Guy de Maupassant
Hans und Peter
Guy de Maupassant

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I

»Hol's der Teufel!« rief plötzlich der alte Roland, der seit einer Viertelstunde unbeweglich dasaß, die Augen auf das Wasser geheftet, und ab und zu mit leichter Bewegung seine Angel, deren Schnur in die Meerestiefe niedergesunken war, anzog.

Frau Roland saß hinten im Schiff neben Frau Rosémilly, die zu diesem Fischzug eingeladen war. Nun wachte sie auf und wendete den Kopf zu ihrem Mann:

– Was ist denn! – Was ist denn! – Hieronymus.

Der gute Mann antwortete wütend:

– Es beißt absolut keiner mehr an, seit Mittag habe ich nichts gefangen. Man sollte nur mit Männern angeln gehen, die Frauenzimmer sind immer schuld, daß man zu spät abfährt.

Seine Söhne, Hans und Peter, die beide, der eine auf Backbord- der andere auf Steuerbordseite, eine Angelschnur hielten, die sie um den Zeigefinger gewickelt, begannen zu gleicher Zeit zu lachen, und Hans antwortete:

– Das ist aber nicht artig gegen unseren Gast, Papa!

Herr Roland wurde verlegen und entschuldigte sich:

– Bitte um Verzeihung, Frau Rosémilly, ich bin nun mal so. Ich lade Damen ein, weil ich gern mit ihnen zusammen bin, aber wenn ich dann mal das Wasser unter mir weiß, denke ich nur noch an die Fische.

Frau Roland war ganz wach geworden und blickte verzückt auf die Klippen und das Meer in der Weite. Sie murmelte:

– Aber ihr habt doch eine Menge gefangen.

Doch ihr Mann schüttelte den Kopf, während er einen liebevollen Blick auf den Korb warf, in dem die Fische, die die drei Männer gefangen, noch leise zappelten mit dem dumpfen Geräusch der Schuppen und zuckenden Flossen, ein ohnmächtiges, ersterbendes Schnappen und Einsaugen der todbringenden Luft.

Der alte Roland klemmte den Korb zwischen die Kniee, neigte ihn so, daß das silberglänzende Gewirr der Tiere bis an den Rand rutschte und er die unten liegenden sehen konnte. Das Zappeln wuchs, und aus dem Grund des gefüllten Korbes stieg der kräftige Geruch der Tiere, gesunder Meeresduft.

Der alte Fischer sog ihn mit vollen Lungen ein, wie man Rosen riecht, und meinte:

– Verflucht, die sind schön frisch!

Dann fuhr er fort:

– Wie viel hast Du denn davon gefangen, Doktor?

Peter, sein ältester Sohn, ein Mann von dreißig Jahren mit schwarzem, kurz gehaltenem Backenbart, wie ihn die Beamten zu tragen pflegen, antwortete:

– Ach, nicht viel! Drei oder vier.

Der Vater wendete sich zum jüngeren:

– Und Du, Hans?

Hans, ein großer, blonder Bursche mit starkem Bart, der viel jünger war wie sein Bruder, lächelte und sagte:

– Etwa so viel wie Peter, – vier oder fünf.

Jedesmal kehrte dieselbe Lüge wieder, worüber der alte Roland glückselig war.

Er hatte seine Angel um eine Rudergabel gewickelt, kreuzte die Arme und sagte:

– Das thue ich nie wieder, nachmittags fischen. Wenn es mal zehn vorüber ist, ist's aus. Die Burschen beißen nicht mehr an, jetzt halten sie Ruhe in der Sonne.

Der gute Mann blickte auf das Meer ringsum mit einer Miene, als gehörte es ihm.

Er war früher Juwelier in Paris gewesen, den eine nicht zu dämpfende Passion für Schiffahrt und Fischfang dazu geführt hatte, sein Geschäft aufzugeben, sobald er eines Tages genug verdient, um bescheiden von seinen Renten zu leben.

Er zog sich also nach Havre zurück, kaufte eine Barke und wurde aus Liebhaberei Schiffer. Seine beiden Söhne, Hans und Peter, blieben in Paris, ihre Studien fortzusetzen, und kamen nur von Zeit zu Zeit in den Ferien, um an dem Wassersport ihres Vaters Teil zu nehmen.

Als der Älteste, Peter, der fünf Jahr mehr zählte als Hans, das Gymnasium verlassen hatte, zogen ihn die verschiedensten Berufsarten an, und er hatte wohl ein halbes Dutzend, eine nach der andern, versucht. Schnell war ihm jede zuwider geworden, und immer hatte er neue Pläne begonnen.

Zuletzt hatte es ihm die Medizin angethan, und er hatte sich mit solchem Eifer auf die Hosen gesetzt, daß er, nach ziemlich kurzem Studium und nachdem er vom Ministerium die Erlaubnis erhalten, das Examen früher als vorgeschrieben abzulegen, eben seinen Doktor gemacht hatte. Er war klug und für alles begeistert, aus einer Stimmung in die andere fallend, voller Pläne und philosophischer Ideen.

Hans war so blond wie sein Bruder schwarz, so gesetzt wie sein Bruder aufgeregt, so nachgiebig wie sein Bruder nachtragend. Er hatte ruhig Jura studiert und zu gleicher Zeit sein erstes juristisches Examen abgelegt, als Peter Doktor wurde.

Alle beide ruhten sich jetzt im Schoß der Familie eine Zeit lang aus, und beide hatten die Absicht, wenn das Schicksal ihnen günstig wäre, sich in Havre niederzulassen.

Aber eine unbestimmte Eifersucht, eine von jenen in Seelentiefen schlummernden Eifersuchtsregungen, die zwischen Brüdern oder Schwestern, bis sie erwachsen sind, langsam reifen und zum Durchbruch kommen, etwa bei der Verheiratung des einen oder bei irgend einem Glück, das dem anderen widerfährt, blieb immer zwischen ihnen wach, eine brüderliche, dumpf schlummernde Feindschaft. Sie hatten sich gewiß lieb, aber sie trauten einander nicht. Peter, der fünf Jahr alt gewesen als Hans geboren wurde, hatte mit der Feindschaft des kleinen verzogenen Lieblings dies andere kleine Wurm betrachtet, das plötzlich Vater und Mutter im Arm hielten und das so viel Liebe und Liebkosung erfuhr.

