Guy de Maupassant
Hans und Peter
Guy de Maupassant

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VI

Während ein oder zwei Wochen geschah bei Rolands nichts Neues. Der Vater fischte, Hans richtete sich mit Hilfe der Mutter ein. Peter war immer finster und erschien nur zu den Mahlzeiten.

Als sein Vater ihn eines Abends fragte:

– Zum Teufel nochmal! Warum machst Du denn immer so ein Leichenbittergesicht? Ich bemerke das nicht zum ersten Mal heute! – antwortete der Doktor:

– Weil das Leben furchtbar auf mir lastet.

Der gute Mann verstand ihn nicht und sagte betrübt:

– Nein, das ist wirklich zu toll. Seitdem uns das Glück mit dieser Erbschaft zugestoßen ist, scheint alle Welt unglücklich zu sein. Das ist ja, als ob uns ein Unglück passiert wäre, als ob wir um jemand trauern müßten.

– Ich trauere allerdings um jemand! – sagte Peter.

– Du? Um wen denn?

– O, jemand, den Du nicht gekannt hast und den ich zu lieb gehabt habe.

Roland meinte, es handelte sich um ein Verhältnis, irgend ein Mädchen, dem sein Sohn den Hof gemacht. Und er fragte:

– Doch gewiß eine Frau?

– Ja, eine Frau.

– Tot?

– Nein, schlimmer, – verloren.

– O!

Obgleich er sich über das unvorhergesehene Geständnis, das in Gegenwart seiner Frau geschehen, wunderte und auch über den seltsamen Ton, den sein Sohn anschlug, fragte der Vater nicht weiter, denn er fand, daß diese Dinge einen dritten nichts angehen.

Frau Roland schien nichts gehört zu haben. Sie schien nicht wohl zu sein und war ganz blaß. Ein paar Mal schon hatte ihr Mann, weil sie zu seiner Verwunderung in einen Stuhl gesunken war und er sie hatte atmen hören, als bekäme sie keine Luft, zu ihr gesagt:

– Du siehst wirklich schlecht aus, Luise. Du mutest Dir wahrscheinlich bei Hans' Einrichtung zu viel zu. Donnerwetter! Ruh Dich doch mal ein bißchen aus. Es hat doch mit dem Jungen keine solche Eile, er ist doch reich.

Sie schüttelte den Kopf, ohne zu antworten.

An diesem Tage war sie so bleich, daß Roland das wiederum bemerkte.

– Nanu, – meinte er, – meine arme Alte, so gehts nicht weiter. Du mußt Dich mal ein bißchen pflegen.

Dann wendete er sich zu seinem Sohn:

– Du siehst doch, daß Deine Mutter krank ist. Hast Du sie wenigstens mal angesehen?

Peter antwortete:

– Nein. Ich habe nicht gemerkt, daß ihr was fehlt.

Da war Roland böse:

– Donnerwetter! Aber das sieht man doch gleich. Wozu bist Du denn Doktor, wenn Du nicht mal merkst, daß Deine Mutter unwohl ist. Da guck sie doch mal an, sieh sie mal an. Ist doch wirklich wahr, man könnte krepieren, und der Doktor da merkt's garnicht.

Frau Roland holte wieder tief Atem und war so leichenfahl, daß ihr Mann rief:

– Es wird ihr schlecht.

– Nein, nein. Es ist nichts weiter, es wird schon vorbeigehen. Es ist nichts.

Peter hatte sich ihr genähert und blickte sie gerade an:

– Sag mal, was fehlt Dir denn ? – fragte er.

– Nichts. Nichts. Ich versichere Dir, nichts.

Roland war fortgegangen, um Essig zu holen. Er kam wieder und hielt seinem Sohn die Flasche hin:

– Da. Hilf ihr doch mal. Hast Du denn wenigstens ihren Herzschlag untersucht?

Als Peter sich zu ihr beugte, um ihren Puls zu fühlen, zog sie so plötzlich die Hand zurück, daß sie an den benachbarten Stuhl stieß.

– Nun, – sagte er in kaltem Ton, – laß Dich doch wenigstens untersuchen, wenn Du krank bist.

Da hob sie den Arm und streckte ihn Peter entgegen. Ihre Haut brannte, das Blut pulste heftig in den Adern. Er flüsterte:

– Ja, das ist allerdings doch ernst. Du mußt etwas Beruhigendes nehmen. Ich werde Dir etwas verschreiben.

Und wie er, auf das Papier gebeugt, schrieb, klang leise ein unterdrücktes Stöhnen, ein Seufzer, kurzer, zurückgehaltener Atem, so daß er sich plötzlich umdrehte.

