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Siebentes Kapitel.

Lady R– setzte sich an ihrem Schreibtisch nieder, während ich ihrer Aufforderung gemäß auf dem Sopha Platz nahm und bald in meine Lektüre vertieft war. Ich bemerkte, daß die gnädige Frau unter dem Schreiben fortwährend ihre Blicke von ihrem Papier abwandte und auf mich richtete. Daraus folgerte ich, daß sie mich beschrieb – eine Vorstellung, die sich auch als vollkommen richtig erwies; denn nach ungefähr einer halben Stunde warf sie ihre Feder weg und rief:

»So! Ich bin Euch sehr verpflichtet für das beste Bild einer Heldin, das ich je zeichnete. Hört!«

Und die gnädige Frau las mir eine höchst schmeichelhafte Schilderung meiner angenehmen Person in sehr schwunghaften Phrasen vor.

»Ich denke, Lady R–«, sagte ich zu ihr, als sie fertig war, »daß Ihr bei dieser Zeichnung meines Porträts weit mehr Eurer Phantasie als der Wirklichkeit verpflichtet seid.«

»Nicht doch, nicht doch, meine theure Valerie. Möglich, daß ich Euch Gerechtigkeit wiederfahren ließ, aber mehr ist gewiß nicht geschehen. Es geht nichts darüber, als wenn man einen lebenden Gegenstand zu beschreiben hat. Es ist dabei gerade wie beim Malen oder Zeichnen; man ist nur wahr, wenn man sich dabei die Natur zum Original nimmt. Und in der That, was ist Schreiben anders, als ein Malen mit der Feder?«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als der Page Lionel mit einem Präsentirteller eintrat, auf welchem ein Brief lag. Er hatte ihre letzten Worte noch gehört und machte deshalb bei Ueberreichung des Schreibens die unverschämte Bemerkung:

»Es hat Jemand Euren Namen auf die Außenseite dieses Papiers gemalt, und da sieben Pence dafür bezahlt werden sollen, so denke ich, daß dies ziemlich theuer sei für eine solche Sudelarbeit.«

»Man muß nicht nach dem äußern Scheine urtheilen, Lionel,« versetzte Lady R–; »der Inhalt kann Pfunde werth sein. Ich gebe zwar zu, der Brief ist seiner Aufschrift nach nicht einladend, kann aber doch gleich der häßlichen und giftigen Kröte ein köstliches Juwel in seinem Kopfe bergen. Dies war ein gemeiner Irrthum früherer Zeiten, Lionel, welchen Shakspeare zu einem schönen Bilde benützt hat.«

»Ja, dieser Kamerad hat mit einer Feder ersten Ranges gemalt,« entgegnete der Knabe, während Lady R– den Brief öffnete und las.

»Du kannst gehen, Lionel,« sagte sie, indem sie das Schreiben niederlegte.

»Ich möchte nur zuvor erfahren, ob Ihr, nachdem Ihr Eure Kröte öffnetet, das Juwel gefunden habt, oder ob Ihr gleichfalls auf einen gemeinen Irrthum stießet.«

»Jedenfalls ists ein gemeiner Brief, Lionel,« entgegnete die gnädige Frau, »der dich betrifft. Er ist von dem Schuhmacher in Brighton, der von mir verlangt, ich solle ihm achtzehn Schillinge zahlen für ein Paar Stiefel, die du bestellt und nicht bezahlt hast.«

»Gnädige Frau, es ist allerdings wahr, daß ich die Stiefel noch schuldig bin; aber wie wäre es möglich, daß ich mich immer auf meine eigenen Angelegenheiten besinnen sollte, während ich so sehr von den Eurigen in Anspruch genommen bin?«

»Nun, du bist jetzt daran erinnert, Lionel, und wirst am besten thun, mir das Geld sogleich zu geben, damit ich deinen Gläubiger befriedigen kann.«

In diesem Augenblick beugte sich Lady R– von ihrem Stuhle nieder, um ihr Taschentuch aufzuheben. Auf dem Pulte lagen einige Souverains, und der Knabe blinzelte mir zu, indem er einen derselben aufnahm und schweigend seiner Gebieterin hinhielt, sobald sich dieselbe wieder aufgerichtet hatte.

»Das ist recht, Lionel,« sagte Lady R–; »es gefällt mir, wenn man ehrlich ist.«

»Ja, Madame,« entgegnete der unverschämte Spitzbube mit sehr gesetztem Wesen, wie die meisten Leute, die ihre eigene Geschichte erzählen, »ich bin von armen aber ehrlichen Eltern geboren.«

»Ich glaube, deine Eltern waren ehrlich. Und nun, Lionel, um dich zu belohnen, will ich Deine Stiefel bezahlen, und Du magst den Souverän behalten.«

»Danke, gnädige Frau,« versetzte der Knabe. »Ich habe vergessen, Euch zu sagen, daß die Köchin draußen ist und Eurer Aufträge harrt.«

Lady R– stand auf und verließ das Zimmer; Mr. Lionel aber lachte mir zu und legte den Souverän wieder zu den übrigen.

»Sagt an, ist dies nicht wahrhaftige Ehrlichkeit? Ihr seid Zeuge gewesen, wie ich ihn borgte, und seht jetzt, wie ich ihn wieder zurückzahle.«

»Ja; aber setzen wir den Fall, daß die gnädige Frau Euch den Souverän nicht geschenkt hätte,« erwiederte ich. »Wie wäre es dann ergangen?«

»Ich würde sie ehrlich wieder bezahlt haben,« antwortete er. »Wenn ich sie zu betrügen oder zu bestehlen wünschte, so hätte ich den Tag über jeden Augenblick Gelegenheit. Sie läßt überall ihr Geld umherliegen und weiß nie, wie viel sie hat. Zudem, wenn ich stipitzen wollte, so würde ich es wohl bleiben lassen, während Eure hellen Augen mir zusehen.«

»Ihr seid ein sehr naseweiser Knabe,« versetzte ich, mehr belustigt als ungehalten.

»Dies kömmt Alles vom Lesen und ist nicht meine Schuld. Die gnädige Frau hält mich zum Lesen an, und es ist mir nie ein Roman in die Hand gekommen, in welchem die Pagen nicht naseweis gewesen wären. Doch ich habe jetzt keine Zeit zum Plaudern; meine Löffel sind noch nicht rein.«

Und mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Ich wußte nicht, ob ich die gnädige Frau von diesem Schalkstreiche ihres Pagen unterrichten sollte, oder nicht; da jedoch das Geld wieder zurückerstattet worden war, so hielt ich es für das Beste, vorderhand darüber zu schweigen. Ich machte bald die Entdeckung, daß der Knabe Recht gehabt hatte, wenn er behauptete, seine Gebieterin gehe sehr unachtsam mit dem Gelde um und daß er, wenn er Lust dazu hätte, mausen könnte, ohne eine Entdeckung besorgen zu müssen. Auch fand ich, daß er wirklich ein guter ehrlicher Bursche war, aber voll Unfug und Unverschämtheit, Eigenschaften, welche Lady R– durch ihr Benehmen gegen ihn, selbst herangezogen zu haben schien, da sie sein vorlautes Wesen eher ermuthigte, als in seine Schranken zurückwies. Jedenfalls war er ein gescheidter, witziger Bursche und sehr hurtig in seinem Dienst – in der That so hurtig, daß es fast den Anschein gewann, als habe er nie etwas zu thun. Dadurch blieb ihm viele Zeit zum Lesen, von dem er ein großer Liebhaber war.

Lady R– kehrte zurück und nahm ihre Schreibmaterialien wieder zur Hand.

»Ihr könnt singen, nicht wahr? Ich glaube, Mrs. Bathurst hat mir gesagt, Ihr seiet sehr musikalisch. So erweist mir einen Gefallen, Valerie. Ich möchte eine Stimme hören, die irgend ein melodisches Liedchen trillert. Nichts geht mir über die Wirklichkeit. Natürlich müßt Ihr ohne die Begleitung eines Instruments singen, denn mein Landmädchen kann nicht über die Wiese hüpfen mit einem Pianoforte in der einen und einem Wassereimer in der andern Hand.«

»Ich denke dies auch,« versetzte ich lachend. »Aber werde ich nicht zu nahe sein?«

»Freilich; ich möchte Euch wohl von der Treppe oder von der Flur des ersten Stockes aus hören; aber es wäre zu unartig von mir, wenn ich Euch aus dem Zimmer schickte.«

»Ich kann ja gehen, ohne daß Ihr mich schickt,« entgegnete ich und verließ das Gemach, um von der angedeuteten Stelle aus ein französisches Liedchen zu singen, von dem ich glaubte, daß es dem Zweck der gnädigen Frau entsprechen dürfte. Bei meiner Rückkehr schrieb Lady R– wie wüthend drauf los, so daß sie mein Eintreten nicht bemerkte. Ich nahm ruhig meinen Sitz wieder ein, und etwa zehn Minuten später warf sie die Feder mit dem Ausrufe nieder:

»Nie habe ich ein so nachdruckvolles Kapitel zu Papier gebracht! Valerie, Ihr seid mir kostbarer, als das feinste Gold, und wie Shylock von seinem Ringe sagt: ›ich würde dich nicht vertauschen gegen eine ganze Wildniß voll Affen.‹ Ich bediene mich dieser Citation, um Euch bemerklich zu machen, welchen Werth ich auf Euch setze. Es war so freundlich von Euch, daß Ihr meinem Wunsche willfahrtet. Ihr kennt nicht die Gefühle einer Schriftstellerin und habt keinen Begriff davon, wie unsere Eigenliebe sich durch den Erfolg geschmeichelt fühlt; denn eine gute Stelle in unseren Werken schlagen wir höher an, als irgend etwas in der Welt. Nun habt Ihr aber meiner herrschenden Leidenschaft zweimal an Einem Morgen einen so freundlichen Dienst geleistet, daß ich Euch über die Maßen liebe. Ihr werdet mich wohl für sehr wunderlich halten und auch andere Leute sind dieser Ansicht; aber, wenn ich Euch auch bitte, mir zu Gefallen manche Ungereimtheit zu begehen, werde ich Euch doch nicht zumuthen, etwas zu thun, was einer Dame von Bildung nicht ziemt und was man Euch oder mir übel deuten könnte. Darauf mögt Ihr Euch verlassen, Valerie. Und nun schließe ich für heute mein Manuscript, denn ich bin wohlzufrieden mit der Arbeit dieses Tages.«

Lady R– zog die Klingel, und als Lionel eintrat, forderte sie ihn auf, die Schreibmaterialien wegzuräumen und das Geld in ihre Börse zu thun, wenn er dieselbe finden könne. Dann fragte sie ihn, ob sie für den Abend nirgendshin eine Zusage gegeben habe.

»Ich weiß, wir haben eine Zusage gemacht,« versetzte der Knabe, »kann mich aber im Augenblick nicht darauf besinnen. Nun, ich werde es im Besuchzimmer schon finden.«

Er entfernte sich und kehrte nach einer Minute wieder zurück.

»Ich habe es, gnädige Frau,« rief er. »Hier ist das Billet. Mrs. Allwood – zu Hause um neun Uhr.«

»Mrs. Allwood, meine theure Valerie, ist eine literarische Dame und ihre Gesellschaften sind sehr angenehm.«

Der Page, welcher hinter Lady R–'s Stuhle stand, warf mir einen Blick zu und schüttelte widersprechend den Kopf.

»Wollen wir gehen?« fuhr Lady R– fort.

»Ganz nach Eurem Belieben, Madame,« versetzte ich.