Hans war von Kind auf ein Muster an Weichheit, Güte und gleichmäßigem Charakter gewesen, aber Peter war mit der Zeit unruhig geworden, als er unausgesetzt diesen dicken Bengel loben hörte, dessen Sanftmut ihm als Schlappheit erschien, dessen Güte ihm wie Dummheit vorkam und dessen Gutmütigkeit nur Beschränktheit für ihn war. Die Eltern, ruhige Leute, die für ihre Söhne eine anständige mittelmäßige Stellung im Leben erhofften, warfen ihm sein Schwanken vor, seine Begeisterung, all seine verunglückten Versuche, seine fehlgeschlagenen phantastischen Ideen, seine Neigung zum Besonderen.

Seit er erwachsen war, sagte man nicht mehr zu ihm: »Du, sieh mal den Hans an, dem kannst Du nacheifern,« sondern er hörte immer und immer wieder: »Hans hat das gemacht und Hans hat jenes gemacht«, und er verstand sehr wohl, was das heißen sollte.

Ihre Mutter, eine ruhige, gesetzte, sparsame, etwas sentimentale Bürgersfrau, die richtige Kassiererinnen-Seele, beruhigte unausgesetzt die kleinen Eifersüchteleien, die täglich zwischen den beiden großen Söhnen durch die unbedeutenden Geschehnisse des Zusammenlebens entstanden. Aber in diesem Augenblick störte ein kleines Ereignis ihre Ruhe, und sie fürchtete eine Verwicklung. Denn während ihre Kinder ihre Studien vollendeten, hatte sie diesen Winter die Bekanntschaft einer Nachbarin gemacht, der Frau Rosémilly, der Witwe eines Kapitäns, der überseeische Fahrten gemacht und vor zwei Jahren auf dem Meere umgekommen war. Die junge Witwe – sie war ganz jung, erst dreiundzwanzig Jahr alt – war eine Frau, die unbewußt wie ein Tier das Leben kannte. Es war, als wäre ihr alles schon einmal vorgekommen, als begriffe und wäge sie alle Möglichkeiten ab, die sie mit gesundem Menschenverstand wohlwollend, aber mit etwas engem Horizont beurteilte. Sie hatte sich gewöhnt, abends mit einer Handarbeit zu einem kleinen Schwätzchen zu ihren liebenswürdigen Nachbarn zu kommen, um eine Tasse Thee zu trinken.

Der alte Roland, den sein Seefexentum unausgesetzt beschäftigte, fragte die neue Freundin nach dem verstorbenen Kapitän, und sie erzählte rückhaltlos von ihm, von seinen Reisen, von den Abenteuern, die er berichtet, als verständige Frau, die sich in ihr Schicksal ergeben hat, das Leben liebt und den Tod achtet.

Als die beiden Söhne zurückkehrten und die hübsche Witwe in ihrem väterlichen Haus trafen, begannen sie sofort, ihr den Hof zu machen, weniger mit dem Wunsch, ihr zu gefallen, als weil sie sich gegenseitig ausstechen wollten.

Ihre praktische, vorsichtige Mutter hoffte sehr, daß einer von beiden Sieger bleiben würde, denn die junge Frau war reich, aber sie hätte es gern gesehen, wenn es dem andern kein Herzeleid gebracht hätte.

Frau Rosémilly war blond, hatte blaue Augen, und bei dem leisesten Luftzug war ihr lockiges Haar immer in Bewegung. Sie sah etwas herausfordernd, unternehmend aus, was garnicht mit ihrer vernünftigen Denkungsweise in Einklang stand.

Schon schien sie Hans vorzuziehen, da sie ähnlichen Charakters waren. Aber diese Bevorzugung zeigte sich nur durch einen kaum wahrnehmbaren anderen Ausdruck in Stimme und Blick und darin, daß sie öfter derselben Ansicht war wie er. Sie schien zu ahnen, daß Hans' Ansichten ihre eigenen bekräftigen würden, während sie mit Peter unfehlbar in Streit geriet. Wenn sie von der Gedankenwelt des Doktors sprach, von seinen politischen, künstlerischen, philosophischen, moralischen Ansichten, nannte sie sie wohl ab und zu: »Ihre Ideen«. Dann blickte er sie mit dem kalten Blicke des Staatsanwaltes an, der die Anklagen gegen Frauen führt, gegen alle Frauen, diese jämmerlichen Geschöpfe.

Ehe die Söhne zurückgekehrt waren, hatte der alte Roland die junge Witwe niemals zu seinen Fischzügen eingeladen, denn auch seine Frau nahm nicht daran teil, da er vor Tagesanbruch auszufahren pflegte mit Kapitän Beausire, einem Seefahrer außer Dienst, den er einmal im Hafen kennen gelernt und mit dem er innig befreundet worden; als dritter kam der alte Matrose Papagris, Jean-Bart geheißen, dazu, der die Leitung des Bootes übernahm.

Da hatte eines Abends in der vergangenen Woche, als Frau Rosémilly bei ihnen saß, diese gesagt: »Das Fischen muß doch sehr amüsant sein,« und der ehemalige Juwelier fühlte sich geschmeichelt in seiner Passion und empfand die Lust, Proselyten zu machen wie ein Priester. Deshalb sagte er:

– Wollen Sie mal mitkommen?

– Sehr gern.

– Nächsten Dienstag?

– Schön, nächsten Dienstag.

– Sind Sie aber auch dabei, wenn wir um fünf Uhr früh in See stechen?

Sie stieß einen Schrei des Entsetzens aus:

– Nee! Das auf keinen Fall.

Er war enttäuscht, abgekühlt und bedauerte nun plötzlich seine Einladung. Dennoch fragte er:

– Ja, wann könnten Sie denn fort?

– Na, um neun.

– Früher nicht?

– Nein, früher nicht, das ist schon sehr zeitig.