Sie weinte, beide Hände vor das Gesicht geschlagen.

Roland fragte verzweifelt:

– Luise, Luise, was fehlt Dir denn? Aber was hast Du denn nur?

Sie antwortete nicht. Ein furchtbarer, tiefer Schmerz schien sie zu quälen.

Ihr Mann wollte ihre Hand nehmen und sie vom Gesicht ziehen. Sie widerstand und meinte:

– Nein, nein, nein.

Er wendete sich gegen seinen Sohn:

– Aber was fehlt ihr denn nur? Ich habe sie noch nie so gesehen.

– Es ist nichts weiter, – meinte Peter, – eine kleine Nervenkrise.

Und es war ihm, als ob sein Herz sich erleichtert fühlte, als er ihre Qual sah, als ob ihr Schmerz sein Gefühl beruhigte und die Schuld seiner Mutter verringerte. Und er betrachtete sie, wie ein Richter, der mit seinem Urteil zufrieden ist.

Aber plötzlich stand sie auf, rannte zur Thür, so schnell und mit so heftiger Bewegung, daß man sie nicht zurückhalten konnte. Und sie lief auf ihr Zimmer, um sich einzuschließen.

Roland und der Doktor blieben einander gegenüber stehen.

– Kapierst Du das? – sagte der eine.

– Ja! – antwortete der andere. – Es ist ein einfacher, nervöser Zustand, der in Mamas Alter öfters eintritt. Sie wird wohl noch manche solche Anfälle bekommen.

Und sie bekam in der That Anfälle und beinah täglich, die Peter durch ein einziges Wort hervorzurufen schien, als ob er das Geheimnis ihres unbekannten seltsamen Leidens gekannt hätte. Er forschte in ihrem Gesicht, wenn der Anfall vorüber war, und mit der Arglist eines Inquisitors weckte er durch ein einziges Wort den eben beruhigten Schmerz.

Und er litt ebenso viel wie sie. Er litt entsetzlich darunter, daß er sie nicht mehr lieben, sie nicht mehr achten konnte und sie quälte.

Wenn er die offene Wunde, die er dem Herzen der Frau und Mutter geschlagen, aufgewühlt hatte, wenn er fühlte, wie elend, wie traurig und verzweifelt sie war, ging er allein durch die Straßen der Stadt von Gewissensbissen gefoltert, von Mitleid mit ihr gequält. Er war so verzweifelt, sie unter seiner Verachtung als Sohn leiden gemacht zu haben, daß er Lust hatte, sich ins Meer zu stürzen, sich zu ertränken, um ein Ende zu machen.

Ach, wie gern hätte er ihr jetzt verziehen. Aber er konnte es nicht. Er war nicht imstande zu vergessen. Wenn er nur sie nicht hätte leiden machen können. Aber er konnte nicht anders, er litt selbst. Zu den Mahlzeiten kehrte er heim, voll weicher Stimmungen, aber sobald er sie sah, sobald er ihrem Blick begegnete, der früher so offen und gerade gewesen, jetzt ängstlich verzweifelnd umherirrte, verletzte er sie, ohne gegen sich ankämpfen zu können, denn er konnte das niederträchtige Wort, das ihm auf die Lippen stieg, nicht zurückhalten.

Das schmähliche Geheimnis, das nur sie beide kannten, stachelte ihn immer gegen sie auf. Es war ein Gift, das er in den Adern trug, das ihn reizte zu beißen, wie ein toller Hund.

Nichts hinderte ihn nun mehr, sie unausgesetzt zu verletzen, denn Hans hielt sich jetzt beinah immer tagsüber in seiner neuen Wohnung auf und kam nur zum Essen und Schlafen jeden Abend nach Haus.

Dieser bemerkte manchmal Bitterkeiten und scharfe Worte seines Bruders, die er auf Eifersucht schob. Und er nahm sich vor, ihm mal tüchtig die Wahrheit zu geigen und ihm eines Tages eine Lektion zu erteilen. Denn das Leben zu Haus wurde infolge dieser unausgesetzten Scenen immer peinlicher. Aber da er nicht viel da war, litt er jetzt weniger unter Peters Roheiten, und seine ruhige Gemütsart machte ihn geduldig. Und dann hatte ihn das Geld ganz berauscht, und er dachte nur noch an Dinge, die ein direktes Interesse für ihn hatten. Er hatte immer alle möglichen kleinen Gedanken im Kopfe: der Schnitt eines Anzuges beschäftigte ihn, die Form eines Filzhutes, wie groß seine Visitenkarten sein müßten. Und er sprach beharrlich über alle Einzelheiten seines Hauses, über Bretter, die in den Wandschrank seines Schlafzimmers gelegt werden müßten, um die Wäsche unterzubringen, über einen Kleiderständer im Vorsaal und einen elektrischen Meldeapparat gegen Einbruch.