»Gut. So wollen wir vor dem Diner eine Spazierfahrt machen, und nach der Mahlzeit soll der Abend dem Festmahl der Vernunft und dem Flug der Seele gewidmet sein. Oh Himmel, wie ich mir die Finger mit Dinte bekleckst habe! Ich muß hinaufgehen und sie waschen.«

Sobald Lady R– das Zimmer verlassen hatte, begann Master Lionel:

»Festmahl der Vernunft und Flug der Seele! Nein, mir gefällt eine solche Bewirthung ganz und gar nicht. Da halte ich es lieber mit einem guten Nachtessen, bei dem der Champagner nicht gespart wird.«

»Ei, was kann Euch daran gelegen sein?« entgegnete ich mit Lachen.

»Wohl recht viel,« versetzte er. »Von literarischen Partieen will ich nichts wissen. Erstlich sieht man neben Einem respektabeln Wagen zwanzig Cabriolete und Jarveys an der Thüre vorfahren, so daß also die Gesellschaft nicht besonders gut ist, und dann kriege ich bei Gesellschaften, mit denen ein gutes Nachtessen verbunden ist, in der Küche auch meinen Antheil ab. Ihr dürft nicht glauben, daß wir unten müßig sind. Ich bin zweimal bei Mrs. Allwood gewesen; aber da ist von einem Nachtessen keine Rede – nichts als Festmahl der Vernunft, von dem nichts in die Küche herunter kömmt. Nun, ich lasse ihnen meinen Antheil gerne. Was das Trinken betrifft, so hat man Negus und Kirschenwasser, sonst nichts, und wenn der Flug der Seele nicht besser ist, als solches Geplempel, so mögen sie meinen Antheil daran auch behalten. Keine Musik, kein Tanz, nichts als Larifari. Kömmt Euch dies nicht recht einfältig vor?«

»Ei, Lionel, man sollte glauben, ihr seiet oben gewesen und nicht unten.«

»Dies bin ich auch. Alles, was Livree trägt, wird in den Dienst gepreßt, und ich theile doch lieber Kuchen aus, als daß ich mir stundenlang die Beine an dem Küchentisch zerstoße. Ich höre Alles, was gesprochen wird, so gut wie die Gesellschaft, und habe oft gedacht, ich könnte bessere Antworten geben, als die sind, die man aus dem Munde dieser großen Literaten hört. Wenn ich heute Abend die Kuchen herumbiete, so nehmt von denen, welche ich Euch andeute, sie werden die besten sein.«

»Wie könnt Ihr dies wissen?«

»Weil ich sie alle versuche, eh' ich sie ins Zimmer bringe.«

»Ihr solltet Euch schämen, etwas der Art zugestehen zu müssen.«

»Dies kömmt bloß vom Lesen, Miß,« versetzte er. »Ich habe mich durch meine Lektüre überzeugt, daß in alten Zeiten vornehme Personen, Könige, Prinzen und so weiter stets ihre Speisen sich vorkosten ließen, damit nicht etwa Gift darin sei. Nach diesem Grundsatze koste ich denn auch und muß sagen, daß ich bei solchen wohlfeilen Gesellschaften mehr als einmal halb vergiftet worden bin. Mit der Zeit aber wird man pfiffig, und wenn mir ein verdächtig aussehendes Stück Pastete unter die Hand kömmt, überlasse ich es der Gesellschaft. Doch ich kann nicht länger mit Euch plaudern, Miß, da ich den Kutscher bestellen muß.«

»Ich habe Euch nicht zum Plaudern aufgefordert, Mr. Lionel.«

»Das eben nicht; aber dennoch weiß ich, daß Ihr mich gerne sprechen hört – Ihr könnt dies nicht in Abrede ziehen. Um mich nun im Style meiner Gnädigen auszudrücken, werde ich dem Kutscher sagen, er solle einen Gürtel ziehen um den Park in vierzig Minuten.«

Mit diesen Worten verschwand der Knabe eben so plötzlich, als er sonst zu thun pflegte.

Lionel hatte in der That Recht, wenn er sagte, daß ich ihn gerne plaudern hörte, denn sein Schwatzen unterhielt mich so sehr, daß ich ihm gerne seine Unverschämtheit und seine Vertraulichkeit verzieh. Bald nachher erschien der Wagen, und nachdem wir zwei- oder dreimal um den Park gefahren waren, kehrten wir zum Diner nach Hause zurück. Um zehn Uhr begaben wir uns in Mrs. Allwoods Gesellschaft. Ich wurde einer Menge von literarischen Sternen erster Größe vorgestellt, deren Namen ich nie zuvor hatte nennen hören: aber die Person, welche am meisten Aufmerksamkeit erregte, war ein russischer Graf, dem die Türken Nase und Ohren abgeschnitten hatten. Dies hatte wenigstens den Vortheil, ihm Interesse zu verleihen, obschon seine Schönheit nicht sonderlich dadurch erhöht wurde. Lionel hatte übrigens Recht. Für mich war es eine sehr langweilige Partie. Alles sprach zumal und war stets auf dem Zuge, um sich neue Zuhörer zu sichern. Es war eitel Larifari, und ich freute mich, als endlich die Meldung kam, daß der Wagen vorgefahren sei. Dies waren die Ereignisse des ersten Tages, den ich unter dem Dache der Lady R– verbrachte.

In der That konnte dieser erste Tag als ein Vorbild der meisten andern betrachtet werden, und so schwand ein Monat rasch dahin. Jeder kommende Morgen machte mich übrigens mit einer neuen Excentricität der Lady bekannt, so daß es mir nicht an unterhaltender Abwechslung gebrach. In meiner Eigenschaft als Modell wurde ich oft ersucht, seltsame Dinge zu thun; aber bei allen ihren Ungereimtheiten war doch Lady R– nach Herz und Sitten eine edle Frau, für die ich ohne Widerspruch vieles that, was ich jeder andern Person sicherlich abgeschlagen haben würde. Ich nannte sie jetzt Sempronia, wie sie mich gebeten, und wurde obendrein sehr vertraut mit Master Lionel, der mir seine Freundschaft aufdrang, mochte ich sie nun annehmen oder nicht, und mir, wie seine gnädige Gebieterin, viel Unterhaltung bereitete. Zuweilen, wenn ich allein war und meinen Gedanken nachhing, konnte ich nicht umhin, einen Blick auf meine eigentümliche Stellung zu werfen. Ich erhielt einen großen Gehalt – wofür? Um schön auszusehen, mich in Attituden zu werfen und Nichts zu thun. Dies war keine Schmeichelei für meine Talente, wenn ich deren besaß; gleichwohl aber wurde ich mit Güte und Vertrauen behandelt, war die Gesellschafterin meiner Lady und mußte an allen Partieen, zu welchen sie eingeladen wurde, theilnehmen, ohne daß man mich je meine Abhängigkeit fühlen ließ. Lady R– hatte mir ein Gefühl warmer Freundschaft eingeflößt, und ich fügte mich deshalb gerne darein, bei ihr zu bleiben. Eines Morgens sagte sie zu mir:

»Meine liebe Valerie, erweist mir den Gefallen, die Schnüre meines Corsetts fester anzuziehen.«

Sie schrieb wie gewöhnlich in ihrem Hauskleide.

»Oh noch fester – so fest, als Ihr nur könnt. So; jetzt wird's recht sein.«

»Aber Ihr könnt ja kaum athmen, Sempronia.«

»Wenn nur das Schreiben noch geht, mein liebes Kind. Wie ich schon früher bemerkte, üben Körper und Seele aufeinander einen gegenseitigen Einfluß. Ich bin eben daran, ein streng moralisches Zwiegespräch niederzuschreiben, und dies gelang mir nie, wenn ich nicht sehr fest geschnürt war. Jetzt fühle ich mich ganz in der geeigneten Stimmung für das Weib eines Cato oder überhaupt eine Römerin.«

Einige Tage nachher fand ein noch belustigenderer Vorfall statt. Nachdem sie ungefähr eine halbe Stunde geschrieben hatte, warf sie ihre Feder weg und rief:

»Nein, so gehts nicht. Kommt doch mit mir ins obere Zimmer, meine liebe Valerie, und helft mir aus meinem Schnürleib. Ich muß à l'abandon sein.«

Ich folgte ihr, und nachdem ich das Hinderniß weggeräumt hatte, kehrten wir nach dem Boudoir zurück.

»So,« sagte sie, indem sie sich niedersetzte, »jetzt werde ich meinen Stoff wohl bewältigen können. Ich fühle nunmehr die Kraft in mir.«

»Was wollt Ihr denn bewältigen?« fragte ich.

»Mein Herz, ich bin im Begriff, eine Liebesscene zu beschreiben – einen sehr warmen und leidenschaftlichen Auftritt; und so eingeengt, wie ich war, wollte dies gar nicht gehen. Nun bin ich freier; ich kann den Zügel meiner Einbildungskraft lösen und selbst mit dem Fluge von Cupidos Pfeil wetteifern. Meine Heldin ist zurückgekehrt und hat die Hand an ihre Wange gelegt. Ich bitte, bringt Euch in diese Haltung, meine theure Valerie, und gebt Euch das Ansehen, als machtet Ihr Euch Gedanken über das lange Ausbleiben eines geliebten Wesens. Recht so – vortrefflich – ganz naturgetreu – aber ich vergesse – ein Page tritt ein – rührt Euch nicht; ich will selbst die Klingel ziehen.«

Lionel erschien mit seiner gewöhnlichen Behendigkeit.

»Lionel, ich wünsche von Dir, daß Du den Pagen spielest.«

»Gnädige Frau, ich habe jetzt keine Zeit zum Spielen, sondern bin der Page in gutem Ernst. Von den Messern ist noch keines geputzt.«

»Denke vorderhand nicht an die Messer. Gib Acht, Lionel. Du mußt dergleichen thun, als habest Du eine Botschaft auszurichten an dieses liebliche Mädchen, welches in sanfter Träumerei dahinschmachtet. Du trittst unbemerkt ein und bist betroffen von ihrer Schönheit. In unbekümmerter, aber anmuthiger Haltung lehnst Du Dich an einen Baum, Deine Blicke unverwandt auf ihre bezaubernden Züge geheftet. So lehne Dich an die Thüre wie ich Dirs vorgesagt habe, und dann werde ich im Stande sein weiter zu schreiben.«

Ich konnte ein Lächeln über diese abgeschmackte Scene nicht unterdrücken, um so weniger, da Lionel jetzt mit den Fingern durch sein Haar fuhr, seinen Hemdkragen in die Höhe zog und mit den Worten die ihm angewiesene Stellung einnahm:

»Nun, Miß Valerie, wir wollen sehen, wer seine Sache am besten macht. Ich denke, Ihr werdet des Sitzens früher müde werden, als ich des Ansehens.«

»Vortrefflich, Lionel! – Genau die Stellung, die ich wünschte,« sagte Lady R–, während ihr Kiel im Galop über das Papier hinraste. »Die weitoffenen Augen sind so naturgetreu – Cymon und Iphigenia – ein vollkommenes Tableau! Ich bitte, rührt Euch nicht – nur noch zehn Minuten!«

Ich sah Master Lionel an, der eine Grimasse schnitt, daß ich mich kaum des Lachens erwehren konnte; auch wollte mir die mimische Darstellung, die ich so zu sagen mit einem Domestiken auszuführen hatte, gar nicht gefallen, obschon dieser Domestik Lionel war, welcher mit anderen Dienstleuten so wenig gemein hatte. Nach zehn Minuten wurden wir versprochenermaßen erlöst – sehr zu meiner Beruhigung. Lionel entfernte sich, um seine Messer zu putzen, und ich nahm mein Buch wieder auf; als ich aber Lady R–'s Entzücken über ihren Erfolg, wie sie's nannte, bemerkte, war jede Spur von Aerger darüber, daß ich ihren Wünschen willfahrt hatte, aus meiner Seele verschwunden.