Der gute Mann zögerte. Fangen würden sie ja nichts, denn wenn erst die Sonne brennt, beißen die Fische nicht mehr an. Aber die beiden Brüder wollten durchaus, daß die Bootfahrt zustande käme, und setzten alles durch.

Am folgenden Dienstag hatte also die »Perle« unterhalb der weißen Felsen des Kap de la Hève Anker geworfen, und bis Mittag hatten sie gefischt, dann geschlafen, dann wieder gefischt, ohne etwas zu fangen. Und nun hatte der alte Roland, der etwas spät begriff, daß Frau Rosémilly nur Spaß an der Seefahrt hatte, und als er sah, daß seine Angel nicht mehr zuckte, in einem Augenblick der Ungeduld dieses energische: »Hol's der Teufel« gerufen, das ebensowohl der gleichgiltigen Witwe als den Tieren galt, die sich nicht fangen ließen. Jetzt betrachtete er die gefangenen Fische, seine Fische, mit der zitternden Freude des Geizigen, dann schlug er die Augen zum Himmel auf, sah, daß die Sonne schon niederstieg und sagte: »Na, Jungens, wenn wir nun ein bißchen nach Haus führen?«

Beide zogen ihre Schnuren ein, rollten sie auf, steckten die gereinigten Angelhaken in ein Stück Kork und warteten ab.

Roland hatte sich erhoben, um wie ein Schiffskapitän nach dem Wetter zu sehen. Dann sagte er:

– Kein Wind mehr, da müssen wir rudern, Jungens!

Und plötzlich schloß er, indem er den Arm nach Norden ausstreckte:

– Da seht mal, seht mal, der Dampfer von Southampton.

Über dem ebenen Meer, das wie ein blauer, riesiger, leuchtender Stoff mit Goldflecken und Feuerblitzen ausgebreitet lag, ruhte in der Ferne in der angegebenen Richtung am rosigen Himmel eine dunkle Wolke und darunter bemerkte man das durch die Entfernung winzig erscheinende Schiff.

Nach Süden zu sah man noch andere zahlreiche Rauchwolken, die alle nach der Rhede von Havre zu gingen, dessen weiße Mole, mit dem wie ein Horn an der Spitze aufgerichteten Leuchtturm, man von weitem kaum unterschied.

Roland fragte: – Ist nicht heute die »Normandie« fällig?

Hans antwortete:

– Jawohl, Papa.

– Gieb mir mal das Fernrohr, ich glaube, da drüben ist sie.

Der Vater zog das Messingrohr auseinander, setzte es ans Auge, suchte den Punkt und rief dann plötzlich, glückselig, es erkannt zu haben:

– Ja, ja, sie ist's, ich erkenne die beiden Schornsteine. Wollen Sie mal sehen, Frau Rosémilly?

Sie nahm das Glas, richtete es in den fernen Ozean hinaus, aber wahrscheinlich ohne den Dampfer zu finden, denn sie unterschied nichts, als das Blau mit einem farbigen Rand, einem runden Regenbogen und ganz seltsamen elliptischen Linien, daß sie ganz seekrank wurde.

Sie reichte das Fernrohr zurück:

– Ich habe nie etwas sehen können durch so ein Ding. Das ärgerte meinen Mann immer, der stundenlang am Fenster stand, um die Schiffe vorüberfahren zu sehen.

Der alte Roland sagte, erstaunt:

– Das muß an Ihren Augen liegen, denn mein Glas ist ausgezeichnet.

Dann bot er es seiner Frau an:

– Willst Du mal sehen?

– Nein, danke. Ich weiß schon vorher, daß ich's nicht kann.

Frau Roland, eine Frau von achtundvierzig Jahren, der man ihr Alter kaum ansah, schien die Seefahrt und den Abend noch mehr zu genießen, als die anderen.

Ihr braunes Haar begann nur wenig zu ergrauen. Sie hatte etwas Ruhiges, Vernünftiges, Glückliches, Gutes, daß man sich freute, sie anzusehen. Wie ihr Sohn Peter sagte, kannte sie den Wert des Geldes. Aber trotzdem liebte sie zu träumen, sie liebte zu lesen, liebte Romane und Gedichte, nicht wegen ihres Kunstwertes aber wegen der melancholischen, süßen Träumerei, die sie in ihr erweckten. Irgendein, vielleicht schlechter, banaler Vers traf ihre Herzenssaite, wie sie sagte, und flößte ihr das Gefühl wundersamer Wünsche ein, die ihr fast erfüllt zu sein schienen. Und sie gefiel sich in diesen angenehmen Aufregungen, die ein wenig ihre Seele, die sonst in Ordnung war wie ein Hauptbuch, in Schwingungen versetzten.

Seitdem sie in Havre waren, hatte sie ziemlich an Leibesfülle gewonnen, so daß ihre einst sehr schlanke, biegsame Gestalt etwas schwer geworden war.

Über diese Spazierfahrt auf dem Meer war sie glückselig. Ihr Mann behandelte sie manchmal etwas grob ohne böse zu sein, wie die Ladentyrannen ohne Zorn und Haß oft grob sind, weil für sie befehlen soviel wie schimpfen heißt. Vor jedem Fremden hielt er sich im Zaum, aber in der Familie ließ er sich gehen und that manchmal wie ein Bullenbeißer, obgleich er sich eigentlich vor aller Welt fürchtete. Sie hatte Angst vor Scenen, Lärm, Aufregung und unnützen Auseinandersetzungen, gab immer nach und wollte nie etwas haben. Und so wagte sie es schon seit langer Zeit nicht mehr Roland zu bitten, sie mal auf dem Meere spazieren zu fahren. Sie hatte also mit größter Freude diese Gelegenheit ergriffen und genoß nun das seltene und neue Vergnügen.

Seitdem sie auf der See waren, überließ sie sich ganz mit Leib und Seele dem Wohlgefühl, sanft auf dem Wasser dahin zu gleiten. Sie dachte nichts, keine Erinnerungen tauchten vor ihr auf, und sie schmiedete keine Zukunftsträume. Es war ihr, als ob ihr Herz ebenso wie sie selbst auf etwas Flüssigem, Weichem, Köstlichem dahinglitte, das sie wiegte und einschläferte.