Es war verabredet worden, daß sie zu Ehren seines Einzuges eine Landpartie nach Saint-Jouin unternehmen und nach dem Essen bei ihm Thee trinken sollten. Roland war mehr für eine Segelpartie gewesen; aber die Entfernung und die Ungewißheit, wo man landen würde, wenn etwa ungünstiger Wind wehte, standen seinem Wunsche entgegen, und es wurde ein Wagen für den Ausflug gemietet.

Gegen zehn Uhr fuhren sie fort, um rechtzeitig zum Frühstück da zu sein. Die große staubige Chaussee zog sich durch die normannische Landschaft, die wegen der Wellenlinien der Ebene und wegen der von Bäumen umgebenen Pachthöfe am Wege wie ein endloser Park aussieht.

Im Wagen, den in langsamem Trab zwei dicke Pferde zogen, saßen die Familie Roland, Frau Rosémilly und Kapitän Beausire schweigend beim Rasseln der Räder und schlossen bei jeder Staubwolke die Augen.

Es war zur Zeit der reifenden Ernte. Neben den dunkelgrünen Kleefeldern und den helleren Rübenpflanzungen leuchteten mit goldblondem Schein die Getreidefelder in der Ebene. Es war, als hätten sie das auf sie niedergestrahlte Sonnenlicht eingesogen. Hier und da wurde schon geerntet, und auf den Feldern, wo die Sense klang, sah man Männer schreiten, die ihre großen flügelförmigen Sensen über den Boden hinsausen ließen.

Nachdem sie zwei Stunden gefahren waren, bog der Wagen links ab, an einer Windmühle vorbei die die Flügel drehte, ein melancholisches Gebäude, halb verfault und, eine der letzten überlebenden alten Mühlen, auch schon zum Tode verdammt. Dann fuhren sie in einen hübschen großen Hof ein, der Wagen blieb vor einem netten Häuschen, einem bekannten Gasthaus, halten.

Die Wirtin, die schöne Alphonsine genannt, erschien lächelnd in der Thür und streckte den beiden Damen die Hand entgegen, die zögernd ausstiegen, da der Tritt zu hoch war.

In einem Zelt am Wiesenrande, von Apfelbäumen überschattet, saßen ein paar Leute und frühstückten, Touristen, die aus Étretat gekommen. Und im Haus hörte man Stimmen, Lachen und Geschirrklappern.

Alle großen Restaurationsräumlichkeiten waren voll, und sie mußten in einem Zimmer allein essen. Da sah plötzlich Roland an der Wand Netze zum Granatkrebsfang.

– Ach so was! – rief er, – hier werden Garnelen gefangen.

– Ja! – antwortete Beausire. – Es ist sogar der Punkt an der ganzen Küste, wo sie am häufigsten sind.

– Donnerwetter! Wollen wir nicht nach dem Frühstück mal auf den Fang gehen?

Es traf sich gerade so, daß um drei Uhr Ebbe war. Und sie beschlossen alle, nachmittags in die Klippen zu gehen, um Granatkrebse zu suchen.

Man aß wenig, damit ihnen das Blut nicht zu Kopf stiege, wenn man nachher mit den Füßen im Wasser wäre. Und dann wollte man den Appetit aufsparen für das Mittagbrot. Es war ein wundervolles Festmahl bestellt worden, das um sechs Uhr bei ihrer Rückkehr fertig sein sollte.

Roland konnte es vor Ungeduld nicht mehr aushalten. Er wollte für diesen Fang besonders geeignete Netze kaufen, ähnlich den Schmetterlingsnetzen, die man benutzt, um auf den Wiesen Falter zu fangen.

Es waren kleine Säcke aus Netzgeflecht auf ein rund gebogenes Holz gespannt an einem langen Stock. Alphonsine borgte sie ihm, immer lächelnd. Dann half sie den beiden Damen sich umzuziehen, um sich nicht naß zu machen. Sie bot ihnen Röcke an, dicke Wollstrümpfe und Ginsterschuhe. Die Herren zogen die Strümpfe aus und kauften beim Schuhmacher im Ort Holzpantoffeln.

Dann gingen sie fort, das Netz auf der Schulter und eine Butte auf dem Rücken. Frau Rosémilly sah in dem Kostüm reizend aus, wirklich wie eine kleine Bäuerin.

