein Bier.

Als sie es brachte, meinte er:

– Ich wollte adieu sagen, ich reise ab.

Sie antwortete gleichgiltig:

– Ah so. Wohin denn?

– Nach Amerika.

– Das soll sehr schön dort sein.

Weiter sagte sie nichts. Es war doch zu dumm, überhaupt heute, mit ihr zu reden. Es saßen eben zu viel Leute im Lokal.

Und Peter ging ans Meer.

Als er an den Hafendamm kam, sah er die »Perle«, wie sie mit seinem Vater und dem Kapitän Beausire hereinfuhr. Der Matrose Papagris ruderte, hinten saßen die beiden Männer mit glückseliger Miene und rauchten ihre Pfeifen. Als der Doktor sie vorüberfahren sah, sagte er: »Selig sind, die geistig arm sind.«

Und er setzte sich auf eine Bank auf dem Wellenbrecher und döste vor sich hin.

Als er am Abend heimkehrte, sagte seine Mutter, ohne daß sie es wagte, ihn dabei anzublicken:

– Du wirst eine Menge Sachen brauchen zur Reise, und das macht mir etwas Sorge. Ich habe Dir vorhin Deine Wäsche besorgt und bin beim Schneider gewesen wegen Deiner Kleider, aber brauchst Du sonst nichts? Etwas, was ich vielleicht nicht weiß.

Er öffnete kaum den Mund:

– Nein, nichts.

Aber er überlegte sich, daß er zum mindesten etwas annehmen mußte, um sich anständig anzuziehen, und antwortete nun ganz ruhig:

– Ich weiß noch nicht, ich werde bei der Gesellschaft anfragen.

Er erkundigte sich, und man gab ihm eine Liste der unbedingt notwendigen Gegenstände. Als seine Mutter sie in die Hand nahm, sah sie ihn seit langer Zeit zum ersten Mal an, und in der Tiefe ihrer Augen lag ein unendlich weicher, demütiger, trauriger Ausdruck, der Blick eines armen Hundes, der um Verzeihung bittet.

Am ersten Oktober lief die »Lothringen«, aus Saint-Nazaire kommend, in den Hafen ein, um am siebenten desselben Monats nach New-York abzudampfen, und Peter Roland mußte in die kleine Kabine einziehen, in der er von nun ab sein Gefangenendasein zu verbringen hatte.

Als er am anderen Morgen ausging, traf er auf der Treppe seine Mutter, die ihn erwartete und mit kaum hörbarer Stimme ihm zuflüsterte:

– Soll ich Dir nicht helfen, Dich auf dem Schiff einzurichten?

– Nein, danke. Es ist alles in Ordnung.

Sie flüsterte:

– Ich möchte so gern Dein Zimmerchen sehen.

– Das lohnt sich nicht. Es ist sehr häßlich und sehr klein.

Er ging vorüber, ließ sie vernichtet stehen, und mit aschfahlem Gesicht lehnte sie sich an die Wand.

Roland aber, der die »Lothringen« an dem Tage besichtigt hatte, sprach während des Essens nur von dem wundervollen Schiff und war sehr erstaunt, daß seine Frau es sich nicht einmal ansehn wollte, da doch ihr Sohn sich darauf einschiffte.

Peter lebte während der folgenden Tage kaum mehr in seiner Familie. Er war nervös, aufgeregt, kurz und hart, und seine groben Worte schienen alle zu ohrfeigen. Aber am Abend vor der Abfahrt war er plötzlich ganz verändert, ganz weich. Und er fragte im Augenblick, als er seine Eltern umarmte, um an Bord zu gehen und dort die erste Nacht zu schlafen:

– Kommt ihr morgen, um mir Adieu zu sagen?

Roland rief:

– Natürlich, natürlich! Donnerwetter! Nichtwahr Luise?

– Aber gewiß, – antwortete sie leise.