Eines Morgens war Lady R– ausgegangen. Der Page Lionel befand sich in dem Zimmer, und ich ließ mich auf eine Unterhaltung mit ihm ein, in deren Verlauf ich ihn fragte, wie es komme, daß er so viel besser erzogen sei, als man dies bei Knaben von seiner Stellung gewöhnlich finde.

»Dies ist eine Frage, die ich schon oft selbst an mich gerichtet habe, Miß Valerie, wie man in den Selbstbiographieen zu sagen pflegt,« versetzte er. »Meine frühesten Erinnerungen malen mich, wie ich in einem Anzug von Salz- und Pfefferfarbe zu zwei und zwei mit ungefähr zwanzig andern kleinen Knaben spazieren gehe. Ich befand mich damals in einer wohlfeilen Vorbereitungsanstalt, die unter der Leitung von zwei Jungfern, Namens Wiggins, stand. Da war ich, ohne daß Jemand kam, um nach mir zu sehen. Andere Knaben schwatzten von ihren Papa's und Mamma's, ich aber konnte nichts von solchen Dingen sagen. Sie giengen während der Vacanz nach Hause und brachten Spielzeug und Kuchen mit; ich mußte mich meiner Ferien allein erfreuen, indem man in Ermangelung anderer Belustigung mir es überließ, zwischen den Mahlzeiten Löcher in den Sand zu graben, und vielleicht im Laufe der vierundzwanzig Stunden nicht öfter als drei- oder viermal den Mund aufzuthun oder den Klang meiner eigenen Stimme zu hören. Die Vacanz ließ mir stets reichlich Zeit zum Nachdenken, und wie ich größer wurde fieng ich an mir einzubilden, daß ich doch so oder so einen Vater und eine Mutter gehabt haben müsse wie andere Knaben. Dies veranlaßte mich, unverschämte Fragen – denn als solche wurden sie mir verwiesen – wegen derselben zu stellen. Die Fräulein Wiggins zerklopften mich tüchtig für meine unverantwortliche Neugierde, hielten mir vor, wie undelikat es sei, auf einen solchen Gegenstand einzugehen, und stopften mir in solcher Weise den Mund.

»Als ich endlich zu groß für die Vorbereitungsschule wurde und die zwei alten Jungfern mich nicht mehr zu meistern vermochten, beehrte mich endlich, wahrscheinlich in Folge ihrer Vorstellungen, eine alte Haushälterin von ungefähr fünfzig Jahren, die ich nie zuvor gesehen hatte, mit einem Besuch. Ich wagte es, auch an sie die verbotenen Fragen zu richten, und erhielt zur Antwort, daß ich weder Vater noch Mutter habe, weil beide gestorben seien; ich werde auf Kosten einer wohlthätigen vornehmen Dame erzogen, deren Dienstleute sie gewesen, und diese vornehme Dame werde vielleicht einmal kommen und nach mir sehen, anderenfalls aber nach mir schicken und etwas für mich thun. Vor ungefähr vier Jahren – man sagte mir damals, ich sei zwölf Jahre alt, obschon ich meiner Ansicht nach älter gewesen sein muß – ließ mich Lady R– zu sich rufen; ich wurde anfänglich mit einem Turban und einer rothen Jacke bekleidet und mußte auf dem Boden sitzen. Man erklärte mir, daß ich als Page bei ihr zu bleiben habe, und mein Amt gefiel mir recht wohl, da ich nichts zu thun hatte, als Aufträge zu besorgen, und außerdem Bücher lesen konnte, die mir viel Vergnügen machten. Lady R– gab sich einige Mühe mit mir; aber als ich größer wurde, gieng es mit meiner Herrlichkeit abwärts, so daß ich vom Besuchzimmer an rückwärts bis zur Küche avancirte.

»Meine bunte Gewandung wurde nicht wieder erneuert. Zuerst erhielt ich einen einfachen Anzug und mußte unter der Oberherrlichkeit eines Lakaien meine Dienste verrichten. Als aber der Lakai fortgeschickt wurde, erbot ich mich, um nicht unter die Befehle eines andern zu kommen, die Obliegenheiten zu verrichten, die ich bisher schon besorgt hatte, hohen Lohn dafür in Empfang zu nehmen und die Zuckerhutknöpfe zu tragen, die Ihr gegenwärtig an mir seht. Dies ist Alles, was ich von mir selbst weiß, Miß Valerie; aber ich vermuthe, daß Lady R– besser unterrichtet ist. Indeß will ich die Möglichkeit nicht bestreiten, daß jene alte Frau Recht hatte, als sie mir sagte, ich sei das Kind von Dienstleuten, die bei ihr in Gunst standen, und von ihr in der angedeuteten Weise erzogen worden, denn Ihr wißt ja selbst, welche Wunderlichkeiten man ihr zutrauen darf.«

»Und wie heißt Ihr sonst, Lionel?«

»Man hat mir gesagt, mein Zuname sei Beddingfield,« entgegnete er.

»Habt Ihr je mit Lady R– über Eure Eltern gesprochen?« fragte ich ihn weiter.

»Ich that dies ein einziges Mal, und sie sagte mir, sie hätten zu den Leuten des Sir Richard – ihres Vaters, des verstorbenen Baronet – nicht zu den ihrigen gehört; sie wisse von ihnen weiter nichts, als daß mein Vater einer seiner Verwalter oder Vögte gewesen sei und daß der Baronet ihr die Weisung hinterlassen habe, etwas für mich zu thun. Die gnädige Frau schien nicht geneigt zu sein, viel über den Gegenstand zu sprechen, und schickte mich wieder fort, nachdem sie mir mitgetheilt hatte, was ich Euch eben gesagt habe. Indeß bin ich seitdem doch hinter etwas gekommen. – Ah, ich höre die Lady klopfen.«

Und mit diesen Worten verschwand Lionel.

Bald nach der Rückkehr der Lady R– wurde Madame Gironac angemeldet, die mich schon einigemale besucht hatte. Ich ging hinaus und als ich in dem Speisezimmer mit ihr zusammen traf, sagte sie, sie habe einige von ihren Wachsblumen mitgebracht, um sie die gnädige Frau sehen zu lassen. Sogleich begab ich mich wieder zu Lady R– und fragte sie, ob ich die Künstlerin einführen solle – ein Vorschlag, auf den sie bereitwillig eingieng. Madame Gironac wies ihre Leistungen vor, die sehr naturgetreu und schön waren, und Lady R– gerieth darüber in Entzücken. Sie kaufte meiner kleinen Landsmännin Mehreres ab, worauf ich mit letzterer wieder hinunter gieng und mich noch lange mit ihr aufs Wärmste unterhielt.

»Diese Eure Stellung gefällt mir nicht, Mademoiselle,« sagte sie, »und eben so wenig meinem Manne. Nun dachte ich, Mademoiselle de Chatenœuf, daß es nicht übel wäre, wenn Ihr auch solche Blumen machen lerntet. Ich will Euch Unterricht darin geben, ohne daß es Euch etwas kostet; auch will ich Euch mittheilen, was ich sonst meine Zöglinge nicht lehre – die Zubereitung des Wachses nämlich und noch viele andere kleine Geheimnisse, die wissenswerth sind.«

»Ich will Euch recht gerne etwas ablernen, meine liebe Madame,« versetzte ich, »bin aber wohl in der Lage, Euch für Eure Mühe und Euren Zeitaufwand zu belohnen.«

»Schon gut; darüber wollen wir keine Händel anfangen. Ich weiß, daß Niemand gerne sich Verpflichtungen auferlegt – am allerwenigsten Ihr – aber lernen müßt Ihr es, und so wollen wir uns denn über die Unterrichtsstunden verständigen.«

Dies geschah, und von diesem Tage an bis zu der Zeit meines Austritts aus dem Hause der Lady R– legte ich mich mit solchem Eifer auf die neue Kunst, daß ich unter den rückhaltlosen Mittheilungen der Madame Gironac mir eine Geschicklichkeit aneignete, die sich wohl mit der meiner Lehrerin messen konnte. Ja, Madame Gironac erklärte sogar, daß meine Arbeiten vorzüglicher seien, als die ihrigen, weil ich mehr Geschmack dabei zu entwickeln wisse. Kehren wir übrigens zum Gang unserer Erzählung zurück.

Nachdem sich Madame Gironac entfernt hatte, gieng ich wieder zu Lady R– hinauf und traf sie an dem Tische sitzend, wo sie noch immer ihre Erwerbungen betrachtete.

»Meine liebe Valerie,« rief sie, »Ihr wißt nicht, wie sehr Ihr mich dadurch verpflichtet habt, daß Ihr diese kleine Frau mit ihren Blumen bei mir einführtet. Welch eine entzückende und elegante Beschäftigung für die Heldin einer Novelle – so ganz weiblich und voll Anstand! Ich habe mir vorgenommen, daß sich die meinige ihren Unterhalt durch Verfertigung solcher wächserner Blumen erwerben soll. Ich bin eben im Begriff, sie in dürftige Verhältnisse zu versetzen, und wußte nicht, mit was ich sie ihr Brod verdienen lassen sollte. Aber Dank Euch – die Schwierigkeit ist jetzt gelöst, und noch obendrein auf eine recht bezaubernde und befriedigende Weise. Es wird so schwer, die Armuth mit reinen Händen in Verbindung zu bringen.«

Ungefähr vierzehn Tage nachher sagte Lady R– im Verlaufe eines andern Gesprächs zu mir:

»Meine liebe Valerie, ich habe für Euch eine Ueberraschung. Die Saison ist vorüber, und, was von noch größerer Wichtigkeit ist, mein dritter Band wird in vierzehn Tagen fertig sein. Gestern Nacht warb ich vergebens um den mohnbekränzten Gott, als mir eine Idee in den Kopf kam. Ihr wißt, daß ich mir vorgenommen hatte, den Herbst in Brighton zuzubringen, aber gestern Nacht kam ich auf den Gedanken, über das Wasser zu gehen. Ich bin zwar noch nicht schlüssig, ob nach Havre, Dieppe oder Paris; soviel aber ist ausgemacht, daß es la belle France sein soll. Was sagt Ihr zu diesem Einfall? Ich gedenke eine Art sentimentaler Reise zu machen. Wir wollen Abenteuer aufsuchen. Sollen wir gehen wie Rosamonde und Celia? – ich ›mit der ritterlichen kurzen Art‹ als Jüngling gekleidet? Wollen wir ein wenig tollen, Valerie? Was haltet Ihr davon?«

Ich wußte kaum, was ich sagen sollte. Augenscheinlich hatte sich Lady R– eine höchst seltsame Posse in den Kopf gesetzt, und war überspannter, als je. Nun wünschte ich aber durchaus nicht, nach Frankreich zu gehen, da ich leicht mit Leuten zusammentreffen konnte, die ich zu vermeiden wünschte, und aus dem, was ich von den Abenteuern der Lady in Italien vernommen hatte, gewann ich die Ueberzeugung, daß sie unter diejenigen Personen gehörte, welche die fixe Idee hegen, außer ihrem Lande dürfen sie Alles treiben, was ihnen gutdünke. Unter solchen Umständen konnte es mir nicht darum zu thun sein, in ihrer Schleppe mit figuriren zu wollen, und ich erwiederte ihr daher –

»Ich bin mit meinem Vaterlande gut bekannt, Lady R–, und kein Land eignet sich wohl weniger für eine Maskerade. Wir würden auf zu viele désagréments stoßen, wenn wir nicht von einem männlichen Geleite geschützt sind, und unsere Reise dürfte nichts weniger als sentimental ausfallen. Aber wenn Ihr nach Frankreich reist, wird Lionel Euch begleiten?«