Der Rock, den Alphonsine geborgt hatte, war kokett aufgesteckt und mit ein paar Stichen festgenäht, so daß sie laufen und springen konnte in den Felsen. Man sah den Knöchel und den unteren Teil der Wade, die derbe Wade einer geschmeidigen, kräftigen, kleinen Frau. Sie hatte eine lose Taille an, um sich nach Belieben bewegen zu können, und einen riesigen Gartenhut aus gelbem Stroh mit Riesenrändern auf, an dem ein Tamariskenzweig saß, der die eine Hutkrämpe aufbog. Das sah keck und schneidig aus.

Hans fragte sich, seitdem er geerbt hatte, täglich, ob er sie heiraten sollte oder nicht. Jedesmal wenn er sie wiedersah, war er entschlossen, sie um ihre Hand zu bitten. Wenn er sich aber dann wieder allein befand, meinte er, er wolle sich's noch überlegen, er habe Zeit, nachzudenken. Jetzt war sie weniger reich wie er, denn sie hatte nur etwa zwölftausend Franken Rente, aber gut angelegt in Pachthöfen und Grundbesitz in der Stadt Havre am Hafen. Das konnte später mal sehr wertvoll werden. Die pekuniären Verhältnisse waren also doch etwa gleich. Und die junge Witwe gefiel ihm sehr gut.

Als er sie heute so vor sich gehen sah, dachte er: »Na, ich müßte nun mal einen Entschluß fassen. Eine bessere finde ich doch nicht.«

Sie folgten einem kleinen Thälchen, das sich vom Dorf nach dem Strand hinabzog. Die Felsen der Klippen am Ende dieses Thälchens erhoben sich etwa noch achtzig Meter über den Meeresspiegel. Zwischen den grünen Küsten, die sich rechts und links senkten, erschien eine große, dreieckige Wasserfläche im Schein der Sonne silbern glänzend, und ein kaum sichtbares Segel darauf sah aus, wie ein kleines Insekt. Der lichtstrahlende Himmel mischte sich mit dem Wasser, so daß man nicht erkennen konnte, wo das eine aufhörte und der andere begann. Und die in die Mieder eingezwängten Taillen der beiden Damen, die vor den drei Herren herschritten, hoben sich von dem hellen Horizont scharf ab.

Hans sah mit erregtem Auge vor sich den feinen Knöchel, das schlanke Bein, die schmiegsame Hüfte und den großen herausfordernden Hut der Frau Rosémilly. Und dieser Anblick machte ihm Lust und brachte ihn zum Entschluß, wie es zögernden, schüchternen Menschen plötzlich geht. Die laue Luft, in die sich der Seegeruch, der Duft des Ginsters, des Klees und der Wiesen mischte, der Tangduft von den vom Wasser entblößten Klippen erregte ihn noch mehr, so daß er bei jedem Schritt, bei jedem Blick auf die flüchtigen Umrisse der jungen Frau entschlossener ward. Er wollte nicht mehr zögern, wollte ihr sagen, daß er sie liebte, und sie um ihre Hand bitten. Beim Fischfang würde das leicht gehen, denn sie würden ohne aufzufallen allein zurückbleiben können. Und dann wäre es doch wunderhübsch, gerade hier von Liebe zu reden, die Füße in einer kleinen Lache klaren Wassers, wenn vor ihnen die langen Fühler der Krevetten sich unter dem Tang versteckten.

Als sie an das Ende des Thälchens kamen, an den Rand des Klippenabsturzes, sahen sie einen kleinen Fußweg, der längs der Küste hinabführte und unter sich, zwischen dem Meer und der Felshöhe, mitten drin etwa, ein erstaunliches Gewimmel von riesigen Felsen zusammengebrochen, umgestürzt, einer gehäuft auf den anderen, auf einer Art von begrünter Ebene, die, so weit die Blicke reichten, sich nach Süden zog. Auf diesem langen Band von Gestrüpp und durcheinander geworfenen Rasenstücken war es, als lägen die durch Vulkanausbrüche ausgeworfenen Felsen da, wie die Ruinen einer alten versunkenen Stadt, die einst hier im Ozean gelegen, durch die hohen, weißen, endlosen Mauern der Klippenfelsen überragt.

– Das ist ja wundervoll! – sagte Frau Rosémilly und blieb stehen.

Hans hatte sie eingeholt, und etwas bewegt bot er ihr die Hand, um sie die enge, in den Felsen eingetretene Treppe hinabzuführen.