Peter gab zurück:

– Wir fahren punkt elf Uhr ab. Ihr müßt spätestens halb zehn da sein.

– Ein Gedanke! – rief sein Vater. – Wenn wir Dich verlassen haben, laufen wir schnell nach der »Perle«, fahren hinaus, und können Dich noch draußen vor dem Hafendamm einmal sehen. Nichtwahr Luise?

– Ja gewiß.

Roland fuhr fort:

– So verschwinden wir wenigstens nicht in der Menge, die am Quai steht, wenn der Dampfer abgeht. In dem Haufen kann man die Seinen nie erkennen. Ist Dir das recht?

– Aber gewiß ist mir's recht. Abgemacht.

Eine Stunde später lag er ausgestreckt auf seinem kleinen Schiffsbett, das so schmal und so kurz war wie ein Sarg. Lange blieb er mit offenen Augen liegen und dachte an alles, was seit zwei Monaten in seinem Leben und besonders in seiner Seele vor sich gegangen. Indem er litt und die anderen leiden machte, hatte sich sein Rächergefühl allmählich beruhigt. Er hatte kaum mehr den Mut, jemandem böse zu sein über irgend etwas. Er fühlte sich so kampfesmatt, müde, zu hassen, jemanden zu verletzen, müde durch alles, daß er nicht mehr konnte, und versuchte sein Herz ganz in Vergessenheit zu tauchen wie in den Schlaf. Um sich hörte er die ungewohnten Geräusche der Schiffe, leise Töne, in der stillen Nacht kaum zu unterscheiden. Und seine Wunde, die bis dahin so gebrannt, fühlte er nur noch leicht, als ob sie sich schlösse und vernarbte.

Er hatte fest geschlafen, als er durch Lärm, den die Matrosen machten, geweckt wurde. Es war Tag. Der Zug, der zur Flutzeit die Reisenden brachte, kam an.

Nun irrte er mitten unter den beschäftigten Leuten auf dem Schiff umher, die unruhig ihre Kabinen suchten, sich riefen, fragten, darauflos antworteten, in der ganzen Unruhe des Reisebeginns. Nachdem er den Kapitän begrüßt und seinem Kollegen, dem Zahlmeister, die Hand gedrückt, ging er in den Salon, in dem schon in den Ecken ein paar Engländer schliefen. Der große Raum mit weißen Marmorwänden von Goldrahmen umgeben, setzte sich durch die Perspektive der Spiegel in der Unendlichkeit fort. Man sah die langen Tische, von zwei unendlichen Reihen von Drehstühlen in granatfarbigem Sammet umgeben. Das war das Bild des großen, schwimmenden, internationalen Speisesaales, wo die reichen Leute aller Kontinente aßen. Sein Luxus war der der großen Hotels, der Theater, der öffentlichen Orte, jener banale, eindruckslose Luxus, der dem Auge der Millionäre wohlthut. Der Doktor ging hinüber in den Teil des Schiffes, der den Passagieren zweiter Klasse gehörte. Und da erinnerte er sich, daß am Abend vorher eine große Herde Auswanderer eingeschifft worden. Er stieg ins Zwischendeck hinab, dabei schlug ihm zum Übelwerden der Armeleutegeruch entgegen, jener Gestank von schwitzenden Menschen und von Fleisch, der schrecklicher ist, als der der Tiere. Da bemerkte Peter in einer Art dunklen niedrigen Souterrain, ähnlich den Grubengängen, etwas von Menschen, Frauen und Kindern, die auf übereinander befestigten Brettern lagen oder haufenweise auf dem Boden herumwimmelten. Er konnte keine Gesichter unterscheiden, aber er sah unbestimmt die ganze in Lumpen gehüllte Menschenmenge. Jene Menge der durch das Leben besiegten Elenden, die erschöpft, erdrückt sind und mit einer abgemagerten Frau und abgezehrten Kindern hinausfahren in ein unbekanntes Land, wo sie hoffen, wenigstens nicht vor Hunger zu sterben.