»Ich weiß es noch nicht. Jedenfalls möchte ich ihn die Sprache lernen lassen. Doch ja; ich gedenke ihn mitzunehmen. Er ist ein gescheidter Knabe.«

»Allerdings,« versetzte ich. »Wo habt Ihr ihn aufgelesen?«

»Er ist ein Sohn von meines verstorbenen Vaters – (›ein Sohn von –‹ rief ich, da sie inne hielt) – Pächter oder etwas der Art, wollte ich sagen,« fuhr Lady R– erröthend fort. »Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was der Mann war – Verwalter, glaube ich. Von seinem Vater weiß ich selbst nichts; aber Sir Richard empfahl mir den Knaben auf dem Sterbebette.«

»Empfahl er ihn Euch als Diener?« entgegnete ich. »Er scheint mir zu gut zu sein für eine so niedrige Stellung.«

»Daß dies der Fall ist, hat er mir zu danken, Valerie. Er ist mir nicht gerade zu einem Dienstmann, sondern überhaupt meiner Sorge empfohlen worden. Vielleicht bin ich mit der Zeit in der Lage, mehr für ihn zu thun. Ihr wißt, daß wir heute Abend zu Lady G–'s Ball gehen. Er wird glänzend ausfallen. Sie gibt nur Einen während der Saison, diesen aber im besten Styl. Gott behüte mich, wie spät es schon ist! In ein Paar Minuten fährt der Wagen vor. Ich habe noch eine Reihe von Besuchen zu machen.«

»Werdet Ihr mich wohl entschuldigen? Ich habe Madame Gironac zugesagt, heute eine Stunde bei ihr zu nehmen.«

»Ganz gut; dann muß ich eben mein trauriges Geschäft allein antreten. Was kann auch abgeschmackter sein, als daß eine vernünftige, unsterbliche Seele umherfährt, um Kartenpapier auszutheilen!«

Wir giengen zu Lady G–'s Ball, der in der That prachtvoll ausfiel. Ich tanzte gleichfalls, denn obschon ich von den jungen adelichen Herrn wahrscheinlich nicht für gut genug angesehen wurde, eine Lebensgefährtin abzugeben, war ich doch als Theilnehmerin an einem Walzer oder an einer Quadrille ziemlich gesucht. Der gehässige Beigeschmack, der sich an den Namen einer Gouvernante knüpft, hatte mir noch nichts anhaben können, da ich zu London nie in dieser Eigenschaft figurirte und auch ziemlich unbekannt war. Ich hatte nur kurze Zeit neben Lady R– Platz genommen, als diese plötzlich in großer Hast aufsprang und einem mir unbekannten Gegenstand nachjagte. Ihr Sitz wurde sogleich von einer Dame eingenommen, in welcher ich eine Lady M– erkannte, welche mit ihren Töchtern einen Theil der Gesellschaft auf Madame Bathursts Landsitz bildete.

»Habt Ihr mich vergessen, Mademoiselle de Chatenœuf?« begann Lady M–, indem sie mir die Hand hinbot.

»Gewiß nicht, gnädige Frau. Es freut mich, daß Ihr so gut ausseht. Ich hoffe, Eure Töchter sind gleichfalls recht wohl?«

»Ich danke Euch. Am Abend sehen sie gut genug aus, dafür aber desto blasser am Morgen. Eine Londoner Saison ist etwas Schreckliches – eine schwere Heimsuchung für die Constitution; aber was will man machen? Man muß ausgehen und sich überall sehen lassen, oder man kömmt außer Kurs – so viele Bälle und die Gesellschaften jeden Abend. Wenn Mädchen nach ihrem Eintritt in die Welt nicht während der drei ersten Saisonen unter die Haube kommen, so sind ihre Aussichten fast hoffnungslos, da sie dann fast alle Frische, all' jenen Zauber der Jugend verloren haben, der so appetitreizend für das andere Geschlecht ist. Keine Constitution kann diese Anstrengung aushalten. Ich habe unsere jungen Damen oft mit den Equipagenpferden verglichen – beide werden während der Saison bis auf den Tod abgemüht und dann in das frische Gras des Landes hinaus geschickt, damit sie sich wieder erholen und mit dem nächsten Winter von vorne anfangen können. Es ist in der That ein schreckliches Leben; aber Mädchen muß man sich vom Halse schaffen. Ich wünschte, ich wäre der meinigen auch schon ledig, denn die Sorge und die Erschöpfung haben mich zu einem wahren Schatten abgezehrt. Kommt, Mademoiselle de Chatenœuf – laßt uns in das nächste Zimmer gehen. Es ist dort kühler, und wir sind weniger gestört. Nehmt meinen Arm; vielleicht treffen wir mit den Mädchen zusammen.«

Ich nahm die Einladung der gnädigen Frau an, und wir begaben uns in das nächste Gemach, wo wir uns in einer Nische auf den Sopha niederließen.

»Hier können wir sprechen, ohne gehört zu werden,« sagte Lady M–. »Und nun, mein theures Fräulein, ich habe davon gehört, daß Ihr Madame Bathurst verließet, ohne mir übrigens den Grund denken zu können. Ist er ein Geheimniß?«

»Nein, gnädige Frau. Nach der Rückkehr Carolinens in ihr elterliches Haus war ich von keinem Nutzen mehr, und ich wünschte daher nicht mehr zu bleiben. Es ist Euch vielleicht bekannt, daß ich als Gast zu Madame Bathurst kam, später aber unvorgesehene Umstände eintraten, welche mich bewogen, einige Zeit als Erzieherin ihrer Nichte bei ihr zu bleiben.«

»Ich hörte etwas dergleichen – eine Art freundlicher Uebereinkunft, mit der Madame Bathurst alle Ursache hatte, zufrieden zu sein. Bei mir wenigstens wäre es sicherlich der Fall gewesen, wenn ich ein so gutes Glück gehabt hätte. Und Ihr seid jetzt bei Lady R–? Ist es keine Anmaßung, wenn ich frage – in welcher Eigenschaft?«

»Sie nahm mich als einen Ammanuensis zu sich; ich muß übrigens sagen, daß ich noch keine Zeile für sie geschrieben habe. Lady R– ist so gütig, mich als eine Gesellschafterin anzusehen, und ich kann nicht umhin, ihr die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, daß sie mich sehr freundlich und rücksichtsvoll behandelt.«

»Ich zweifle nicht daran,« versetzte Lady M–; »aber dennoch scheint es mir – entschuldigt meine Freiheit mit der Zuneigung, die ich für Euch hege – als ob Eure Stellung bei Lady R– nicht ganz so sei, wie es diejenigen wünschen, welche Interesse an Euch nehmen. Alle Welt kennt – um das Mildeste davon zu sagen – ihre Sonderbarkeiten, und Ihr wißt vielleicht nicht, daß ihre Zunge hin und wieder jede Rücksicht bei Seite läßt. In Eurer Gegenwart ist sie natürlich auf der Hut, denn sie hat in Wahrheit ein gutes Herz und wird sicherlich mit Absicht keinen Menschen beleidigen oder seine Gefühle verletzen wollen; aber wenn der Wunsch, in Gesellschaft zu glänzen, sie hinreißt, benimmt sie sich oft sehr unbesonnen. Bei der Dinerpartie der Mrs. W–, zu welcher Ihr nicht eingeladen waret, wurde letzthin Euer Name zur Sprache gebracht, und sie nannte Euch ihr bezauberndes Modell – ich glaube, so lautete der Ausdruck; und als man sie befragte, was sie darunter verstehe, antwortete sie, Ihr seiet das Vorbild für ihre Heldinnen und nähmet die wünschenswerthen Haltungen und Stellungen an, damit sie nach der Natur zeichnen könne, wie sie's nannte. Man machte ihr Complimente über diese Idee, und einige der jungen Herren erboten sich – oder thaten wenigstens dergleichen – in entzückter Bewunderung als die Helden des Romans zu Euren Füßen zu knieen; sie aber entgegnete, daß man ihrer Dienste nicht bedürfe, da sie bereits einen Pagen oder Bedienten – welches von beiden weiß ich nicht mehr so genau – habe, der diesen Theil des Geschäfts übernehme. Unmöglich kann dies wahr sein, meine theure Mademoiselle de Chatenœuf?«

Oh, wie mir das Blut in den Adern kochte, als ich dies vernahm!

In wie weit Lady M– Recht hatte, ist dem Leser bereits bekannt; aber die Art, wie ich den Vorgang jetzt erzählen hören mußte, wirkte erschütternd auf mich. Ich erröthete bis über die Schläfe und erwiederte:

»Lady M–, es ist wahr, daß, wenn ich dasaß und Lady R– schrieb, sie mir oft sagte, sie nehme mich zum Modell für ihre Heldinnen; ich habe dies übrigens nur für eine Grille von ihr gehalten, weil ich ihr excentrisches Wesen kannte. Freilich ließ ich mir nicht träumen, daß ich mir durch mein gutmüthiges Eingehen auf ihre Launen eine Kränkung zuziehen könnte, wie die ist, von der Ihr mir eben Mittheilung gemacht habt. Daß sie unbesonnen gewesen sein muß, geht daraus hervor, weil Niemand als ich und sie etwas davon wissen konnte.«

»Und der Bediente?«

»Der Bediente, gnädige Frau? – Es ist ein Knabe da, den sie einen Pagen nennt.«

»Ganz richtig; ein junger Bursche von fünfzehn oder sechszehn Jahren – ein vorlautes, naseweises Bübchen, dem Lady R– alles nachsieht und das – wenn man dem Gerücht Glauben beimessen darf, weit näher mit ihr verwandt ist, als sie zugestehen mag. Habt Ihr nie bemerkt, daß eine auffallende Aehnlichkeit zwischen ihnen stattfindet?«

»Gütiger Himmel, gnädige Frau – Ihr setzt mich in Erstaunen!«

»Und ich fürchte, daß ich Euch auch Verdruß gemacht habe; aber« – fuhr Lady M– fort, indem sie ihre Hand auf die meinige legte – »ich hielt es für einen Liebesdienst, Euch auf das Eigentümliche Eurer Lage aufmerksam zu machen, da dies doch besser ist, als wenn man nach dem Beispiele anderer hinter Eurem Rücken Euch höhnt und verlacht. 's ist in einer Hinsicht eine traurige Welt. Wenn irgend eine Lästerung oder ein falsches Gerücht in Umlauf kömmt, so ist die betheiligte Person gewiß die letzte, welche davon Kunde erhält. Nur selten finden wir einen Freund, der es aufrichtig genug mit uns meint, um uns davon in Kenntniß zu setzen. Man läßt das Gift kreisen, ohne uns in die Lage zu bringen, das geeignete Gegengift anzuwenden – so hohl ist die Freundschaft dieser Welt. Meine liebe Mademoiselle, ich habe es anders gehalten – ob ich mir Dank damit verdiente oder nicht, kann ich nicht wissen. Schwerlich ist das erstere der Fall, denn diejenigen, welche unangenehme Mittheilungen machen, sind selten freundlich angesehen.«

»Lady M–,« versetzte ich, »nehmt meinen besten Dank und seid versichert, daß ich in Eurer Mittheilung nur eine Handlung der Freundschaft sehe. Ich gebe zu, daß sie in hohem Grade erschütternd auf mich gewirkt hat,« fuhr ich fort, indem ich die Thränen wegwischte, die sich unwillkührlich Bahn brachen; »aber ich werde künftighin keinen Anlaß mehr geben zu ungerechten Deutungen und hämischen Bemerkungen, indem ich entschlossen bin, Lady R– so bald wie möglich zu verlassen.«