Sie schritten voraus, während Beausire seinen kurzen Beinen einen Stoß gab und den gekrümmten Arm Frau Roland bot, die vor der Tiefe schwindlig wurde.

Roland und Peter schlossen den Zug. Und der Doktor mußte seinem Vater helfen, der so schwindlig war, daß er von einer Stufe zur anderen auf seinem Hinterteil rutschte.

Die jungen Leute waren schnell voran, und plötzlich entdeckten sie neben einer Holzbank, die als Ruhepunkt mitten auf dem Wege stand, einen klaren Wasserstrahl, der aus einem Loch im Felsen brach. Er stürzte zuerst in ein Bassin klein wie eine Waschschale, das er sich selbst gehöhlt, und fiel dann kaum zwei Fuß hoch in einem Wasserfall herab, suchte sich seinen Weg über den Felsenpfad, auf dem dichte Kresse gewachsen, und verschwand endlich in den Wurzeln und Gräsern der Ebene.

– Ach, bin ich durstig! – rief Frau Rosémilly.

Aber wie sollte sie trinken. Sie versuchte, mit der hohlen Hand Wasser zu schöpfen, aber es lief ihr durch die Finger. Hans hatte eine Idee. Er legte einen Stein auf den Weg, und sie kniete sich darauf, um die Lippen selbst an die Quelle zu legen, die sich so in gleicher Höhe mit ihrem Munde befand.

Als sie aufblickte, ganz besät von kleinen glitzernden Tropfen auf der Haut, auf den Haaren, auf den Augenbrauen, auf der Taille, beugte sich Hans zu ihr und flüsterte:

– Ach, Sie sind so hübsch.

Sie antwortete in einem Ton, wie man ein Kind auszankt:

– Wollen Sie wohl still sein.

Es waren die ersten, etwas intimeren Worte, die sie miteinander wechselten.

Hans war sehr verlegen und sagte: – Wir wollen weiter gehen, ehe man uns einholt.

Er sah nun in der That schon ganz nahe den Rücken des Kapitän Beausire, der rückwärts hinabstieg, um Frau Roland mit beiden Händen zu stützen. Und höher, noch weiter entfernt, Roland, der sich, immer noch auf dem Hosenboden sitzend, mit Füßen und Ellbogen steuernd wie eine Schildkröte, niedergleiten ließ, während Peter vor ihm schritt und auf seine Bewegungen achtete.

Der Weg war weniger tief eingeschnitten, wurde nun breiter und ging um die großen Felsblöcke, die früher vom Berg herabgefallen waren, herum. Frau Rosémilly und Hans begannen zu laufen und waren bald am Strande. Sie durcheilten ihn, um zu den Felsklippen zu gelangen, die sich als lange, ebene Fläche, mit Seegras bewachsen, hinstreckten, und auf denen unzählige kleine Lachen stehen geblieben waren. Die Ebbe war weit zurückgetreten hinter dieser grün und schwarz leuchtenden, tangbedeckten Ebene.

Hans krempelte die Hose bis über die Waden auf und die Ärmel bis an den Ellbogen, um ohne sich naß zu machen ins Wasser gehen zu können. Dann sagte er: – Vorwärts! – und sprang entschlossen in die erste Lache, die sie trafen.

Die junge Frau ging, obgleich sie auch gleich ins Wasser wollte, um das enge Bassin herum, vorsichtig, mit ängstlichen Schritten, denn sie rutschte auf den klebrigen Pflanzen aus.

– Sehen Sie etwas? – fragte sie.

– Ja. Ich glaube, Ihr Gesicht zu sehen, das sich im Wasser spiegelt.

– Wenn Sie bloß das sehen, werden Sie nicht viel fangen.

Er sagte mit zärtlichem Ton:

– Ach, das würde ich doch am liebsten fangen.

Sie lachte:

– Versuchen Sie es doch. Sie werden mal sehen, wie das durch Ihr Netz durchläuft.

– Aber . . . wenn Sie wollten.

– Ich will Sie Granatkrebse fangen sehen, etwas anderes . . . in diesem Moment . . . nicht.

– Das ist bös von Ihnen. Wir wollen weitergehen, hier ist nichts.

Er bot ihr die Hand, um sie auf den glatten Felsen zu führen. Ein wenig ängstlich stützte sie sich auf ihn. Und plötzlich packte ihn die Liebe, Wünsche regten sich in ihm, er begehrte sie, als ob das, was in ihm schlummerte, in diesem Augenblick hervorgebrochen wäre.