Und wie er an die verflossene Arbeit dachte, an all die verlorene Arbeit, an die unfruchtbaren Mühen, den Verzweiflungskampf, der jeden Tag vergeblich gekämpft worden, an alles, was diese armen Lumpen hier versucht und geschuftet, die drüben noch einmal beginnen wollten, ohne zu wissen wo, an diese traurige Existenz des Elends, wandelte den Doktor die Lust an, ihnen zuzurufen: »Stürzt euch doch lieber ins Wasser mit euren Weibern und Kindern.« Und sein Herz schnürte sich zusammen vor Mitleid, so daß er fortging, denn er konnte ihren Anblick nicht ertragen.

Sein Vater, seine Mutter, sein Bruder und Frau Rosémilly erwarteten ihn schon in seiner Kabine.

– So früh, – sagte er.

– Ja, – antwortete Frau Roland mit zitternder Stimme, – wir wollten Zeit haben, Dich noch ein bißchen zu sehen.

Er blickte sie an. Sie war in Schwarz, als ob sie Trauer trüge. Und er bemerkte plötzlich, daß ihr Haar, das einen Monat vorher doch erst grau gewesen, jetzt ganz weiß wurde.

Er konnte nur mit Mühe die vier Personen in seinem kleinen Zimmerchen unterbringen, er selbst schwang sich aufs Bett. Durch die offen gebliebene Thür sah man eine große Menschenmenge, wie an Festtagen auf den Straßen, hin und her gehen, denn eine Menge Neugieriger und alle Freunde der Abreisenden hatten den riesigen Dampfer überschwemmt. Auf den Gängen lief man auf und ab, in den Salons, überall, und bis in die Kabine hinein steckten sie ihre Köpfe, während sie draußen murmelten: »Das ist die Doktorwohnung.«

Da schloß Peter die Thür. Aber sobald er sich mit den Seinen eingeschlossen fühlte, kam ihm wieder die Lust, zu öffnen, denn das Leben auf dem Schiff täuschte sie über die Verlegenheit und das Schweigen hinweg.

Endlich wollte Frau Rosémilly sprechen. Und sie sagte:

– Durch die kleinen Fenster kommt recht wenig Luft herein.

– Es ist ein Deckfenster, – meinte Peter.

Er zeigte die Dicke, wodurch das Glas imstande war, den stärksten Druck auszuhalten. Dann erklärte er genau den Verschluß.

Und nun fragte Roland:

– Hast Du Deine Apotheke hier?

Der Doktor öffnete einen Schrank und zeigte eine große Anzahl Flaschen, mit lateinischen Namen auf viereckigem Papier. Er nahm eine, um die Wirkungen der Flüssigkeit, die sie enthielt, auseinanderzusetzen, dann eine zweite und dritte und hielt eine wahre therapeutische Vorlesung, der man mit Aufmerksamkeit zu folgen schien.

Roland schüttelte den Kopf und brummte:

– Das ist fabelhaft interessant.

Man klopfte leise an der Thür.

– Herein! – rief Peter.

Kapitän Beausire erschien.

Er sagte, indem er ihm die Hand entgegen streckte:

– Ich komme spät, weil ich nicht beim Abschied stören wollte.

Auch er mußte sich aufs Bett setzen. Und nun schwiegen sie wieder. Aber plötzlich lauschte der Kapitän. Er hörte durch die Thür Befehle und sagte:

– Wenn wir uns auf der »Perle« einschiffen wollen, um euch noch beim Auslaufen zu sehen und euch in offener See Adieu zu sagen, ists Zeit jetzt.

Dem alten Roland lag daran sehr viel. Er wollte wahrscheinlich Eindruck machen auf die Reisenden der »Lothringen.« Und er stand eilig auf:

– Also adieu, mein Junge.