»Meine liebe Mademoiselle, ich würde es nicht gewagt haben, Euch mit einem Umstande bekannt zu machen, der, wie ich wohl wußte, eine Person von Eurem Zartgefühl bestimmen mußte, sich dem Schutz der Lady R– zu entziehen, wenn ich nicht vorher wohl überlegt hätte, ob Euch nicht dafür ein Ersatz zu bieten sei. Es freut mich, Euch die Versicherung geben zu können, daß ich in der Lage bin, Euch eine Heimath, und zwar eine behagliche und ehrenhafte Heimath anzubieten, wenn Ihr sie anders annehmen wollt. Wenn ich nur entfernt eine Ahnung gehabt hätte, daß Ihr Lady Bathurst zu verlassen gedächtet, so wurde ich es schon damals gethan haben und thue es jetzt mit aller Aufrichtigkeit. Doch vorderhand seid Ihr zu aufgeregt und bekümmert – also nichts mehr davon. Wenn ich Euch morgen um zwei Uhr meinen Wagen sende, werdet Ihr wohl die Güte haben, mich zu besuchen? Ich käme selbst zu Euch, aber Lady R–'s Gegenwart wäre natürlich ein Hinderniß für jede freie Besprechung. Sagt an, meine Liebe – wollt Ihr kommen?«

Ich versprach ihr es, worauf Lady M– sich von ihrem Sitze erhob, ihren Arm in den meinigen legte und mich wieder nach der Bank führte, die wir verlassen hatten. Dort trafen wir Lady R– in einem hitzigen Streit mit einem Parlamentsmitglied. Ich nahm, ohne von ihr beachtet zu werden, wieder Platz, und Lady M– lächelte mir ein Adieu zu. So war ich denn meinen eigenen, nichts weniger als angenehmen Betrachtungen überlassen. Ich hatte furchtbaren Kopfschmerz und sah so übel aus, daß es Lady R–'s eifrigem Gegner auffiel. Er deutete auf mich und sagte:

»Lady R–, ich fürchte, Eure protégée ist unwohl –«

Ich bemerkte gegen Lady R–, daß ich heftiges Kopfweh habe und es mir deshalb lieb wäre, wenn ich so bald wie möglich nach Hause käme.

Sie willfahrte augenblicklich und zeigte sich sehr bekümmert. Ich brauche kaum zu sagen, daß ich, sobald ich nach Hause kam, sogleich auf mein Zimmer eilte.

Ich setzte mich nieder und drückte die Hände an meine Stirne. Meine Kenntniß der Welt machte nur allzuschnelle Fortschritte. Ich begann sie zu hassen – die Männer zu hassen, und die Weiber sogar noch mehr als die Männer. Wie viel hatte ich nicht im Laufe des letzten Jahres lernen müssen. Zuerst Madame d'Albret, dann Madame Bathurst, und nun Lady R–. War denn alle Freundschaft der Welt nur Schein – nirgends Edelmuth zu finden? In meinem aufgeregten Zustande schien mir Alles falsch und hohl zu sein. Das eigene Ich war das Idol der Menschheit, und Alles betete an vor diesem Altare. Nach einiger Zeit gewann ich wieder mehr Fassung; ich gedachte der kleinen Madame Gironac, ihres uneigennützigen Wohlwollens gegen mich, und dies setzte mich in eine bessere Stimmung. Trotz meines Verdrußes mußte ich mir doch sagen, daß nur die Eitelkeit der Lady R– und ihr Wunsch, zu glänzen, mich in solcher Weise hatte preisgeben können, da bei ihr sicherlich von einer Absicht, meine Gefühle zu verletzen, nicht die Rede war. Gleichwohl war es mir nach dem, was mir Lady M– gesagt hatte, nicht mehr möglich, bei ihr zu bleiben, und ich stellte Erwägungen über die Schritte an, die ich einschlagen sollte. Die wahren Gründe meines Austritts mochte ich Lady R– nicht namhaft machen, weshalb ich es für nöthig hielt, mich eines guten Vorwands zu bedienen, um in Freundschaft von ihr scheiden zu können. Endlich fiel mir ein, daß ich ihre Absicht, nach Frankreich zu reisen, zu einem guten Entschuldigungsgrund benützen konnte, da ich ihr dann nur zu erklären brauchte, ich scheue mich, mit meinen Verwandten zusammen zu treffen.

Nachdem ich über diesen Punkt mit mir im Reinen war, stellte ich über die Worte der Lady M– Erwägungen an. Was konnte sie mir in ihrem Hause anzubieten haben? Es waren allerdings drei Töchter da; doch sie gehörten – wie man zu sagen pflegt – unter die Fertigen, und ihre Erziehung galt als vollendet. Hier handelte sich's also um ein Geheimniß, das ich mir nicht lösen konnte, und mein erfolgloses Brüten darüber führte den Schlaf herbei. Aber im nächsten Augenblick erwachte ich wieder mit erschöpftem Geist und schlimmem Kopfweh. Ich kleidete mich an und ging zum Frühstück hinunter. Lady R– erkundigte sich nach meinem Befinden und sagte:

»Wie ich bemerkte, habt Ihr ja ganz vertraulich Euch mit Lady M– unterhalten. Ich wußte nicht, daß Ihr mit ihr bekannt seid. Unter uns, Valerie, sie ist eines von meinen Modellen.«

»Wirklich?« versetzte ich. »Da weiß wohl die gnädige Frau wenig von der Ehre, die ihr widerfährt.«

»Wohl möglich; aber in meinem letzten Werke habe ich sie nach dem Leben gezeichnet. Lady M– ist eine Intriguantin – stets Ränke spinnend, und ihr Hauptaugenmerk geht jetzt dahin, ihre drei Töchter vortheilhaft unter die Haube zu bringen.«

»Ich glaube, daß dies der Wunsch der meisten Mütter ist, Lady R–.«

»Allerdings, und vielleicht macht jede zu diesem Zweck ihre Manöver, nur mit mehr Geschicklichkeit, als Lady M–; denn Jedermann durchschaut das Spiel, das sie vorhat, und die Folge davon ist, daß die jungen Männer verscheucht werden, was nicht der Fall wäre, wenn sie sich ruhig verhielte, da die Mädchen in der That sehr verständig, ungeziert, natürlich, bescheiden und gefällig sind. Doch wie wurdet Ihr mit Lady M– so genau bekannt?«

»Lady M– hielt sich mit ihrer ältesten Tochter, als ich noch bei Madame Bathurst war, einige Zeit auf dem Landsitz dieser Dame auf.«

»Oh, ich verstehe; dies erklärt mir die Sache.«

»Ich habe im Sinne, Lady M– einen Besuch zu machen, wenn sie mir ihren Wagen schickt,« versetzte ich. »Sie versprach mir, dies heute um zwei Uhr zu thun, wenn sie könne. Sie hat mir den Antrag gemacht, ich möchte auf einige Zeit zu ihr kommen, wenn sie London verlassen habe.«

»Aber Ihr werdet nicht im Stande sein, hierauf einzugehen, Valerie. Denkt nur an unsern Ausflug nach Frankreich.«

»Ich glaubte nicht, daß es Euch Ernst damit sei,« versetzte ich. »Ihr spracht davon als von einem Entschluß, der Euch über Nacht gekommen ist, und dachte, eine weitere Erwägung dürfte Euch wohl auf eine andere Meinung bringen.«

»Oh nein, ich fasse meine Entschlüsse nicht in der Uebereilung und weiche deshalb nicht oft davon ab. Wir gehen zuverlässig nach Paris.«

»Wenn Ihr auf diese Reise so erpicht seid, Lady R–, so fürchte ich, daß ich Euch nicht begleiten kann.«

»Wirklich?« rief die gnädige Frau in großem Erstaunen. »Und darf ich wohl nach dem Grunde fragen?«

»Einfach weil ich nicht mit denen zusammen treffen möchte, die ich zu vermeiden alle Ursache habe. Es gibt einen Theil in meiner Geschichte, mit dem Ihr noch nicht bekannt seid, Lady R–, und Ihr sollt nun davon unterrichtet werden.«

Ich erzählte ihr jetzt, so viel mir passend dünkte, von meinen Eltern und erklärte ihr meinen festen Entschluß, mich nicht der Gefahr eines Zusammentreffens mit ihnen aussetzen zu wollen. Lady R– machte mir Gegenvorstellungen, suchte mich zu überreden, schmeichelte und zürnte, aber alles vergeblich. Endlich wurde sie im Ernste unmuthig und verließ das Zimmer. Bald nach ihrer Entfernung trat Lionel ein und sagte zu mir in seiner gewöhnlichen vertraulichen Weise:

»Was hat sich denn zugetragen, Miß Valerie? Die gnädige Frau ist über Etwas in Wuth und hat mir eine Ohrfeige gegeben.«

»Ich denke, Ihr werdet sie wohl verdient haben, Lionel,« entgegnete ich.

»Darüber können die Ansichten verschieden sein,« versetzte der Knabe. »Sie schimpfte auf mich los, daß ich gar nicht wußte, wo mir der Kopf stand, und Alles wegen Nichts. Nach mir gieng es an die Köchin, daß diese vor Aerger gute Lust gehabt haben mag, zum Kamin hinaus zu fahren – und dann kam sie wieder über mich. Endlich konnte ich's nicht länger aushalten und sagte zu ihr: ›Ihr seid ja ganz aus dem Häuschen, gnädige Frau.‹

»›Nenne mich nicht gnädige Frau,‹ rief sie, ›oder du kriegst eines an's Ohr.‹

»Da sie nun immer unwillig wird, wenn Ihr sie gnädige Frau nennt, so dachte ich, sie sei über mich aus demselben Grunde zornig, so sagte ich zu ihr – ›Beruhigt Euch doch, Sempronia –‹ und husch hatte ich eine hinter den Löffeln.«

Ich konnte mich eines Lachens nicht erwehren, als er mir seine kühle Unverschämtheit erzählte, um so weniger, da er mir sein geschlagenes Elend mit der Miene der gekränkten Unschuld vortrug.

»In der That, Lionel,« sagte ich endlich, »Ihr habt die Ohrfeige wohl verdient. Wenn Ihr je den Dienst der Lady R– verlaßt, so werdet Ihr die Erfahrung machen, daß man sich gegen höherstehende Personen stets mit der gebührenden Achtung benehmen muß, und wofern Ihr Euch dies nicht zur Lehre dienen laßt, werdet Ihr in einem andern Hause keine Stunde Bleibens haben. Lady R– ist bei allen ihren Sonderbarkeiten sehr gutmüthig und läßt sich mehr gefallen, als irgend Jemand sonst. Ich will Euch übrigens sagen, warum die gnädige Frau mißvergnügt ist. Sie hat gewünscht, daß ich sie nach Frankreich begleite, und ich erklärte ihr, daß dies nicht geschehen könne.«

»Ihr habt also im Sinn, uns zu verlassen?« fragte Lionel in traurigem Tone.

»Es scheint so,« entgegnete ich.