Sie kamen bald an einen tieferen Tümpel, in dem sich in dem hin- und herziehenden Wasser, das zum fernen Meer durch eine unsichtbare Öffnung floß, lange, feine, seltsam gefärbte Gräser, rosige und grüne haarartige Pflanzen, hin und her bewegten, als schwömmen sie.

Frau Rosémilly rief: – Da! da! Ich sehe eine, eine ganz große. Dort drüben, eine ganz große.

Auch er sah sie jetzt, trat entschlossen in das Loch hinab, obgleich er bis zum Gürtel naß wurde. Aber das Tier, das seine langen Fühler hin und her zittern ließ, entfloh langsam vor dem Netz. Hans trieb es bis zu einer Seetanggruppe, gewiß, es zu fangen. Als es sich in die Enge getrieben sah, schoß es mit einem plötzlichen Stoß über dem Netz fort durch das Wasserbecken und verschwand.

Die junge Frau, die in größter Aufregung der Jagd zugesehen hatte, konnte nicht anders als rufen:

– Ach, wie ungeschickt!

Er war verletzt. Und ohne zu überlegen, stieß er das Netz in eine Seegrasgruppe. Als er es an die Oberfläche zog, sah er drei große durchsichtige Granatkrebse darin, die er auf gut Glück aus ihrem unsichtbaren Versteck gezogen.

Triumphierend hielt er sie Frau Rosémilly hin, die sie nicht anzugreifen wagte, aus Furcht vor den spitzen gezackten Scheeren, mit denen ihr kleiner Kopf bewehrt ist.

Aber sie faßte doch Mut und nahm die Spitze ihres Bartes zwischen zwei Finger und warf sie dann eine nach der anderen in die Bütte mit etwas Seetang, um sie frisch zu erhalten. Als sie dann eine Wasserlache fand, die weniger tief war, trat sie mit zögernden Schritten hinein, durch die Kälte etwas zusammenschauernd, die ihr von den Füßen herauflief, und fing selbst an zu fischen. Sie war geschickt und schlau, hatte eine leichte Hand und den Instinkt des Jägers, der notwendig ist. Beinah bei jedem Eintauchen zog sie ein paar Tiere, die sie überlistet durch die geschickte Vorsicht ihrer Verfolgung, heraus.

Aber Hans fing jetzt nichts. Er folgte ihr nur Schritt auf Schritt, streifte sie, beugte sich über sie, that, als wäre er verzweifelt über seine Ungeschicklichkeit und wollte es sich von ihr zeigen lassen.

– Ach, zeigen Sie mir's doch! – sagte er.

Als dann ihre beiden Gesichter nebeneinander sich im klaren Wasser spiegelten, dessen schwarze Pflanzen auf dem Grund die Oberfläche zu einem hellen Spiegel machten, lachte Hans dem Gesicht neben sich, das ihn von unten ansah, zu und warf ihm hier und da mit den Fingerspitzen einen Kuß zu, der darauf niederzufallen schien.

– Ach, Sie sind langweilig! – sagte die junge Frau. – Mein Lieber, man muß nie zwei Sachen zugleich thun.

– Ich thue nur eins: ich liebe Sie.

Sie fuhr auf und sagte ernst:

– Nanu? Was fällt Ihnen denn ein. Wie sind Sie denn seit zehn Minuten. Haben Sie denn ganz den Kopf verloren.

– Nein, ich habe nicht den Kopf verloren. Ich liebe Sie und wage endlich, es Ihnen zu sagen.

Jetzt standen sie in dem salzigen Tümpel, der sie bis an die Waden näßte, die wassertriefenden Hände auf den Stiel des Netzes gestützt, und blickten sich in die Augen.

Sie sagte in liebenswürdigem, etwas ärgerlichen Ton:

– Wie ungeschickt, mir das jetzt zu sagen. Konnten Sie nicht einen anderen Tag abwarten und mußten Sie mir den Fischfang verderben?

Er flüsterte:

– Seien Sie nicht böse, ich konnte nicht mehr schweigen. Ich liebe Sie schon längst. Heute haben Sie mich berauscht, daß ich nicht mehr an mich halten konnte.

Da schien sie plötzlich sich damit abzufinden, entschlossen, von Geschäften zu reden und auf das Vergnügen Verzicht zu leisten.

– Kommen Sie, wir wollen uns auf den Felsen setzen. Da können wir ruhig sprechen.

Sie kletterten auf den etwas hohen Felsen. Und als sie so Seite an Seite saßen und die Füße hängen ließen, mitten im Sonnenschein, sagte sie:

– Lieber Freund, Sie sind kein Kind mehr und ich kein junges Mädchen. Wir wissen beide ganz genau, um was sich's handelt, und können alle möglichen Folgen abwägen. Wenn Sie mir heute hier Ihre Liebe erklären, so nehme ich natürlich an, daß Sie mich heiraten wollen.