Als der alte Roland die Rückkehr befahl: »Vorwärts an die Riemen«, lächelte sie beim Anblick ihrer Söhne, der beiden großen Söhne, wie sie ihre Jacken auszogen und über die nackten Arme die Ärmel aufstreiften.

Peter, der näher bei den Damen saß, nahm den Steuerbord-, Hans den Backbordriemen, und sie warteten bis der Schiffsleiter befahl: »Setzt ein«, denn er hielt darauf, daß die Manöver prompt und gleichmäßig ausgeführt wurden.

Sie ließen mit einem Schlag die Riemen eintauchen, legten sich rückwärts und zogen an, so sehr sie konnten, um ihre Kraft zu zeigen.

Sie waren hergesegelt, aber der Wind war abgeflaut. Und nun erwachte plötzlich in den beiden Brüdern der Mannesehrgeiz bei der Aussicht, sich gegen einander zu messen.

Wenn sie mit dem Vater allein fischen fuhren, ruderten sie, ohne daß gesteuert wurde, denn Roland bereitete die Angeln vor, indem er den Gang des Schiffes regelte, durch irgend eine Bewegung oder ein Wort: »Hans schwächer, Peter stärker«, oder er sagte: »Vorwärts Nummer eins, vorwärts Nummer zwei! Ein bißchen in die Hände spucken!« Der, der geträumt hatte, legte sich dann stärker in die Riemen, der, der eifrig gerudert, ließ etwas nach, und das Schiff gewann wieder seinen Kurs.

Heute konnten sie ihre Muskeln zeigen. Die Arme Peters waren behaart, mager, nervig; die von Hans dick, weiß, rosig, mit einem Muskelknoten, der unter der Haut hin- und herglitt.

Zuerst legte sich Peter stärker in die Riemen; mit zusammengebissenen Zähnen, gefurchter Stirn, ausgestreckten Beinen, fest das Holz umfassend, bog er es in seiner ganzen Länge, und die »Perle« richtete den Bug der Küste zu. Der alte Roland, der am Vordersteven saß, um die ganze Bank hinten den beiden Damen zu überlassen, brüllte aus voller Lunge:

– Sachte Nummer eins! Feste Nummer zwei! –

Nummer eins ruderte noch stärker, und Nummer zwei konnte dieser wahnsinnigen Anstrengung nicht folgen.

Endlich befahl der Schiffsleiter: »Stop!« Die beiden Riemen hoben sich gleichzeitig, und Hans mußte auf Befehl des Vaters ein paar Augenblicke allein rudern. Aber von diesem Moment ab war er im Vorteil, ward lebhaft, wuchs in seinen Kräften, während Peter, durch die übermäßige Anstrengung ermattet und außer Atem, schwächer ward und schnaufte. Viermal hintereinander ließ der Vater Roland abstoppen, um den Ältesten Atem schöpfen zu lassen, und damit das abluvende Schiff wieder den Kurs gewinne. Da sagte der Doktor, Schweiß auf der Stirn, mit bleichen Wangen, wütend und beschämt:

– Ich weiß nicht, was heute mit mir los ist, ich habe eine Herzbeklemmung; ich bin zu toll in's Zeug gegangen, und das liegt mir in den Armen.

Hans fragte:

– Soll ich beide Ruder nehmen?

– Nein, danke. Es wird schon vorübergehen.

Es ärgerte die Mutter, und sie sagte:

– Aber Peter, was hat denn das nur für einen Zweck, Dich in so einen Zustand zu bringen? Du bist doch kein Kind mehr.

Er zuckte die Achseln und begann wieder zu rudern.

Frau Rosémilly schien nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu begreifen. Ihr kleiner blonder Kopf neigte sich bei jedem Anziehen des Schiffes etwas zurück, so daß an der Schläfe die feinen Haare flatterten.

Aber der alte Roland rief: – Seht mal, da überholt uns der »Prinz Albert«! –

Und alle blickten hin. Langgestreckt, niedrig, mit seinen rückwärts geneigten Schornsteinen und den gelben Radkästen, rund wie ein paar Backen, kam das Schiff von Southampton mit vollem Dampf heran. Auf dem Deck standen lauter Passagiere mit aufgespannten Sonnenschirmen. Die flüchtigen rauschenden Räder peitschten das Wasser, daß der Schaum flog, und verliehen ihm die Eile eines Schnelldampfers. Der Vordersteven durchschnitt das Wasser und ließ zwei feine durchsichtige Wellen aufspritzen, die längs des Schiffes hinglitten.

Als er ganz nahe an der »Perle« war, zog Vater Roland seinen Hut, die beiden Frauen wedelten mit dem Taschentuch, und ein halbes Dutzend Sonnenschirme antworteten dem Gruß, indem sie sich lebhaft auf und nieder neigten auf dem Packetboot, das sich, auf der glatten, leuchtenden Meeresfläche ein paar leichte Wellen hinterlassend, entfernte.

Nun tauchten andere Schiffe auf, gleichfalls mit einer Rauchhaube darüber, von allen Punkten des Horizontes gegen den schmalen, weißen Hafendamm laufend, der sie wie ein Rachen, eines nach dem andern, verschlang. Und die Fischerbarken und die großen Seegelschiffe mit leichter Takelage glitten über den Horizont hin, von winzigen Schleppern gezogen, und alle näherten sich schnell oder langsam diesem Rachen, der sie verschlang, der von Zeit zu Zeit übersättigt zu sein schien und nun in das weite Meer hinaus eine andere Flotte von Packetbooten, Briggs, Jachten und Dreimastern hinausspie: die eiligen Steamer entflohen nach rechts, nach links über den platten Bauch des Ozeans, während die Segelschiffe, nachdem die Fliegen-gleichen Schlepper, die sie hinausgebracht, sie verlassen, unbeweglich blieben, indem sie sich, vom Großmarssegel bis zum kleinen Bramsegel, mit weißer Leinwand oder brauner überzogen, die rötlich schimmerte beim Sonnenuntergang.