»Dann geh' ich auch,« sagte der Knabe. »Ich hab's nachgerade satt.«

»Aber warum solltet Ihr gehen, Lionel? Ihr werdet nicht leicht einen Platz finden, wo Ihr auch nur halb so gut gehalten werdet.«

»Ich sehe mich nicht einmal nach einem um. Ich bin bloß hier geblieben in der Hoffnung, durch die gnädige Frau zu erfahren, wer oder was meine Eltern waren; aber sie will mir keine Auskunft darüber geben. Ich fürchte nichts; mein Kopf wird mich schon durchbringen. ›Die Welt ist meine Auster,‹ wie Shakspeare sagt, und ich denke, daß ich Witz genug habe, um sie auf zu kriegen.«

Ich hatte die Bemerkungen der Lady M– über Lionel nicht vergessen, und die Worte des Knaben brachten mich auf die Vermuthung, daß hier irgend ein Geheimniß obwalte. Eine Musterung seines Gesichtes überzeugte mich, daß wirklich eine große Familienähnlichkeit mit Lady R– vorhanden war. Dabei fiel mir ein, wie schnell sie abgebrochen hatte, als ich die Verhältnisse ihres Pagen zur Sprache brachte.

»Aber was veranlaßt Euch, Lionel,« sagte ich nach einer Pause, »zu dem Glauben, daß Lady R– vor Euch geheim halte, wer Eure Eltern waren? Als wir zuletzt über diesen Gegenstand sprachen, sagtet Ihr mir, daß Ihr nichts ausfindig gemacht hättet – und von ihr habe ich gehört, Euer Vater sei Sir Richards Vogt oder Verwalter gewesen.«

»Ich habe Beweise dafür, daß dies falsch ist. Gegen mich bezeichnete sie meinen Vater als Sir Richards Kellermeister, und ich habe ausfindig gemacht, daß auch hieran kein wahres Wort ist; denn eines Tages kam die alte Haushälterin, die mich in meiner Erziehungsanstalt besuchte, hieher und blieb wohl eine halbe Stunde mit der gnädigen Frau eingeschlossen. Als sie wieder ging, holte ich für sie eine Miethkutsche herbei und stieg heimlich hinten auf den Bock, um zu erfahren, wo sie hinfahren wollte. Nachdem ich hierüber Gewißheit eingeholt hatte, eilte ich wieder zurück, um nicht vermißt zu werden, nahm mir aber vor, ihr einen Besuch zu machen. Am andern Tage gab mir Lady R– einen Brief, den ich auf die Stadtpost besorgen sollte. Die Adresse lautete an Mrs. Green, und da die Wohnung als dasselbe Haus bezeichnet war, vor welchem gestern die Miethkutsche Halt gemacht hatte, so entnahm ich daraus, daß dies der Name der alten Haushälterin sein mußte. Statt nun den Brief auf die Post zu geben, behielt ich ihn bis zum Abend bei mir und besorgte ihn selbst.

»›Mrs. Green,‹ sagte ich, denn ich fand sie zu Hause, wie sie eben mit einem andern alten Weibe beim Thee saß, ›ich bringe Euch da einen Brief von Lady R–.‹ Dies war vor ungefähr einem Jahre, Miß Valerie.

»›Ach du mein Himmel!‹ rief sie. ›Wie seltsam, daß Lady R– Euch hieher schicken mochte.‹

»›Was ist denn Seltsames daran,‹ versetzte ich, ›daß sie einen Brief durch einen Diener besorgen läßt? Das Seltsame liegt wohl darin, daß ich ein Diener bin.‹

»Ich warf dies nur so auf Gerathewohl hin, Miß Valerie, um zu sehen, was ich darauf zur Antwort erhielte.

»›Ei, wer hat denn Euch etwas gesagt?‹ entgegnete sie, indem sie mich scharf durch ihre Brille ansah.

»›Das muß ich für mich behalten,‹ erwiederte ich darauf. ›Ich habe versprochen, nichts auszuplaudern.‹

»›Barmherziger Himmel! Nein, es kann nicht sein – es ist unmöglich,‹ murmelte die Alte, während sie das Schreiben öffnete und eine Banknote herausnahm, die sie in ihrer Hand zusammendrückte. Sie begann dann den Brief zu lesen. Ich trat ein wenig zurück und stellte mich zwischen sie und das Fenster. Gelegentlich hielt sie den Brief gegen das Licht, und als die Strahlen desselben besonders stark auffielen, gelang es mir, da ich – wie Ihr wißt – an die Handschrift der gnädigen Frau gewöhnt bin, von meinem Standorte aus eine Zeile zu lesen. Sie lautete: › er ist noch immer in Culverwood-Hall‹ – und an einer andern Stelle fieng ich die Worte ab: › die einzige übrige Person ist in Essex.‹ Auch bemerkte ich die Worte › Geheimniß‹ und › weiß nichts davon‹ am Ende des Schreibens. Die Alte kam endlich mit ihrem Briefe zu Stande, obschon sie eine gute Weile dazu brauchte.

»›Nun,« fieng sie wieder an, ›habt Ihr mir noch etwas Weiteres zu sagen?‹

»›Nein,‹ versetzte ich. ›Ihr seid gut bezahlt worden für Eure Verschwiegenheit, Mrs. Green.‹

»›Was meint Ihr damit?‹ entgegnete sie.

»›Oh, ich bin nicht so ganz unwissend, wie Ihr meint,‹ gab ich ihr zur Antwort.

»›Unwissend?‹ erwiederte sie in großer Verwirrung. ›Ueber was unwissend?‹

»›Wann seid Ihr zum letztenmal in Essex gewesen?‹ fragte ich.

»›Wann? – Ei, was geht das Euch an, Ihr unverschämter Junge?‹

»›Nun, wenn's mich nichts angeht, so will ich eine andere Frage an Euch stellen. Wie lange ist's, seit ihr in Culverwood-Hall gewesen seid?‹

»›In Culverwood-Hall? Was wißt Ihr von Culverwood-Hall? Ich glaube, der junge Bursch ist toll. Macht, daß Ihr fortkommt, denn Euren Auftrag habt Ihr ausgerichtet. Wenn Ihr nicht geht, will ich es der gnädigen Frau sagen.‹

»›Ihr braucht Euch nicht so zu ereifern, Mrs. Green,‹ versetzte ich. ›Gute Nacht!‹

»Ich verließ das Zimmer und schlug die Thüre zu, ohne jedoch die Klinke einschnappen zu lassen; dann öffnete ich wieder ein wenig und hörte nun Mrs. Green zu der andern Alten sagen:

»›Es muß Jemand dem Bürschlein einen Wink gegeben haben. Wer es wohl sein mag? Ich kann mir nichts denken. Aber solche Sachen müssen am Ende doch herauskommen.‹

»›Ja, ja, 's geht dabei wie bei einer Mordthat,‹ versetzte die Andere. ›Nicht daß ich etwas von der Geschichte wüßte; aber ich sehe, daß sichs dabei um ein Geheimniß handelt. Vielleicht könnt Ihr mir's mittheilen, Mrs. Green?‹

»›Ich wage es nicht, weiter zu sagen,‹ entgegnete Mrs. Green, ›als daß hier allerdings ein Geheimniß obwaltet und daß das Bürschlein irgendwie einen Wink davon erhalten hat. Ich muß wohl selbst wieder zu der Lady gehen – doch nein, es ist besser, ich unterlasse es,‹ fügte sie bei, ›denn sie ist so eigen, daß sie mir's auf den Kopf hin Schuld geben würde, ich habe es ihm gesagt. Außer mir und der gnädigen Frau lebt nur eine einzige Person, die davon weiß, und ich will darauf schwören, daß diese nicht bei dem Knaben gewesen ist, denn der gute Mann ist schon lange bettliegerig. Die Sache wurmt mir, soviel ist gewiß. Was da für ein Wind geht! Ei, der Knabe hat die Thüre offen gelassen. Die Wettersbuben können doch nie eine Thüre schließen.‹

»Mrs. Green stand auf, schlug die Thüre zu, und ich machte mich von dannen. Dies ist Alles, was ich von der Sache weiß, Miß Valerie. Warum ich aber in eine gute Schule geschickt wurde, warum ich Pfeffer und Salz tragen mußte und warum man mich zuerst zu einem Pagen und nachher zu einem Bedienten machte – dies ist mehr, als ich sagen kann. Nach dem, was ich Euch mitgetheilt habe, werdet Ihr jedenfalls mit mir einverstanden sein, daß hier ein Geheimniß obwaltet.«

»Es ist allerdings sehr sonderbar, Lionel,« versetzte ich. »Indeß möchte ich Euch doch rathen, ruhig zu bleiben, bis Ihr der Sache auf der Spur seid; denn wenn Ihr Lady R– verlaßt, verliert Ihr die beste Gelegenheit dazu.«

»Ich weiß dies nicht, Miß Valerie. Laßt mich nur erst nach Culverwood-Hall hinunter kommen, so will ich schon etwas herausbringen, oder es müßte mit meinem Witze sehr schlecht stehen. Doch ich höre die gnädige Frau die Treppe heraufkommen – deshalb Gott befohlen, Miß Valerie.«

Und Lionel zog sich mit aller Eile zurück.

Lady R– kam langsam die Treppe herauf und ins Zimmer. Ihr Unmuth hatte sich vertobt; aber sie sah noch immer so verdrüßlich und verstimmt aus, daß ich sie kaum erkannte. Ich muß ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ich sie nie zuvor in wirklich übler Laune gesehen hatte. Sie setzte sich auf ihren Stuhl nieder, und ich fragte sie, ob ich ihr die Schreibmaterialien bringen solle.

»Das wäre mir auch eine Stimmung dazu, um zu schreiben,« versetzte sie, die Ellenbogen auf den Tisch stützend und die Hände auf ihre Augen drückend. »Ihr wißt nicht in welcher Wuth ich gewesen bin und wie ich ihr an unschuldigen Leuten Luft gemacht habe. Den armen Knaben habe ich geschlagen – Pfui über mich! Ach, ich bin mit so heftigen Leidenschaften geboren, und sie sind mir das ganze Leben über zum Fluch geworden. Ich hatte gehofft, daß sie mit den Jahren milder geworden seien; aber gelegentlich gewinnen sie doch die Oberhand über mich. Was würde ich nicht darum geben, wenn ich Euer ruhiges Gemüth hätte, Valerie! Wie viel Unglück wäre mir erspart geblieben – wie manche Verirrung, ich wollte sagen, wie manches Verbrechen würde ich vermieden haben.«

Die letzteren Worte sprach Lady R– augenscheinlich mehr vor sich selbst hin, als zu mir, und ich erwiederte deshalb nichts darauf. Es folgte nun ein Schweigen, das mehr als eine Viertelstunde währte und endlich durch den Eintritt Lionels unterbrochen wurde, welcher den Wagen der Lady M– anmeldete.