Er war auf diese klare Auseinandersetzung der Sachlage nicht gefaßt und antwortete darauf los:

– Gewiß.

– Haben Sie davon mit Ihrem Vater oder Ihrer Mutter gesprochen?

– Nein. Ich wollte erst wissen, ob Sie mich erhören würden.

Sie streckte ihm noch die nasse Hand entgegen, und als er schnell die seine hineinlegte, sagte sie:

– Ich bin gern bereit. Ich glaube, Sie sind gut und brav. Aber vergessen Sie nicht, daß ich doch gern möchte, Ihre Eltern wären einverstanden.

– Ach, glauben Sie, daß meine Mutter nicht so was geahnt hat und Sie so gern haben würde, wie sie Sie hat, wenn sie nicht wünschte, daß wir einander heirateten.

– Das ist wahr. Ich bin etwas verwirrt.

Sie schwiegen. Und er war im Gegenteil erstaunt, daß sie so wenig verwirrt war und so vernünftig. Er hatte ein galantes Spiel erwartet, ein ›Nein‹, das doch ›Ja‹ hieß, eine ganz kokette Liebeskomödie mitten beim Fischen, beim Plätschern des Wassers. Und nun war es aus, er fühlte sich gebunden, verheiratet nach zwanzig Worten. Und seitdem sie einig waren, hatten sie sich garnichts mehr zu sagen. Und jetzt waren sie beide etwas verlegen über das, was so schnell zwischen ihnen vor sich gegangen, vielleicht etwas verstört, wagten weder zu sprechen, noch zu fischen und wußten nicht, was sie machen sollten.

Da kam ihnen Rolands Stimme zu Hilfe:

– Hierher Kinder! Hierher! Seht mal Beausire an, der Kerl leert das ganze Meer.

In der That hatte der Kapitän einen fabelhaften Erfolg. Im Wasser bis an die Hüften, lief er von Tümpel zu Tümpel, sah auf einen Blick die besten Stellen, und durchsuchte langsam und sicher mit seinem Netze alle verborgenen Höhlen unter dem Seetang.

Und die schönen, durchsichtigen Granatkrebse, graublond, zappelten in seiner Hand, wenn er sie mit kurzer Bewegung faßte, um sie in die Bütte zu werfen.

Frau Rosémilly war begeistert, verließ ihn nicht mehr, ahmte ihn nach, so gut als möglich, und vergaß fast ihre Verlobung und Hans, der in Gedanken träumerisch folgte, um sich ganz der kindlichen Freude hinzugeben, die Tiere unter den hin und herschwimmenden Gräsern zu fangen.

Roland rief plötzlich:

– Da seht mal, Frau Roland kommt auch.

Sie war zuerst allein mit Peter am Strand geblieben, denn beiden machte es keinen Spaß, zwischen den Felsen herumzulaufen und in die Pfützen zu treten. Und doch zögerten sie, nebeneinander sitzen zu bleiben. Sie fürchtete sich vor ihm, und ihr Sohn hatte Angst vor ihr und vor sich selbst, Angst vor seiner Grausamkeit, die er nicht beherrschen konnte.

Aber sie setzten sich doch dicht nebeneinander auf den Kies. Und alle beide dachten, wie sie so im Sonnenschein saßen, der durch die Seeluft gemildert war, angesichts des weiten, wunderbaren Horizontes von blauem, silberglitzerndem Wasser, zu gleicher Zeit: »Ach, wie schön wäre es sonst hier gewesen!«

Sie wagte nicht, Peter anzureden, denn sie wußte, daß er mit irgend einer Rücksichtslosigkeit antworten würde. Und er wagte nicht, mit seiner Mutter zu sprechen, weil er wußte, daß er nicht dagegen an konnte, heftig zu sein.

Mit der Spitze seines Stockes schob er die runden Kiesel hin und her, stieß und schlug sie, und sie hatte, unbestimmt hinausblickend, drei oder vier kleine Steinchen in die Hand genommen, die sie langsam und mechanisch von einer Hand in die andere gleiten ließ. Da gewahrte ihr träumerischer Blick, der in die Ferne irrte, mitten im Seegras ihren Sohn Hans, der mit Frau Rosémilly fischte. Da verfolgte sie die beiden, bespähte ihre Bewegungen und hatte mit Mutterinstinkt eine dunkle Ahnung, daß sie nicht wie gewöhnlich redeten. Sie sah sie nebeneinander sich niederbeugen, wenn sie ins Wasser blickten, Auge in Auge stehen bleiben, wie wenn sie sich ihr Herz ausschütteten, und erblickte sie dann, wie sie auf den Felsen kletterten und sich nebeneinander setzten, um sich auszusprechen.