Frau Roland sagte mit halb geschlossenen Augen:

– Gott, ist das schön, das Meer!

Frau Rosémilly antwortete mit langem Seufzer der aber nichts Trauriges hatte:

– Ja, aber es kann einem doch auch viel Leid anthun.

Roland rief:

– Seht mal da, da taucht die »Normandie« auf! Kolossal, was?

Dann erklärte er die Küste gegenüber, dort drüben, weit drüben am anderen Ufer der Seine – zwanzig Kilometer war die Mündung breit – sagte er. Er zeigte Villerville, Trouville, Houlgate, Luc, Arromanches, die Küste von Caen, die Felsen von Calvados, die bis Cherbourg der Schiffahrt Gefahren bereiteten. Dann sprach er über die Sandbänke in der Seine, die bei jeder Flut den Platz ändern und sogar die Lotsen von Quilleboeuf in Verlegenheit bringen, wenn sie nicht täglich das Fahrwasser abfahren.

Er setzte auseinander, wie Havre die untere und die obere Normandie trennt. In der unteren Normandie stieg die Küste niedrig in weiten Wiesen und Feldern bis ans Meer hinab; die Küste der oberen Normandie, im Gegensatz dazu, hohe, zersägte, zerschnittene, wundervolle Klippen, die bis Dunkerque eine riesige weiße Mauer bildeten, deren Einschnitte immer ein Dorf oder einen Hafen enthielten: Étretat, Fécamp, St. Valery, Le Tréport, Dieppe und so weiter.

Die beiden Frauen hörten ihm nicht zu, in molligem Wohlgefühl dasitzend, ganz bewegt durch den Anblick dieses Ozeans, der übersät war mit Schiffen, die wie Tiere um ihre Höhle herumliefen, und sie schwiegen, etwas benommen durch die Weite von Luft und Wasser, schweigsam geworden durch den wundervollen, stillen Sonnenuntergang. Nur Roland schwatzte ununterbrochen, er war eine Natur, die nichts begeisterte. Die feinfühligeren Frauen empfinden manchmal, ohne sich darüber klar zu werden, daß das Geräusch überflüssigen Geschwätzes auf die Nerven geht wie eine Grobheit.

Hans und Peter, die sich beruhigt hatten, ruderten gleichmäßig, und die »Perle«, die ganz klein aussah neben den großen Schiffen, hielt dem Hafen zu.

Als sie an den Quai kamen, reichte der Matrose Papagris, der sie erwartet, den Damen die Hand beim Aussteigen, und sie gingen in die Stadt. Eine zahlreiche, stumme Menge, Leute, die täglich zur Flutzeit an den Hafen kommen, kehrten gleichfalls zurück. Frau Roland und Frau Rosémilly gingen voraus, die drei Männer folgten. Als sie die Rue de Paris hinaufgingen, blieben sie ab und zu vor einem Modemagazin oder bei einem Juwelier stehen, um einen Hut oder einen Schmuckgegenstand zu betrachten. Dann gingen sie weiter, nachdem sie darüber ihre Meinung ausgetauscht.

Vor dem Börsenplatz betrachtete Roland, wie er das täglich that, das von Schiffen erfüllte Bassin du Commerce, von dem Grachten ausgingen, in denen Bauch an Bauch, vier oder fünf Reihen nebeneinander, die großen Schiffe lagen. Ein Mastenwald erhob sich dort in einer Ausdehnung von mehreren Kilometern Quailänge mit Spitzen, Takelagen und Raaen, so daß dieses Hafenbecken mitten in der Stadt aussah wie ein großer, abgestorbener Wald. Unter diesem blätterlosen Walde strichen die Möwen hin, spähten nach allen Seiten, um dann niederzustoßen, wie ein fallender Stein, und die Abfälle zu suchen, die man ins Wasser geworfen.

– Wollen Sie nicht zum Essen bleiben, damit wir noch den Abend zusammen sind? Wir sind allein, fragte Frau Roland Frau Rosémilly.

– Ja, sehr gern, ich nehme ohne Umstände an. Es wäre heute abend für mich traurig allein zu Haus.

Peter hatte es gehört, und da ihn die Gleichgiltigkeit der jungen Frau anfing zu ärgern, brummte er: – Na, da setzt sich also die Witwe bei uns fest. – Seit ein paar Tagen nannte er sie »die Witwe«, und obgleich dieses Wort nichts besonderes ausdrückte, ärgerte es Hans, nur durch den Ton, der ihm böse und verletzend vorkam.

Und die drei Männer sprachen, bis sie an ihre Wohnung kamen, kein Wort mehr. Es war ein schmales Haus auf der Rue Belle-Normande, das aus einem Erdgeschoß und zwei kleinen Stockwerken bestand. Das Mädchen der Rolands, Josefine, ein Ding von neunzehn Jahren, vom Lande, um billigen Lohn dienend, besaß in außerordentlichem Maße das ewig erstaunte, fast tierische Aussehen der Bauern. Sie öffnete, schloß die Thür wieder und ging hinter der Herrschaft bis ins Wohnzimmer, das im ersten Stock lag, und sagte:

– Ein Herr ist dagewesen, schon dreimal.

Der alte Roland, der nie mit ihr redete, ohne zu fluchen und sie anzubrüllen, rief:

– Wer ist gekommen? Gott verdamm mich noch mal!

Das Gebrüll ihres Herrn störte sie nie, und sie antwortete: – Ein Herr vom Notar.

– Was für ein Notar?

– Nun von Herrn Canu.

– Was hat denn der Herr gesagt?

– Der Herr Canu würde selbst heute abend mal vorsprechen.

Der Notar Lecanu war Rechtsbeistand des alten Roland, dessen Geschäfte er besorgte, und zugleich mit ihm befreundet. Da er seinen Besuch für den Abend angekündigt hatte, mußte es sich um eine wichtige, dringende Angelegenheit handeln. Und die vier Rolands blickten sich an, etwas beunruhigt durch diese Neuigkeit, wie alle Leute, die in bescheidenen Verhältnissen leben, bei der Berührung mit einem Notar, die sofort den Gedanken an Kontrakt, Erbschaft, Prozesse wachruft, kurz Dinge, die man wünscht oder fürchtet. Der Vater sagte nach ein paar Augenblicken Schweigen:

– Was kann denn das wohl bedeuten?