Er küßte Peter auf beide Wangen, dann öffnete er die Thür.

Frau Roland bewegte sich nicht, blieb bleich, mit gesenkten Augen sitzen.

Ihr Mann legte ihr die Hand auf den Arm:

– Schnell, schnell, wir haben keine Minute zu verlieren.

Sie erhob sich, machte einen Schritt ihrem Sohn entgegen und hielt ihm, eine nach der anderen, ihre beiden wachsbleichen Wangen hin, die er küßte, ohne ein Wort zu sagen. Dann drückte er Frau Rosémilly und seinem Bruder die Hand und fragte:

– Wann heiratest Du?

– Ich weiß noch nicht sicher. Wir werden es mit einer Deiner Reisen einrichten.

Endlich gingen alle hinaus an Deck, das voll Reisender, Seeleute und Gepäckträger stand.

Im gewaltigen Leib des Schiffes stöhnte der Dampf, als zitterte es vor Ungeduld.

– Adieu! – sagte Roland eilig.

– Adieu, antwortete Peter, der an einem der kleinen Landungsstege stand, die von der »Lothringen« auf den Quai hinübergeschoben waren.

Er drückte wieder allen die Hand, und die Familie ging.

– Schnell, schnell, einsteigen! – rief der Vater.

Ein Wagen erwartete sie, der sie in den Vorhafen brachte, wo Papagris die »Perle« segelfertig hielt.

Kein Windhauch regte sich. Es war einer jener trockenen, ruhigen Herbsttage, wo das ebene Meer kalt und hart daliegt wie Stahl.

Hans ergriff einen Riemen, der Matrose den anderen, und sie begannen zu rudern. Am Wellenbrecher stand bis an die Granitbrüstung eine unzählige Menge, lärmend, hin und her gehend, und wartete auf die »Lothringen.«

Zwischen den beiden Menschenfluten schoß die Perle durch und war bald außerhalb des Hafendammes.

Der Kapitän Beausire, der zwischen den beiden Damen saß und das Steuer lenkte, sagte:

– Sie werden sehen, wir sind gerade auf dem Kurs, aber mitten drauf.

Und die beiden Ruderer legten sich in die Riemen, um so weit hinauszukommen als möglich. Plötzlich rief Roland:

– Da! Ich sehe die Takelage und die beiden Schornsteine. Sie kommt aus dem Hafen.

– Vorwärts, Kinder! – rief Beausire.

Frau Roland zog ihr Taschentuch und preßte es an die Augen.

Roland stand, sich am Mast haltend, und verkündigte:

– Jetzt fährt sie eben in den Vorhafen. – Sie rührt sich nicht mehr. – Sie geht wieder los. – Ah, sie hat ihren Schlepper vorgespannt. – Bravo! Sie kommt an den Eingang. – Hört ihr die Leute rufen? Bravo! – Der Neptun schleppt sie. Da ist sie, da ist sie! Donnerwetter so ein Schiff! Seht nur mal.

Frau Rosémilly und Beausire drehten sich um, die beiden Männer hörten auf zu rudern, nur Frau Roland rührte sich nicht.

Der gewaltige Dampfer kam, von einem starken Schlepper gezogen, der vor ihm aussah wie eine Schnecke, langsam, königlich aus dem Hafen. Und die Bevölkerung von Havre, die auf den Hafendämmen, am Strande, an den Fenstern erschienen war, begann plötzlich in patriotischem Stolz zu rufen: »Hip hip hurra! Lothringen!«

Aber sobald sie die enge Durchfahrt zwischen den beiden granitenen Mauern hinter sich hatte und sich endlich frei fühlte, ließ sie den Schlepper los und glitt allein wie ein Riesenungetüm auf dem Wasser hin.

– Da ist sie! Da ist sie! – rief Roland immer wieder. – Sie kommt gerade auf uns zu.