»Dieses Weib ist die Ursache von alledem,« rief Lady R–, »ich bin überzeugt, daß es so ist. Ich bitte, laßt Euch nicht aufhalten, Valerie. Geht und besucht sie. Ich werde besser für die Gesellschaft anderer passen, wenn Ihr wieder zurückkommt.«

Ich erwiederte nichts, sondern verließ das Zimmer, setzte meinen Hut auf und fuhr zu Lady M–. Sie empfing mich mit großer Herzlichkeit, und ein Gleiches war von Seiten ihrer Töchter der Fall, die sich mit im Zimmer befanden, bald aber von ihrer Mutter entlassen wurden. Nun redete sie mich mit den Worten an:

»Meine theure Mademoiselle de Chatenœuf, ich habe Euch gestern Abend gesagt, daß es mir sehr angenehm wäre, wenn Ihr bei mir Wohnung nähmet. Ihr fragt mich vielleicht – in welcher Eigenschaft? – und ich muß Euch gestehen, daß ich kaum eine Antwort darauf zu geben weiß. Sicherlich nicht als Gouvernante, denn dies ist eine gehässige Stellung, die ich Euch nicht anbieten möchte. In der That bedürfen auch meine Mädchen keines Unterrichts mehr, da ihre Erziehung beendigt ist. Nur in einem Punkte könntet Ihr Ihnen noch von Nutzen sein – ich meine im Gesang und in der Musik. Ich wünsche indeß nur, daß Ihr als ihre Gesellschafterin in mein Haus eintretet, da ich überzeugt bin, daß sie aus dem Umgang mit Euch viel Vortheil ziehen werden. Es wäre mir deshalb lieb, daß Ihr von anderen als ein Gast im Hause betrachtet würdet, während ich zugleich darauf bestehen müßte, daß Ihr für die Förderung meiner Töchter in Musik und Gesang den nämlichen jährlichen Gehalt annehmet, den Ihr von Lady R– bezogen habt. Ich hoffe, Ihr versteht mich. Ich wünsche, daß Ihr bei mir bleibet nicht als ein Modell im Sinne der Lady R –, sondern als ein Modell, nach dem meine Mädchen sich bilden sollen. Ich überlasse es jetzt Euch, nach Eurem Gutdünken zu handeln. Ich weiß, meine Töchter sind Euch schon jetzt sehr zugethan und werden Euch immer lieber gewinnen. Weiter glaube ich nicht sagen zu können, es sei denn, daß ich hoffe, Ihr werdet mein Anerbieten nicht zurückweisen.«

In dem Antrage der Lady M. lag ein Wohlwollen und ein Zartgefühl, das ich nur mit gerührtem Danke anerkennen konnte. Es schien mir jedoch, alles dies sei nur ein Vorwand, um mir einen Zufluchtsort anzubieten, ohne daß ich Einwendungen dagegen erhob, und ich machte ihr auch diese meine Ansicht bemerklich.

»Glaubt dies ja nicht,« versetzte Lady M–. »Ich habe mich nur so ausgedrückt, weil ich nicht wünsche, daß man Euch eine Musiklehrerin nenne. Auch schon in diesem einen Punkte werdet Ihr mehr als Euren Jahresgehalt verdienen, und Ihr könnt Euch davon überzeugen, wenn ich Euch zeige, wie viel ich jährlich für solche Unterrichtsstunden habe ausgeben müssen. Und ich zweifle nicht, daß Ihr auch in anderer Beziehung mir von großem Werthe sein werdet. Darf ich daher die Sache als eine affaire arrangée betrachten?«

Nach einigem weiteren Hin- und Wiederreden gab ich meine Zustimmung, und es wurde die Uebereinkunft getroffen, daß ich unmittelbar nach Lady R–'s Abreise oder jedenfalls nach drei Wochen eintreten sollte, weil um diese Zeit Lady M– London zu verlassen gedachte. Ich verabschiedete mich sodann und wurde in demselben Wagen, der mich hergeführt hatte, zu Lady R– zurückgebracht.

Bei meiner Rückkehr traf ich Lady R– noch gerade so wie ich sie verlassen hatte.

»Ihr habt also Eure Audienz gehabt,« sagte sie, »und ich zweifle nicht, daß Ihr eine sehr gnädige Aufnahme fandet. Oh, ich kenne diese Frau. Während Eurer Abwesenheit habe ich darüber nachgedacht, zu was sie Euch wohl gerne haben möchte, und bin ihr auch auf den Sprung gekommen, obschon sie sicherlich ihren Beweggrund nicht namhaft gemacht, ja, nicht einmal angedeutet hat. Dafür ist sie zu klug; aber seid Ihr einmal in ihrem Hause, so werdet Ihr Euch lieber ihren Anmuthungen unterziehen, als aufs Neue eine Heimath suchen.«

»Ich weiß in der That nicht, was Ihr damit sagen wollt, Lady R–,« versetzte ich.

»Hat Euch nicht Lady M– aufgefordert, als Gast zu ihr zu ziehen, ohne dabei irgend eine besondere Beschäftigung zu bezeichnen?«

»Nein, Ihr seid im Irrthum. Sie hat mir den Vorschlag gemacht, ich solle zu ihr kommen, um ihren Töchtern Musikunterricht zu ertheilen und ihnen Gesellschaft zu leisten. Ueber einen ständigen Aufenthalt bei ihr aber ist nichts gesprochen worden.«

»Schon gut, Valerie. Ich weiß, daß ich meine Wunderlichkeiten habe; aber Ihr werdet bald entdecken, ob Ihr durch die Veränderung etwas gewonnen habt.«

»Lady R–, ich hätte in der That nicht geglaubt, daß Ihr so unfreundlich und bitter gegen mich sein könntet. Ich bin außer Stande, Euch nach Frankreich zu folgen, aus Gründen, die ich Euch auseinander setzte, obschon ich dabei Familienangelegenheiten enthüllen mußte, die ich lieber nie zur Sprache bringen mochte. Ihr überlaßt mich mir selbst, und ich muß irgendwo ein Unterkommen suchen. Dieses wird mir freundlich von Lady M– angeboten, und mir bleibt in meiner unglücklichen Lage keine Wahl. Seid gerecht und edelmüthig.«

»Gut, gut; ich will es seyn,« sagte Lady R– und die Thränen brachen ihr aus den Augen; »aber Ihr wißt nicht, welchen Kummer Ihr mir dadurch bereitet, daß Ihr mich verlaßt. Ich hatte gehofft, bei allen meinen Mängeln Euch ein Gefühl der Zuneigung zu mir einzuflößen – Gott weiß, ich habe mir alle Mühe gegeben, es so weit zu bringen. Wenn Euch meine ganze Geschichte bekannt wäre, so würde es Euch nicht überraschen, daß ich so seltsam bin. Was mir zustieß, als ich in Eurem Alter stand, würde manches Mädchen zur Verzweiflung oder zum Selbstmord getrieben haben, und wie die Dinge einmal sind, haben sich alle meine Verwandten, obschon ihre Zahl nicht groß ist, von mir abgewendet. Seit Jahren habe ich von meinem Bruder nichts gesehen und gehört. Seine Einladungen wies ich zurück, und er zürnt mir deshalb; aber ich hatte Gründe, die mich bewogen, sein Haus zu meiden, und keine Zeit ist im Stande, die Erinnerungen des Geschehenen zu verwischen.«

»Ich versichere Euch, Lady R–, daß ich Eurem Wohlwollen gegen mich volle Anerkennung zu Theil werden lasse und die Erinnerung daran stets dankbar im Herzen tragen will,« entgegnete ich. »Wenn Ihr daher glaubt, ich habe keine Liebe zu Euch, so seid Ihr sehr im Irrthum. Doch – der Gegenstand ist nachgerade sehr peinlich geworden – ich bitte, laßt uns abbrechen.«

»Sei es darum, Valerie. Vielleicht ist es das Klügste, was wir thun können.«

Um dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, sagte ich – »Ist nicht Euer Bruder der gegenwärtige Baronet?«

»Ja,« versetzte Lady R–.

»Und wo hält er sich auf?«

»In Culverwood-Hall in Essex – dem Schauplatze von all meinem Unglück.«

Ich wurde ein wenig betroffen, als ich diesen Ort nennen hörte, denn der Leser wird sich erinnern, wie mir der Name unter andern Umständen durch Lionel vor Ohren kam. Ich ging dann auf einen andern Unterhaltungsstoff über. Um die Zeit des Mittagessens hatte sich Lady R– wieder gefaßt und benahm sich so liebenswürdig, wie nur je.

Von diesem Tage an bis zu der Abreise der Lady R– nach Paris wurde der Lady M– mit keinem Worte mehr Erwähnung gethan. Meine Beschützerin war freundlich und höflich gegen mich, aber ihrem Benehmen ging doch die frühere Wärme ab – eine Aenderung, die mir nicht unangenehm war. Ihre Zeit wurde jetzt ganz von den Vorbereitungen zur Reise in Anspruch genommen. Außer dem Kammermädchen sollte sie nur noch der Page Lionel begleiten. Endlich setzte sie den Tag ihrer Abreise fest, und ich machte Lady M– briefliche Mittheilung davon. Letztere schrieb mir zurück, daß es sich so ganz geschickt füge, da sie sich vorgenommen habe, am Tage darauf nach ihrem Landsitz abzugehen. Der Abend vor Lady R–'s Aufbruch entschwand in Trauer. Die Trennung ging mir näher zu Herzen, als ich für möglich gehalten hatte; ist man aber an den Umgang mit einer gutmüthigen, wohlwollenden Person gewöhnt, so fühlt man erst, wie sehr man sie geliebt hat, wenn man von ihr scheiden soll.

Lady R– war sehr bekümmert und sagte zu mir:

»Valerie, ich habe eine Ahnung, daß wir uns nie wiedersehen werden, und doch bin ich nichts weniger als abergläubisch. Ich kann in Wahrheit sagen, daß Ihr seit meiner Jugend die einzige Person seid, die ich wirklich geliebt habe, und mein Herz ist zu voll, als daß ich meinen Gefühlen Worte geben könnte. Es flüstert mir Etwas zu: ›Geh nicht nach Frankreich,‹ und doch ist wieder Etwas vorhanden, was mich zu gehen drängt. Valerie, wenn ich wieder zurückkomme, so hoffe ich, daß Ihr mein Haus als Eure Heimath betrachten werdet, im Falle Ihr nicht irgendwo ein für Euch angenehmeres Unterkommen finden könnt. Ich will nicht weiter sagen, weil ich wohl weiß, daß ich durchaus keine liebenswürdige Person und mit allerlei Wunderlichkeiten behaftet bin; aber ich bitte Euch, betrachtet mich als Eure aufrichtige Freundin, die stets bereit sein wird, Euch einen Dienst zu erweisen. Ich habe Euch einige glückliche Monate zu danken, und dies will viel heißen. Gott segne Euch dafür, meine theure Valerie.«

Lady R–'s Worte ergriffen mich bis zu Thränen, und ich dankte ihr mit erstickter Stimme.

»Ich reise morgen zu zeitig ab, um Euch noch einmal sehen zu können,« fuhr sie fort. »Laßt uns daher jetzt Abschied nehmen.«

Lady R– drückte mir ein kleines Paket in die Hand, küßte mich auf die Stirne und eilte dann nach ihrem eigenen Zimmer hinauf.

Der Mensch liebt allerdings die Veränderung, aber doch ist eine gewisse Wehmuth damit verbunden, selbst wenn man nur die Wohnung wechselt. Das Einpacken, das umhergestreute Stroh, die mit Stricken umwundenen Koffer und Päcke gaben dem Hause selbst ein verlorenes Aussehen. Auf mich wirkte alles dies besonders drückend; denn ich hatte im letzten Jahre so oft gewechselt, und wohin ich auch meinen Fuß setzte, stand mir nichts in Aussicht, als ein Spielball des Glücks, der Launen und der Grillen Anderer zu werden. Ich saß in meinem Schlafgemache, wo die Koffer gepackt aber noch nicht geschlossen umherstanden, dachte an Lady R–'s letzte Worte und war sehr traurig. Das Paket lag noch unerbrochen vor mir auf dem Tische. Da wurde ich plötzlich durch ein Klopfen an der Thüre aus meinen Träumereien geweckt. Ich dachte, es sei Lady R–'s Kammermädchen und rief »herein!«

Die Thüre ging auf und Lionel kam zum Vorschein.