Frau Rosémilly begann zu lachen:

– Ach, es wird eine Erbschaft sein, dessen bin ich gewiß. Ich bringe immer Glück.

Aber sie hofften auf niemand, durch dessen Tod sie hätten erben können.

Frau Roland, die für Verwandtschaft ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte, begann sofort alle Verwandten auf Seiten ihres Mannes und auf ihrer eigenen durchzugehen und allen Zweigen der Familie zu folgen. Sie fragte, ehe sie noch den Hut abgesetzt:

– Sag mal, Vater (sie nannte ihren Mann zu Haus ›Vater‹ und nur manchmal in Gegenwart von Fremden ›Herr Roland‹), sag mal, Vater, wen hat denn nur Josef Lebru in zweiter Ehe zur Frau gehabt?

– Ja, ich weiß, eine kleine Duménil, die Tochter eines Papierhändlers.

– Haben sie Kinder gehabt?

– Ja, ich glaube vier oder fünf mindestens.

– Nein, dann ist's damit nichts.

Sie wurde schon ganz erregt beim Suchen, bei der Idee, es könnte ihnen ein wenig Geld vom Himmel in den Schoß fallen. Aber Peter, der seine Mutter sehr lieb hatte, der wußte, daß sie sich gern in Hoffnungen wiegte und der eine Enttäuschung fürchtete, einen kleinen Kummer, eine kleine traurige Stimmung, wenn die Nachricht statt gut zu sein etwa schlecht wäre, warf ein:

– Mutter, glaube nur sowas nicht, wir haben keinen Onkel in Amerika. Ich dächte eher, es handelt sich um eine Heirat für Hans.

Alle Welt war erstaunt über diese Idee, und Hans war etwas verletzt, daß sein Bruder das vor Frau Rosémilly gesagt hatte.

– Warum für mich und nicht für Dich? Deine Vermutung ist sehr anfechtbar. Du bist der Älteste, also würde man doch zuerst an Dich gedacht haben. Und dann will ich mich garnicht verheiraten.

Peter lachte:

– Du bist wohl verliebt?

Der andere antwortete unzufrieden:

– Muß man gerade verliebt sein, wenn man sagt, daß man sich noch nicht verheiraten will?

– So, so, – das »noch« ändert allerdings die Sache. Du wartest also?

– Meinetwegen nimm an, daß ich warte, wenn Du willst.

Aber der alte Roland, der zugehört und nachgedacht hatte, fand plötzlich die wahrscheinlichste Lösung:

– Herr Gott noch mal, wir sind doch zu dumm, uns hier den Kopf zu zerbrechen. Herr Lecanu ist unser Freund, er weiß, daß Peter irgendwo ärztliche Praxis sucht, Hans Advokat werden will, und er hat irgend etwas für einen von euch beiden gefunden.

Das war so einfach und wahrscheinlich, daß alle einstimmten.

– Es ist angerichtet! – sagte das Mädchen.

Und jeder lief auf sein Zimmer, um sich die Hände zu waschen, ehe es zu Tisch ging.

Zehn Minuten später saßen sie im kleinen Eßzimmer im Erdgeschoß beim Essen.

Zuerst wurde kaum gesprochen, aber nach ein paar Augenblicken wunderte sich Roland wieder über den Besuch des Notars.

– Ja, warum hat er denn übrigens nicht geschrieben? Warum hat er dreimal seinen Bureauchef geschickt und warum kommt er denn selbst?

Peter fand das ganz natürlich:

– Er muß wahrscheinlich sofort Antwort haben, und er hat uns vielleicht Dinge unter vier Augen zu sagen, die man nicht gern schreibt.

Aber alle vier beschäftigte die Sache, und es war ihnen eigentlich peinlich, daß sie die Fremde eingeladen hatten, die sie bei den Besprechungen und zu treffenden Entscheidungen stören konnte.

Als sie eben wieder ins Wohnzimmer hinauf gegangen waren, wurde der Notar gemeldet.

Roland sprang auf:

– Guten Abend, lieber Meister!

Er gab Herrn Lecanu den Titel Meister, wie er in Frankreich jedem Notar zukommt.

Frau Rosémilly stand auf: – Ich will gehen, ich bin sehr müde.

Man machte schwache Versuche, sie zurückzuhalten, aber sie ging nicht darauf ein und entfernte sich, ohne daß einer der drei Herren sie, wie sonst gewöhnlich, nach Haus gebracht hätte.

Frau Roland bemühte sich sofort um den neuen Gast:

– Trinken Sie eine Tasse Kaffee?

– Nein, danke. Ich komme eben von Tisch.

– Also eine Tasse Thee?

– Ich sage nicht nein, aber vielleicht etwas später, denn wir müssen erst über Geschäfte sprechen.

In der tiefen Stille, die diesen Worten folgte, hörte man nur das gleichmäßige Ticken der Wanduhr und im Stockwerk darunter das Klappern der Schüsseln, die das Mädchen aufwusch, das sogar zu dumm war, um auf die Idee zu kommen, an der Thür zu lauschen.

Der Notar begann:

– Haben Sie in Paris einen gewissen Herrn Maréchal gekannt, Leo Maréchal?

Herr und Frau Roland riefen in einem Atem:

– Natürlich!

– War das einer Ihrer Freunde?

Roland antwortete:

– Jawohl, mein bester Freund. Aber ein eingefleischter Pariser, der nie vom Boulevard kommt; er ist Bureauchef im Finanzministerium. Ich habe ihn, seitdem wir die Hauptstadt verlassen, nicht wiedergesehen, und dann haben wir uns auch nicht mehr geschrieben. Wissen Sie, wenn man so weit von einander ist . . . .

Der Notar sagte ernst:

– Herr Maréchal ist gestorben.