Und Beausire wiederholte strahlend:

– Was habe ich euch gesagt. Na also, kenne ich nicht den Kurs?

Hans sagte leise zu seiner Mutter:

– Sieh nur, Mama, jetzt kommt sie.

Und Frau Roland nahm das Taschentuch von den thränenblinden Augen.

Die »Lothringen« fuhr bei dieser ruhigen See mit Volldampf, sobald sie den Hafen verlassen. Beausire, der durch das Marineglas sah, rief:

– Achtung! Herr Peter steht hinten ganz allein. Man kann ihn genau sehen. Achtung!

Jetzt kam, hoch wie ein Berg und schnell wie ein Eisenbahnzug, das Schiff so nahe an der »Perle« vorbei, daß es sie fast berührte.

Und Frau Roland streckte, ganz bekümmert und verzweifelt, die Arme nach ihm aus. Sie sah ihren Sohn, ihren Sohn Peter mit seiner goldgestreiften Mütze stehen, wie er ihr mit beiden Händen zum Abschied Küsse zuwarf.

Aber er entfloh, verschwand, wurde schon ganz klein, wie ein winziger Fleck auf dem riesigen Schiff. Sie bemühte sich, so viel sie konnte, ihn noch zu erkennen. Doch man unterschied ihn nicht mehr.

Hans hatte ihre Hand genommen:

– Hast Du ihn gesehen? – fragte er.

– Ja. Ich habe ihn gesehen. Er ist so gut.

Und sie kehrten zur Stadt zurück.

– Jesus noch mal! Das geht aber schnell! – erklärte Roland mit enthusiastischer Überzeugung.

In der That ward der Dampfer von Sekunde zu Sekunde kleiner, als ob der Ocean ihn aufgesaugt hätte. Frau Roland hatte sich umgewendet und blickte ihm nach, wie er in den Horizont tauchte, einem unbekannten Weltteil, am anderen Ende der Erde, zueilend. Auf diesem Schiff, das niemand mehr aufhalten konnte, auf diesem Schiff, das sie bald nicht mehr sehen würde, war ihr Sohn, ihr armer Sohn. Und es war ihr, als ob die Hälfte ihres Herzens mit ihm davonginge, es war ihr, als ob ihr Leben beendet sei und als würde sie ihr Kind niemals wiedersehn.

– Weshalb weinst Du denn? – fragte ihr Mann. – Er ist ja, ehe vier Wochen um sind, wieder hier.

Sie stammelte:

– Ich weiß nicht. Ich weine, weil ich traurig bin.

Als sie wieder an Land waren, verließ sie Beausire sofort, weil er bei einem Freunde frühstücken wollte. Als nun Hans mit Frau Rosémilly vorausging, sagte Roland zu seiner Frau:

– Unser Hans ist doch famos gewachsen.

– Ja, – antwortete die Mutter.

Und da sie viel zu bekümmert war, um genau zu wissen, was sie sagte, fügte sie hinzu:

– Ich bin sehr glücklich, daß er Frau Rosémilly heiratet.

Der gute Mann war baff:

– Nanu! Wieso? Er wird Frau Rosémilly heiraten?

– Nun ja. Wir wollten ja heute fragen, was Du dazu meinst.

– Schau, schau! Ist denn schon lange davon die Rede?

– Ach nein, erst seit ein paar Tagen. Hans wollte erst sicher sein, daß sie ihn nähme, ehe er Dich fragte.

Roland rieb sich die Hände:

– Das ist famos! Famos! Ausgezeichnet! Ich bin ganz einverstanden.

Als sie den Quai verließen und eben auf den Boulevard Franz I einbiegen wollten, drehte sich seine Frau noch einmal um, um einen letzten Blick nach der hohen See hinaus zu werfen. Aber da war nichts, als eine kleine graue Rauchwolke, so fern, so leicht, daß sie aussah wie ein bißchen Nebel.

 


 


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