»Seid Ihr's, Lionel? Was wollt Ihr?«

»Ich wußte, daß Ihr noch auf seid, und dachte, da wir morgen vor Euch aufbrechen, so dürfte es Euch an Jemand fehlen, der die Stricke an Euer Gepäck legt. Ich habe deshalb gemeint, ich wolle noch zu Euch kommen und mich zu diesem Geschäft anbieten, wenn Ihr mit dem Packen fertig seid, Miß Valerie.«

»Ich danke Euch, Lionel; Ihr seid sehr rücksichtsvoll. Ich will die Koffer schließen, und Ihr könnt sie dann in der Flur draußen mit Stricken versehen.«

Lionel schaffte die Koffer hinaus und umwand sie mit Seilen. Nachdem er damit zu Stande gekommen war, sagte er zu mir:

»Lebt wohl, Miß Valerie. Ich hoffe Euch sehr bald wieder zu sehen.«

»Mich sehr bald wieder zu sehen, Lionel? Ich fürchte, hiefür ist eine geringe Wahrscheinlichkeit vorhanden, denn Lady R– gedenkt ein halbes Jahr auszubleiben.«

»Ich nicht,« versetzte er.

»Ei, Lionel, es wäre sehr thöricht von Euch, eine so gute Stelle aufzugeben. Ihr habt einen Lohn, wie Ihr ihn nicht wieder erhalten werdet – zwanzig Pfund jährlich, glaube ich?«

»Ja, Miß Valerie. An einem andern Platze würde ich nicht halb so viel kriegen; aber das ist eben einer von den Gründen, warum ich nicht bleiben will. Warum zahlt sie mir wohl zwanzig Pfund jährlich? Dies muß ich ausfindig machen, und ich komme schon dahinter, wie ich Euch früher gesagt habe. Um meiner Schönheit willen gibt sie mir keine zwanzig Pfund, obschon sie Euch für die Eurige weit mehr zahlen könnte und doch nur halb genug dafür ausgäbe.«

»Lionel, ich denke, Ihr seid jetzt lange genug hier gewesen. Es ist zu spät, um noch mehr aufzubleiben und Complimente anzuhören. Lebt wohl!«

Ich drückte die Thüre hinter ihm zu und begab mich zu Bette. Wie gewöhnlich nach einer Aufregung schlief ich lange und tief. Als ich am andern Morgen erwachte, war es schon heller Tag und nahe an zehn Uhr. Ich zog die Klingel und rief dadurch die Köchin herbei, welche mir mittheilte, daß ich und sie jetzt die einzigen Personen im Hause seyen. Ich stand auf, und als ich an meinem Tisch vorbeikam, sah ich ein zweites Päckchen neben dem liegen, welches mir Lady R– gegeben hatte. Da es an mich adressirt war, so öffnete ich es. Es enthielt ein Miniaturporträt der Lady R– aus einer Zeit, als sie in meinem Alter stehen mochte; sie mußte damals sehr schön gewesen sein. Es befand sich ein Zettel daran mit den Worten: »Sempronia in ihrem Achtzehnten. Behaltet es zum Andenken an mich, theure Valerie, und öffnet das beigelegte Papier nicht, bis ich Euch Erlaubniß dazu gebe oder Ihr hört, daß ich nicht mehr unter den Lebenden weile.«

Ich legte das Porträt nieder und öffnete das erste Päckchen, das mir Lady R– gegeben hatte. Es enthielt Banknoten im Betrag von hundert Pfunden, fast das Doppelte des mir gebührenden Salärs. Der Inhalt dieser beiden Pakete stimmte mich nur noch wehmüthiger, und ich seufzte schwer auf, als ich denselben in mein Toilettenkästchen legte. Mittlerweile entschwand die Zeit, und ich hatte mit Lady M– die Verabredung getroffen, mich um Ein Uhr bei ihr einzufinden, wenn sie mir ihren Wagen schicken wollte. Ich eilte daher, mich anzukleiden, schloß den Rest meines Gepäckes ein und begab mich zum Frühstück hinunter, das die Köchin für mich zubereitet hatte. Während ich noch bei meinem Morgenmahle saß, wurde mir durch die Post ein Brief übermacht. Die Adresse hatte meinen Aufenthaltsort als bei Madame Bathurst angegeben und Letztere die Berichtigung »bei Lady R–« darauf geschrieben. Der Brief war von Madame Paon und lautete wie folgt:

 

»Meine liebe Mademoiselle de Chatenœuf!

»Ich darf wohl annehmen, daß Euch keine französischen Zeitungen zu Gesicht kommen, und schreibe Euch daher, daß sich Eure Prophezeiungen im Betreff des Monsieur de G – vollkommen bestätigt haben. Einen Monat nach der Hochzeit fing er schon an, seine Gattin zu vernachläßigen; er verbrachte seine ganze Zeit am Spieltisch und kehrte nur nach Hause zurück, um ihr wieder Geld abzupressen. Endlich verweigerte sie ihm frischen Zuschuß, und er ging in seiner Wuth so weit, sie zu schlagen. Ein Prozeß auf Scheidung der Personen und des Eigenthums wurde vor Gericht anhängig gemacht und in der letzten Woche zu Gunsten der Madame d'Albret entschieden, an welche ihr ganzes Vermögen wieder zurückfällt, während sie zugleich eines Ungeheuers los wird. Gestern morgen war sie bei mir, zeigte mir den Brief, den Ihr an sie geschrieben habt, und fragte mich, ob ich nicht mit Euch in Correspondenz stehe; auch verlangte sie meine Ansicht zu hören, ob Ihr nach ihrem Benehmen gegen Euch wohl zu bewegen sein dürftet, daß Ihr wieder zu ihr zurückkehret. Natürlich konnte ich ihr hierüber keine Auskunft geben; indeß bin ich überzeugt, daß Ihr sie nur Eurer Verzeihung zu versichern braucht, um sie zu veranlassen, daß sie selbst an Euch schreibt und dieses Ersuchen an Euch stellt. Nach dem Briefe, den Ihr an sie gerichtet habt, sehe ich nicht ein, was Ihr anders thun könntet; indeß überlasse ich dies Eurer eigenen Entscheidung. Ich hoffe, Mademoiselle, Ihr werdet mich mit einer baldigen Antwort erfreuen, da Madame d'Albret jeden Tag zu mir kömmt und augenscheinlich mit großer Ungeduld darauf wartet.

»Ich verbleibe, meine theure Mademoiselle, stets

die Eurige,
Emilie Paon,
geborne Mercé.«

 

Auf dieses Schreiben ließ ich noch am nämlichen Tage folgende Antwort abgehen:

 

»Meine liebe Madame Paon!

»Daß ich Madame d'Albret aufrichtig vergebe, ist wahr, und ich thue dies von ganzem Herzen. Aber obschon dies der Fall ist, kann ich doch nimmermehr einem Vorschlag Gehör schenken, der mich wieder in meine frühere Stellung einführen würde. Bedenkt, daß sie in ganz Paris herumgekommen ist und mich des Undanks und der Schmähsucht beschuldigt hat. Wie könnte ich also, nachdem sie sich unter dieser Anklage meiner entledigte, wieder in ihrer Gesellschaft auftreten. Entweder habe ich mich so benommen, wie sie angegeben, und in diesem Falle bin ich ihres Schutzes unwürdig, oder ihre Aussage war eine Unwahrheit und ihr Verfahren gegen mich ein grausames, indem sie mich meine Abhängigkeit auf die bitterste Weise fühlen ließ und mich mit dem Brandmale eines entehrenden Bezüchts in die Welt hinausschleuderte. Könnte ich mich nach einer solchen Ungerechtigkeit je sicher und heimisch bei ihr fühlen? Oder wäre sie in der Lage, eine Person, die sie so behandelt hat, wohlgemuth wieder als ihre protegée vorzustellen? Müßte sie nicht jedesmal erröthen, so oft sie mit irgend Jemand von unseren früheren Bekannten und Freunden zusammenträfe? Es würde eine Reihe von Demütigungen für uns beide daraus erwachsen. Versichert sie meiner Vergebung und sagt ihr, daß ich ihr keinen Groll nachtrage, sondern im Gegentheil alles Gute wünsche; aber eine Rückkehr zu ihr ist unmöglich. Lieber wollte ich Hunger sterben. Wenn sie wüßte, was ich in Folge ihres übereilten Benehmens gegen mich gelitten habe, so würde sie mich mehr bedauern, als wohl jetzt der Fall ist; aber Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen. Da ist keine Abhilfe mehr möglich. Lebt wohl, Madame Paon. Vielen Dank für die Liebe, welche Ihr einer auf der gesellschaftlichen Leiter so weit herabgekommenen Person erwiesen habt.

Treu und aufrichtig die Eurige
Valerie.«

 

Vorstehenden Brief schrieb ich mit tiefgedrücktem Geiste, und mit schwerem Herzen stieg ich im Saint James-Square vor Lady M–'s Wohnung aus dem Wagen. Wenn übrigens ein lächelnder Empfang, herzliche Glückwünsche und warme Händedrücke tröstend einwirken können, so wurde mir dieser Trost von Seiten der Lady M– und ihrer Töchter in reichem Maße zu Theil. Man wies mir zuerst alle Zimmer des Erdgeschosses, dann das der Lady M–, dann die Gemächer der jungen Damen und endlich mein eigenes, und ich war froh, als man mich zuletzt allein ließ, damit ich meine Koffer auspacken und meine Habseligkeiten in Ordnung bringen konnte.

Das mir zugewiesene Zimmer war sehr bequem und besser möblirt, als diejenigen, in welchen die jungen Damen schliefen; was also das Aeußere betraf, so wurde ich in jeder Beziehung nicht als Gouvernante, sondern als Gast behandelt. Das Kammermädchen, das mich bediente, war sehr höflich und wagte keine vertrauliche Annäherung, während sie mir meine Kleider in den Schränken unterbringen half. Ich hätte dem Leser schon früher mittheilen sollen, daß Lady M– eine Wittwe war, deren Gatte, Lord M–, vor etwa zwei Jahren das Zeitliche gesegnet hatte. Ihr ältester Sohn, der nunmehrige Lord M–, befand sich auf dem Festlande.

Das Diner wurde angekündigt. Es waren nur zwei Gäste anwesend und ich wurde als zur Gesellschaft gehörend behandelt. In der That konnte nichts befriedigender sein, als die Art, wie man sich gegen mich benahm. Am Abend spielte und sang ich. Die jungen Damen thaten dasselbe; ihre Stimmen waren gut, entbehrten aber beim Gesang des geeigneten Ausdrucks, und ich bemerkte, daß ich ihnen nützlich werden konnte.

Lady M– fragte mich bei Seite um meine Ansicht über die Leistungen ihrer Töchter, die ich ihr auch unverholen mittheilte.

»Es ist unmöglich, die Richtigkeit Eurer Bemerkung in Zweifel zu ziehen, meine theure Mademoiselle de Chatenœuf, wenn man zuvor Gelegenheit hatte, Eure Kunstfertigkeit zu bewundern. Ich wußte wohl, daß man Eure Leistungen hoch anschlug, hätte aber nicht geglaubt, daß Ihr es darin zu einer solchen Vollkommenheit gebracht habt.«

»Wenn Eure Töchter wirklich Freude an der Musik haben, gnädige Frau,« versetzte ich, »so wird es ihnen nicht schwer werden, bald eben so weit zu kommen.«

»Unmöglich!« rief die gnädige Frau. »Aber immerhin werden sie gewinnen, wenn sie Euch nur zuhören. Doch Ihr seht müde aus. Wünscht Ihr zu Bette zu gehen? Auguste soll Euch begleiten.«

»Mein Kopf ist sehr angegriffen und schmerzt mich,« lautete meine Entgegnung. »Ich nehme daher Eurer Gnaden rücksichtsvollen Vorschlag mit Freuden an.«

Auguste, die älteste Tochter, zündete ein Nachtlicht an und begleitete mich nach meinem Zimmer. Nachdem wir eine Weile geplaudert hatten, wünschte sie mir gute Nacht, und so war mein erster Tag in St. James-Square zu Ende gegangen.


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