Mann und Frau zuckten beide in jenem schmerzlichen echten oder gespielten Erstaunen zusammen, mit dem man eine traurige Nachricht aufzunehmen pflegt.

Herr Lecanu fuhr fort:

– Mein Kollege in Paris hat mir die wichtigste Bestimmung seines Testamentes mitgeteilt, durch die Ihr Sohn Hans, Hans Roland, zu seinem Universalerben ernannt ist.

Das Erstaunen war so allgemein, daß keiner eine Antwort fand.

Frau Roland bemeisterte zuerst ihre Bewegung und stammelte:

– Mein Gott, der arme Leo, unser armer Freund! Mein Gott, mein Gott, tot!

Thränen traten in ihre Augen, jene stillen Frauenthränen, Perlen des Leides, die aus der Seele steigen, über die Wangen laufen und so schmerzlich scheinen, wie sie klar und hell sind.

Aber Roland dachte weniger an die Trauer und den Verlust, als an die angekündigte glückliche Nachricht. Er wagte jedoch nicht gleich nach Einzelheiten des Testamentes zu fragen, auch nicht nach der Höhe der Summe. Und er meinte, um der interessanten Frage näher zu kommen:

– An was ist er denn gestorben, der arme Maréchal?

Herr Lecanu hatte davon keine Ahnung.

– Ich weiß nur, daß er ohne direkte Nachkommen gestorben ist und sein ganzes Vermögen, etwa zwanzigtausend Franken Rente, in dreiprozentigen Obligationen Ihrem zweiten Sohn, den er geboren werden und heranwachsen sah, und den er der Erbschaft für würdig hielt, vermacht hat. Sollte Herr Hans die Erbschaft nicht annehmen, würde sie Waisenkindern zufallen.

Der alte Roland konnte seine Freude schon nicht mehr zurückhalten und rief:

– Verflucht noch mal, das war ein schöner Zug seines guten Herzens! Wenn ich keine Kinder hätte, hätte ich unsern alten Freund meinerseits auch nicht vergessen.

Der Notar lächelte:

– Ich wollte mir die Freude machen, Ihnen die Sache selbst mitzuteilen. Man freut sich immer, den Leuten etwas Angenehmes sagen zu können.

Er dachte garnicht daran, daß diese glückliche Nachricht der Tod eines Freundes, des besten Freundes des alten Roland war, der seinerseits ebenso plötzlich die vorhin ausgesprochene enge Freundschaft vergessen hatte.

Allein Frau Roland und ihre Söhne blieben ernst. Sie weinte noch immer ein wenig, wischte sich die Augen mit dem Taschentuch, das sie dann auf ihren Mund hielt, um ihr tiefes Schluchzen zu unterdrücken.

Der Doktor brummte:

– Er war ein braver Mann und uns sehr zugethan. Er lud meinen Bruder und mich öfters zu Tisch ein.

Hans strich sich den schönen blonden Bart, die leuchtenden Augen groß aufgerissen, mit der rechten Hand und ließ ihn bis zum letzten Haar durch die Finger laufen, als wollte er ihn verlängern und zuspitzen.

Zweimal bewegte er die Lippen, um gleichfalls etwas Passendes zu sagen. Aber nachdem er lange gesucht, fand er nur die Worte:

– Ja, er liebte mich sehr, er küßte mich immer, wenn ich ihn besuchte.

Aber des Vaters Gedanken gingen in rasendem Tempo weiter. Er war ganz beschäftigt mit der in Aussicht gestellten Erbschaft, die schon ausgemachte Sache war, ganz benommen von dem Geld, das vor der Thür nur wartete und sofort morgen, es kostete nur ein Wort, ins Haus fiel.

Er fragte: – Es können doch keine Schwierigkeiten eintreten . . . ein Prozeß etwa . . . eine Anfechtung?

Herr Lecanu schien ganz beruhigt zu sein:

– Nein. Mein Kollege in Paris meint, die Sache wäre ganz klar. Es handelt sich nur darum, daß Herr Hans annimmt.

– Schön also. Und das Geld ist in Ordnung?

– Alles in Ordnung.

– Alle Förmlichkeiten sind erfüllt?

– Alle.

Plötzlich schämte sich der ehemalige Juwelier etwas; es war eine unbestimmte, instinktive Scham über die Eile, mit der er sich alles hatte auseinander setzen lassen, und er sagte:

– Wissen Sie, daß ich Sie sofort nach all den Dingen fragte, das ist ja nur, um meinen Sohn vor etwaigen Unannehmlichkeiten, die er nicht voraussehen kann, zu bewahren. Es hängen da manchmal Schulden daran, die Lage ist vielleicht nicht ganz klar, was weiß ich, und man fällt da manchmal in ein Loch ohne Boden. Übrigens bin ich ja nicht der Erbe, aber ich sorge natürlich vor allen Dingen für den Kleinen.

Hans wurde in der Familie der »Kleine« genannt, obgleich er viel größer war wie Peter.

Es war, als ob Frau Roland plötzlich aus einem Traum erwachte, sich an etwas erinnerte, das weit hinter ihr lag, fast vergessen war, das sie ein paar Mal gehört hatte, dessen sie übrigens nicht ganz sicher war, und sie stammelte:

– Sagten Sie nicht, daß unser armer Freund Maréchal sein Vermögen meinem kleinen Hans vermacht hat?

– Jawohl, Frau Roland.

Da sagte sie ganz einfach:

– Das macht mir große Freude, denn es beweist mir, daß er uns gern hatte.

Roland war aufgestanden:

– Lieber Herr Notar, wünschen Sie, daß mein Sohn gleich die Annahme unterzeichnet?

– Nein, nein, Herr Roland. Morgen, morgen, auf meinem Bureau, um zwei Uhr, wenn es Ihnen paßt.

– Natürlich, natürlich, selbstverständlich!

Da that Frau Roland, die sich gleichfalls erhoben hatte, die unter Thränen lächelte, zwei Schritte zum Notar, legte ihre Hand auf seine Stuhllehne, schaute ihn mit dankbarem Mutterblick an und fragte:

– Ist Ihnen nun Thee gefällig, Herr Lecanu?