Ihre Umrisse zeichneten sich deutlich ab, als wären sie allein, und nahmen in diesem weiten Raum von Himmel, Meer und Strand etwas Großes und Symbolisches an.

Auch Peter betrachtete sie, und ein kurzes trockenes Lachen klang von seinen Lippen.

Frau Roland sagte, ohne sich zu ihm umzuwenden:

– Was hast Du denn?

Er lachte noch immer:

– Ich lerne, wie man sich auf die Hörner vorbereitet.

Sie fuhr voll Wut und Empörung zusammen, durch das Wort beleidigt, ganz außer sich über die Anspielung, die sie herauszuhören meinte.

– Auf wen geht das?

– Nun, meiner Treu, auf Hans. Es ist furchtbar komisch, sie so neben einander zu sehn.

Sie flüsterte mit leiser, vor Bewegung zitternder Stimme:

– Peter, Du bist hart. Diese Frau ist die Anständigkeit selbst. Dein Bruder könnte nichts Besseres finden.

Jetzt lachte er laut heraus, abgehackt und absichtlich:

– Ha! Ha! Ha! Die Anständigkeit selbst. Alle Frauen sind die Anständigkeit selbst . . . und alle Männer tragen Hörner. Ha! Ha!

Sie erhob sich, ohne zu antworten und ging schnell den Strand hinunter, auf die Gefahr hin, auszurutschen und in eines der Löcher zu stürzen, die sich unter dem Gras verbargen, und sich Bein oder Arm zu brechen. Sie lief fast, wie sie so hinging, trat in die Tümpel hinein und in die Lachen, ohne es zu merken, und ging geraden Weges zu ihrem anderen Sohn.

Als Hans sie kommen sah, rief er:

– Nun, Mama, willst Du auch anfangen?

Ohne zu antworten, nahm sie seinen Arm, als wollte sie sagen: »Rette mich, verteidige mich!«

Er gewahrte ihre Verlegenheit und fragte sehr erstaunt:

– Du bist ja ganz blaß. Was hast Du denn?

Sie stammelte:

– Ich wäre beinah gefallen. Ich fürchtete mich auf den Felsen.

Da führte sie Hans, stützte sie und erklärte ihr, wie man Krebse finge, damit sie sich dafür interessieren sollte. Aber sie hörte kaum zu. Und da er das dringende Bedürfnis fühlte, sich jemand anzuvertrauen, zog er sie ein Stück fort und sagte leise:

– Rate mal, was ich gethan habe.

– Ja, ich . . . ich . . . ich weiß ja nicht.

– Rate doch!

– Ich weiß nicht.

– Nun, ich habe Frau Rosémilly gesagt, daß ich sie heiraten möchte.

Sie antwortete nicht. Der Kopf wirbelte ihr, sie war so verzweifelt, daß sie kaum verstand, was er sagte. Und sie fragte:

– Sie heiraten?

– Ja. Habe ich nicht recht gethan? Sie ist doch reizend, nicht wahr?

– Ja, reizend. Du hast ganz recht gethan.

– Dann bist Du einverstanden?

– Ja, ganz einverstanden.

– Du sagst das so komisch, man könnte beinah glauben, daß Du nicht zufrieden bist.

– Aber doch, ich bin zufrieden.

– Wirklich?

– Wahrhaftig.

Und um es ihm zu beweisen, schloß sie ihn in die Arme, küßte ihn lange mit mütterlicher Zärtlichkeit auf die Wangen.

Als sie sich dann die Augen abgewischt, die voll Thränen standen, sah sie drüben am Ufer einen Körper ausgestreckt auf dem Bauche liegen, das Gesicht in die Kiesel gedrückt – wie einen Leichnam: das war ihr anderer Sohn, Peter, der sich seinen verzweifelten Gedanken überließ.

Da führte sie ihr Hänschen noch ein Stück fort, nahe ans Meer. Und sie sprachen lange von dieser Heirat, an der ihr Herz hing.

Die Flut kam und trieb sie zu den Fischenden hinauf, die sie bald einholten. Dann gingen alle zur Küste zurück. Man weckte Peter, der gethan, als ob er schlief. Und die Mahlzeit dauerte lange, es wurde viel getrunken.

 


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