– Jetzt sehr gern, Frau Roland. Mit Vergnügen.

Das Mädchen wurde gerufen und brachte zuerst in ein paar großen Blechkästen Cakes, jene faden englichen Backwaren, die für Papageienschnäbel gemacht zu sein scheinen und in Metallbüchsen verwahrt werden zu Reisen um die Erde. Dann holte sie ein paar kleine, graue Servietten, viereckig zusammengelegt, jene Theeservietten, die bei sparsamen Leuten nie gewaschen werden. Zum dritten Mal kam sie mit der Zuckerdose und den Tassen, dann ging sie hinaus, um das Wasser zu kochen, und man wartete.

Niemand konnte sprechen, man hatte zu viel zu denken und nichts zu sagen. Frau Roland allein suchte nach ein paar banalen Worten. Sie erzählte von der Seefahrt und lobte die »Perle« und Frau Rosémilly.

– Reizend, reizend! – sagte der Notar.

Roland, der sich wie im Winter, wenn das Feuer brannte, an den Marmor des Kamins gelehnt, stand da, die Hände in den Taschen, bewegte die Lippen, als wollte er pfeifen, und in der unwiderstehlichen Lust, seine Freude von sich zu geben, konnte er nicht mehr auf einem Fleck stehen bleiben.

Die beiden Brüder saßen auf zwei gleichen Stühlen, beide die Beine übereinander geschlagen, rechts und links vom Sofa, und starrten genau in derselben Stellung, aber mit verschiedenem Ausdruck vor sich hin.

Endlich kam der Thee. Der Notar nahm ihn, that Zucker hinein und trank seine Tasse, nachdem er ein Cake, das zu hart war zum beißen, hineingebrockt. Darauf erhob er sich, schüttelte jedem die Hand und ging.

– Also abgemacht, – sagte Herr Roland, – morgen um zwei Uhr bei Ihnen.

Hans hatte nicht ein Wort gesagt.

Nachdem der Notar fort war, schwiegen sie noch alle. Dann schlug der alte Roland mit beiden Händen seinem jüngeren Sohn auf die Schultern und rief:

– Na, verfluchter Kerl, küßt Du mich denn nicht?

Da lächelte Hans und umarmte seinen Vater mit den Worten:

– Ich meinte nicht, daß es unbedingt nötig wäre.

Aber der Alte konnte es vor Freude nicht mehr aushalten, lief hin und her, spielte mit seinen ungeschickten Nägeln auf den Möbeln Klavier, drehte sich auf dem Absatz herum und rief:

– So ein Glück, so ein Glück! Da haben wir aber mal Glück!

Peter fragte: – Kanntet ihr denn früher den Maréchal so genau?

Der Vater antwortete:

– Nun, er war doch jeden Abend bei uns. Aber Du erinnerst Dich doch, daß er Dich, wenn Du einen freien Nachmittag hattest, am Gymnasium abholte und daß er Dich nach Tisch öfters nach Haus brachte. Na, zum Beispiel gerade an dem Morgen, als Hans geboren wurde, da holte er den Doktor. Er hatte bei uns gefrühstückt, als die Mama sich unwohl fühlte. Wir wußten gleich, was los sei, und er rannte spornstreichs davon. In der Eile nahm er noch meinen Hut statt seinen. Ich weiß das noch so genau, weil wir nachher so furchtbar darüber lachten. Möglicherweise hat er sich noch in seiner Sterbestunde dieser Geschichte erinnert, und da er keinen Erben hatte, wird er sich wohl gesagt haben: da ich nun einmal bei der Geburt dieses Kleinen geholfen habe, werde ich ihm mein Vermögen hinterlassen.

Frau Roland lag in ihrem Stuhl, ganz in Gedanken verloren. Sie flüsterte, als dächte sie laut:

– Ach, er war ein braver Freund, treu und ergeben – ein seltener Mensch in unsern Zeiten.

Hans war aufgestanden:

– Ich will ein bißchen spazieren gehen.

Sein Vater wunderte sich, wollte ihn zurückhalten, denn sie hätten miteinander zu sprechen, Pläne zu schmieden, Entschlüsse zu fassen. Aber der junge Mann blieb dabei und behauptete, er hätte eine Verabredung. Übrigens wäre ja noch Zeit genug, sich zu besprechen, ehe die Erbschaft angetreten würde.

Und er ging fort, denn er wollte allein sein und nachdenken. Dann erklärte auch Peter, er müsse ausgehen, und nach einigen Minuten folgte er seinem Bruder.

Sobald der alte Roland mit seiner Frau allein war, schloß er sie in die Arme, küßte sie ein dutzendmal auf beide Wangen und sagte, um einen Vorwurf zu entkräften, den sie ihm oft gemacht:

– Siehst Du, meine Liebe, es hätte mir garnichts genützt, länger in Paris zu bleiben und mich für die Kinder zu ruinieren, statt hier meiner Gesundheit zu leben, da uns das Geld vom Himmel in den Schoß fällt.

Sie war ganz ernst geworden:

– Es fällt vom Himmel für Hans, – sagte sie. – Aber Peter?

– Peter ist Doktor, der wird schon Geld verdienen. Und dann wird sein Bruder schon was für ihn thun.

– Nein, der nimmt nichts an. Und dann gehört die Erbschaft Hans, nur Hans. So ist Peter sehr benachteiligt.

Der gute Mann war starr:

– Na, da hinterlassen wir ihm in unsern Testament etwas mehr.

– Nein, das ist auch nicht gerecht.

Er rief:

– Na also denn nicht. Was soll ich denn dabei thun? Du suchst immer bloß alles Unangenehme, Du verdirbst mir jeden Spaß. Ich werde lieber zu Bett gehen. Gute Nacht! Übrigens, jedenfalls wir haben Schwein, verfluchtes Schwein!

Und er ging davon, trotz alledem glückselig, ohne irgend ein Wort des Bedauerns für den toten, edelmütigen Freund.

Frau Roland träumte weiter beim Schein der Lampe.

 


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